Der deutsch-sowjetische Krieg in der Perspektive des 21. Jahrhunderts

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Dieter Pohl, Klagenfurt Der deutsch-sowjetische Krieg in der geschichtswissenschaftlichen Perspektive des 21. Jahrhunderts Vortrag aus Anlass der Neueröffnung des Deutsch-russischen Museums Berlin-Karlshorst 24. April 2013 Meine Damen und Herren, der deutsch-sowjetische Krieg liegt inzwischen sieben Jahrzehnte zurück. Seitdem ist ein großer Aufwand betrieben worden, um die Hintergründe und Ereignisse dieses Konflikts, der einen zentralen Platz in der Geschichte des 20. Jahrhunderts einnimmt, aufzuhellen. Zugleich hat der Krieg in den Erinnerungskulturen eine immer wichtigere Rolle gespielt, zunächst in der Sowjetunion, dann auch in Deutschland und schließlich in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Wir steuern gerade auf ein anderes großes Gedenkjahr zu, der 100. Wiederkehr des Ersten Weltkrieges. Dieser scheint jedoch inzwischen in weite historische Ferne gerückt zu sein. Mit dem deutsch-sowjetischen Krieg hingegen gehen wir anders um, es sieht so aus, als ob er nicht vergessen werden kann. Und dennoch stellt sich die Frage nach seiner Betrachtung und Analyse immer wieder neu. In den folgenden 40 Minuten möchte ich nun darlegen, wie die Geschichtswissenschaft den deutsch-sowjetischen Krieg heute, also zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht. Dabei meine ich in erster Linie die deutsche und die sogenannte westliche Forschung, will jedoch auch ein wenig die Geschichtswissenschaften in Russland, der Ukraine und den anderen Ländern einbeziehen, welche vom Krieg unmittelbar betroffen waren. Wie sieht der heutige Kenntnisstand aus, wie die Interpretationen, und wo steht die Forschung weit fortgeschritten, wo erst am Anfang? Zunächst ist festzuhalten, dass das Bild, dass die Geschichtswissenschaft in West und Ost vom Krieg lange Jahrzehnte präsentiert hat, nicht selten unter starken Verzerrungen litt. Im Westen dominierten lange Zeit die Narrative der deutschen Militärs, die in den Zeiten des Kalten Krieges oft bereitwillig von Öffentlichkeit und Politik aufgenommen wurden.

Transcript of Der deutsch-sowjetische Krieg in der Perspektive des 21. Jahrhunderts

Dieter Pohl, Klagenfurt

Der deutsch-sowjetische Krieg in der geschichtswissenschaftlichen Perspektive des

21. Jahrhunderts

Vortrag aus Anlass der Neueröffnung des Deutsch-russischen Museums Berlin-Karlshorst 24. April

2013

Meine Damen und Herren,

der deutsch-sowjetische Krieg liegt inzwischen sieben Jahrzehnte zurück. Seitdem ist

ein großer Aufwand betrieben worden, um die Hintergründe und Ereignisse dieses

Konflikts, der einen zentralen Platz in der Geschichte des 20. Jahrhunderts einnimmt,

aufzuhellen. Zugleich hat der Krieg in den Erinnerungskulturen eine immer

wichtigere Rolle gespielt, zunächst in der Sowjetunion, dann auch in Deutschland

und schließlich in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Wir steuern gerade auf ein

anderes großes Gedenkjahr zu, der 100. Wiederkehr des Ersten Weltkrieges. Dieser

scheint jedoch inzwischen in weite historische Ferne gerückt zu sein. Mit dem

deutsch-sowjetischen Krieg hingegen gehen wir anders um, es sieht so aus, als ob er

nicht vergessen werden kann. Und dennoch stellt sich die Frage nach seiner

Betrachtung und Analyse immer wieder neu.

In den folgenden 40 Minuten möchte ich nun darlegen, wie die Geschichtswissenschaft

den deutsch-sowjetischen Krieg heute, also zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht.

Dabei meine ich in erster Linie die deutsche und die sogenannte westliche

Forschung, will jedoch auch ein wenig die Geschichtswissenschaften in Russland,

der Ukraine und den anderen Ländern einbeziehen, welche vom Krieg unmittelbar

betroffen waren.

Wie sieht der heutige Kenntnisstand aus, wie die Interpretationen, und wo steht die

Forschung weit fortgeschritten, wo erst am Anfang? Zunächst ist festzuhalten, dass

das Bild, dass die Geschichtswissenschaft in West und Ost vom Krieg lange

Jahrzehnte präsentiert hat, nicht selten unter starken Verzerrungen litt. Im Westen

dominierten lange Zeit die Narrative der deutschen Militärs, die in den Zeiten des

Kalten Krieges oft bereitwillig von Öffentlichkeit und Politik aufgenommen wurden.

