"'Not in Our Name': Kanadische Schriftsteller und der Irak-Krieg."
Der lange Krieg geht weiter: jihadistischer Terrorismus und seine Bekämpfung
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Kapitel 1 Der „lange Krieg“ geht weiter: jihadistischer Terrorismus und seine Bekämpfung
Joachim Krause
In Deutschland ist die Vorstellung vorherrschend, dass „Terrorismus“ ein allge-
meines und eher fernes (zudem unvermeidliches) Risiko darstelle und sich selten
zu einer wirklichen Bedrohung auswachse. Die Gefahr terroristischer Anschläge
sei für freiheitliche Gesellschaften fast ebenso unvermeidbar wie die Gefahr von
Verkehrsunfällen und den damit verbundenen Toten. Wenn der Terrorismus zu
bekämpfen sei, dann nur mit Polizei und Staatsanwaltschaft, bei ausdrücklicher
Wahrung der Privatsphäre der deutschen Bürger. Die größte, mit dem Terroris-
mus verbundene Gefahr bestünde darin, dass der freiheitliche Rechtsstaat infolge
von Anti-Terrorismusmaßnahmen zerstört werde.1
Das globale Lagebild des islamistischen, vorwiegend salafistischen Terro-
rismus entwickelt sich mittlerweile in einer Weise, die geradezu diametral im
Widerspruch zu dieser Ansicht steht. In der angelsächsischen Welt, aber auch bei
vielen unserer europäischen Nachbarn, wird immer häufiger von einem „langen
Krieg“ gesprochen, den ein transnationales radikal-islamistisches Netzwerk ge-
gen den Rest der Welt führt. Die heimtückischen terroristischen Anschläge (oder
deren Versuche), die wir aus unseren Breiten kennen – meist radikalisierte junge
Männer, die glauben mit einer Gewalttat ein Signal setzen zu müssen – sind dabei
bestenfalls ein Nebenkriegsschauplatz. Dahinter steht ein sehr viel tieferes Prob-
lem, welches mit dem Begriff des „langen Krieges“ auch nur unzureichend um-
schrieben ist und welches sich nicht nur auf al-Qaida beschränken lässt. Al-Qaida
ist nur die Spitze des Eisberges, nur die selbst ernannte Avantgarde eines weit
verzweigten Netzwerks von teilweise sehr unterschiedlichen salafistischen
Jihadisten.2 Die hauptsächlichen Gewalttaten dieses Netzwerkes finden heute
1 Ein typisches Beispiel für diese Denkart ist der Beitrag der Geschäftsführerin der Partei Die
Piraten, Katharina Nocun, mit dem Titel „Der Überwachungsstaat ist der größte Anschlag“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.2013, S. 8 („fremde Federn“).
2 Salafistisch meint eine besonders strenge sunnitische Auslegung des Korans, wobei danach
gestrebt wird, die Vorschriften des Korans so weit wie möglich im täglichen Leben anzuwenden. Anhänger des Salafismus sind nicht notwendigerweise militant und auf den Jihad „getrimmt“. Es
gibt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts aber eine militante und intolerante Variante des
2
nicht in der westlichen Welt statt, sondern vorwiegend in muslimischen Ländern
des Nahen und Mittleren Ostens, in Süd- und Zentralasien sowie in Nord- und
Ostafrika. Dort kämpfen – entweder allein stehend oder in der einen oder anderen
Weise mit al-Qaida verbunden – zwischen 130.000 und 170.000 schwer bewaff-
nete, radikalisierte und gewalttätige „Gotteskrieger“ gegen dortige Regierungen,
gegen internationale Organisationen, gegen Amerikaner und Russen, gegen Mus-
lime schiitischer und sunnitischer Gesinnung, gegen Christen, gegen Juden und
gegen alle, die ihren Vorstellungen von der Einführung eines Gottesstaats im
Wege stehen. Dabei werden Gewaltakte von einer Konsequenz, Brutalität und
Bestialität ausgeübt, die man seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr für denkbar
gehalten hat. Diese selbsternannten „Gotteskrieger“ stellen nicht nur die größte
Herausforderung für das in der Charta der Vereinten Nationen festgeschriebene
weltweite Gewaltverbot dar, sie stellen auch Jahrhunderte der Zivilisation in
Frage – nicht nur der westlichen, sondern auch der muslimischen Zivilisation.
Die Dimensionen dieses „langen Kriegs“ werden erkennbar, wenn man die
Daten Revue passieren lässt, die das Institut für Sicherheitspolitik auch in diesem
Jahr über terroristische Anschläge und deren Opfer weltweit zusammengestellt
hat (siehe ausführlich das nachfolgende Kapitel). Unter den zehn am meisten
betroffenen Ländern ist kein Staat Europas oder Nordamerikas, dafür finden sich
dort an der Spitze Irak, Pakistan und Afghanistan. Gäbe es verlässliche Daten
über Syrien, würde dieses Land ebenfalls weit vorne stehen. Tabelle 1 zeigt, dass
es im Jahr 2012 mindestens 4.364 terroristische Vorfälle und 8.253 Todesopfer
gegeben hat, das stellt eine deutliche Zunahme gegenüber den vorherigen Jahren
dar, wobei auch hier Syrien nicht mit eingerechnet werden konnte. Worüber diese
Zahlen keine Auskunft ausgeben, ist das Ausmaß der offenen Kämpfe zwischen
den vielen jihadistischen Milizen und Kampfgruppen auf der einen und ihren
Gegnern auf der anderen Seite sowie über die Art und Weise wie heute derartige
extremistische Gruppen bekämpft werden. Wenn vom „langen Krieg“ gesprochen
wird, dann wird damit darauf verwiesen, dass das Problem schon lange nicht
mehr mit dem Begriff „des Terrorismus“ erfasst werden kann, sondern dass es
um die Herausforderung durch den islamistischen (genauer gesagt: salafistischen)
Jihadismus geht. Nicht alle Anschläge, aber die deutliche Mehrheit gehen auf
Täter zurück, die dem gewaltbereiten, extremistischen Salafismus zugerechnet
Salafismus, für die der Ägypter Sayyit Qutb steht. Die Werke von Qutb waren maßgebend für die Entwicklung von bin Ladens politischer Ideologie des Jihads, d.h. die Verfolgung der
salafistischen Ziele durch kriegerische Mittel.
3
werden müssen. Der Übergang zwischen Terrorismus und Guerillakrieg ist dabei
fließend. Die Zahlen vermitteln nur eine grobe Vorstellung davon, welche Di-
mensionen dieser „lange Krieg“ einnimmt. Zwischen 2008 und 2012 waren es
mehr als 40.000 Menschen, die in diesem Zusammenhang Opfer terroristischer
Gewalt geworden sind.
Tabelle 1: Terroristische Vorfälle und ihre Opfer 2008–2012
Summe 2008 2009 2010 2011 2012
Vorfälle 17.085 2.515 3.533 3.265 3.408 4.364
Todesopfer 42.701 8.532 9.754 8.893 7.269 8.253
Tabelle 2 und Tabelle 3 weisen die zehn am stärksten betroffenen Länder für den
Zeitraum zwischen 2008 und 2012 auf, unterschieden nach der Zahl der Vorfälle
(Tabelle 2) und nach der Zahl der Todesopfer (Tabelle 3). Neben Syrien, für das
keine zuverlässigen Daten vorliegen, sind der Irak, Pakistan und Afghanistan
derzeit die am stärksten vom islamistischen Terrorismus betroffenen Staaten.
Dahinter kommen Länder wie Indien, Nigeria, Russland aber auch Thailand.
Tabelle 2: Terroristische Vorfälle: die zehn am stärksten betroffenen Länder (2008-2012)
Land Vorfälle 2008 2009 2010 2011 2012
Irak 7.205 1.129 1.333 1.296 1.672 1.775
Afghanistan 3.254 400 792 797 684 581
Pakistan 2.204 179 218 217 299 1.291
Thailand 946 138 238 242 178 150
Philippinen 451 71 90 80 74 136
Russland 403 63 103 76 82 79
Indien 352 53 115 110 66 8
Kolumbien 347 19 52 40 108 128
Somalia 238 81 92 38 7 20
Israel 188 13 102 31 24 18
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Tabelle 3: Terroristische Vorfälle: die Länder mit den meisten Todesopfern (2008-2012)
Land Todes-opfer
2008 2009 2010 2011 2012
Irak 15.031 3.931 3.574 2.699 2.439 2.388
Afghanistan 8.731 1.373 2.051 1.866 1.803 1.638
Pakistan 7.472 1.058 1.476 1.581 1.157 2.200
Indien 1.605 601 287 484 222 11
Nigeria 1.293 3 49 294 362 585
Somalia 1.101 206 458 213 99 125
Thailand 902 152 245 182 182 141
Russland 768 97 225 205 143 98
Jemen 707 48 k.A. 83 98 478
Sudan 567 7 360 199 1 0
Der „lange Krieg“ ist nicht abgeflacht. Im Gegenteil, im vergangenen Jahr hat er
deutlich an Moment gewonnen. Eine Zeitlang schien es, als ob al-Qaida ange-
sichts des „arabischen Frühlings“ und des Todes von Osama bin Laden an
Schwung verliert und zudem in mehrere regionale Ableger zerfällt.3 Dieser Trend
hat sich geändert, mittlerweile hat sich al-Qaida zum Teil regeneriert. Im Wesent-
lichen sind es zwei Entwicklungen, die dazu beigetragen haben, dass das Lage-
bild heute anders aussieht als noch vor einem oder zwei Jahren:
- Der „arabische Frühling“ hat sich in einer Weise entwickelt, die für al-Qaida
und mit ihr verbündete jihadistische Milizen vermehrt Anknüpfungspunkte
schafft, um ihre Botschaft zu verbreiten und ihre Anhängerschaft zu vergrö-
ßern. Die Zeiten, wo der „arabische Frühling“ das Narrativ von al-Qaida zu
widerlegen schien, sind vorbei.
- Al-Qaida ist dabei sich neu aufzustellen. Zwar bleibt der alte al-Qaida-Kern
geschwächt, aber die regionalen Ableger im Irak und Syrien sowie in Nordaf-
3 Vgl. Gerges, Fawaz: The Rise and Fall of al-Qaeda, Oxford 2011; Krause, Joachim: Al Qaida
nach bin Laden. Die strategische Relevanz des islamistischen Terrorismus, in: Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel: Jahrbuch Terrorismus 2011/2012, Opladen 2012, S.
