Krieg und Kriegsursachen

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Krieg und Kriegsursachen in der wissenschaftlichen Debatte Reinhard Meyers 1 Entwicklungsdynamik Nicht erst seit der terroristischen Attacke islamischer Fundamentalisten auf New York und Washington am 11. September 2001, sondern schon seit den (Bürger-)Kriegen im ehemaligen Jugoslawien der 90er Jahre sehen sich politische Entscheidungsträger mit der ernüchternden Einsicht konfrontiert, dass der klassische Krieg zwischen den (Groß-)Mächten zwar langsam ausstirbt (Gat 2013:30ff), dass aber gleichwohl die Weltpolitik auch weiterhin gekennzeichnet ist durch den Einsatz organisierter militärischer Gewalt zur Durchsetzung politischer, ökonomischer und ideologischer Interessen. Während des Ost-West-Konflikts hatten mögliche Großkriege zwischen nuklear bewaffneten, zweitschlagsbefähigten Militärblöcken unser Konflikt- Denken ebenso wie die Militärplanung von NATO und Warschauer Pakt mit Beschlag belegt und für andere, außerhalb des Ost-West-Gegensatzes sich entwickelnde Konfliktformen desensibilisiert. Blockantagonistische Großkriege sind nach dem Ende des Kalten Krieges obsolet geworden. Was bleibt, ist eine Vielzahl regionaler und lokaler Waffengänge, wie die Jahrgänge des Heidelberger Konfliktbarometer plausibel demonstrieren. Gut zwei Drittel bis knapp drei Viertel aller im letzten Jahrhundert weltweit geführten Kriege waren keine Staaten-, sondern innerstaatliche oder transnationale Kriege: der klassische Staatenkrieg wird seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem historischen Auslaufmodell. Seit dem Westfälischen Frieden 1648 innerhalb ihres Territoriums Inhaber des Monopols legitimer physischer Gewaltsamkeit, dem Anspruch nach Alleinvertreter („gate-keeper“) ihrer Bürger und deren gesellschaftlicher 1

Transcript of Krieg und Kriegsursachen

Krieg und Kriegsursachen in der wissenschaftlichen Debatte

Reinhard Meyers

1 Entwicklungsdynamik

Nicht erst seit der terroristischen Attacke islamischer

Fundamentalisten auf New York und Washington am 11. September 2001,

sondern schon seit den (Bürger-)Kriegen im ehemaligen Jugoslawien der

90er Jahre sehen sich politische Entscheidungsträger mit der

ernüchternden Einsicht konfrontiert, dass der klassische Krieg zwischen

den (Groß-)Mächten zwar langsam ausstirbt (Gat 2013:30ff), dass aber

gleichwohl die Weltpolitik auch weiterhin gekennzeichnet ist durch den

Einsatz organisierter militärischer Gewalt zur Durchsetzung

politischer, ökonomischer und ideologischer Interessen. Während des

Ost-West-Konflikts hatten mögliche Großkriege zwischen nuklear

bewaffneten, zweitschlagsbefähigten Militärblöcken unser Konflikt-

Denken ebenso wie die Militärplanung von NATO und Warschauer Pakt mit

Beschlag belegt und für andere, außerhalb des Ost-West-Gegensatzes sich

entwickelnde Konfliktformen desensibilisiert. Blockantagonistische

Großkriege sind nach dem Ende des Kalten Krieges obsolet geworden. Was

bleibt, ist eine Vielzahl regionaler und lokaler Waffengänge, wie die

Jahrgänge des Heidelberger Konfliktbarometer plausibel demonstrieren.

Gut zwei Drittel bis knapp drei Viertel aller im letzten Jahrhundert

weltweit geführten Kriege waren keine Staaten-, sondern innerstaatliche

oder transnationale Kriege: der klassische Staatenkrieg wird seit Ende des

Zweiten Weltkriegs zu einem historischen Auslaufmodell. Seit dem

Westfälischen Frieden 1648 innerhalb ihres Territoriums Inhaber des

Monopols legitimer physischer Gewaltsamkeit, dem Anspruch nach

Alleinvertreter („gate-keeper“) ihrer Bürger und deren gesellschaftlicher

1

Zusammenschlüsse gegenüber der Außenwelt, müssen sich die Staaten in

zunehmendem Maße parastaatlicher, gesellschaftlicher, privater Gewalt-

Konkurrenz erwehren. Lokale Warlords, Rebellen- und Guerillagruppen,

Befreiungsarmeen, internationale Terrornetzwerke. privatwirtschaftliche

Söldnerfirmen betätigen sich je länger desto mehr als

Kriegsunternehmer, treiben die Entstaatlichung und Privatisierung des

Krieges und die (Re-)Vergesellschaftung organisierter militärischer

Gewalt voran (hierzu Strachan/Scheipers 2013: Kap. 13 – 16).

Ein Blick zurück in die (eurozentrische) Geschichte der Neuzeit macht

dagegen deutlich, dass unter dem Phänomen des Krieges (Gesamtübersicht

Howard 2010) traditionellerweise der Krieg zwischen Staaten bzw. ihren

regulären Streitkräften verstanden wird – im Sinne des Generals v. Clausewitz

die Fortsetzung des diplomatischen Verkehrs unter Einmischung anderer

Mittel, geführt um der Durchsetzung staatlicher Territorial- oder

Machtansprüche willen, gestützt durch eine Produzenten und

Produktivkräfte mobilisierende, allumfassende Kriegswirtschaft. Ex

negatione ist der Friede klassischerweise ein völkerrechtlich

garantierter Zustand des Nicht-Krieges zwischen Staaten. Das Gewaltverbot

des Art. 2 (4) der UNO-Charta ist eine Fundamentalnorm des Völker-

(oder präziser: des zwischenstaatlichen) Rechts. Dieser Staatenzentrismus

hat bis in die Gegenwart das Bild des Krieges wie auch des Friedens

(Wolfrum 2003) in Politik, Streitkräften und Öffentlichkeit geprägt.

Auch die Friedenswissenschaft hat ihre zentralen

Untersuchungsgegenstände weitgehend über das Verhalten von Staaten

definiert und erklärt (Chojnacki 2008), auch wenn gelegentlich

Periodisierungsversuche angeboten werden, die eher auf Natur und Ziele

der Handelnden rekurrieren (Howard 2010). Eine wesentliche Dimension

der neueren Entwicklung bleibt dabei lange außer Acht: der bereits

angedeutete Strukturwandel bewaffneter Konflikte (Sheehan 2011) und

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seine möglichen Rückwirkungen auf Stabilität und Struktur der

internationalen Ordnung (paradigmatisch Jordan u.a. 2008).