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In der Sowjetunion stand die Geschichtswissenschaft unter der Kuratel der

Kommunistischen Partei, die ihr eigenenes einseitiges Bild propagierte. Dennoch hat

sich seit den 1960er Jahren eine Darstellung herauskristallisiert, die um

Objektivierung bemüht ist, vor allem aber seit den 1980ern im Westen und seit den

1990ern in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion.

Beginnen wir mit jenen Bereichen, die als gut erforscht gelten können: Da ist

zunächst der deutsche Weg in den Krieg von 1941.

Die Vorgeschichten des deutsch-sowjetischen Krieges setzen meist bei einem

Provinzpolitiker aus Bayern an, nämlich Adolf Hitler, der 1925/26 in seinem

Propagandabuch „Mein Kampf“ einen Krieg um Lebensraum im Osten forderte,

einen Krieg um Raum und Resourcen, einen Krieg gegen den Bolschewismus.

Freilich stand Hitler nicht ganz allein mit diesen Forderungen, bis 1921 hatte es

immer wieder bewaffnete Interventionen gegen Sowjetrussland gegeben, und

mancher deutscher General träumte noch Ende der 1920er Jahre von der Befreiung

der Sowjetunion mit militärischen Mitteln, ganz zu schweigen von Teilen des

russischen Exils dieser Zeit.

Als Hitler dann um 1930 ins Zentrum der deutschen Politik zu rücken begann, war

von diesen Kriegsvorstellungen relativ wenig zu verspüren. Zwar setzte sich die

nationalsozialistische Führung, zunehmend auch der Rechtskonservatismus dafür

ein, die eher pragmatisch gehaltenen Beziehungen zur Sowjetunion einzufrieren. Zur

eigentlichen Konfrontation kam es jedoch erst um 1936. In diesem Jahr wurde nicht

nur die antibolschewistische Propaganda nach innen deutlich gesteigert, der Kampf

gegen die Sowjetunion galt nun auch als probates Mittel der Außenpolitik. Nicht

zufällig wurde das erste antibolschewistische Bündnis, der sogenannte Anti-

Kominternpakt, mit dem autoritären Japan geschlossen, dessen Truppen bereits in

Nordchina an der sowjetischen Grenze standen. Freilich war auch der

Vertragsabschluss vor allem eine Aktion mit propagandistischem Charakter und ohne

große politische Substanz.

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Hitlers eigentliche Kriegsplanungen richteten sich von 1937 an gegen die

Tschechoslowakei, zugleich erwartete er, dass einem Angriff auf das Nachbarland

ein Krieg mit Frankreich folgen sollte. Erst um die Jahreswende 1938/39 zeichnete

sich eine Konstellation ab, die gegen Polen gerichtet war, und somit eine Vorstufe für

den weiteren Krieg im Osten darstellte. Freilich kam es in der europäischen Krise des

Sommers von 1939 zu einer überraschenden Wende: 1. einigten sich Hitler und Stalin

auf einen Nichtangriffspakt und die territoriale Aufteilung weitere Teile

Ostmitteleuropas, 2. wurde klar, dass Großbritannien zugunsten Polens in einen

Krieg eintreten würde.

Freilich passte sich die nationalsozialistische Führung an diese Wende relativ flexibel

an. Polen war nun weitgehend isoliert und wurde zunächst von Hitler, in seinem

Ostteil schließlich auch von Stalin als Staat ausgelöscht. Die Wehrmacht konnte auf

dem europäischen Kontinent nun einen Sieg nach dem anderen erringen. Auf dem

Höhepunkt der deutschen Euphorie, noch während der deutschen Offensive in

Frankreich im Mai/Juni 1940, wurden nun Angriffsplanungen gegen die Sowjetunion

entwickelt, obwohl der Krieg gegen Großbritannien zu diesem Zeitpunkt noch nicht

beendet war. Ende November/Anfang Dezember 1940 entschied Hitler, im Frühjahr

1941 zur Eroberung der westlichen Sowjetunion zu schreiten.

Dieses Projekt war absolut waghalsig. Zwar galt die Rote Armee nach den

sogenannten Stalinschen „Säuberungen“ als desolat, zahlenmäßig aber immer noch

als stark. Andererseits glaubten Hitler und die Wehrmachtführung, die riesigen

Territorien östlich des Bug mit einer neuen Konzeption, dem „Blitzkrieg“, in die

Hände zu bekommen. Schnelle Panzerverbände sollten durch die Rote Armee

durchstoßen und ihre Armeen einkesseln, die Infanterie würde dann nachfolgen.

Man erwartete, den Großteil der Roten Armee auf diese Weise westlich der Wolga

innerhalb von 8 bis 12 Wochen militärisch niederwerfen zu können. Somit war die

Planung zwar völlig megaloman und riskant, freilich auch einem Präzendezfall nicht

unähnlich, der weitgehend kampflosen Besetzung Südrusslands im Jahre 1918.