39–73, S. 46 ff.; siehe auch Mohamedou, Mohammad-Mahmoud Ould: The Rise and Fall of Al
Qaeda. Lessons in Post-September 11 Transnational Terrorism, Geneva Centre for Security Pol-icy, Genf 2011; Rid, Thomas: „Risse im Jihad“, in: Internationale Politik, Jg. 66, Heft 1 (2011),
S. 10–19; Brooks, Peter: „Is Al Qaeda Really ‚on the Ropes’?“, nypost.com, 07.09.2011.
5
rika und auf der arabischen Halbinsel nehmen an Bedeutung zu und formie-
ren sich zu neuen Aktivitäten. Die Ereignisse in Mali haben dies ebenso ge-
zeigt wie die Zunahme der terroristischen Anschläge im Irak, im Jemen und
in Pakistan sowie die Einmischung von al-Qaida im syrischen Bürgerkrieg
und neuerdings auch in Ägypten. Al-Qaida ist pluraler geworden (mit mehr
Kraftfeldern) und stärker auf regionale Entwicklungen konzentriert. Aber das
Netzwerk bleibt handlungsfähig, es zieht mehr und mehr Kämpfer auf seine
Seite und es vermag trotz interner Streitigkeiten und trotz der internationalen
Anti-Terrorismusmaßnahmen eine gewisse Form der effektiven Zusammen-
arbeit zu organisieren, die dazu dienen soll, der weltweiten jihadistischen
Bewegung ein Ziel und strategische Orientierung zu geben.
Dadurch stellt sich die Frage nach der Bedrohung durch al-Qaida heute anders als
vor zehn oder 15 Jahren, aber auch schon anders als vor zwei Jahren. Die Bedro-
hungsperzeption von 2001, wonach al-Qaida eine relativ kleine, homogene und
weitgehend hierarchisch gegliederte Terroristenorganisation sei, die sich primär
der Bekämpfung der USA und des Westens verschrieben habe, ist heute nicht
mehr aufrecht zu erhalten. Aus al-Qaida ist ein global operierendes Netzwerk
geworden, dessen Elemente primär regionale Ziele verfolgen (unter anderem
auch, um keine US-Interventionen zu riskieren) und die sich nicht einem fernen
Zentrum unterwerfen, dessen Rat und Hilfe sie aber immer wieder in Anspruch
nehmen. Andererseits bleibt die Gemeinsamkeit der politischen Zielsetzungen
bestehen ebenso wie die Bereitschaft brutalste Gewalt anzuwenden. Diese Gewalt
wendet sich primär gegen Menschen in muslimischen Ländern, aber es ist keines-
falls auszuschließen, dass diese Gewalt auch wieder vermehrt westliche Länder
ins Visier nimmt. Unter Bedingungen von Kooperation und Konkurrenz unter
den al-Qaida Ablegern ist zu befürchten, dass ein Wettbewerb darüber entstehen
kann, wer den USA und anderen westlichen Mächten den größten Schaden zufü-
gen kann.4 Außerdem ist mit Blick auf die Bedrohungsanalyse die Tatsache kein
Trost, dass die al-Qaida Ableger vorwiegend eine regionale Agenda verfolgen.
Auf mittlere Sicht kann eine erfolgreiche regionale Agenda (d.h. die Machtüber-
nahme in muslimischen Ländern, besonders wenn diese ein erhebliches militäri-
sches Potenzial aufweisen) viel gefährlicher für den Westen sein als terroristische
Anschläge.
4 Vgl. Atwan, Abdel Bari: After bin Laden. Al-Qa'ida, the Next Generation, New York 2012; s.a.
Riedel, Bruce: “The Coming Age of al-Qaeda 3.0”, thedailybeast.com, 06.08.2013.
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Wohin sich die Bedrohungslage in den kommenden Jahren entwickeln wird, ist
schwer vorhersehbar, denn eine Reihe von Widersprüchen bleibt bestehen. Auf
der einen Seite ist das Netzwerk in der Lage, koordiniertes Handeln herzustellen,
Schwerpunkte zu bilden und neue Gelegenheiten optimal zu nutzen, wie etwa den
Bürgerkrieg in Syrien. Auf der anderen Seite bestehen die Risse innerhalb des
Systems weiter fort und neue Kraftzentren bilden sich aus dem Netzwerk heraus,
die teilweise miteinander kooperieren, teilweise konkurrieren. Die sich aus dem
Nebeneinander von Konkurrenz und Kooperation ergebende Dynamik ist derzeit
schwer zu prognostizieren. Von daher ist weder Alarmismus angesagt noch sollte
man sich mit der Feststellung beruhigen lassen, dass die Schwerpunkte der al-
Qaida zugehörigen oder ihr nahestehenden Gruppen primär regionaler Natur sind.
Die Schwerpunktsetzung kann sich binnen kurzer Frist massiv wandeln.
Angesichts dieser veränderten Bedrohungslage muss der Blick auch auf die
Angemessenheit der westlichen Anti-Terrorismuspolitik fallen. Seit September
2011 hat sich ein dichtes Netz von Politiken, Strategien und Instrumenten entwi-
ckelt, mit deren Hilfe Terrorismus bekämpft wurde. Für viele Bereiche der Terro-
rismusbekämpfung sind in den vergangenen Jahren jedoch auch Grenzen sichtbar
geworden. Zahlreiche Maßnahmen sind Gegenstand heftiger Kontroversen ge-
worden, wie z.B. Statebuilding, Counterinsurgency und die Nutzung von bewaff-
neten Drohnen zur Bekämpfung von Terroristen. Die Enthüllungen des „Whis-
tleblowers“ Edward J. Snowden über die Abhörpraxis amerikanischer und briti-
scher Geheimdienste im Sommer 2013 haben mittlerweile auch zu einer grund-
sätzlichen Infragestellung der Rolle von Nachrichtendiensten geführt.
Beide hier geschilderten Entwicklungen sind in der Kombination problema-
tisch: Sie weisen die Möglichkeit auf, dass wir es in den kommenden Jahren
einerseits mit einer vielfältigeren Bedrohungslage durch das Netzwerk al-Qaida
zu tun haben werden, die sich primär als „Bürgerkrieg“ in Ländern des Nahen
und Mittleren Osten, Südasiens und Nordafrikas abzuspielen scheint, aber letzt-
lich zu einer absehbaren strategischen Langzeitbedrohung für uns wird und die
sich kurzfristig in Anschlagsbedrohungen niederschlägt. Andererseits nehmen die
Prozesse der politischen und rechtlichen Selbstbindung westlicher Staaten bei der
Terrorismusbekämpfung zu.
7
Al-Qaida und die „Arabellion“
Der „Arabische Frühling“, auch „Arabellion“ genannt, begann im Frühjahr 2011
erst in Tunesien und Ägypten und breitete sich dann nach Marokko, Libyen,
Syrien und dem Jemen aus. Die Rebellionen entstanden teilweise aus der bürger-
lichen Mitte der Gesellschaft heraus, teilweise lagen ihnen aber auch tribale und
religiöse Motive zugrunde oder einfach nur der Wunsch nach politischer und
ökonomischer Gleichberechtigung. Auch in Bahrain kam es zu Demonstrationen,
allerdings eher angeregt durch das Bestreben der schiitischen Bevölkerung nach
politischer Gleichbehandlung. Während es 2012 in Tunesien und Ägypten zum
weitgehend friedlichen Übergang in Richtung Demokratie kam (allerdings mit
radikal-islamistischen Parteien als stärkster politischer Kraft) und auch Marokko
sich zu einer konstitutionellen Monarchie entwickelte, wurden in Syrien und in
Libyen die Proteste gewaltsam unterdrückt. In Libyen konnten sich die oppositi-
onellen Kräfte Dank westlicher Militärhilfe durchsetzen, in Syrien gab es diese
Hilfe nicht, seither tobt dort ein Bürgerkrieg, der vermutlich mehr als 110.000
Menschen das Leben gekostet hat. In Jemen ist ein politischer Übergangsprozess
eingeleitet worden, dessen Ausgang ungewiss ist, weil das Land durch verschie-
dene gewaltsame Konflikte zersplittert ist. In Bahrain hat der herrschende Mo-
narch zumindest einen nationalen Dialog eingeleitet, der allerdings vom Iran
massiv gestört wird.
Bis vor einem Jahr galt als Mehrheitsmeinung, dass der Verlauf des Arabi-
schen Frühlings al-Qaida schwäche. Die Ereignisse würden das Narrativ von al-
Qaida widerlegen, wonach politischer Wandel in der arabischen Welt nur durch
einen bewaffneten Kampf (Jihad) möglich wäre, der erst einmal gegen die USA
gerichtet sein müsste. Auch der Verlust des ursprünglich „säkularen und bürgerli-
chen“ Charakters der Revolutionen und die Dominanz islamistischer politischer
Parteien schien nicht al-Qaida in die Hände zu spielen. Die Tatsache, dass isla-
mistische (und selbst salafistische) Parteien in Ägypten und Tunesien an Parla-
mentswahlen teilnahmen, sogar erfolgreich abschnitten und in Ägypten ein Ver-
treter der Muslimbrüder Präsident wurde, widersprach der militanten Ideologie
von al-Qaida. Mittlerweile haben sich die Dinge jedoch dramatisch gedreht. Ver-
antwortlich dafür ist hauptsächlich die Entwicklung in Ägypten, wo die
Muslimbrüder die ihnen verliehene Macht missbrauchten und nach entsprechen-
den Willensbekundungen von Dutzenden von Millionen von Ägyptern im Juli
2013 vom Militär gestürzt wurden. Der Sturz von Präsident Mursi war Wasser
8
auf den Mühlen radikaler Jihadisten, die schon immer gepredigt hatten, dass
Demokratie nach westlichem Muster nichts bringe. Aber auch in anderen Ländern
(Libyen, Jemen) hat sich die Situation dergestalt entwickelt, dass neue Einfluss-
möglichkeiten für al-Qaida entstanden sind. In der unübersichtlichen Lage im
heutigen Libyen, unter Salafisten in Tunesien und Jemen sowie unter den frus-
trierten Gegnern des Assad-Regimes in Syrien gewinnen Parolen von al-Qaida
wieder Anhänger und die Organisation bemüht sich, diese Potentiale auch zu
nutzen.
Die Neuformierung von al-Qaida
Al-Qaida kann die neuen Gelegenheiten in der arabischen Welt deshalb nutzen,
weil es dem Netzwerk gelungen ist, die Schwächephase der Jahre zwischen 2010
und 2012 zu überwinden und sich neu aufzustellen. Al-Qaida unterschied sich
bereits vor zwei Jahren deutlich von derjenigen Organisation, die sie im Jahre
2001 darstellte. Gegenwärtig ist sie dabei sich erneut zu reformieren. Es bildet
sich eine neue Struktur heraus, die weniger hierarchisch ist, sondern die man als
Netzwerk begreifen muss, innerhalb dessen es unterschiedliche Kraftzentren und
verschiedene Formen der Kooperation aber auch der Konkurrenz gibt. Al-Qaida
ist im Wesentlichen ein Netzwerk aus verschiedenen jihadistischen Bewegungen,
welche sich um einen „Kern“ herum gruppieren, wobei es Unterschiede gibt
bezüglich der Nähe der einzelnen Kraftzentren zu dem Kern. Das Netzwerk hat
eine innere Schale – das sind die Organisationen, die sich zu den Zielen von al-
Qaida bekennen und die einen Eid auf die Führung von al-Qaida geschworen
haben – und eine äußere Schale – das sind Organisationen, die eine salafistische
und jihadistische Zielsetzung verfolgen und mit al-Qaida zusammenarbeiten, die
aber Wert darauf legen ihre meist regionale Zielsetzung autonom zu bestimmen.