Seit der Auflösung der Kolonialreiche in den 50er und 60er Jahren des

20. Jhs. tritt mehr und mehr an die Stelle des klassischen

zwischenstaatlichen Krieges als zeitlich begrenzter Eruption

organisierter Gewalt, nach Clausewitz gipfelnd in der

Entscheidungsschlacht zur Niederringung des Gegners, der langdauernde

Bürgerkrieg in der Form des low intensity conflict oder low intensity warfare. Aus

einem Instrument der Durchsetzung staatlichen politischen Willens, der

Realisierung staatlicher politischer, territorialer, ökonomischer,

weltanschaulicher Interessen wird der Krieg zu einer Form

privatwirtschaftlicher Einkommensaneignung und Vermögensakkumulation

(Wulf 2005), zu einem Mittel klientelistischer Herrschaftssicherung und

semi-privater Besetzung und Behauptung von nur unter den besonderen

Bedingungen einer spezifischen Kriegsökonomie überlebensfähigen

Territorien, Enklaven, Korridoren, Kontrollpunkten. In einer

Gemengelage von privaten Bereicherungs- und persönlichen

Machtbestrebungen, Interventionen Dritter zur Verteidigung bestimmter

Werte, aber auch zur Durchsetzung je eigener Herrschafts- und

Ausbeutungsinteressen, der gegenseitigen Durchdringung und Vermischung

kriegerischer Gewalt und organisiertem Verbrechen verliert der

klassische Staatenkrieg seine überkommenen Konturen (Münkler 2002:

Kap.10). Partisanen- und Guerillaaktionen, Selbstmordattentate,

terroristische Gewaltexzesse unterlaufen die Trennung von Schlachtfeld

und Hinterland, von zivilen und militärischen Zielen. Die Ausbildung

eines „Lumpenmilitariats“ („tagsüber Soldaten, in der Nacht Gangster“ – Ayissi

2003) durchdringt die Trennlinie zwischen Kombattanten und

Nichtkombattanten. Das Nacheinander bewaffneter Kämpfe, fragiler

Kompromisse und Waffenstillstände, und erneuter bewaffneter

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Auseinandersetzungen hebt die zeitliche Unterscheidung von Krieg und

Nicht-Krieg auf. Das genuin Neue an dieser Welt reprivatisierter

Gewaltanwendung ist allerdings nicht so sehr das Aufeinandertreffen

staatlicher und nichtstaatlicher, gesellschaftlicher Gewaltakteure im

selben Raum- und Zeithorizont, die Asymmetrie des Akteursverhältnisses.

Charakteristisch scheint vielmehr die Fähigkeit lokal agierender

Rebellen, Condottiere, Warlords, Kriegsunternehmer, ihr Handeln durch

effiziente Nutzung globalisierter Relationen und Prozesse zu optimieren

(Kurtenbach/Lock 2004) und entweder Formhülsen der Staatsgewalt wie

moderne Freibeuter zu kapern oder staatsfreie Räume einzurichten und zu

behaupten, die einer informellen Ökonomie und der organisierten

Kriminalität den zur Finanzierung des Krieges notwendigen Freiraum

verschaffen (Bakonyi/Hensell/Siegelberg 2006). In Abwandlung jenes

berühmten Zitats des Generals von Clausewitz: der Krieg erscheint nicht

länger mehr als Fortsetzung des politischen Verkehrs, sondern als

Fortsetzung des Beutemachens unter Einmischung anderer Mittel! Das

erklärt dann auch, warum gerade in den unkonventionelleren Kontexten

innergesellschaftlicher bewaffneter Auseinandersetzungen zunehmend

Akteure und Gruppen auftreten, die an der Fortführung der

Auseinandersetzung ganz handfeste, an der Stiftung und Befestigung von

Frieden aber überhaupt kein Interesse haben (sogen. Spoilers; hierzu

jetzt auch Hansen 2013).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Umgang mit

militärischer Gewalt wie der Bearbeitung kriegerischer Konflikte im

internationalen System neu. Im Spannungsbogen der klassischen

zwischenstaatlichen und der post-nationalstaatlichen, „Neuen“ Kriege

(Kaldor 2000) entwickelt sich – vor der Kulisse einer auf immer

modernere, präzisere und schnellere konventionelle Militärtechnologien

rekurrierenden Revolution in Military Affairs (http://www. comw.org/rma/index.html

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sowie Gat 2013:38ff) – der hochtechnisierte, computergestützte,

gleichsam auf virtuelle Schlachtfelder ausgreifende postmoderne Cyberwar

einerseits, der weitgehend in prämodernen Formen verharrende oder zu

ihnen zurückkehrende Kleine Krieg andererseits (Daase 1999). Das klassische

Milieu zwischenstaatlicher Politik – der nullsummenspielartige anarchische

Naturzustand – wird zumindest in schwachen und zerfallenden Staaten

gespiegelt durch einen innerstaatlichen oder besser: innergesellschaftlichen

Naturzustand, dessen Akteure in zunehmendem Maße substaatliche und

transnational organisierte gesellschaftliche Gruppen sind. Dies hat vor

allem Konsequenzen für die Ziele, Motive und das Handlungsumfeld der

Konfliktakteure. So wie sich mit fortschreitender Globalisierung, mit

der Kommerzialisierung und Übernahme vormals staatlicher Handlungsfelder

durch Transnationale Unternehmen und nichtgouvernementale Organisationen

die Weltpolitik zunehmend entstaatlicht und privatisiert

(Gesamtüberblick Baylis/Smith/Owens 2011), so entmonopolisiert,

dereguliert, privatisiert sich auch die Anwendung militärischer Gewalt

(Wulf 2005). Damit aber wird der Prozess der rechtlichen Einhegung und

Verstaatlichung des Krieges, der die Geschichte Europas von der Frühen

Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg (Übersicht: Wolfrum 2003; Meyers 2004)

gekennzeichnet hat, wenigstens teilweise rückgängig gemacht.

1.1 Krieg - klassisch

Altertum, Mittelalter und Neuzeit gleichermaßen galt der Krieg als

Grundtatbestand menschlichen Konfliktverhaltens, als „... Akt der

Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen...“.

Carl v. Clausewitz (1973: 191ff.) prägte die klassisch-instrumentelle

Sicht:

„Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf. Wollen wir uns dieUnzahl der einzelnen Zweikämpfe, aus denen er besteht, als Einheitdenken, so tun wir besser, uns zwei Ringende vorzustellen. Jeder suchtden anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu

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zwingen; sein nächster Zweck ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurchzu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen. ... Die Gewalt rüstetsich mit den Erfindungen der Künste und Wissenschaften aus, um derGewalt zu begegnen. ... Gewalt, d.h. die physische Gewalt (denn einemoralische gibt es außer dem Begriff des Staates und Gesetzes nicht),ist also das Mittel, dem Feinde unseren Willen aufzudringen, der Zweck.Um diesen Zweck sicher zu erreichen, müssen wir den Feind wehrlosmachen, und dies ist dem Begriff nach das eigentliche Ziel derkriegerischen Handlung...“

In seiner vollen Ausformung seit der Entstehung gesellschaftlicher

Großorganisationen, d.h. seit der Bildung der ersten Hochkulturen der

Frühgeschichte bekannt, läßt sich der Krieg als der Versuch von

Staaten, staatsähnlichen Machtgebilden oder gesellschaftlichen

Großgruppen begreifen, ihre machtpolitischen, wirtschaftlichen oder

weltanschaulichen Ziele mittels organisierter bewaffneter Gewalt

durchzusetzen. Allerdings war in der Geschichte auch immer wieder

umstritten, wann eine bewaffnete Auseinandersetzung als Krieg zu

bezeichnen sei.