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Zugleich war der Krieg gegen die Sowjetunion als imperialer Ausbeutungs- und

Vernichtungsfeldzug gedacht. Einerseits wähnte sich die deutsche Führung im

Kampf gegen den ideologischen Todfeind, von dem man annahm, dass er das

Völkerrecht selbst nicht beachten würde. Andererseits galt das Aushungern von

Teilen der sowjetischen Bevölkerung und die Erschießung bestimmter Gruppen wie

Politoffizieren der Roten Armee, Partei- und Staatsfunktionären und wohl auch aller

Juden im wehrfähigen Alter als Mittel zur Beschleunigung des militärischen Erfolgs.

Hitler und die Wehrmachtführung glaubten, dass man die vermeintliche soziale

Basis des Bolschewismus vernichten und die eroberten Gebiete mit Terror

paralysieren müsse, um sie zugleich beherrschen und maximal ausplündern zu

können. Politische, militärische und – im nationalsozialistischen Sinne – polizeiliche

Strategien griffen hier ineinander und lassen sich nicht voneinander trennen.

Am 22. Juni 1941 griffen drei Millionen deutsche (und auch österreichische) Soldaten

sowie 600.000 Mann ihrer Verbündeten die Sowjetunion an. Den Verlauf des Krieges

brauche ich in diesem Kreis wohl nicht im Detail zu rekapitulieren. Es bleibt jedoch

festzuhalten, dass der ursprüngliche Plan des Blitzkrieges bereits Ende Juli 1941

gescheitert war, der deutsche Historiker Andreas Hillgruber markierte hier den

„Zenit des Zweiten Weltkrieges“. Das „Unternehmen Barbarossa“, wie der Feldzug

von 1941 intern genannt wurde, war im Dezember 1941 schließlich durch die

sowjetische Gegenoffensive gestoppt. Die zweite Offensive, das „Unternehmen

Blau“, das von Juni 1942 an den deutschen Sieg herbeiführen sollte, erreichte

letztendlich keines seiner Ziele, weder die dauerhafte Unterbrechung der

Verkehrslinien in Stalingrad noch die Erlangung der Erdölfelder im Nordkaukasus.

In mehreren Zügen gelang es der Roten Armee von November 1942 an, das Land bis

zum Sommer 1944 weitgehend zurückzuerobern, im Januar 1945 schließlich samt des

Baltikums.

Dies alles hat die militärhistorische Forschung in West und Ost in den letzten sechs-

sieben Jahrzehnten im Detail rekonstruiert. Freilich hat sich der Blick auf den Krieg

vor allem seit den 1980er Jahren stark verändert. Es ist inzwischen nicht mehr so viel

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von Siegen und Niederlagen, von heroischen Leistungen und Fehlentscheidungen

die Rede, sondern vielmehr von der Realität des Krieges für die einzelnen

Gesellschaften, voran natürlich für die ehemals sowjetische, aus heutiger Sicht

russische, ukrainische, belarussische usw., und auf der anderen Seite für die

deutsche, aber auch die österreichische, rumänische, finnische, ungarische usw.

Es ist sogar vor nicht allzu langer Zeit die These aufgestellt worden, dass der

deutsch-sowjetische Konflikt ein Krieg zweier Gesellschaften gegeneinander gewesen

sei. Sicher ist dagegen einzuwenden, dass der Weg, der in den Krieg führte und die

Art, wie er dann geführt wurde, in erster Linie von politischen Entscheidungen einer

vergleichsweise kleinen Gruppe von Menschen entschieden worden ist, dass dies

ohne die spezifischen Organisationsformen nationalsozialistischer Herrschaft nicht

möglich gewesen wäre. Dennoch kam das kulturelle Selbstverständnis, mit dem die

Wehrmacht in den Krieg zog, tief aus der deutschen Gesellschaft. Die Vorstellung,

Slawen seien nur begrenzt zur Zivilisation fähig, kursierte schon viel länger, wurde

jedoch in den Jahren ab 1939, nicht zuletzt durch die brutale Besatzungspraxis in

Polen, immer weiter radikalisiert. Dennoch lässt sich der deutsche Krieg nicht allein

auf einen Antislawismus zurückführen, waren doch diese Vorstellungen recht diffus

und unterlagen starken politischen Wandlungen. So wurden auch etwa die Litauer

oder die Lettgallen als Menschen zweiter Klasse angesehen, während das NS-Regime

gleichzeitig die Kroaten quasi zu Verbündeten machte.