Während die innere Schale zumeist aus Milizen unterschiedlicher Größe besteht,
finden sich in der äußeren Schale neben Milizen auch Organisationen, die klein
sind und weitgehend im Untergrund arbeiten um Anschläge zu verüben oder um
neue Jihadisten zu rekrutieren. Auch Einzeltäter und selbstradikalisierte
Jihadisten zählen zu der äußeren Schale. Manche Beobachter nennen das Netz-
werk von al-Qaida auch ein „Syndikat“, d.h. ein Verbund unterschiedlicher Orga-
9
nisationen, die bei aller Verschiedenheit ein Satz gemeinsamer Ziele einigt.5 Der
„Kern“ (das Hauptquartier) sitzt weitgehend – aber offenbar nicht völlig isoliert –
im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet und dürfte aus einer Reihe von Kadern
um den al-Qaida Chef Ayman az-Zawahiri bestehen. Zum Kern gehört auch eine
Truppe von bewaffneten Männern (die „Schattenarmee“), deren Aufgabe es ist,
die Führungsgruppe zu verteidigen und Verbindung zu den in Afghanistan und
Pakistan operierenden verbündeten Milizen zu halten. Dieser „Kern“ umfasst
wenige hundert Mann, die im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet zwar einer
ständigen Bedrohung durch Drohnenangriffe, Kommandotrupps der USA oder
Säuberungsaktionen der pakistanischen Streitkräfte ausgesetzt sind, die aber
dennoch operationsfähig bleiben.
Zur inneren Schale des Netzwerks gehören neben dem „Kern“ fünf regionale
Organisationen, die sich formell (d.h. durch Eid auf die al-Qaida Führung) dem
„Kern“ unterstellt haben:
- Der „Islamische Staat im Irak“ (früher „al-Qaida in Mesopotamien“ und auch
als „Tanzim Qai’dat al-Jihad fi Bilad al-Rafidayn“ bekannt), seit Anfang
2013 unter dem Namen „Islamic State of Iraq and the Levant“ (ISIL) firmie-
rend, der manchmal auch „Islamic State of Iraq and Syria“ genannt wird.
- Die jihadistische „Jabhat al-Nusra“ Miliz in Syrien, die sich al-Qaida ange-
schlossen hat.
- Die Bewegung „Al-Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQIM).
- Die Bewegung „Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AQAP)
- Die Miliz „al-Shabab“ in Somalia, die sich al-Qaida angeschlossen hat.
Diese regionalen Ableger von al-Qaida (englisch: affiliates) nehmen an Stärke
und Bedeutung zu und sind zahlenmäßig umfangreicher als der alte Kern. Sie
erkennen aber die Führung durch az-Zawahiri an und profitieren von der Unter-
stützung, die die Zentrale ihnen gewährt. Es gibt jedoch immer wieder Tendenzen
zur Demonstration von Unabhängigkeit. Sie kooperieren untereinander, aber es
gibt Rivalitäten unter ihnen, die teilweise gewaltsam ausgetragen werden (was
keinen überraschen sollte, handelt es sich um extrem gewaltbereite und in der
Regel kompromisslose Männer). Ursprünglich war die Struktur von al-Qaida
5 Joscelyn, Thomas: „Global al Qaeda: Affiliates, objectives, and future challenges“, longwarjour-
nal.org, 18.07.2013: „In my view, al Qaeda is best defined as a global international terrorist net-
work, with a general command in Afghanistan and Pakistan and affiliates in several countries. Together, they form a robust network that, despite setbacks, contests for territory abroad and still
poses a threat to U.S. interests both overseas and at home“.
10
hierarchisch, d.h. der al-Qaida Kern im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet
behielt sich die wichtigsten strategischen und taktischen Entscheidungen vor.
Heute ist die Struktur weniger zentralistisch, eher gibt es mehrere Zentren, unter
denen offenbar eine Art Arbeitsteilung bei gleichzeitiger Anerkennung eines
Primats des al-Qaida Führers Ayman az-Zawahiri besteht. Worin dieses „Pri-
mat“ besteht, ist aber nicht eindeutig erkennbar: Wird az-Zawahiri als unbeding-
ter „Führer“ anerkannt, dessen Votum von allen akzeptiert wird? Oder nimmt er
eher die Rolle eines elder statesmen ein, dessen Rat gesucht und häufig auch
befolgt wird, der aber nur wenig Durchsetzungskraft besitzt, wenn seine Ent-
scheidung auf der regionalen Führungsebene Widerspruch findet? Manches
spricht dafür, dass Letzteres der Fall ist, aber es gibt zu wenig verlässliche Infor-
mationen als dass man her ein klares Urteil fällen könnte.
Offenkundig ist aber eine Änderung zu beobachten, bei der der al-Qaida-
Kern Kompetenzen an seine regionalen Ableger abgibt. Ein deutliches Indiz für
diesen Strukturwandel war die „Berufung“ des Emirs von al-Qaida auf der Arabi-
schen Halbinsel (AQAP), Nasir al-Wuhayshi, zum Generalmanager von al-Qaida
im Sommer 2013.6 Das hat als Konsequenz, dass dieser für die militärischen
Aktionen sowie für die Kommunikationsabteilung des gesamten Netzwerkes
zuständig ist. Dies wurde offenkundig als im August 2013 die US-Regierung eine
nachhaltige Terrorismus-Warnung herausgab.7 Anlass dazu war, dass sie zuvor
über mehrere Wochen hinweg eine intensive Kommunikation zwischen al-
Wuhayshi und Zawahiri sowie 20 weiteren regionalen Führern abgehört hatte, bei
der es um eine geplante Großaktion ging.8 Aber die al-Qaida-Führung entsendet
auch Beauftragte, die in bestimmten Ländern dafür sorgen sollen, dass al-Qaida
Zellen aufgebaut werden oder bestehende Organisationen dazu bewegt werden,
sich dem Netzwerk anzuschließen. Einer dieser Beauftragten war der im Oktober
2013 in Libyen festgenommene Abu Anas al-Libi, ein hochrangiges Führungs-
mitglied von al-Qaida.9 Dies alles weist auf eine neue Struktur des Netzwerkes
6 Roggio, Bill: „Wuhayshi imparted lessons of AQAP operations in Yemen to AQIM“, longwar-
journal.org, 12.08.2013. 7 Joscelyn, Thomas/Roggio, Bill: „AQAP's emir also serves as al Qaeda's general manager“,
longwarjournal.org, 06.08.2013.
8 Joscelyn, Thomas/Roggio, Bill: „Recent embassy closures triggered by Zawahiri communica-tions with multiple subordinates“, longwarjournal.org, 09.08.2013; s.a. Schmitt, Eric/Schmidt,
Michael S.: „Qaeda Plot Leak Has Undermined U.S. Intelligence“, nytimes.com, 30.09.2013.
9 O.V.: „USA fassen Top-Terroristen in Libyen“, DPA Meldung vom 06.10.2013. Zur Rolle von al-Libi vgl. US. Department of Defence: „Al Qaeda in Libya: A Profile“, August 2012,
www.defense.gov.
11
hin, welches nicht durch flache Hierarchien gekennzeichnet ist, sondern durch
mehrere hierarchische Zentren, die eben miteinander und untereinander teils
kooperieren, teils konkurrieren.
Ob damit die Kompetenzen innerhalb der Führungsebene des Netzwerkes ge-
regelt sind, bleibt offen. Es gibt zumindest Hinweise auf ungeklärte Probleme,
etwa die Frage, ob die syrische Miliz Jabhat al-Nusra direkt der al-Qaida Füh-
rung (d.h. Ayman az-Zawahiri) unterstellt ist oder dem irakischen al-Qaida Führer
Abu Bakr al-Baghdadi, der seine Organisation in „Islamischer Staat für den Irak
und die Levante“ umbenannt hat, um diesen Anspruch zu untermauern. Dieses
Ansinnen wurde von Ayman az-Zawahiri abgelehnt, aber es ist unklar ob er sich
damit wirklich durchsetzen konnte oder ob die Fragen erst einmal aufgeschoben
worden sind.10
Die äußere Schicht des Netzwerks bilden regionale (manchmal auch regio-
nenübergreifende) militante jihadistische Organisationen, die sich mit al-Qaida
verbinden, ohne dass sie sich unterordnen und die ihre eigenen Ziele verfolgen.
Dabei kann es sich um größere Milizen handeln (wie die pakistanischen und die
afghanischen Taliban oder das Haqqani-Netzwerk) oder um kleinere Untergrund-
bewegungen (wie die Islamische Jihad Union).11
Eine Übersicht über das Netz-
werk von al-Qaida mit seinen unterschiedlichen Milizen und Gruppen findet sich
im Anhang zu diesem Artikel.
Als Folge der Neuaufstellung von al-Qaida kommt es zu einer Neuakzentuie-
rung der Bedrohung durch das Netzwerk. Diese ist primär in den Regionen zu
spüren, in denen das Netzwerk die größte Anhängerschaft hat: in Afghanistan,
Pakistan, Irak, Syrien, Jemen, Somalia und Nordafrika. Sie erzeugt in ihren Se-
kundärfolgen aber neue terroristische Bedrohungen in Europa, Nordamerika,
Russland, Indien, Südasien und Afrika. Denn alle diese Gruppen gehen weiterhin
davon aus, dass die Schwächung des Westens (vor allem der USA) durch terroris-
tische Akte Teil ihres Kampfes ist, wobei es durchaus Unterschiede in der Auf-
fassung darüber gibt, in wieweit dieses Moment Teil des Jihads sein soll. Einige
al-Qaida-Ableger scheinen primär regionale Ziele zu verfolgen, andere stärker
globale Ziele. Dies macht letztlich keinen großen Unterschied aus. Entscheidend
ist die gemeinsame salafistische und jihadistische Ausrichtung, die von diesen
Gruppen mit großer Konsequenz und Bestialität verfolgt wird und die regionale
10 Vgl. Joscelyn, Thomas: „Islamic State of Iraq leader defies Zawahiri in alleged audio message“, longwarjournal.org, 15.06.2013.