Im Laufe der Entwicklung können wir eine Einengung des vorzugsweise auf

die gewaltsame Auseinandersetzung (bis hin zum Duell zwischen

Individuen) abhebenden Begriffs konstatieren. Mit der Ausbildung des

souveränen Territorialstaates und in seiner Folge des als Gemeinschaft

souveräner Nationen begriffenen internationalen Staatensystems seit dem

17. Jh. galt eine gewaltsame Auseinandersetzung nur dann als Krieg,

wenn daran geschlossene Gruppen bewaffneter Streitkräfte

beteiligt waren und es sich zumindest bei einer dieser Gruppen um eine

reguläre Armee oder sonstige Regierungstruppen handelte,

wenn die Tätigkeit dieser Gruppen sich in organisierter, zentral

gelenkter Form entfaltete, und

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wenn diese Tätigkeit nicht aus gelegentlichen, spontanen

Zusammenstößen bestand, sondern über einen längeren Zeitraum unter

regelmäßiger, strategischer Leitung anhielt.

Der neuzeitliche Kriegsbegriff stellt darüber hinaus darauf ab, daß die

am Krieg beteiligten Gruppen in aller Regel als souveräne

Körperschaften gleichen Ranges sind und untereinander ihre

Individualität vermittels ihrer Feindschaft gegenüber anderen

derartigen Gruppen ausweisen. Indem dieser Kriegsbegriff einen

(völkerrechtlichen) Rechtszustand bezeichnet, der zwei oder mehreren

Gruppen einen Konflikt mit Waffengewalt auszutragen erlaubt, schließt

er Aufstände, Überfälle oder andere Formen gewaltsamer

Auseinandersetzung zwischen rechtlich Ungleichen aus, vermag damit aber

solche Tatbestände wie Bürgerkrieg, Befreiungskrieg und Akte des

Terrorismus nicht oder nur ungenügend abzudecken. Da die Abgrenzung des

Krieges gegen andere gewaltsame Aktionen (bewaffnete Intervention,

militärische Repressalie, Blockade) in der Praxis der Staaten oft

verhüllt wurde, war der Kriegsbegriff im Völkerrecht lange umstritten.

Erst die Genfer Fünf-Mächte-Vereinbarung vom 12.12.1932 ersetzte den

ursprünglichen Ausdruck „Krieg“ durch den eindeutigeren der „Anwendung

bewaffneter Gewalt“ (Art. III). Die Charta der Vereinten Nationen

folgte dieser Tendenz, indem sie die Anwendung von oder Drohung mit

Gewalt in internationalen Beziehungen grundsätzlich verbot (Art. 2,

Ziff. 4) und nur als vom Sicherheitsrat beschlossene Sanktionsmaßnahme

(Art. 42) oder als Akt individueller oder kollektiver

Selbstverteidigung (Art. 51) erlaubte.

Trotz aller völkerrechtlichen Klärungsversuche: in politischer Hinsicht

bleibt die Ungewissheit darüber, was das Wesen des Krieges ausmacht und

wo er seine Grenzen findet, bestehen. Zwar hat Clausewitz die lange Zeit

gültige Auffassung vom Kriege als eines funktionalen Mittels der

Politik entwickelt, als einer spezifischen Form des Verkehrs der

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Staaten untereinander, die zwar ihre eigene Logik hat, grundsätzlich

aber den Primat der Politik gelten lässt: Der Krieg hat keinen

Eigenwert, sondern gewinnt seine Berechtigung allein in einem von der

Politik geprägten, der Durchsetzung der Interessen der Staaten nach

außen dienenden Ziel-Mittel-Verhältnis (Übersicht: Heuser 2005; immer

noch lesenswert Aron 1980). Aber: was diese Auffassung nicht erfasst,

ist die Wandlung des Krieges von einer – für die Zeit Clausewitz` noch

typischen – Auseinandersetzung zwischen Souveränen und ihren Armeen –

wie sie am deutlichsten in der Form der mit begrenzter Zielsetzung und

unter weitgehender Schonung von Non-Kombattanten und produktiven

Sachwerten geführten Kabinettskriege des 18. Jhs. aufscheint – zu einer

Auseinandersetzung zwischen hochindustrialisierten

Massengesellschaften, die als Totaler Krieg bezeichnet wird. Ausgehend von

der levèe en masse der französischen Revolutionskriege, erstmals deutlich

manifest im Amerikanischen Bürgerkrieg 1861-1865, erreicht sie im

Ersten und im Zweiten Weltkrieg ihre Höhepunkte. Mobilmachung aller

militärischen, wirtschaftlichen und geistig-weltanschaulichen

Ressourcen für die Kriegführung; Missachtung der völkerrechtlichen

Unterscheidung zwischen kriegführenden Streitkräften (Kombattanten) und

nichtkämpfender Zivilbevölkerung; Zerstörung kriegs- und

lebenswichtiger Anlagen im Hinterland des Gegners; Mobilisierung

gewaltiger Propagandamittel, um die eigene Wehrbereitschaft zu steigern

und die des Gegners zu zersetzen – all diese Elemente haben nur ein

Ziel: die völlige Vernichtung des zum absoluten Feind erklärten

Gegners. Der Totale Krieg kehrt das Clausewitz‘sche Zweck-Mittel-

Verhältnis von Politik und Krieg nachgeradezu um, setzt – im Sinne der

These Ludendorffs vom Krieg als der höchsten Äußerung völkischen

Lebenswillens – die äußerste militärische Anstrengung absolut. Damit

aber wird der Krieg der politischen Operationalisierbarkeit beraubt,

werden Staat und Politik zum Mittel des Krieges erklärt, wird der Krieg

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stilisiert zum Medium der Selbststeigerung und Überhöhung: des Kriegers

sowohl als auch der kriegführenden Nation.

Mit der Entwicklung nuklearer Massenvernichtungswaffen stellt sich die

Frage nach der politischen Instrumentalität des Krieges vor dem

Hintergrund des thermonuklearen Holocausts erneut (Übersicht Freedman

2003). Der Clausewitz‘schen Lehre von der politischen Zweckrationalität

des Krieges ist im Zeitalter der auf gesicherte Zweitschlagspotentiale

der Supermächte gestützten gegenseitigen Totalzerstörungsoption

(„mutual assured destruction“ - MAD) der Grundsatz entgegenzuhalten,

daß Krieg kein Mittel der Politik mehr sein darf. Denn: sein Charakter

hat einen qualitativen, irreparablen Bruch erfahren: das Katastrophale,

Eigendynamische organisierter militärischer Gewaltanwendung ist auf in

der Geschichte bis zum Jahre 1945 nie dagewesene Weise gesteigert

worden. Es gilt die treffende Bemerkung des Psychologen Alexander

Mitscherlich (1970: 16): Die Atombombe verändere den Charakter des Krieges

„... von einer Streitgemeinschaft zu einer vom Menschen ausgelösten

Naturkatastrophe...“. Oder anders: wo das Mittel den Zweck, dem es

dienen soll, im Falle seines Einsatzes obsolet macht, führt es sich

selber ad absurdum. Damit aber wäre auch die hergebrachte Unterscheidung

von Krieg und Frieden fragwürdig. Ihre Grenzen verschwimmen spätestens

da, wo in der Politik der Abschreckung die Vorbereitung auf den Krieg

zur Dauermaxime politischen Handelns wird. Die spezifischen Konturen

von Krieg und Frieden als trennbare gesellschaftliche Größen gehen

verloren:

„Mit der Entwicklung des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg undder Tendenz zur Totalisierung politischer Ziele und technologischerZerstörungspotentiale wurde überkommenen begrifflichenDifferenzierungen endgültig der Boden entzogen. Dem Begriff des Kriegesund dem Begriff des Friedens entsprechen in Politik und Gesellschaftheute keine eindeutigen Sachverhalte mehr“ (Senghaas 1969: 5).