Hingegen kann es kaum einen Zweifel unterliegen, dass der Antikommunismus, hier

speziell der Antibolschewismus eine zentrale Rolle bei der Motivierung des Krieges

spielte; nicht wenige dachten 1941 an die Wiederaufnahme jener Kämpfe, die sie vor

1921 gefochten hatten. Es war jedoch ein extrem autoritärer Antikommunismus, der

sich hier entfaltete, und gerade in den militärischen Eliten dazu beitrug, dass der

Vernichtungskrieg so breite Zustimmung und Beteiligung fand. Auch in weiten

Teilen der deutschen Gesellschaft traf der Krieg auf positive Resonanz, wie etwa

Beifallskundgebungen aus den Kirchen zeigen. Freilich zeigte sich bereits 1941, dass

dies zu einem Krieg ohne Ausweg wurde. Nachdem der hochriskante Feldzugsplan

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gescheitert war, mussten sich die Deutschen und ihre Verbündeten darauf einrichten,

dauerhaft Krieg gegen die Sowjetunion zu führen. Diese Unsicherheit hat sicher den

Zusammenhalt der Deutschen in den letzten Jahren des Nationalsozialismus, aber

auch ihre Bereitschaft zur Gewaltausübung erheblich gefördert.

Schließlich sei auf die Bedeutung eines dritten Syndroms hingewiesen, welches die

Wahrnehmung des Krieges unter den Deutschen maßgeblich gestaltete: den

Antisemitismus. Dieser stand für die Nationalsozialisten im Kern ihrer

Weltanschauung, wenn auch die Formel vom sogenannten Judeo-Bolschewismus

nur die eine Seite des Hasses gegen die Juden darstellte, die andere richtete sich

bekanntermaßen gegen eine vermeintlich jüdische Plutokratie im Westen und auch

im Reich. Innerhalb der deutschen Bevölkerung und noch mehr im Militär galten die

sowjetischen Juden als besonders verachtenswert und gefährlich; die antijüdische

Gewalt gegen diese traf auf deutlich mehr Zustimmung als die Maßnahmen gegen

jene Juden, die aus dem eigenen Kulturkreis kamen.

Schließlich war ein erheblicher Teil der deutschen Gesellschaft am Krieg gegen die

Sowjetunion direkt beteiligt, sicher die Mehrheit der insgesamt 18 Millionen Soldaten

der Wehrmacht, die wiederum die Mehrheit der deutschen Männer im Alter

zwischen 18 und 45 Jahren ausmachten. Erst in den letzten Jahrzehnten ist versucht

worden, das Gesicht dieser Armee – über militärische Führungsorganisation und

Generalität hinaus – zu erforschen. Gerade die Generalität entstammte eher einem

nationalkonservativen Milieu und ist nur in eingeschränktem Maße als nazifiziert

anzusehen. Dennoch zeigte sie sich im Krieg gegen die Sowjetunion nicht nur

militärisch, sondern auch politisch hoch motiviert und gestaltete den

Vernichtungskrieg in erheblichem Ausmaß selbst.

Es ist erstaunlich, wie wenig wir bis heute über die breite Militärelite, das

Offizierskorps in Erfahrung gebracht haben. Insbesondere die

Truppenkommandeure waren von entscheidender Bedeutung, sie verfügten oft über

Handlungsspielräume nicht nur in der Kriegsführung, sondern auch bei der

Anwendung von Gewalt gegen Kriegsgefangene und Zivilisten. Die meisten

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Mordaktionen wurden von Truppenführern angeordnet. Selbst die Leutnante und

Hauptmänner waren nicht nur Vorgesetzte, sondern meist auch Leitbilder für das

Verhalten der Mannschaften, im Guten wie im Schlechten.

Die überwiegende Mehrheit der Soldaten äußerte sich kaum politisch, wie man nach

den neuen Analysen der Aussagen deutscher Kriegsgefangener in westlicher Hand,

annehmen kann. Dies hieß freilich nicht, dass sie vom Nationalsozialismus

unberührt geblieben seien. Vielmehr wurden der öffentliche Diskurs und oftmals

auch die Gewalt gegen sowjetische Kriegsgefangene und Zivilisten bereitwillig

akzeptiert, in den rückwärtigen Gebieten auch praktiziert. Gerade die Mannschaften

waren Teil der deutschen Gesellschaft, auch unter ihnen gab es einen erheblichen

Prozentsatz bekennender Nationalsozialisten. Freilich darf man nicht außer Acht

lassen, dass die deutschen Männer in diesen Krieg ziehen mussten, ob sie nun wollten

oder nicht, und letztlich dafür auch einen hohen Preis zahlten, 3,5 bis 4 Mio. von

ihnen starben im Kampf gegen die Rote Armee.

Über die Rote Armee, die Verteidiger, wissen wir deutlich weniger als über die

Angreifer. Zwar hat sich auch in der Sowjetunion eine breite militärhistorische

Forschung entwickelt, die heute weitergeführt wird. Doch bleibt das Bild von den

Rotarmisten und Rotarmistinnen oft schemenhaft und impressionistisch, wir haben

kaum systematische Kenntnisse von Strukturen, Weltbildern und Alltag jener fast 40

Mio. Männer und Frauen, die von 1941 bis 1945 im Einsatz waren, und von denen

fast jeder Vierte den Tod fand, auf dem Schlachtfeld, im Lazarett oder in der

mörderischen deutschen Kriegsgefangenschaft.