11 Vgl. Krause: Al Qaida nach Bin Laden, S. 45.
12
wie globale Ziele kennt. Ob bei der einen Gruppe derzeit eher die regionalen, bei
der anderen eher die globalen Ziele im Vordergrund stehen, hat oft taktischen,
weniger strategischen Wert und kann sich jederzeit in die eine oder die andere
Richtung verschieben.12
Wenn sich diese Gruppen untereinander streiten und
befehden, kann das mit Genugtuung zur Kenntnis genommen werden. Ob daraus
Ansatzpunkte für eine bessere Bekämpfung entstehen und ob bzw. wie diese
genutzt werden, wird sich erst zeigen müssen.
Die Tatsache, dass manche al-Qaida-Ableger und andere mit al-Qaida zu-
sammen arbeitende Milizen primär regionale Ziele verfolgen, sollte auch kein
Grund zur Beruhigung oder zur Zufriedenheit sein. Wenn sie untereinander kon-
kurrieren ist zu befürchten, dass dabei eine Konkurrenz darüber entstehen kann,
wer den effektivsten Großanschlag im Westen durchführen kann. Der Verweis
auf die regionale Agenda der jeweiligen al-Qaida Bewegungen und der mit ihr
verbündeten Milizen sollte zudem nicht darüber hinweg täuschen, dass gerade in
kritischen Regionen die Bedrohung durch al-Qaida eine Dimension bekommt, die
über terroristische Gefährdungen weit hinaus geht: Wo immer al-Qaida-Ableger
erfolgreich sind bei dem Versuch der Eroberung und Kontrolle zusammenhän-
gender Territorien (insbesondere der Kontrolle über Staaten mit erheblichem
strategischen Potential), werden daraus strategische Bedrohungen europäischer
Interessen im Nahen und Mittleren Osten entstehen, die von viel weitreichender
Natur sind als die bisherigen terroristischen Gefahren.
Schwerpunkte der Aktivitäten von al-Qaida
Im Wesentlichen ist es weiterhin Zielsetzung des Netzwerks die verschiedenen
regionalen Kampfschauplätze des Jihads zu koordinieren und ihnen eine strategi-
sche Richtung zu geben. Das Netzwerk organisiert die Ausbildung von Kämpfern,
es hilft beim Austausch von Informationen strategischer und taktischer Natur und
es bemüht sich Kämpfer zu rekrutieren sowie Finanzmittel aufzutun und diese
dorthin zu verschieben, wo sie gebraucht werden. Was die strategische
Richtungsgebung betrifft, so ist die Erfolgsbilanz als gemischt zu bezeichnen.
12 Joscelyn, Thomas: „Global al-Qaeda: Affiliates, objectives, and future challenges“, in: The Long
War Journal, 18.7.2013, [http://www.longwarjournal.org/archives/2013/07/global_al_qaeda_affi.
php].
13
Auf der einen Seite ist es als Erfolg für al-Qaida zu bewerten, dass die verschie-
denen regionalen und lokalen salafistischen Jihad-Bewegungen miteinander ko-
operieren und einander unterstützen, auf der anderen Seite ist es der al-Qaida
Führung selten gelungen, Ablegerorganisationen oder Verbündete zum Einlenken
bei strategisch wichtigen Richtungsentscheidungen zu bewegen.
Was die Vermittlung von Jihadisten betrifft, so ist al-Qaida in den vergange-
nen zwei Jahren erfolgreicher denn je gewesen. Hauptzentrum der Vermittlungs-
aktivitäten war und ist Syrien, wo mittlerweile zwischen 6.000 und 10.000 aus-
ländische Jihadisten tätig sind. Wie die Mechanismen ablaufen, mit deren Hilfe
immer mehr junge Männer aus unterschiedlichen Ländern innerhalb des Netz-
werkes verschoben werden, ist aber weitgehend unbekannt. Es gibt vermutlich
keine zentrale Vermittlungsstelle, aber viele Institutionen, die zur Verfügung
stehen um Islamisten Wegweisung zu geben, wie sie dahin gelangen, wo derzeit
der größte Bedarf für jihadistische Kämpfer ist. Viele reisen aber auch auf eige-
nes Risiko, oft ohne klare Vorstellung was sie dort erwartet.
Das Netzwerk wird weiterhin dazu genutzt, um Finanzmittel zu transferieren.
Angesichts des massiven internationalen Drucks auf die globalen Finanzinstituti-
onen ist al-Qaida immer stärker auf informelle und weitgehend aufwändige
Transaktionsverfahren angewiesen. Der Zustrom neuer Finanzmittel erfolgt of-
fenbar immer dezentraler und kann sich dort am ehesten entfalten, wo konkrete
Ereignisse (wie der Bürgerkrieg in Syrien) fromme Muslime in arabischen Län-
dern dazu bewegen Gelder für Einrichtungen zu geben, die den Kampf von radi-
kalen Jihadisten finanzieren. Im Bezug auf Syrien ist die Entwicklung inzwischen
so weit gediehen, dass Geldgeber sich aus unterschiedlichen Milizen diejenige
aussuchen können, die ihnen am besten gefällt. Bei großen Donationen sind Mili-
zen auch bereit sich nach dem Spender zu benennen oder einen von diesem ge-
wählten Namen anzunehmen.13
Weiteres Ziel ist es, das Internet und andere Medien zu nutzen, um die politi-
sche Botschaft von al-Qaida weiter zu tragen, aber auch um taktische und techni-
sche Ratschläge zu verbreiten. Ein Großteil der Kommunikation beinhaltet Fra-
gen taktischer Natur. Etwa: Welche Arten von Angriffen versprechen unter wel-
chen Bedingungen den größten Effekt? Welche Vorsichtsmaßnahmen kann man
gegen US-Drohnen einsetzen? Oder welche neuen technischen Entwicklungen
lassen sich für den Jihad am besten nutzen? Allerdings steht al-Qaida immer
13 Warrick, Joby: „Private donations give edge to Islamists in Syria, officials say“, washington-
post.com, 22.09.2013.
14
wieder vor dem Dilemma, dass diese Kommunikation nicht erfolgen kann, ohne
deren Teilnehmer in Gefahr zu bringen. Angesichts der Dominanz der USA im
Internet und den Entwicklungen im Bereich der Signal-Intelligence steht heute
jede Form der elektronischen Kommunikation innerhalb des Netzwerks von al-
Qaida unter Risiko. Von daher wird ein Großteil der Debatte darüber geführt, wie
man mit Verschlüsselungs- oder Verschleierungstechnologien das Internet nutzen
kann, wie man Telefonkontakt halten kann ohne in Gefahr zu geraten, und wie
man analoge (oder primitive) Formen der Kommunikation nutzen kann (z.B.
Kuriere).
Das Netzwerk al-Qaida unterhält zudem ein eigenes, teilweise offenes Kom-
munikationssystem, in dessen Rahmen Informationen, Propagandamaterial und
„Ratschläge“ vertrieben werden. An erster Stelle ist hier die „As-Sahab Stif-
tung“ für Islamische Medien Publikationen zu nennen, die die Produktionsstelle
von al-Qaida zur Verbreitung von Medienbotschaften ist. Sie untersteht offenbar
direkt dem „Kern“ von al-Qaida. Daneben gibt es noch al-Fair Media Center und
Global Islamic Media Front, die dem ISIL nahe stehen, aber auch Botschaften
anderer al-Qaida Ableger herausbringen. Dabei handelt es sich entweder um
Videobotschaften politischen oder religiösen Inhalts, aber auch um technische
Ratgeber, etwa wie man Drohnenangriffen entgehen kann, wie man sich vor Ab-
höraktionen westlicher Geheimdienste sichern kann etc. Neuerdings werden die
sozialen Medien im Internet, wie Twitter, Facebook und Youtube verstärkt von
Jihadisten genutzt, um ihre Botschaften zu verbreiten, um neue Mitglieder zu
werben und um regelrecht Fundraising-Kampagnen durchzuführen.14
Seit Juli
2010 bringt al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) im Internet auch ein
englischsprachiges Magazin heraus („Inspire“), welches ideologische Botschaften,
Berichte über terroristische Angriffe und Debatten über politische sowie militäri-
sche Fragen enthält. Das Magazin versucht vor allem Prozesse der Selbstradikali-
sierung von jungen Muslimen in der westlichen Welt zu befördern.15
Ein Bereich, wo das Netzwerk zusammenarbeitet und wo es auch Erfolge
aufweisen kann, ist die Befreiung gefangener Jihad-Kämpfer. Im Rahmen so
genannter „Jailbreaks“ werden dabei ganze Gefängnisanlagen von Dutzenden von
Jihadisten überfallen und ein Massenausbruch aller Gefangenen organisiert. Die
eigenen Anhänger werden dann herausgefischt und wieder in das Netzwerk inte-
14 Warrick, Joby: „Islamist Rebels in Syria use faces of the dead to lure the living“,
washingtonpost.com, 05.11.2013. 15 Ambinder, Marc: „Al Qaeda’s First English Language Magazine Is Here“, theatlantic.com,
30.06.2010.
15
griert. Schon im Jahr 2011 war es al-Qaida und den Taliban gelungen in Herat
(Afghanistan) den erfolgreichen Ausbruch von über 400 Gefangenen zu bewerk-
stelligen. Als Zeichen für die Fähigkeit des Netzwerkes zu gemeinsamen Aktio-
nen kam es im Sommer 2013 zu mehreren jailbreaks innerhalb einer Woche, und
zwar von Libyen über Irak, Afghanistan bis hin nach Indonesien.16
Die einzelnen
jailbreaks der Jahre 2012 und 2013 sind in Tabelle 4 aufgeführt.
16 Mazetti, Mark: „Interpol Asks Nations to Help Track Terror Suspects Freed in Prison Breaks“,
nytimes.com, 03.08.2013.