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Die Entwicklung der Destruktionsmittel (Übersicht Metz 2006: Teil III)

hat mittels des Luftkrieges Schutzversprechen und Sphärentrennung schon

zu Beginn des 20. Jhs. ernsthaft hinterfragt, und in der Mitte des 20.

Jhs. durch die Entwicklung nuklearer Massenvernichtungswaffen

potentiell aufgehoben. Aber erst die Entwicklung des Neuen Krieges

setzt solchem Denken tatsächlich ein Ende. Die charakteristischen

Elemente jener Schönen Neuen Welt der privatisierten Gewalt (Mair 2003)

– nämlich

– die Verwicklung der Staaten in unkonventionelle Prozesse und Formen

der Kriegführung zwischen staatlichen und sub- oder nichtstaatlichen

Akteuren, oder die Wiederkehr der kleinen Kriege (Heuser 2010: 456ff)

– die Vergesellschaftung, Kommerzialisierung, Privatisierung des

Gewaltmonopols (Percy2013),

– die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Armee und

Zivilbevölkerung, die Zivilisten übergangslos zu Kombattanten werden,

Wohnviertel und Schlachtfeld in eins fallen lässt,

– die die Brutalität der eingesetzten Mittel steigernde quantitative

wie qualitative, zeitliche wie räumliche Entgrenzung eines Konflikts

zwischen sich gegenseitig als illegitim bezeichnenden Einheiten,

– schließlich die Abwanderung all dieser Auseinandersetzungen aus

der Zuständigkeit des Völker- oder besser: zwischenstaatlichen Rechts in

die normative Grauzone zwischen innerstaatlichem und zwischenstaatlichem

Recht

beschwören letztlich die Auflösung des überkommenen staatenzentrischen

Kriegsbildes. Militärische Gewaltanwendung wendet sich aus dem

zwischenstaatlichen Bereich in den innergesellschaftlichen, aus der

Sphäre zwischen den handelnden Subjekten der internationalen Politik in die

innergesellschaftliche Sphäre sich zersetzender und zerfallender staatlicher

Handlungseinheiten. Mit diesen Veränderungen in Kriegsbild und

Kriegführung aber ist militärische Gewaltanwendung heute von einem

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überwiegend zwischenstaatlichen zu einem überwiegend innergesellschaftlichen

Problem geworden !

1.2 Krieg – postmodern

Wenn der Begriff der Postmoderne in den krisenhaften Entwicklungen des

internationalen Systems während des ersten Jahrzehnts des neuen

Jahrtausends nicht selbst etwas außer Gebrauch und Geltung gekommen

wäre, wäre man versucht, die Entwicklung des Neuen Krieges als ein

typisches Moment der Postmoderne (generelle Übersicht Rosenau 1992;

knapp Butler 2002) zu fassen: Auflösung und Dezentrierung des

herkömmlich handelnden Subjekts, Gleichzeitigkeit von

Ungleichzeitigkeiten: Skepsis gegenüber einer immer stärker

technisierten und industrialisierten Form der Kriegführung („cyber

warfare“), Suche nach oder Rückbesinnung auf alternative („low-tech“)

Handlungsempfehlungen in Strategie und Taktik, Pluralisierung der

militärischen Einsatzdoktrinen und Denkstile, Überschreitung, wenn nicht

bewusste Missachtung angestammter Grenzen klassischer Politik- und

Gesellschaftsbereiche, Skepsis gegenüber dem, wenn nicht gar

entschiedene Ablehnung des herausragenden Projekts der Moderne: der

geschichtsphilosophisch-rational begründeten Hoffnung auf die endliche

Perfektibilität der Gattung Mensch, greifbar in der Zivilisierung des

Austrags von Konflikten durch deren Verrechtlichung ebenso wie in der

ethisch-rationalen Neufundierung der internationalen Politik als

Friedenspolitik (Küng/Senghaas 2003).

Begleitet werden diese Entwicklungen im Zeichen der Globalisierung von

der Ausbildung einer postnationalen Konstellation: Verwischung ehemals

klar gezogener Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Innenpolitik

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und internationaler Politik, zwischen Krieg und Frieden. Phänomene der

Denationalisierung (Zürn 1998) – Ausweitung gesellschaftlicher

Interaktionen über die Grenzen des Nationalstaats hinaus – sind für die

Politikwissenschaft zwar nichts Neues: die anachronistische Souveränität

war schon 1970 Thema des ersten PVS-Sonderheftes. Aber: Mit der

Infragestellung des nationalen Akteurs als klassischer

Kriegführungsmacht – schlimmstenfalls mit seiner Degeneration zum

schwachen oder gar gescheiterten Staat (Schneckener 2006) – wird auch der

zwischenstaatliche Krieg als alleinige oder hauptsächliche Austragungsform

internationaler Konflikte zum Anachronismus. An die Stelle organisierter

zwischenstaatlicher Gewaltanwendung tritt ein neuer Kriegstyp, in dem sich

Momente des klassischen Krieges, des Guerillakrieges, des bandenmäßig

organisierten Verbrechens, des transnationalen Terrorismus und der

weitreichenden Verletzung der Menschenrechte miteinander verbinden

(Übersicht: Frech/Trummer 2005). Seine asymmetrische Struktur (Münkler 2006:

Teil II) zwischen regulären und irregulären Kampfeinheiten impliziert

seine sowohl zeitliche als auch räumliche Entgrenzung: die Heckenschützen

Sarajevos kämpften weder entlang einer zentralen Frontlinie noch

innerhalb eines durch Kriegserklärung formal begonnenen und durch

Kapitulation oder Friedensvertrag formal geschlossenen Zeitraums. Sie

sind aber ein gutes Beispiel für ein weiteres Kennzeichen Neuer Kriege:

der sukzessiven Verselbständigung und Autonomisierung ehedem militärisch

eingebundener Gewaltformen wie Gewaltakteure (Münkler 2003). Die

regulären Armeen verlieren die Kontrolle über das Kriegsgeschehen –

sowohl räumlich als auch zeitlich. Während nach Clausewitz im

herkömmlichen Krieg zwischen Staaten die Niederwerfung des Gegners in

der nach Konzentration der Kräfte angestrebten Entscheidungsschlacht das

oberste Ziel der Kriegsparteien ist, besteht die Besonderheit des Neuen

Krieges in einer Strategie des sich lang hinziehenden Konflikts, in dem

der Gegner vorgeführt, ermüdet, moralisch und physisch zermürbt, durch

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punktuelle Aktionen räumlich gebunden, schließlich durch Schnelligkeit

und Bewegung ausmanövriert und durch geschickte, gelegentlich durchaus

auch eigene Opfer kostende Aktionen in den Augen einer internationalen

Öffentlichkeit diskreditiert, moralisch erniedrigt und so bei möglichen

Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen unter Vermittlung

mächtigerer Dritter ins Unrecht gesetzt und zumindest teilweise um die

Früchte seiner Anstrengungen gebracht wird.