Die Rote Armee geriet in den ersten eineinhalb Jahren des Krieges in eine

katastrophale Situation, nicht zuletzt durch Stalins Fehlkalkulationen im Frühjahr

1941 und durch eine Reihe von Fehlentscheidungen. Die Soldaten und Soldatinnen

litten aber nicht nur unter der schwierigen militärischen Lage, sondern auch unter

Versorgungsproblemen und nicht zuletzt unter dem stalinistischen Gewaltsystem,

das bis weit in die Armee hineinreichte. Die Exekutionen oder Einweisung in

Strafeinheiten wegen angeblichen Versagens oder Verweigerung nahmen exorbitante

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Ausmaße an. All dies ist bereits ein wenig näher erforscht worden, wir sind jedoch

noch weit von einem Gesamtbild der Roten Armee entfernt, das der modernen

Forschung entspricht. Gerade hier besteht die Hoffnung auf neue grundlegende

Aktenfunde in der nächsten Zukunft.

Während die deutsche „Heimatfront“, also die Gesellschaft im Reich, teilweise bis ins

Detail ausgeleuchtet worden ist, bestehen aus westlicher Sicht nur vage

Vorstellungen von der sowjetischen „Heimatfront“, vom Schicksal jener Gesellschaft,

etwa ein Drittel der Bewohner, die jenseits der Front lebten oder rechtzeitig ins

unbesetzte Gebiete gelangt waren. Dieses Thema hat zwar weiterhin Konjunktur in

den einzelnen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wird hier und andernorts im

sogenannten Westen kaum wahrgenommen. Also bestehen hier doch eklatante

Ungleichgewichte.

Dagegen stehen im Zentrum der westlichen Forschung seit nahezu drei Jahrzehnten

die Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft und ihrer Verbrechen. Obwohl

diese Okkupation nur vergleichsweise kurze Zeit andauerte, in den einzelnen

Regionen im Durchschnitt etwa zweieinhalb Jahre, zeitigte sie verheerende Folgen.

An erster Stelle ist natürlich der Massenmord an den Juden zu nennen, der von Juni

bis Oktober 1941 zur totalen Ausrottung eskalierte und bereits nach einem Jahr, etwa

im November 1942, zum überwiegenden Teil vollendet war. Bis Kriegsende wurden

etwa 2,5 Mio. Menschen jüdischer Herkunft ermordet, die aus der Sowjetunion in

ihren Grenzen von 1941 stammten. Dieses Megaverbrechen stand zunächst im

Sommer 1941 noch im Kontext der rassistischen Kriegführung, entwickelte sich dann

jedoch zu einem eigenen Gewaltkomplex, der von nahezu allen Besatzungsbehörden

forciert wurde. Der Mord an den Juden in der besetzten Sowjetunion bleibt – trotz

aller Forschungsanstrengungen im einzelnen – immer noch jener Teil des Holocaust,

über den wir am wenigsten wissen. Dies liegt nicht nur an der geringen Zahl der

Überlebenden, sondern auch an der Ignorierung des Themas nach 1945. Da nach

dem Krieg kaum Zeugenbefragungen vorgenommen wurden, ist das Schicksal der

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Opfer, ihr Alltag und ihre Wahrnehmungen, heute nur noch unter größten

Anstrengungen zu rekonstruieren.

In noch eklatanterem Ausmaß muss man dies freilich für die Verbrechen an den

sowjetischen Kriegsgefangenen konstatieren. Über das Schicksal dieser zweiten

großen Opfergruppe, momentan liegen die Schätzungen bei einer Zahl von 2,5 bis 3

Mio. Toten, gibt nur noch eine vergleichsweise geringe Zahl von Quellen Auskunft.

Dieser Mangel gilt insbesondere für jene Kriegsgefangenen, die innerhalb der

besetzten Gebiete starben, und dies macht die Mehrzahl der Opfer aus. Hier steht die

Geschichtswissenschaft heute, nach 70 Jahren, zumeist erst am Anfang. Zu manchen

der Kriegsgefangenenlager, die in ihrer Opferzahl durchaus größeren deutschen

Konzentrationslagern gleich kamen, verfügen wir über fast gar keine Quellen.

Die Wehrmacht plante anfangs Morde an bestimmten sowjetischen

Kriegsgefangenen, den Politkadern und den Juden unter ihnen. Freilich lag auch ein

Massensterben bereits in der Logik der militärischen Besatzungspolitik, durch die

Entrechtung der Gefangenen, die Hungerpläne und die menschenverachtenden

Rahmenbedingungen. Im Oktober/November 1941 wurde entschieden, alle jene

Gefangenen, die vermeintlich arbeitsunfähig erschienen, sowohl im Reich als auch in

den besetzten Gebieten verhungern zu lassen; diese Radikalisierung traf innerhalb

der Wehrmacht nicht auf ungeteilte Zustimmung. Dennoch überlebte jeder zweite

Gefangene Winter und Frühjahr 1941/42 nicht. Fast mehr als alle anderen

Opfergruppen waren die überlebenden Kriegsgefangenen nach dem Krieg zum

Schweigen verurteilt, nicht wenige mussten vielmehr Diskriminierung und

Repression über sich ergehen lassen. Von einer Entschädigung blieben sie

ausgeschlossen.