Tabelle 4: Gefängnisausbrüche mit al-Qaida-Hintergrund 2012 und 2013
Datum Ort Tote Befreite Erklärung
15.01.2012 Ramadi, Irak 13 0 Versuch mehrere ranghohe al-Qaida-Häftlinge zu befreien,
u.a. mit koordinierten Selbstmordanschlägen, Anschlag
misslang
16.02.2012 Kogi,
Nigeria
119 Anschlag von Boko Haram auf Bezirksgefängnis, Teil der
Befreiten gehörten der Bewegung an
24.02.2012 Gombe,
Nigeria
12 0 Fehlgeschlagener Versuch von Boko Haram Kämpfer aus
Gefängnis zu befreien
15.04.2012 Bannu, Pakis-
tan
384 Angriff der TTP mit etwa 150 Mann auf Gefängnis, unter den
Befreiten sind etwa 200 Taliban
28.09.2012 Tikrit,
Irak
16 50 + Nach der Explosion einer Autobombe am Eingang eines
Gefängnisses dringen als Polizisten verkleidete Terroristen in
das Gefängnis ein und befreien etwa 50 Jihadisten
22.02.2013 Ganye, Nige-
ria
25 127 Teil eines Überfalls von Boko Haram auf die nordnigeriani-
sche Stadt Ganye; unter den befreiten Gefangenen viele Boko
Haram Angehörige
01.06.2013 Niamey,
Niger
2 22 Aufstand von Gefängnisinsassen, der von Boko Haram unter-
stützt war, ein Mitglied von AQIM konnte entkommen
11.07.2013 Medan, Indo-
nesien
k.A. 218 Angriff auf Gefängnis von Medan führt zur Freilassung von 4
islamistischen Terroristen
21.07.2013 Abu Ghraib
und Tajib,
Irak
50 500 Gleichzeitig stattfindende Angriffe von ISIL auf zwei Ge-
fängnisse, z.T. unter Beteiligung des Personals, führen zur
Freilassung von hunderten Jihadisten
27.07.2013 Bengasi,
Libyen
k.A. 1.117 Nach Unruhen vor dem Gefängnis von Kuafiya und einem
Angriff auf das Gefängnis konnten 1117 Gefangene entkom-
men, darunter viele radikale Islamisten
29.07.2013 Dera Ismail
Khan,
Pakistan
12 250 Organisierter Angriff mit Waffengewalt auf ein Gefängnis
durch TTP, unter den Befreiten viele TTP Angehörige, da-
runter 20 Terroristen
17
Regionale Schwerpunkte der al-Qaida Aktivitäten
Das Netzwerk bildet heute Dank der unterschiedlichen Ableger und Kooperati-
onspartner regionale Schwerpunkte, welche sich nach den verschiedenen „Kriegs-
schauplätzen“ unterscheiden lassen. Diese sind, neben Afghanistan und Pakistan,
Syrien, Irak, Jemen, Somalia, sowie große Teile der Sahara und Nigeria. Daneben
sind Zentralasien, der Kaukasus und Südostasien ebenfalls Schauplätze, aber
derzeit noch von geringerer Bedeutung. Ägypten, Libyen und Tunesien sind Län-
der, bei denen erkennbar ist, dass sie in das Blickfeld von al-Qaida geraten sind.
Auf jedem dieser Schauplätze entwickeln sich die Dinge unterschiedlich, sie
stehen aber in Austauschrelationen miteinander und das Netzwerk al-Qaida ver-
sucht, seine Aktivitäten zu koordinieren und strategisch zu steuern.
Afghanistan und Pakistan
Beide Länder bilden ein Gebiet, in dem heute die weltweit größte Menge an
Jihadisten und radikal-islamistischen Kämpfern operieren, zumeist, aber keines-
falls ausschließlich in den paschtunisch besiedelten Gebieten. Zusammen ge-
nommen dürften in beiden Ländern zwischen 80.000 und 85.000 Kämpfer und
Aktivisten radikal-islamistischer Milizen aktiv sein, die abwechselnd gegen die
jeweilige Regierung, gegen ausländische Truppen, gegen Inder oder gegen Schii-
ten mit meist terroristischen Methoden oder mit Mitteln des Guerillakrieges vor-
gehen und teilweise ganze Gebiete kontrollieren. In Afghanistan operieren vor-
wiegend drei radikal-islamistische Bewegungen, die im Westen allesamt als ter-
roristische Organisationen eingestuft werden: die Taliban unter Führung von
Mullah Omar, die etwa 30.000 Kämpfer aufbringen, das Haqqani-Netzwerk,
welches 6.000–8.000 Kämpfer aufbieten kann, sowie die Hizb-e-Islami, die etwa
5.000–7.000 Kämpfer hat und unter der Führung von Gulbuddin Hekmatyar eng
mit al-Qaida und Taliban zusammen arbeitet. Des Weiteren operieren in Afgha-
nistan und auch in Pakistan die Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), sowie
die Islamic Jihad Union (IJU), eine Absplitterung der IMU. Diese Organisationen
sind keine ernstzunehmenden Milizen, sie haben ihre Hauptquartiere im pakista-
nischen Westen (besonders in den von der Regierung kaum kontrollierten FATA)
und haben im Prinzip eher Zentralasien aber auch Europa im Blick.
18
In Pakistan ist das Bild noch differenzierter.17
Hier stellen die Tehrik-e-Taliban
Pakistan (TTP) mit 20.000–30.000 Kämpfern die größte Djihadistenmiliz dar. Sie
operieren weitgehend im paschtunisch bevölkerten Westteil Pakistans, d.h. in den
von der Zentralregierung „verwalteten“ (tatsächlich ist die Reichweite der Zent-
ralgewalt beschränkt) Stammesgebieten (FATA) sowie der Nordwestprovinz,
insbesondere in Waziristan.18
Sie beschränken sich auf Pakistan, haben in der
Vergangenheit aber auch versucht, Sprengstoffanschläge in den USA zu verüben
(z.B. in New York am Times Square). Daneben gibt es weitere jihadistische
Gruppen und Milizen, die das Land mit einer Vielzahl von terroristischen Aktivi-
täten überziehen und mehr oder weniger direkt mit al-Qaida kooperieren oder
sich von dieser beraten und anleiten lassen:19
- Muqami Tehrik-e-Taliban: Hierbei handelt es sich um eine lokale Taliban
Organisation in Waziristan, die eng mit al-Qaida, Taliban und dem Haqqani
Netzwerk zusammen arbeitet. Die Bewegung soll etwa 13.000 Kämpfer ha-
ben und relativ eigenständig sein.
- Sipah-e-Sahaba Pakistan (SSP): hierbei handelt es sich um eine in den 80er
Jahren gegründete Bewegung, die sich hauptsächlich der Bekämpfung von
Schiiten widmet und mit al-Qaida und TTP zusammenarbeitet. Die Bewe-
gung soll bis zu 3.000 Kämpfer haben.
- Lashkar-e-Jhangvi (LeJ): Dies ist eine kleine, aber extrem gewalttätige Ab-
spaltung von der Sipah-e-Sahaba. Diese Bewegung hat im Februar 2013 in
der pakistanischen Stadt Quetta einen Bombenanschlag verübt, bei dem über
90 Schiiten getötet wurden. Sie operiert heute in vielen Teilen Pakistans.
- Jaysh-e-Mohammad (LeM): Dies ist eine Miliz, die die indische Herrschaft
in Kaschmir bekämpft, aber auch Terroranschläge in Pakistan ausführt und
eng mit al-Qaida und TTP zusammenarbeitet. Die Miliz soll zwischen 500–
700 Kämpfer haben.
- Lashkar-e-Taiba (LeT): Dies ist mit etwa 1.000 Kämpfern der militärische
Arm der in Kaschmir beheimateten Bewegung Jamaat-du-Dawa. Hauptgeg-
ner ist Indien. Die Bewegung kämpft primär in Kaschmir, hat aber auch An-
17 Vgl. Wätzel, Florian: Unheilige Allianz. Pakistans Geheimdienst ISI und die islamistischen
Extremisten, in: ISPK: Jahrbuch Terrorismus 2011/2012. Opladen 2012, S. 187–232.
18 Vgl. Michels, Carsten: Die Taliban in den Stammesgebieten Pakistans. Hamburg, Zürich und
New York 2013. 19 Vgl. Bajoria, Jayshree/Masters, Jonathan: „Pakistan's New Generation of Terrorists“, cfr.org,
22.09.2012.
19
schläge in Indien (z.B. den Anschlag in Mumbai von 2008) ausgeführt und
arbeitet eng mit al-Qaida zusammen.
- Harakat ul-Jihad-I-Islami (HUJI): Dies ist eine sunnitisch-extremistische
Bewegung, die 1980 in Afghanistan gegründet wurde und später unter dem
Einfluss von al-Qaida zu einer eigenständigen Jihad-Gruppe wurde. Sie hat
wiederholt terroristische Anschläge verübt. Die Gruppe dürfte relativ klein
sein und nur einige Hunderte Kämpfer umfassen. Sie operiert heute vorwie-
gend in Pakistan, Indien und Bangladesch und besteht vorwiegend aus Pakis-
tani sowie ausländischen Jihadisten aus unterschiedlichen Staaten.
- Das Haqqani-Netzwerk: Diese Bewegung (mit etwa 6.000–8.000 Kämpfer)
nimmt eine Sonderstellung ein, weil sie sowohl in Pakistan wie Afghanistan
operiert (hauptsächlich aber in Afghanistan). Im Gegensatz zu den anderen
bislang genannten Bewegungen unterhält diese Bewegung politische Kontak-
te zum pakistanischen Militär. Für die pakistanische Regierung ist das
Haqqani-Netzwerk offenbar ein wichtiger Spieler im afghanischen Machtpo-
ker. Das Netzwerk hat auch wiederholt zwischen der TTP und der pakistani-
schen Regierung vermittelt.
Während die TTP primär im Nordwesten Pakistans operieren, findet man die
Bewegungen Sipah-e-Sahaba Pakistan (SSP), Lashkar-e-Jhangvi (LeJ), Jaish-e-
Mohammad (JeM) and Lashkar-e-Taiaba (LeT) auch im Punjab. Dort haben sie
mittlerweile erhebliche Erfolge im Rekrutieren von jihadistischem Nachwuchs
aufzuweisen.20
Pakistan ist heute – nach Irak und Syrien und noch vor Afghanis-
tan – das Land, welches am stärksten unter terroristischen Anschlägen zu leiden
hat. In den vergangenen Jahren ist es der pakistanischen Regierung teilweise
gelungen die terroristischen Bewegungen zu bekämpfen und die Zahl der An-
schläge ging zurück,21
im Jahr 2012 dürfte es allerdings wieder zu einer Zunahme
der Anschläge gekommen sein.