Eine solche Veränderung der Kriegsziele zieht notwendigerweise auch

eine Veränderung in der Art der Kriegführung nach sich: die großen,

statischen Abnutzungsschlachten regulärer Armeen aus der Zeit des

Ersten, die schnelle, raumgreifende Bewegung gepanzerter Verbände aus

der Zeit des Zweiten Weltkriegs weichen Konfrontationen zwischen

kleinen, regulären und/oder irregulären Verbänden, in denen klare

Fronten ebenso selten sind wie große Entscheidungsschlachten. Was

zählt, ist nicht der militärische Sieg über den Gegner, sondern die

Kontrolle über seine Auslandsverbindungen, seine Transportwege, seine

Rohstoffvorkommen, über die Moral und Informationslage seiner

Zivilbevölkerung. Das bevorzugte Mittel der Auseinandersetzung sind

Kleinwaffen, automatische Gewehre, Granatwerfer: die effektivsten

Kampfmaschinen des Kalaschnikow-Zeitalters (Kongo, Liberia) sind

Sturmgewehr-bewaffnete, bekiffte, zugedröhnte männliche Jugendliche,

die außerhalb ihrer als Miliz firmierenden Räuberbande weder die Mittel

zum Lebensunterhalt noch gesellschaftliche Anerkennung oder Respekt für

ihr Tun erwarten können.

Insofern ginge man auch zu kurz, den Neuen Krieg als einen „bloßen“

ethnonationalistischen Bürgerkrieg zu begreifen, in dem die

Gewaltanwendung zur Durchsetzung von Volksgruppen-Zielen gleichsam

privatisiert wird. Er ist ein genuin politisches Phänomen, an dem

externe und interne, regierungsamtliche wie nichtregierungsamtliche

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Akteure gleicherweise teilhaben. In ihm geht es weniger um klassische

machtpolitische und/oder territoriale Ziele, wie sie etwa die

„Kanonenbootpolitik“ des 19. Jhs. kennzeichneten, sondern um (auch

bewaffneten Zwang als Mittel der Überzeugung oder Verdrängung

Andersdenkender einsetzende) Identitätsstiftung. In Abwandlung des

klassischen Diktums von Carl Schmitt – dass nämlich souverän sei, wer

über den Ausnahmezustand bestimme – ist der eigentliche Souverän des

Neuen Krieges derjenige, der Konflikte der Perzeption des Anderen durch

die eigenen Kampfgenossen, der Interpretation historischer und politischer

Tatsachen auf der innergesellschaftlichen wie internationalen

Referenzebene und der Sinnstiftung auf der Ebene der Weltanschauung, der

Religion oder der Ideologie zu seinen Gunsten entscheiden kann.

Vom Totalitätsanspruch der Sinnstiftung ist es in aller Regel nur ein

kleiner Schritt zum Totalitätsanspruch der Kriegführung. Die

Bezeichnung der Neuen Kriege als Kleine Kriege ist ein gutes Stück

euphemistischen Orwell’schen New Speak: weder in Dauer, Intensität noch

Zerstörungskraft sind die Kleinen Kriege tatsächlich klein. Vielmehr

zeichnen sie sich durch extraordinäre Langlebigkeit (z.B. Sudan,

Angola, Kongo, Kolumbien) aus – vor allem, wenn Kriegsparteien in der

Peripherie von (Rest-) Staaten agieren, Zugang zu wertvollen Ressourcen

(Öl, Diamanten) haben und mit Blick auf einen ungewissen Frieden es

vorziehen, ökonomische Gewinne durch dauerhafte Gewaltstrategien zu

realisieren. Was sie prinzipiell kennzeichnet, ist ihre Durchbrechung,

wenn nicht gar Außerkraftsetzung verbindlicher Regeln für die

Kriegführung: die Kriegsakteure bestreiten die Geltung des

Kriegsvölkerrechts, weil es sich um ein zwischenstaatliches Rechtssystem

handelt, sie sich aber gerade nicht als staatliche Akteure begreifen, die

den das ius in bello kodifizierenden und einhegenden Konventionen

unterworfen sind. Am augenfälligsten wird diese Entwicklung in der

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Aufhebung der Unterscheidung zwischen Kombattanten und

Nichtkombattanten: im Kleinen Krieg kommen paradoxerweise alle Mittel zum

Einsatz, so dass er in seiner charakteristischen Brutalität Züge

annimmt, die sonst nur mit dem Phänomen des totalen Kriegs in

Zusammenhang gebracht werden.

„Die Gesamtheit des Gegners, und nicht nur dessen Kombattanten, wirdals Feind angesehen und bekämpft. Die Symmetrie, also die Beschränkungdes Kampfes auf die Kombattanten, kennzeichnet den großen Krieg; fürden kleinen Krieg hingegen ist die bewusst angestrebte Asymmetrie imKampf gegen die verwundbarste Stelle des Gegners, eben dieNichtkombattanten, charakteristisch. Daher rührt der hohe Anteil vonZivilisten unter den Opfern kleiner Kriege. Auch reguläre Streitkräfte,die in einem kleinen Krieg gegen irreguläre Kräfte eingesetzt werden,tendieren dazu, sich die regellose Kampfesweise des Gegners zu eigen zumachen...“ (Hoch 2001: 19).

Mit den überkommenen Kategorien des Generals von Clausewitz ist das

Kriegsbild der Neuen Kriege (Kaldor 2000; Forschungsüberblick Daase

2003) nicht länger zu fassen. Denn:

– Die Fragmentierung der staatlichen Handlungssubjekte, die Privatisierung des

staatlichen Gewaltmonopols durch die Akteure informeller Raubökonomien

stellt die These von der politischen Zweckrationalität des Krieges aus

der Perspektive einer Vielzahl von Mikro-Ebenen radikal in Frage

(Übersichten: Voigt 2002). Die Ebene der Gewaltanwendung verschiebt sich

„nach unten“, die über Jahrhunderte erarbeiteten Regeln der

zwischenstaatlichen Kriegführung verlieren sich immer mehr zwischen den

Fronten nichtstaatlicher Kriegs- oder Konfliktparteien (Daase 1999).

– Im Kontext der Neuen Kriege lösen sich die herkömmlichen, dem Primat

der Politik unterstellten und dem Prinzip von strategischer

Rationalität, einheitlicher Führung, Befehl und Gehorsam verpflichteten

militärischen Großverbände als Hauptträger der Kriegführung auf. An ihre

Stelle treten die Privatarmeen ethnisch-nationaler Gruppen,

Partisanenverbände, unabhängig operierende Heckenschützen, marodierende

Banden, Mafiagangs: „What are called armies are often horizontal

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coalitions of local militia, break away units from disintegrating

states, paramilitary and organized crime groups“ (Kaldor 1997: 16).

Dabei schwindet nicht nur die klassische Unterscheidung von

Kombattanten und Zivilisten – die Schlachtfelder des Neuen Krieges

werden bevölkert von Figuren, die Europa seit dem Absolutismus aus der

Kriegführung verbannt hatte:

– dem Warlord, einem lokalen oder regionalen Kriegsherrn, der seine

Anhängerschaft unmittelbar aus dem Krieg, der Kriegsbeute und den

Einkünften des von ihm eroberten Territoriums finanziert (Rich 1999;

Reno 1999; Azzellini/Kanzleiter 2003; Marten 2013);

– dem Söldner, einem Glücksritter, der in möglichst kurzer Zeit mit

möglichst geringem Einsatz möglichst viel Geld zu verdienen trachtet

(www.kriegsreisende.de)

– dem Kindersoldaten, dessen Beeinflussbarkeit und Folgebereitschaft

ihn zu einem gefügigen Instrument des bewaffneten Terrors macht

(www.kindersoldaten.de) (Gesamtüberblick Förster/Jansen/Kronenbitter 2010;

Goodwin-Gill 2013).