Schließlich sind noch drei andere Gruppen zu nennen, die unter Besatzung gezielt

Opfer von Massenmorden wurden. Die hilflosesten aller Opfer des

Nationalsozialismus waren die Kranken und Behinderten in den Anstalten. Ihr

Schicksal entschied sich meist in einem Zusammenspiel von deutschen Militär- und

Polizeibehörden. Zeigten deutsche Militärmediziner Interesse an den Gebäuden der

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sowjetischen Psychiatrie, so arrangierten sie nicht selten Massenmorde an den

Insassen. Eine ähnlich große Bedeutung hatten die Initiativen einzelner

Wehrmachtstellen für die Ermordung der Roma im Besatzungsbiet. Schließlich zeigt

die Geschichtswissenschaft relativ wenig Interesse an den Verbrechen, die gegen

echte oder vermeintliche Kommunisten verübt wurden. Ich würde sogar sagen, hier

tappen wir noch weitgehend im Dunkeln.

Weniger zielgerichtet, aber noch verheerender gestalteten sich andere mörderische

Bereiche der Besatzungspolitik, so zunächst die Hungerpolitik. Die Hungerszenarien,

die deutsche Funktionäre im Frühjahr 1941 diskutierten, mit bis zu 30 Mio.

Verhungerten oder Geflüchteten, wurden im Besatzungsgebiet nur bedingt realisiert.

Sie richteten sich vor allem gegen Städte in Frontnähe, und hier zunehmend gegen

jene Gebiete, die von Russen gegenüber anderen Nationalitäten dominiert wurden.

Im Vorfeld von Leningrad, in Bereichen der Heeresgruppe Mitte, aber auch in der

Ostukraine und auf der Krim wurde die Mehrheit der Bevölkerung nicht

ausreichend ernährt und hungerte. Wir wissen nicht, wie viele Menschenleben auf

das Konto dieser Politik gingen; lediglich für das belagerte Leningrad, dessen

Bevölkerung systematisch von der Versorgung abgeschnitten wurde, lässt sich dies

genauer feststellen. Unter den Besatzern herrschte zwar Einigkeit darüber, dass man

die Bevölkerung nur minimal versorgen würde, eine gezielte Aushungerung im

besetzten Gebiet war jedoch umstritten und wurde zusehends als kontraproduktiv

angesehen.

Die zweite ungezielte Vernichtungspolitik hing mit dem exzessiven Anti-

Partisanenkrieg zusammen. Ab August 1941 trat bewaffneter Widerstand gegen die

Besatzung auf, ein Jahr später entfaltete sich eine größere koordinierte

Partisanenbewegung. Die deutschen Besatzer gingen dagegen mit hemmungslosem

Terror vor, im Jahre 1941 noch eher ungerichtet, 1942 bis Frühjahr 1943 dann in

sogenannten Großunternehmungen, die jeweils Tausenden oder gar Zehntausenden

Einwohner der Partisanengebiete das Leben kostete, von Frühjahr 1943 nutzte man

die „Großunternehmungen“ zur Deportation in die Zwangsarbeit. Diese

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flächendeckende Strategie in den Partisanengebieten wie großen Teilen

Weißrusslands oder der RSFSR kostete wohl 400-500.000 Menschen das Leben. Nur

ein kleiner Teil davon sind als Widerstandskämpfer anzusehen, vielmehr wurden

gerade in den westlichen Zivilverwaltungsgebieten auch Juden unter dem Vorwand

von Partisanenaktionen massenhaft ermordet.

Und auch das Finale der deutschen Herrschaft war von extremer Gewalt begleitet,

zwangsweisen Massenevakuierungen, Massakern an Gefängnisinsassen beim Abzug

und von der systematischen Zerstörung nicht nur der militärischen, sondern auch

der zivilen Infrastruktur bis hin zu Wohngebäuden. Es war in vielerlei Hinsicht

tatsächlich ein Vernichtungskrieg.

Die exzeptionelle Bedeutung der Besatzungsverbrechen für die Geschichte des

deutsch-sowjetischen Krieges hat das Schicksal der gesamten Bevölkerung, die unter

deutscher Besatzung lebte, etwas in den Hintergrund gedrängt. Etwa 50-70 Millionen

Menschen gerieten zeitweise unter deutsche Herrschaft. Diese

Besatzungsgesellschaft ist allein schon von der Einwohnerzahl her, vergleichbar jener

Deutschlands oder Frankreichs, schwer zu fassen. Das heißt, dass wir hier von einer

enormen Komplexität ausgehen können, die zudem noch starken geographischen

Veränderungen unterlag, da die Front ja ständig in Bewegung blieb.