In Afghanistan und Pakistan befindet sich im Grenzgebiet der al-Qaida Kern,
der aus den politischen Kadern und etwa 300 bis 500 Kämpfern der so genannten
Schattenarmee („Lashkar al-Zil“) bestehen soll. Im Vergleich zu dem Umfang an
Kämpfern, die die anderen jihadistischen Gruppen und Milizen in Afghanistan
und Pakistan zusammen genommen aufbringen, ist das eine kleine Zahl. Als
eigenständige Kämpfertruppe treten sie kaum auf, aber in enger Koordination mit
den afghanischen Taliban und den pakistanischen Taliban sowie anderen
20 Siddiqa, Ayesha: „Terror’s Training Ground“, newslinemagazine.com, 09.09.2009.
21 Vgl. Wätzel, Unheilige Allianz.
20
jihadistischen Milizen nehmen al-Qaida Aktivisten und Kämpfer der Schattenar-
mee wichtige Funktionen wahr. Zwar können sie nicht die strategische Zielset-
zung beider Taliban-Gruppen bestimmen,22
aber sie versuchen doch diese mehr
oder weniger indirekt zu beeinflussen. Das gelingt immer wieder dadurch, dass
sie sich als Berater und Vermittler anbieten, insbesondere dann, wenn es Streit
zwischen unterschiedlichen Milizen oder zwischen Fraktionen innerhalb dieser
Milizen gibt. Auch versuchen sie militante Gruppen zu infiltrieren oder sie durch
Militärberater in Abhängigkeit zu bringen.23
Viele dieser Militärberater wirken
wie ein Kampfkraftverstärker, weil sie das Gewaltpotential dieser Gruppen erheb-
lich erhöhen können.24
In Afghanistan gibt es offenbar auch al-Qaida Führer, die
Taliban Einheiten befehligen.25
In den vergangenen Jahren war al-Qaida nur teilweise erfolgreich bei dem
Versuch, die Aktivitäten dieses radikal-islamistischen und terroristischen Syndi-
kats zu koordinieren und ihnen eine strategische Steuerung zu geben. Die beiden
Taliban-Organisationen verfolgen ihre eigene, weitgehend regionale Agenda. In
zentralen Fragen (etwa über die Zukunft Afghanistans) richten sie sich nicht
notwendigerweise nach der Meinung der al-Qaida Führung. Aber innerhalb der
Taliban-Bewegungen gibt es Meinungsunterschiede und diese versucht al-Qaida
auszunutzen. Ein Indikator für die Einflussnahme durch al-Qaida dürften die
vielen gewaltsamen Störmanöver gegen die Aufnahme von Verhandlungen zwi-
schen Taliban und der amerikanischen Regierung bzw. der Regierung in Kabul
sein. Sollte es zu derartigen Verhandlungen kommen und sollten diese mit einer
Einigung enden, wäre dies eine entscheidende Niederlage für al-Qaida.26
Derarti-
ge Verhandlungen werden seit zwei Jahren angestrebt, bislang sind sie weitge-
22 Beide Taliban-Gruppen verfolgen trotz gleicher Ausrichtung unterschiedliche politische Ziele.
Während die afghanische Taliban sich auf die Bekämpfung der Regierung in Kabul, der interna-
tionalen Präsenz sowie Verbände der Nordallianz beschränken und die Regierung Pakistans aus-
drücklich von ihren Angriffen ausnehmen, ist es das Ziel der pakistanischen Taliban (die ein Zu-
sammenschluss mehrerer jihadistischer Organisationen ist) die pakistanische Regierung zu stür-
zen und einen Schariah-Staat in Pakistan zu etablieren.
23 Rassler, Don: Al Qa’ida’s Pakistan Strategy, www.ctc.usma.edu, 15.06.2009; vgl. auch Fishman, Brian: „Jihadists and Time Square“, cfr.org, 06.05.2010.
24 Bergen, Peter/Hoffman, Bruce: Assessing the Terrorist Threat. A Report of the Bipartisan Policy
Center’s National Security Preparedness Group, bipartisanpolicy.org, 10.09.2010, S. 5 f. 25 Vgl. Roggio, Bill: „Afghan military claims dual-hatted Taliban and al Qaeda leader killed in
ISAF airstrike“, longwarjournal.org, 22.08.2013.
26 Vgl. zum Konzept derartiger Verhandlungen Dobbins, James: Launching an Afghan peace process, in: Krause, Joachim/Mallory, Charles King, IV (Hrsg.): Afghanistan, Pakistan and Stra-
tegic Change. Adjusting Western Regional Policy, New York 2014, S. 149–170.
21
hend gescheitert. Nicht zuletzt seit dem angekündigten Abzug der ISAF aus Af-
ghanistan für Ende 2014 haben sich die Chancen nicht gebessert, wenngleich es
immer wieder interessante Ansätze zu geben schien. Entscheidend für die Zu-
kunft wird es sein, ob die in den vergangenen Jahren geschaffene zentrale Staat-
lichkeit Afghanistans ausreicht um nach dem Abzug von ISAF sich gegen die
Taliban und andere islamistische Milizen durchzusetzen. Hierfür gibt es immer
wieder ermutigende Signale,27
aber der reale Test kommt erst dann, wenn die
NATO-Unterstützungstruppen abgezogen sein werden.28
In Pakistan bemisst sich der „Erfolg“ der Strategie von al-Qaida daran, (1) ob
es gelingt, das Moment des salafistischen Jihads auch außerhalb der
paschtunischen Gebiete zu tragen, (2) ob sie es schafft, die jihadistischen Bewe-
gungen zu koordiniertem Handeln zu bewegen und (3) ob sie damit das pakistani-
sche politische System weiter destabilisieren kann. Die erste Frage muss man
leider bejahen, denn es lässt sich eine Ausbreitung der Bewegung in den Punjab
sowie nach Belutschistan konstatieren. Auch die zweite Frage lässt sich zumin-
dest so beantworten, dass anhand der gestiegenen Zahl von Anschlägen davon
ausgegangen werden muss, dass die Unterstützung, die al-Qaida vielen
jihadistischen Gruppen in Pakistan gibt, zu einer Erhöhung der Zahl der Anschlä-
ge beigetragen haben dürfte. Die Frage, ob und wie stark das politische System
Pakistans von diesen Aktivitäten weiter in Mitleidenschaft gezogen worden ist,
lässt sich kaum verlässlich beantworten.
Irak
Die al-Qaida Dependance im Irak, die sich als „Islamischer Staat im Irak“, bzw.
neuerdings als „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ (Syrien) versteht,
gilt heute als einer der größten und einflussreichsten Ableger. Zu ihr zählen min-
destens 2.500 Kämpfer, von denen viele in Syrien operieren. Die politische
Agenda ist auf den Bereich Irak/Syrien ausgerichtet, was für sie eine strategische
Einheit darstellt. Trotz der Verlagerung vieler Aktivitäten nach Syrien ist es er-
staunlich, wie viele Attentate diese Terrorgruppe weiterhin im Irak verübt. Der
Irak ist heute weltweit das Land mit den meisten terroristischen Anschlägen.
27 Vgl. Nordland, Rod/Shanker, Tom/Rosenberg, Matthew: „Afghans Fend off Taliban Threat in
Pivotal Year in Charge“, nytimes.com, 16.10.2013.
28 Vgl. Krause/Mallory: Afghanistan, Pakistan and Strategic Change.
22
Die Regierung Maliki in Bagdad trägt für diese Entwicklung große Verantwor-
tung, denn sie hat die von der amerikanischen Besatzungsmacht sorgsam austa-
rierte Machtbalance zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden zugunsten der schii-
tischen Mehrheit umgestoßen und damit das Land in einen neuen sektiererischen
Konflikt gestoßen. Für den „Islamischen Staat im Irak und in der Levante“ stellte
das eine willkommene Gelegenheit dar, seine terroristischen Gewalttaten wieder
aufzunehmen. Der al-Qaida-Ableger bemüht sich diese Auseinandersetzung zu
radikalisieren, indem er Anschläge gegen schiitische Moscheen und primär schii-
tisch bewohnte Viertel vornimmt. Aber auch Angriffe auf moderate Sunniten und
deren Einrichtungen stehen mehr und mehr auf der Tagesordnung. Die Zahl der
Anschläge hat 2011 und 2012 schon zugenommen, im Jahr 2013 haben sich die
Anschläge vervielfacht und damit auch die Zahl der Getöteten und Verwundeten.
Allein in den ersten 11 Monaten des Jahres 2013 sollen nach Schätzungen der
Vereinten Nationen mehr als 1.157 Iraker durch Anschläge der ISIS getötet und
16.788 verwundet worden sein.29
Die Jihadisten unter der Führung von einem
Mann mit dem „nom de guerre“ Abu Bakr al-Baghdadi können dabei im Irak auf
eine gewisse, aber keinesfalls breite Unterstützung in der sunnitischen Bevölke-
rung zählen, die sich durch die Politik des schiitischen Ministerpräsidenten Nuri
al-Maliki politisch benachteiligt sehen.
Wie sehr der Irak dadurch bereits destabilisiert worden ist, zeigte sich zum
Jahreswechsel 2013/2014. In der weitgehend von Sunniten bewohnten irakischen
Provinz Anbar kam es zu einer Aufstandsbewegung gegen die Regierung in Bag-
dad, an der sich neben lokalen Milizen auch Teile der ISIL beteiligten. Dabei
gelang es dem al-Qaida Ableger sich in den Städten Falluja und Ramadi festzu-
setzen. Die Aktionen von ISIS wurden von Sunniten teilweise begrüßt, teilweise
aber auch durch sunnitische Milizen bekämpft.30
Die Lage bleibt unklar, sicher
ist, dass eine rasche Stabilisierung nicht zu erwarten ist.
Syrien
Der syrische Bürgerkrieg ist mittlerweile das Ereignis, welches dem Netzwerk
von al-Qaida den größten Aufschwung seit seiner Entstehung beschert hat. Der
29 Vgl. United Nations Iraq (Hrsg.): „UN Casualty Figures for November 2013“, uniraq.org,
01.12.2013. 30
Vgl. Sly, Liz: „In Iraq, a Sunni revolt raises specter of new war“, Washington Post, 7.1.2014.
23
Zustrom an Aktivisten und Kämpfern sowie an Finanzmitteln und politischer
Sympathie ist ohne Parallele. Binnen zwei Jahren ist Dank des Aufschwungs der
islamistischen Jihadisten in Syrien die Zahl der Jihad-Kämpfer um etwa 50.000
Mann angestiegen. Nicht einmal in Afghanistan und im Irak unter amerikanischer
Besatzung hat es einen derartigen Zulauf für al-Qaida bzw. al-Qaida nahe stehen-
de Organisationen gegeben. Und nicht nur das: in weiten Teilen des Landes über-
nehmen heute von al-Qaida angeleitete und unterstützte Milizen die politische
Herrschaft und es droht das Entstehen eines jihadistischen Staates in der Levante,
an der Grenze zur Türkei und zu Israel, mit dem Potential auf die gesamte arabi-
sche Welt auszustrahlen.