– Angesichts der so fassbaren Entgrenzung der Kriegsakteure – verstanden

nicht nur als die Verwischung der Differenz von Regularität und

Irregularität, sondern auch als Wandel von ehedem regional oder national

verankerten Akteuren zu transnationalen Einheiten – die etwa in einem

Staat kämpfen, aber in einem benachbarten ihre Rückzugs- und Ruheräume

(teils auch gegen Widerstreben der dortigen Autoritäten) besetzen –

wundert es nicht, dass militärische Gewalt sich immer seltener nach

außen richtet, in den Bereich zwischen den Staaten. Vielmehr kehrt sich

ihre Stoßrichtung um, in die Innensphäre der zerfallenden

einzelstaatlichen Subjekte hinein. Ihr übergeordneter Zweck ist nicht

mehr die Fortsetzung des politischen Verkehrs unter Einmischung anderer

Mittel, sondern die Sicherung des innergesellschaftlichen Machterhalts

von Interessengruppen, Clans, Warlords, Kriminellen; die Garantie von

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Beute und schnellem Profit; die Erzwingung und Erhaltung von

klientelistischen und persönlichen Abhängigkeiten, die Etablierung und

der Ausbau von Formen quasi-privatwirtschaftlich organisierter

Einkommenserzielung. Schon wird der low intensity conflict als Fortsetzung der

Ökonomie mit anderen Mitteln bezeichnet: eher als im zwischenstaatlichen

Krieg geht es in ihm um handfeste materielle Interessen, um die

Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen und Chancen, in welcher

ethnischen, religiösen oder ideologischen Verkleidung die

Konfliktparteien auch auftreten.

– Damit aber verändert sich auch die Ökonomie des Krieges: rekurrierte

der klassische Staatenkrieg noch auf die Ressourcenmobilisierung durch

den Staat (Steuern, Anleihen, Subsidien, totale Kriegswirtschaft),

passte er die Wirtschaft als Kriegswirtschaft an den Ausnahmezustand an,

ordnete er das, was sonst dem Markt überlassen blieb, planwirtschaftlich

den Anforderungen des Krieges und der Kriegsziele unter (Ehrke 2002), so

finanzieren sich die Guerrilla- und low intensity-warfare-Konflikte der

Gegenwart aus Kriegsökonomien, die durch die Gleichzeitigkeit von

(nationaler) Dezentralisierung und globaler Verflechtung gekennzeichnet

sind (Ballentine/Sherman 2003). Offizielle Machthaber, Interventionsarmeen,

Kriegsherren, Warlords und Rebellen organisieren von einander getrennte

Wirtschaftsräume, die aber mit den Wirtschaften anderer Staaten und/oder

der globalen Weltwirtschaft vernetzt sind. Die nationale Ökonomie informalisiert

sich. Die Wirtschaften des Bürgerkrieges, des Neuen Krieges sind

Ökonomien mit ungeschützten Märkten, die ihre Akteure vor andere

Handlungsnotwendigkeiten stellen als jene, in denen der sich ausbildende

Zentralstaat Rechtssicherheit und Verkehrswegesicherheit ebenso

garantiert wie Eigentum und Besitzverhältnisse. In einer solcherart

dezentralisierten Wirtschaft haben die illegale Aneignung von Gold und

Edelsteinen, der Menschen- und Rauschgifthandel, der Zigaretten- und

Treibstoffschmuggel Hochkonjunktur (Jean/Rufin 1999) – und das nicht nur

17

während der Phase militärischer Auseinandersetzungen, sondern gerade

auch in den Zwischenzeiten, in denen Fronten begradigt, Kräfte

gesammelt, Waffenarsenale neu aufgefüllt werden. Trennende Kulturen und

Religionen liefern der Ökonomie des Neuen Krieges allenfalls den

Vorhang, hinter dem Akteure mit klaren wirtschaftlichen Interessen zu

erkennen sind – die Kriegsherren, die auf den sich entwickelnden

Gewaltmärkten Gewalt als effektives und effizientes Mittel

wirtschaftlichen Erwerbsstrebens einsetzen. Die politische Ökonomie

dieser Konflikte ist nicht mehr staatszentriert: vielmehr sind die

Kriegsökonomien in regionale und globale, sich der staatlichen Kontrolle

entziehende mafiöse und/oder parasitäre Transaktionsnetze eingebunden.

– Und: wie erfolgreiche transnationale Konzerne geben die Akteure des

Neuen Krieges in ihrer Organisationsstruktur das herkömmliche Prinzip einer

pyramidal-vertikalen Kommandohierarchie auf, nähern sich den komplexen

horizontalen Netzwerken und flachen Hierarchien, die die

Führungsstrukturen moderner Wirtschaftsunternehmen kennzeichnen. Zu

einem Gutteil ist selbst ihre Kriegführung transnational: sie werden

finanziert durch Spenden oder „Abgaben“ in der Diaspora lebender

Volksangehöriger oder ihren Zielen geneigter Drittstaaten (Tanter 1999);

sie greifen logistisch auf einen globalisierten Waffenmarkt zu; sie

rekrutieren ihre Kämpfer aus Angehörigen (fundamentalistisch-)

weltanschaulich gleichgerichteter Drittgesellschaften; sie nutzen die

Dienste weltweit operierender kommerzieller Anbieter militärischer

Beratungs-, Trainings- und Kampfleistungen (Shearer 1998; aktuelle

Übersicht Michels/Teutmeyer 2010); und sie beschränken ihre Aktionen

nicht auf das angestammte Territorium oder regionale Kriegsschauplätze,

sondern tragen ihren Kampf mittels spektakulär-terroristischer Akte an

solche Orte, an denen ihnen die Aufmerksamkeit einer multimedial rund um

den Globus vernetzten Weltöffentlichkeit sicher sein kann.

18

– Schliesslich: Der wichtigste Unterschied zwischen klassischen und

Neuen Kriegen betrifft die überkommene begriffliche wie faktische

Trennung von Krieg und Frieden: im Neuen Krieg werden Krieg und Frieden

zu nur noch relativen gesellschaftlichen Zuständen. Der Neue Krieg wird

nicht erklärt und nicht beendet: vielmehr wechseln in ihm Phasen

intensiver und weniger intensiver Kampfhandlungen, in denen Sieger und

Besiegte nur schwer ausgemacht werden können. Entscheidungsschlachten

werden nicht mehr geschlagen; Gewaltanwendung diffundiert als

bevorzugtes Mittel der Konfliktbearbeitung in alle gesellschaftlichen

Lebensbereiche.

Halten wir fest – trotz aller Diskussion und teils entschiedenem

Widerspruch im Einzelnen (locus classicus die Diskussion der Münkler’schen

Thesen in EWE 19: 2008; ferner kritisch Berdal 2013): mit dem eingangs

skizzierten Konzept des klassischen Krieges ist die Entgrenzung – oder

noch besser: Ausfransung und Molekularisierung – zwischenstaatlicher

Formen der Kriegführung nicht zu fassen. Und die realpolitisch-

instrumentelle Sicht eines Phänomens, das wie in Afghanistan bei

näherem Hinsehen in Hunderte von Klein- und Kleinstkriege zerfällt, an

denen sich rivalisierende Clans und Warlords, religiöse Fanatiker,

ausländische Soldaten und lokale Straßenräuber (Voigt 2002: 323)

beteiligen, reduziert sich nicht immer, aber immer öfter, auf die

gewaltsamen Kontexte von greed, corruption, and dominance.