Immerhin lässt sich feststellen, dass die Besatzungsgesellschaft vor allem aus Frauen,

Kindern und älteren Personen bestand, dass viele Fachkräfte, aber auch die lokalen

Eliten zu einem erheblichen Teil abgezogen waren. Zum anderen war das

Wirtschaftssystem, das allein schon durch die Schwäche der Sowjetökonomie und

die Zerstörungen beim Rückzug der Roten Armee in Mitleidenschaft gezogen

worden war, unter deutscher Herrschaft noch weiter zurückgefahren.

Betriebsschließungen und absichtliche Geldentwertung drängten weite Teile der

Einheimischen an den Rand ihrer Existenz, insbesondere natürlich in den Städten.

Dennoch kann man davon ausgehen, dass zumindest noch 1941 erhebliche Teile der

Bevölkerung Hoffnung in das neue Regime setzten. Zu frisch war noch die

Erinnerung an die stalinistische Terrorherrschaft, an die Kollektivierung und den

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Massenhunger von 1933 im Süden. Insbesondere in jenen Westgebieten, die Stalin

1939/40 annektiert hatte, waren die Erwartungen an die deutschen Besatzer hoch.

Einheimische antikommunistische Untergrundgruppen traten offen auf die deutsche

Seite, beteiligten sich teilweise sogar an der neuen Besatzungsgewalt.

Doch auch die Mehrheit der Bevölkerung wurde zusehends vor die Entscheidung

gestellt, wie sie ihr Überleben unter den neuen Gewaltherrschern gestalten sollte. In

der Zeit bis Ende 1942 musste man davon ausgehen, dass man sich auf eine

dauerhafte deutsche Anwesenheit einrichtet. Eine begrenzte Form der

Zusammenarbeit mit der Besatzungsherrschaft war unumgänglich, um das

öffentliche Leben aufrecht zu erhalten, so in den Stadtverwaltungen, in den

Fachverwaltungen oder in der Landwirtschaft. Darüber hinaus schien die

Zusammenarbeit mit den Besatzern ein gesichertes Leben zu garantieren, durch

Bezahlung, schließlich durch den Schutz vor etwaiger Deportation zur Zwangsarbeit.

Freilich musste jedem klar sein, dass man sich mit einem extremen Gewaltregime

einließ. Insbesondere die einheimische Hilfspolizei, die in allen besetzten Gebieten

eingerichtet wurde, war zunehmend an Mordaktionen beteiligt, besonders gegen

Juden, aber auch gegen Kommunisten und andere Gruppen. Nicht selten begannen

die Hilfspolizisten fern deutscher Kontrolle in Dörfern und Kleinstädten ihr eigenes

kleines Regime zu errichten. Etwas anders sah es mit den einheimischen Kräften der

Wehrmacht aus, den sogenannten Hiwis, die aus Kriegsgefangenen rekrutiert

worden waren. Die Wehrmacht versuchte alsbald, aus Gefangenen bestimmter

Nationalitäten auch kleinere Hilfsverbände aufzustellen, 1943 trat dann die Waffen-

SS hinzu, die ganze Divisionen aus einheimischen Zivilisten rekrutierte. Diese

Hilfskräfte kämpften nicht nur auf deutscher Seite, sondern waren teilweise auch bei

der Bekämpfung der Partisanen eingesetzt, so dass der Partisanenkrieg von Mitte

1942 zusehends auch Elemente eines Bürgerkrieges in sich trug.

Die Partisanen selbst sind heute wieder ein Thema, das heiß umstritten ist. Anfangs

noch relativ unkoordiniert und zusammengewürfelt, entwickelten sie sich immer

mehr zu einem militärischen Gegner der deutschen Besatzung, wenn auch ihre

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Effektivität vor 1943 recht unterschiedlich bewertet wird. Zugleich unterlagen die

Partisaneneinheiten immer stärker der Führung und Kontrolle durch das

stalinistische System und gingen gegen echte oder vermeintliche Kollaborateure

gewaltsam vor. Oft manövrierten sie vor allem die Landbevölkerung in eine

schwierige Lage, nutzten diese für ihre Versorgung und setzten sie dem Teufelskreis

von Gewalt und Repressalien aus.