Wie konnte es dazu kommen? Nachdem die syrische Führung unter Bashar
al-Assad im April 2011 dazu übergegangen war, die seit Januar anhaltenden Pro-
teste gewaltsam zu unterdrücken, ist die ursprünglich primär säkulare Rebellion
in einen Bürgerkrieg übergegangen, in dem religiöse Fragen eine zunehmend
zentrale Rolle einnehmen. Anlass für die Radikalisierung war auch, dass sich alle
Hoffnungen auf eine westliche Intervention im Jahr 2011 (nach dem Vorbild
Libyens) zerschlugen und auch später alle diesbezüglichen Erwartungen frustriert
wurden. Stattdessen haben Russland und der Iran den harten Kurs Assads poli-
tisch und militärisch unterstützt und damit erst die derzeitige Situation eines ge-
radezu unauflösbaren inneren Krieges herbeigeführt, von dem die radikalen isla-
mistischen Milizen profitieren konnten.31
Die Art der Aufstandsbekämpfung seitens des Assad Regimes hat große
Ähnlichkeiten mit der russischen Aufstandsbekämpfungsstrategie, die man im
Kaukasus beobachten kann. Die Folge war eine enorme Radikalisierung auf Sei-
ten der Rebellen: Islamistische Milizen spielten anfangs nur eine geringe Rolle
im syrischen Bürgerkrieg, heute sind sie die stärkste militärische Kraft unter den
Regierungsgegnern. Sie erhielten Unterstützung durch den irakischen al-Qaida-
Ableger Islamischer Staat Irak (ISI), der 2011 auch an der Gründung einer
jihadistischen syrischen Unterorganisation beteiligt war, der Jabhat al-Nusra. Die
genauen Umstände sind nicht bekannt. Entweder wurde Jabhat al-Nusra von
syrischen Kämpfern gegründet oder von syrischen Jihadisten des ISI, die nach
Ausbruch des Bürgerkrieges zurück nach Syrien gegangen sind. Mittlerweile hat
sich Jabhat al-Nusra der al-Qaida direkt unterstellt und operiert unabhängig von
31 Zur Entwicklung der syrischen Krise vgl. Wieland, Carsten: Syria. A Decade of Lost Chances.
Repression and Revolution from Damascus Spring to Arab Spring, Seattle 2012; s.a. Bickel,
Markus: „Die Verzweiflung der Revolutionäre“, in: FAZ, 24.07.2013, S. 8.
24
bzw. neben der ISI, die sich inzwischen in al-Qaida im Irak und in der Levante
(ISIL) umbenannt hat.32
Somit gibt es zwei al-Qaida Ableger in Syrien.
Schon längst geht es in dem Krieg nicht mehr um demokratischen Wandel,
sondern um Streit über ethnische und religiöse Fragen – und für Viele geht es um
die nackte Existenz in einem immer grausamer werdenden Krieg, in dem jeder
riskiert wegen seiner Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe getötet zu werden.
Für al-Qaida war und ist diese Situation vorteilhaft und eine Herausforderung, die
sie mit großem Erfolg aufgegriffen hat: Viele Rebellenmilizen stehen heute of-
fenbar auf ihrer Seite oder sympathisieren mit ihren Zielsetzungen. Auch hier
wird wieder das strategische Muster erkennbar, welches für al-Qaida charakteris-
tisch ist. Wo sich die Gelegenheit ergibt einen Jihad zu führen, wird diese genutzt,
um jihadistische Gruppen zu stärken, ihnen externe Kämpfer zuzuführen und dem
regionalen Kampf eine globale, strategische Bedeutung zu geben. Ähnlich wie im
Afghanistan der 80er und 90er Jahre oder wie im Irak zwischen 2003 und 2009
hat es al-Qaida geschafft, Jihadisten aus aller Welt in den Kampf ziehen zu lassen
– davon etwa 700 aus Europa, 1.000 aus Tschetschenien, Tausende aus Tunesien;
Saudi-Arabien, Ägypten, Irak und aus Pakistan. 33
Darüber hinaus werden Gelder
in der gesamten muslimischen Welt gesammelt und auf die eine oder andere
Weise – trotz massiver Störversuche der USA und anderer Länder – nach Syrien
transferiert. Der syrische Bürgerkrieg ist für den islamistischen Jihad heute das,
was in den 30-Jahren der spanische Bürgerkrieg für den Faschismus und Natio-
nalsozialismus war. Es gilt dieses Mal mit Erfolg ein Land zu übernehmen und es
unter die Kontrolle einer radikal-islamistischen Führung zu stellen, die sich an al-
Qaida ausrichtet. Noch nie war al-Qaida diesem Ziel so nahe wie heute.
Das Ausmaß des Erfolgs von al-Qaida wird erkennbar, wenn man sich die
Angaben über Kräfteverhältnisse im syrischen Krieg vor Augen führt. Den knapp
100.000 Soldaten der syrischen Armee und der sie unterstützenden alawitischen,
säkularen, iranischen und Hisbollah Milizen stehen heute etwa gleich viele
Kämpfer von etwa 1.000 unterschiedlichen Milizen gegenüber. Die Anzahl derje-
nigen Kämpfer, die sich al-Qaida angeschlossen oder sogar unterstellt haben, ist
schwer zu ermitteln. Zwischen den Schätzungen gibt es Differenzen, die Zahl der
al-Qaida verbundenen Jihadisten nimmt aber allen Schätzungen zufolge rapide zu.
Einer Studie des britischen Militärfachdienstes IHS Janes vom Sommer 2013
32 In vielen Berichten wird auch die Bezeichnung al-Qaida im Irak und in Syrien (ISIS) gewählt. 33 Vgl. Barnard, Anne/Schmitt, Eric: „As Foreign Fighters Flood Syria, Fears of a New Extremist
Haven“, in: The New York Times, 09.08.2013, S. A1.
25
zufolge gehören etwa 10.000 Kämpfer der al-Qaida an und verteilen sich auf al-
Qaida im Irak und in der Levante (ISIL) und Jabhat al-Nusra. Davon sollen etwa
5.000 bis 7.000 Kämpfer auf Jabhat al-Nusra entfallen, der Rest auf ISIL. Nach
dieser Studie gibt es noch weitere radikal-islamistische Milizen, die die
jihadistische Grundeinstellung von al-Qaida teilen, aber politische Ziele verfol-
gen, die sich primär auf Syrien beziehen. Diese Milizen schätzt IHS Janes auf
etwa 35.000 Mann34
. Andere Schätzungen gehen von sehr viel mehr al-Qaida
Anhängern aus. Schon im Frühjahr berichtete das Longwar-Journal, dass alleine
Jabhat al-Nusra etwa 10.000 Kämpfer hätte.35
Im Verlauf des Sommers und
Herbst 2013 sollen sich dieser Bewegung mindestens 4.000 weitere Kämpfer
angeschlossen haben.36
ISIL soll einigen Angaben zufolge nur 2.500 Mitglieder
haben, die Washington Post berichtete hingegen über Schätzungen, denen zufolge
ISIL allein 8.000 Kämpfer in Syrien aufbieten könne, von denen die meisten aus
dem Ausland stammten.37
Auch der US-Geheimdienst geht von etwa 20.000 al-
Qaida nahen oder geführten Kämpfern in Syrien aus.38
Anders als im Irak hat al-Qaida in Syrien es nicht geschafft, eine Monopol-
stellung unter den salafistischen Jihadisten aufzubauen. Die oben genannten Zah-
len lassen erkennen, dass sich in Syrien eine gewaltbereite und bewaffnete
salafistische Szene etabliert hat, die im Nahen und Mittleren Osten ihresgleichen
sucht. Diese Salafisten splittern sich in unzählige Gruppen auf, die mit al-Qaida
kooperieren aber auch konkurrieren. Sowohl Jabhat al-Nusra als auch ISIS ver-
suchen seit 2011, diese Gruppen unter ihrer Führung zu vereinen. Im September
2013 gelang es der Jabhat al-Nusra, neun weitere Milizen (vermutlich zwischen
34 Die Angaben beziehen sich auf eine Studie von Charles Lister, die nicht frei erhältlich ist; die
hier wiedergegebenen Angaben stammen aus dem Artikel von Bickel, Markus: „Leiden an der Zögerlichkeit der anderen“, in: FAZ, 19.09.2013, S. 6.
35 Vgl. Roggio, Bill: „Al Nusrah Front, allies seize border area across the Golan Heights“,
longwarjournal.org, 24.03.2013. 36 Allein 3.000 Kämpfer waren es zwischen Mai und September 2013 sowie noch mal im Septem-
ber weitere 1.500. Ganze Milizen wie die Raqqah Revolutionäre Brigade und die Allahs Sieg
Brigade haben sich im September 2013 der Al Nusrah Front angeschlossen; vgl. Roggio, Bill: „2 Free Syrian Army brigades join Al Nusrah Front“, longwarjournal.org, 20.09.2013; vgl. Roggio,
Bill: „Al Nusrah Front, Free Syrian Army seize border crossing to Jordan“, longwarjournal.org,
29.09.2013. 37 Vgl. Loveday, Morris/Warrick, Joby/Mekhennet, Souad: „Rival al-Qaeda-linked groups fortify-
ing in Syria with mix of pragmatism and militancy“, washingtonpost.com, 13.10.2013; vgl. Sly,
Liz: „Foreign extremist dominate Syrian fight“, washingtonpost.com, 01.10.2013. 38 Vgl. Miller, Greg: „CIA ramping up covert training program for moderate Syrian rebels“, wash-
ingtonpost.com, 03. 10. 2013.
26
20.000 und 30.000 Kämpfer) dazu zu überreden, sich mit ihr in einer politischen
Front (Islamische Allianz) zu vereinen. Dieser Zusammenschluss wurde in einem
Kommuniqué festgehalten, in dem sich die Milizen von der syrischen Nationalen
Front lossagten und sich dem Ziel der Schaffung eines Schariah-Staates in Syrien
verschrieben.39
Nur zwei Monate später brach diese Front allerdings wieder aus-
einander, nachdem sich Ahrar al-Sham, Liwa al-Tawid und andere salafistische
und islamistische Gruppen in der von Saudi Arabian unterstützten „Islamischen
Front“ zusammen schlossen, in der Jabhat al-Nusra kein Mitglied ist. Hintergrund
waren teilweise gewaltsame Auseinandersetzungen innerhalb des jihadistischen
Lagers.40
Die „Islamische Front“ ist der Versuch Saudi Arabiens, al-Qaidas Ein-
fluss in Syrien einzudämmen.41
Wie erfolgreich Saudi Arabien mit diesem Ver-
such ist, ist fraglich. Die von Saudi-Arabien unterstützen islamistischen Milizen
haben gegen Ende 2013 den Einfluss von ISIL in Aleppo zurückgedrängt, aber
die Islamische Front hat sich von dem syrischen Nationalrat losgesagt und sich
für die Einführung der Scharia in Syrien ausgesprochen. Ihr militärischer Anfüh-
rer gilt als gefährlicher Salafist.42
Das Potenzial aller salafistischen Milizen in Syrien zusammen genommen
bleibt beeindruckend. Im Vergleich zu den als „moderat“ eingeschätzten und
zersplitterten sonstigen Milizen (ca. 40.000 Mann) sowie den kurdischen Milizen
(ca. 10.000 Mann) sind sie zahlenmäßig gleich stark oder schon stärker und dürf-
ten diese an Kampfesmut und Entschlossenheit übertreffen. Radikal-islamistische
Milizen kontrollierten gegen Ende des Jahres 2013 große Teile des Nordens Syri-
ens und des Grenzgebietes zum Irak, der zunehmend in diesen Krieg hineingezo-
gen wird. Vor allem die ISIL/ISIS war dabei erfolgreich, systematisch größere
Landstriche unter seine Kontrolle zu bringen. Ausmaß und Tiefe der Kontrolle
dieser Bewegungen über diese Territorien übertrifft bei weitem die Kontrolle, die
al-Qaida während der Jahre 2006 und 2007 über Teile des Iraks ausübte.43
Einer
Karte, die die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Dezember 2013 veröffentlicht
39 Vgl. Roggio, Bill: Free Syrian Army units ally with al Qaeda, reject Syrian National Coalition,
and call for sharia, longwarjournal.org, 26.09.2013. 40 Vgl. Barnard, Anne/Shoumali, Karam/Chivers, C.J.: „Death of Pragmatic Leader further Mud-
dles Syrian Rebellion“, in: The New York Times, 19.11.2013, S. A4.