Selbstverständlich kann man in der Diskussion eine Volte zu

Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus schlagen und behaupten, seit dem

Dreißigjährigen Krieg hätten sich die Formen kleinteiliger

Gewaltsamkeit nur unwesentlich verändert, seien zwischen dem als

Schwedentrunk bekannten Folterinstrument nicht nur der schwedischen

Soldateska jener Zeit und der Praxis des Waterboarding nur graduelle

Unterschiede geltend zu machen. Aber dieses Argument ignoriert doch

wenigstens einen entscheidenden Hintergrundfaktor in der Entwicklung

19

der Kriegführung: den Fortschritt nicht nur der Produktiv-, sondern vor

allem auch der Destruktivkräfte mitsamt ihren kontingenten Konsequenzen

für den politisch-gesellschaftlichen Überbau von Krieg und Frieden. Wir

werden auf diesen Punkt sogleich zurückkommen, fassen aber zunächst

die bisherige Argumentation schematisch.

Abb. 1 Wandel des Kriegsbildes

2 Grundkonstanten der Diskussion: Entwicklung des Staates, der

Produktivkräfte und der Destruktionsmittel

Bei der Klassifizierung von Kriegen wird oft mit binären Codierungen

gearbeitet – Angriffs-/Verteidigungskrieg, Staaten-/Bürgerkrieg,

gerechter/ungerechter Krieg, traditioneller/Neuer Krieg, Kleiner/Großer

Krieg - heuristische Hilfskonstruktionen, die unsere Tatbestände

näherungsweise eingrenzen, dabei aber vermeiden, Aussagen über „das“

Wesen „des“ Krieges machen zu müssen, die angesichts der

Geschichtlichkeit sowie des beständigen Gestalt- und Formwandels der

unter die Begriffe subsumierten Phänomene sehr schnell Schiffbruch

erleiden müssten (Geis 2006: 14ff). Gleichwohl wird immer wieder gern

versucht, aus der realhistorischen Entwicklung des Krieges langfristige

Trends herauszudestillieren, wie sie etwa im über Jahrhunderte

verfeinerten Ersatz menschlicher und tierischer Muskelkraft durch

Maschinen und Explosionsmotoren und damit in der Mechanisierung der

Bewegung ebenso aufscheinen wie in der Entwicklung der Explosionsmittel

und der Intensivierung von Feuer- und Durchschlagskraft sowie

Präzisierung der Zielgenauigkeit artilleristischer und ballistischer

Sprengkörper einerseits, der im Festungsbau und der Entwicklung der

Panzerwaffe greifbaren Streben nach immer besserem Schutz gegen diese

Waffenentwicklungen andererseits. Das führt dann zu der historische

Einzelentwicklungen übergreifenden Aussage, die Entwicklung des

20

modernen Krieges sei durch die Phänomene der Modernisierung,

Demokratisierung, und den technischen Fortschritt gekennzeichnet

(Näheres Gat 2013). Selbstverständlich erfreuen wir uns auch

formalisierterer Kategorisierungssysteme, die bei der inhaltlichen

Bestimmung der Begriffe helfen sollen – so z.B. die Kriege und Konflikte

anhand einer vertikalen Akteurs-Achse (von der Dorfgemeinschaft bis zur

Supermacht) und einer horizontalen Gewaltsamkeits-Achse (vom sichtbaren

Interessenkonflikt bis zum globalen Nuklearkrieg) ordnende

Klassifizierung von Ruloff/Schubiger (2007: 10 – 17; hilfreich dort v.a.

das Schema auf S.11). Was aber fehlt, ist ein leistungsfähiger

analytischer Zugang zum Problemkomplex Krieg, ein orientierender

Untersuchungsrahmen, wie ihn das Konstrukt der multi-level governance

zunächst für die europäische Integrationsforschung, später dann generell

für die Untersuchung politischer Systeme darstellte (knapper Überblick

Bevir 2012) – eine multi-level disgovernance - Perspektive vielleicht ! Denn: der

politikwissenschaftlichen Forschung mangelt es an eineindeutigen

konsensfähigen Begriffen der zu untersuchenden Tatbestände (Rudolf 2010:

526) – der Krieg ist frei nach Friedrich dem Großen ein launisches

Luder (Kluss 2008), das in der Clausewitz’schen Perspektive auftritt wie

ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Fall seine Natur etwas

ändert (Ruloff/Schubiger 2007: 11). Schon diese Beobachtung legt eher

einen historisch-hermeneutischen denn einen sozialwissenschaftlich-

nomothetischen Zugriff auf unseren Gegenstand nahe – und unterstützt

wird dies durch eine Einsicht aus der politischen Ideengeschichte:

Dass traditionellerweise Krieg und Frieden begrifflich als zwei klar

voneinander unterscheidbare, sich gegenseitig ausschließende politische

Zustände gelten, ist Ergebnis einer spezifisch frühneuzeitlichen

Argumentation: Angesichts der Situation des konfessionellen

Bürgerkrieges in Europa konstituiert vor allem Thomas Hobbes den Staat

als einen öffentliche Ruhe und innere (Rechts-)Sicherheit

21

garantierenden unbedingten Friedensverband, der auf

gesellschaftsvertraglicher Grundlage den Naturzustand des bellum omnium

contra omnes durch Setzung eines rechtlich geordnete Machtverhältnisse

im Staatsinnern schützenden Gewaltmonopols aufhebt. Gedanklich wird

damit der Weg frei, den Krieg auf das Binnenverhältnis der Souveräne,

den internationalen Naturzustand, zu beschränken und ihn als rechtlich

geregelte Form bewaffneter Konfliktaustragung zwischen Staaten zu

begreifen. Zugleich ermöglicht diese Operation die Definition des

Friedens als Nicht-Krieg (Schwerdtfeger 2001: S. 89ff) – und liefert

damit eine politisch-juristische Konstruktion, mittels derer die

Vielfalt sozialer und politischer Konfliktlagen begrifflich eindeutig

bestimmbar scheint.

Allerdings weist die real- und ideengeschichtliche Analyse

(Gesamtüberblick Vasquez 2009) auf, dass die so gewonnenen Begriffe von

Krieg und Frieden mit der Ontologie des klassischen staatenzentrischen

Systems internationaler Politik – dem gern auch mit Blick auf die

Friedensregelung von 1648 so bezeichneten Westfälischen System (hierzu

kritisch Meyers 2012) - aufs engste verknüpft sind. Veränderungen der

realhistorischen Randbedingungen internationaler Politik ziehen

Veränderungen im Gebrauch wie im Gehalt der Begriffe von Krieg und

Frieden unmittelbar nach sich. Seit der frühen Neuzeit setzt sich in

der europäischen Geschichte der Staat als Schutzverband und territorial

fassbarer internationaler Akteur (Übersicht Schulze 2004) vornehmlich

deshalb durch, weil er seine Tätigkeit über die erfolgreiche Produktion

von Sicherheit legitimiert: von Verkehrswege- und Rechts-, später dann

auch wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit im Binnenverhältnis, von

nationaler Sicherheit im Außenverhältnis zu anderen vergleichbaren

Akteuren, von internationaler Sicherheit in der durch die Prozesse von

Konkurrenz und Konflikt ebenso wie von Kooperation und

Friedensbewahrung strukturierten Staatengesellschaft. In dieser

22

Entwicklung erscheinen Sicherheit und Territorialität als notwendige

Korrelate: je mehr sich der frühneuzeitliche Staat territorial

verfestigt, seine Herrschaft im Binnenverhältnis unwidersprochen

durchsetzen und behaupten kann, desto erfolgreicher vermag er sein

Schutzversprechen seinen Bürgern gegenüber im Inneren wie auch in der

sich herausbildenden Staatenwelt nach außen einzulösen. Und:

begriffsgeschichtliches Ergebnis des sich ausbildenden und

intensivierenden Konnexes zwischen staatlicher Herrschaft – Ausübung

von Macht durch zentrale politische Institutionen – und Kriegführung

war, dass Frieden und Sicherheit über Jahrhunderte hinweg in politisch-

militärischen Kategorien bestimmt, vom Staat als ihrem Produzenten und

Garanten her gedacht wurden, dass sie sich auf den Schutz des

Individuums ebenso wie auf den Schutz der schützenden Institution

bezogen. Schließlich: Sicherheit und Schutzgewährung als Voraussetzung

einer erfolgreichen Politik der Herstellung und Bewahrung von Frieden

kristallisieren sich in der Verteidigung der Integrität des staatlichen

Territoriums ebenso wie in der Behauptung der Freiheit der politisch-

gesellschaftlichen Eigenentwicklung.

Von zentraler Bedeutung in diesem Kontext ist die Annahme, dass zum

einen die Entwicklung des Kriegsbildes und der Kriegsformen Resultat

der Entwicklung der Produktivkräfte und der Destruktionsmittel ist, zum

anderen aber auch die Existenz, physisch-territoriale Gestalt,

politische Struktur und politisch-gesellschaftliche Funktion des

Staates mit der Ausdifferenzierung und dem Wandel der Ziele, Formen und

Prozesse der Kriegführung aufs engste verknüpft sind (Übersicht Metz

2006: Teil III). Dabei stellt schon der die Entwicklung der

Destruktionsmittel antreibende technische Fortschritt das klassische Symbol

der erfolgreichen Umsetzung staatlicher Schutzversprechen – nämlich die

militärisch-politisch-rechtlich abgestützte Undurchdringbarkeit

23

staatlicher Grenzen für Außeneinflüsse (Herz 1974) – sukzessive in

Frage und hebt sie schliesslich auf. Die insbesondere durch die

Entwicklung der Luftkriegführung und der ballistischen Trägerwaffen im

20. Jh. bewirkte prinzipielle Durchdringbarkeit der harten Schale des

nationalen Akteurs wird intensiviert durch die moderne

industriewirtschaftliche Entwicklung und die Folgen einer immer weiter

voranschreitenden internationalen Arbeitsteilung (Übersicht Dicken

2011), in deren Konsequenz der nationale Akteur unter

Globalisierungsdruck gerät. Die Ressourcen, deren er auch weiterhin

nicht nur zur Produktion von Sicherheit, sondern mehr noch angesichts

seiner Wandlung vom liberalen Nachtwächterstaat der ersten Hälfte des

19. zum Daseinsvorsorgestaat der zweiten Hälfte des 20. Jhs. zur

Erfüllung seiner sozialen Staatsaufgaben bedarf, werden bedroht,

geschmälert, in Frage gestellt. Die Entgrenzung der Staatengesellschaft

als Folge von Prozessen der Verregelung, Institutionalisierung und

formalen Organisation internationaler Beziehungen, der Ausbildung

transnationaler Interessenkoalitionen in einer Situation des Regierens

ohne Staat (Neyer 2004), der Entwicklung inter- und

transgouvernementaler Politikverflechtungen und von Mehrebenensystemen

des Regierens in staatenüberwölbenden (Integrations-) Zusammenhängen

(Schuppert 2005; Botzem u.a. 2009) überdeckeln, unterlaufen oder

ignorieren seine überkommenen Handlungsspielräume. Der Informalisierung

des internationalen Systems korrespondiert die Informalisierung der

innerstaatlichen Politik – fallen doch nicht nur die räumlichen und

zeitlichen Reichweiten ökonomischer Prozesse und (formeller)

politischer Entscheidungen auseinander, sondern gehen auch im Zuge von

Globalisierung, Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Aufgaben

Teilbereiche staatlicher Souveränität an private ökonomische Akteure

über. Damit aber wird die Leistungsfähigkeit des Staates als Garant von

Daseinsvorsorge wie als Ordnungsmacht gesellschaftlichen Zusammenlebens

24

im binnen- wie im zwischenstaatlichen Handlungsbereich weiter

ausgehöhlt. Der noch von Max Weber als unhinterfragter alleiniger

Inhaber des Monopols legitimer physischer Gewaltanwendung in einem

angebbaren Territorium beschriebene nationale Akteur hat in weiten

Teilen der Welt bereits zugunsten anderer Gewaltakteure abgedankt (gute

Übersicht Bonacker/Weller 2006). In Angola, Somalia, Sierra Leone,

Liberia oder dem Kongo ist er den Parteien, Handlangern und Profiteuren

des Neuen Krieges, den kleptokratischen Eliten, den Patronen neo-

patrimonialer Herrschaftsstrukturen und politischer Netzwerke, den

Diamantensuchern und den jeglicher sozialen Bindung entfremdeten

Jugendbanden (Bakonyi/Hensell/Siegelberg 2006) längst zum Opfer gefallen. In

Teilen des Balkans und des ehemaligen Sowjetimperiums ist immerhin noch

seine Hülle begehrt, weil diese wie ein Theatermantel mafiösen

Unternehmungen einen Rest von Legitimität und Respekt zu verschaffen

scheint, wenn nicht gar ihre Durchführung mit Blick auf Usurpation und

Kontrolle staatlicher Rest-Machtmittel entschieden erleichtert. In

beiden Fällen aber wird die klassische neuzeitliche

Legitimationsgrundlage staatlicher Existenz und staatlichen Handelns

insgesamt deutlich in Frage gestellt: Nämlich die Überwindung des von

Hobbes postulierten vorgesellschaftlichen Naturzustands des bellum

omnium contra omnes durch die Garantie von Sicherheit und Rechtsfrieden

im Binnen- wie Schutz vor militärischen Angriffen im Aussenverhältnis.

Die herkömmliche Legitimation des Krieges als Ausdruck des Rechtes der

Staaten auf Inanspruchnahme des Instituts der Selbsthilfe zur

Verteidigung eigener Interessen in einer anarchischen Staatenwelt ruht

eben auf der Erfüllung dieses Schutzversprechens: seiner Durchsetzung

dienen Monopolisierung der Gewaltanwendung und Verstaatlichung des

Krieges. Erst als sich der Staat als Kriegsmonopolist durchgesetzt

hatte, konnten Kombattanten und Nichtkombattanten, konnten Erwerbsleben

und Kriegführung, konnten letztlich auch Krieg und Frieden begrifflich

25

als zwei klar voneinander unterscheidbare, sich gegenseitig

ausschließende politische Sphären voneinander getrennt werden. (Münkler

2006: Kap.1). Es wird abzuwarten bleiben, welche begrifflichen

Konsequenzen die Aufweichung, wenn nicht gar Aufhebung dieser Trennung

durch die Entwicklung der Neuen Kriege haben wird. Die

charakteristischen Stationen der bisherigen Entwicklung sollen

jedenfalls hier abschliessend noch kurz skizziert werden.

Abb. 2 Elemente einer historischen Formenlehre

von Krieg und Frieden

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