In den Partisanengebieten war das Leben der Einwohner streckenweise kaum mehr

erträglich. Nicht selten ging ein Riss durchs Dorf, weil ein Teil der Jugend bei der

Hilfspolizei arbeitete, ein anderer zu den Partisanen gewechselt war. Insbesondere ab

1943 war der Wechsel von der einen zur anderen Seite keine Seltenheit mehr. Im

übrigen besetzten Territorium versuchten die Menschen sich, so weit es ging,

einzurichten. Insbesondere die Jugendlichen mussten von 1942 an fürchten, zur

Zwangsarbeit nach Deutschland rekrutiert zu werden, seit Sommer des Jahres in

regelrechten Menschenjagden. Die Mehrheit der Einheimischen suchte ihre kleinen

oder großen Arrangements, mit den Kommunalverwaltungen, der Hilfspolizei, aber

auch mit den Deutschen. Erst mit der Wende von Stalingrad zeichnete sich ab, dass

die Heimat von den Besatzern befreit und zugleich das stalinistische System

zurückkehren würde.

Doch über alle diese Verhaltensweisen haben wir bis heute keine systematische

Kenntnis, weil es an methodisch regulierten Studien, insbesondere auch

Mikrostudien zu einzelnen Städten oder Rajons, weitgehend fehlt. Es besteht jedoch

genauso Bedarf an größer angelegten Synthesen, die alle diese Themen

zusammenführen könnten, Besatzer, Besetzte, Rolle des unbesetzten Gebietes,

Gewalt, Widerstand, Kollaboration und Alltag. Dieser Blickwinkel würde die

Einordnung in einen größeren historischen Rahmen erleichtern, in die Kontinuität

der sowjetischen, aber auch etwa der baltischen, weißrussischen oder ukrainischen

Geschichte.

Ohne Zweifel kann der deutsch-sowjetische Krieg als der gewalttätigste Konflikt der

Geschichte angesehen werden, und dennoch fehlt es an Einordnungen, die diese

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Einschätzung stärker konturieren. So bestehen bis heute erheblich Unsicherheiten bei

der Ermittlung der Kriegsverluste der Sowjetunion. Zwar ergeben die Statistiken

über militärische Verluste das Bild exakter Rekonstruktion, doch auch diese sind zu

hinterfragen. Auf deutlich unsicherem Boden stehen die Statistiken über zivile

Verluste, da diese noch auf den Schätzungen der Außerordentlichen

Staatskommission zur Ermittlung der deutsch-faschistischen Verbrechen von 1943-46

beruhen und teilweise bis heute unkritisch übernommen werden.

Aus analytischer Sicht fehlt es aber auch an komparativen Zugängen, etwa im

Vergleich zur Besatzungsgeschichte Polens oder Jugoslawiens, zwei Länder, die

ebenfalls schwer unter der deutschen Besatzungsherrschaft zu leiden hatten. Gerade

aus dieser Perspektive ließe sich das spezifisch „Sowjetische“ stärker herausarbeiten.

Schließlich ist danach zu fragen, ob der Begriff „Vernichtungskrieg“, der heutzutage

bei der Erwähnung des deutsch-sowjetischen Krieges in aller Munde ist, nicht als ein

Typus anzusehen ist. Schon die Kolonialkriege Mussolinis in Libyen und Äthiopien

deuten eine neue, radikale Variante der Kriegführung und Besatzung an; noch viel

eher gilt dies für den japanischen Eroberungskrieg in China, insbesondere von 1937

an: auch hier lassen sich riesige Massaker, Deportationen, extreme

Widerstandsbekämpfung und schließlich millionenhafter Zwangsarbeitseinsatz

feststellen. Umgedreht stellt sich damit die Frage: war der deutsche

Vernichtungskrieg in der Sowjetunion nur ein Ergebnis des extremen

nationalsozialistischen Systems, oder war er auch unter weniger totalitären

Bedingungen denkbar? Ich meine, für den Mord an den Juden gilt das wohl nicht, für

viele andere Formen der Gewalt bleibt die Frage jedoch offen.

Auf jeden Fall bleibt der deutsch-sowjetische Krieg von 1941-1945 weiterhin ein

zentraler Bezugspunkt der russischen bzw. post-sowjetischen und der deutschen

Geschichtskultur. Freilich verändern sich seit zwanzig Jahren allmählich die

Perspektiven auf diese Explosion von Gewalt. Wir befinden uns jetzt leider in einer

Phase, in der die letzten Zeitzeugen bald nicht mehr ihre Stimme erheben können.

Deshalb erscheint die Verantwortung der Öffentlichkeit, aber auch der

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Geschichtswissenschaft bei der Rekonstruktion und Erinnerung umso gewichtiger zu

werden. Gerade der Geschichtswissenschaft würde es gut anstehen, immer neue

Fragestellungen zu entwickeln und auch vernachlässigte Akteure und Opfergruppen

ins Licht zu rücken, um ein umfassendes Bild dieser Tragödie möglich zu machen. Die

Kriegs- und Gewaltgeschichte kann schließlich nur in einem internationalen

Austausch erforscht werden, in pluralen Zugängen, was Methoden und auch

kulturelle Orientierungen angeht. Die Geschichtswissenschaft kann dadurch auch

einen Beitrag zur Erinnerung und zur gegenseitigen Verständigung leisten. Und das

erscheint mir nicht wenig zu sein.