41 Vgl. Hubbard, Ben/Shoumali, Karam: „Powerful Rebel Groups in Syria Announce Creation of Umbrella Alliance“, in: The New York Times, 23.11.2013, S. A6.
42 Vgl. Lundquist, Lisa: „Formation of Islamic Front in Syria benefits jihadist groups“, longwar-
journal.org, 23.11.2013. 43 Vgl. Loveday, Morris/Warrick, Joby/Mekhennet, Souad: „Rival al-Qaeda-linked groups fortify-
ing in Syria with mix of pragmatism and militancy“.
27
hat, ist zu entnehmen, dass ISIL/ISIS einen mehrere Hundert Kilometer langen
und etwa Hundert Kilometer breiten Streifen von der türkischen Grenze bei
Aleppo bis weit in den Irak kontrolliert (Abb. 1).44
Abbildung 1: Die Kontrolle syrischen und irakischen Territoriums durch ISIS
Quelle: FAZ
Unklar bleibt warum es zwei Organisationen in Syrien gibt, die sich al-Qaida
unterstellt haben. Ursprünglich war Jabhat al-Nusra mit Hilfe des Islamischen
Staat im Irak gegründet worden, der sich dann Anfang 2013 in Islamischer Staat
im Irak und der Levante (ISIL) umbenannte. Das schien auf Widerstand bei
Jabhat al-Nusra zu treffen. Im Frühjahr 2013 wurden diese Differenzen offen-
kundig, nachdem es einen Streit zwischen dem Führer von ISIL, Abu Bakr al-
Baghdadi, und dem Führer (Emir) von Jabhat al-Nusra, Abu Muhammad al-
Julani, gab. Während al-Baghdadi die Unterordnung von Jabhat al-Nusra unter
die von ihm befehligte ISIL forderte, betonte al-Julani die Unabhängigkeit seiner
Organisation von ISIL und erklärte, dass er nur Befehle direkt von al-Qaida Füh-
rer Ayman az-Zawahiri entgegen nehme, dem er einen direkten Eid geschworen
44 Vgl. Hermann, Rainer: „Afghanistan am Mittelmeer“, in: FAZ, 11.12.2013, S. 8.
28
habe.45
Az-Zawahiri schrieb dann offenbar im Mai 2013 einen Brief an beide, in
dem er diese einerseits für ihren Streit tadelte, andererseits eine einjährige
„cooling-off“ Periode vorschlug und einen Vermittler bestellte, einen langjähri-
gen al-Qaida Führer namens Abu Khalid al Suri. Damit schien der Streit erst
einmal beigelegt zu sein, wie nachhaltig wird sich zeigen.46
Seit Mitte 2013 ge-
hen die meisten Beobachter davon aus, dass Jabhat al-Nusra unabhängig von
ISIL operiert und sich ihre Eigenständigkeit weiter bewahrt.
Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, dass die radikal-islamistischen
Kräfte in Syrien die Auseinandersetzung gegen Assad und auch gegen moderate
Milizen gewinnen und entweder das ganze Land zu einem Jihad-Staat werden
lassen, oder aber sich dauerhaft in Regionen festsetzen und dort eine quasi-
Staatlichkeit etablieren (zumindest geschützte Gebiete), von denen aus weitere
Aktionen geplant und vorbereitet werden können. Wie dauerhaft allerdings derar-
tige Milizen in der Lage sein werden, Territorium zu kontrollieren und dort eine
Form von Staatlichkeit zu etablieren, die Ausgangspunkt für weitere Bedrohun-
gen in der Region und darüber hinaus sein kann, bleibt offen. Alle derartigen
Erfahrungen haben bislang gezeigt, dass al-Qaida Kämpfer kein Konzept für eine
Staatsbildung haben und in der Regel in der Bevölkerung wegen ihrer Gewaltbe-
reitschaft und ihrer Radikalität recht bald auf Ablehnung stoßen.
Ägypten
In Ägypten sind es vornehmlich Fehler der Muslimbrüder gewesen, die die Erfol-
ge der „Arabellion“ in Frage gestellt haben. Nachdem im Sommer 2012 mit Mo-
hammed Mursi der Präsidentschaftskandidat der Partei für Freiheit und Gerech-
tigkeit (des politischen Arms der Muslimbruderschaft) die Wahlen knapp gewon-
nen hatte, wurde er schon ein Jahr später nach Demonstrationen von Millionen
von Ägyptern vom Militär abgesetzt. Anlass hierzu war nicht nur die weitgehen-
de Inkompetenz seiner Regierung, sondern vor allem auch der religiöse Eifer der
Muslimbruderschaft, die ihre Machtposition dazu nutzten, um dem Land eine Is-
45 Joscelyn, Thomas: „Al Qaeda in Iraq, Al Nusrah Front emerge as rebranded single entity“,
longwarjournal.org, 09.04.2013; Joscelyn, Thomas: „Al Nusrah Front leader renews allegiance
to al Qaeda, rejects new name“, longwarjournal.org, 10.04.2013. 46 Joscelyn, Thomas: „Analysis: Zawahiri's letter to al Qaeda branches in Syria, Iraq“, longwar-
journal.org, 10.06.2013.
29
lamisierung mehr oder weniger gewaltsam aufzuzwingen, die von der Mehrheit
der Bevölkerung (insbesondere der städtischen Bevölkerung) abgelehnt wurde.47
Die vielen Hoffnungen, wonach sich die Muslimbrüderschaft am Vorbild der
türkischen AKP orientieren würde und eine Mischung aus moderatem Islam und
Marktwirtschaft einführen könnten, hatten sich nicht erfüllt. Einer der Gründe für
den Militärputsch war auch, dass die Regierung die Kontrolle über Teile des
Landes verlor. Dies gilt insbesondere für den nördlichen Bereich des Sinai, der zu
einem gesetzlosen Land geworden war, in dem al-Qaida-Anhänger und beduini-
sche Kriminelle herrschten.
Die anschließenden Demonstrationen, bei denen Hunderte von Anhängern
der Muslimbruderschaft vom Militär erschossen wurden, hinterließen eine politi-
sche Szene in Ägypten, bei der vermutet werden muss, dass viele radikalisierte
Muslime in den Untergrund gehen, terroristische Anschläge verüben und sich al-
Qaida annähern oder anschließen. Während und nach der gewaltsamen Nieder-
schlagung der Demonstrationen der Muslimbrüder in Kairo im Juli 2013 kam es
zu ersten Terroranschlägen im Sinai. Diese Furcht wurde von Führern der
Muslimbrüder teilweise bewusst genährt, etwa als der Muslimbruder-Funktionär
Mohammed al-Beltagi auf dem Höhepunkt der Unruhen im Sommer gegenüber
dem Fernsehsender Al-Jazeera äußerte, die „Schwierigkeiten auf dem Si-
nai“ würden innerhalb einer Stunde aufhören, wenn Präsident Mursi wieder im
Amt sei.48
Es ist nicht davon auszugehen, dass es in Ägypten eine Wiederholung der Er-
eignisse von Algerien nach 1991 geben wird, wo das Militär den Wahlsieg einer
radikalen Islamistenpartei verhinderte, was das Land in einen zehnjährigen Bür-
gerkrieg stieß, der etwa 100,000 Todesopfer gefordert haben soll. Dazu ist nach
der ernüchternden Erfahrung mit deren Regierung die Ablehnung der
Muslimbrüder in der ägyptischen Gesellschaft zu groß. Auch die
Muslimbruderschaft gilt in der Mehrheit nicht als gewalttätig. Aber man muss
davon ausgehen, dass Hunderte wenn nicht Tausende von Anhängern der
Muslimbruderschaft sich nunmehr von den Parolen der al-Qaida angesprochen
fühlen, denen zufolge ein politischer Wandel in der arabischen Welt nicht mit
demokratischen Methoden erreicht werden kann und die den bewaffneten Kampf
als einziges Mittel ansehen. Es ist zu erwarten, dass es in Ägypten eine Zunahme
47 Vgl. Darwish, Adel: Egypt – How the ‚Arab Spring’ turned into a summer of discontent, in: New
African, no. 531, vol. 47, August-September 2013, S. 14-18.
48 Vgl. Darwish, Adel: Egypt – How the ‚Arab Spring’ turned into a summer of discontent, S. 16.
30
terroristischer Anschläge geben wird, die sich gegen das Militär und Vertreter
politischer Parteien richtet, aber die auch touristische Zentren und Wohngebiete
der Kopten nicht ausnehmen wird. Besonders für die al-Qaida Zentrale im afgha-
nisch-pakistanischen Grenzgebiet unter Ayman az-Zawahiri wird Ägypten in den
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Er selber ist Ägypter und war einst
Muslimbruder. Er hat sich Anfang der 80er Jahre radikalisiert und die
Muslimbrüder dafür kritisiert, dass sie nicht radikal genug (d.h. mit Gewalt) ge-
gen das Militärregime von Mubarak vorgingen. Heute sieht er sich in seiner Hal-
tung bestätigt.
Tunesien und Libyen
Aber auch in Tunesien steht die friedliche politische Transformation auf der Kip-
pe. Nachdem die islamistische Ennahda Bewegung bei den Wahlen zur Konstitu-
tionellen Versammlung im Oktober 2011 als stärkste Fraktion hervorgegangen
war, dominiert auch sie das politische Leben in Tunesien und brachte viele Bür-
ger mit einer dezidiert islamistischen Politik gegen sich auf. Auch hier kann ein
Sturz dieser Partei nicht ausgeschlossen werden. Allerdings ist das politische
Gefüge in Tunesien anders als in Ägypten. Interimspräsident Moncef Marzouki
gehört nicht zu den Islamisten und der frühere Ministerpräsident Hamadi Jebali
von der Ennahda Partei musste zurücktreten, weil er sich zu stark radikalen isla-
mistischen Parolen angenähert hatte. Andererseits gibt es eine politische Bewe-
gung des Salafismus, die Ansar al-Sharia, die etwa 100.000 Mitglieder hat und
die im August 2013 von der tunesischen Regierung wegen terroristischer Aktivi-
täten verboten worden ist. Der Bewegung werden die Ermordung mehrerer säku-
larer Politiker sowie Kontakte zu al-Qaida vorgeworfen. Auch hätte man große
Waffenbestände gefunden.49
Sollten die Vorwürfe zutreffen, dann würde das
bedeuten, dass al-Qaida über salafistische Parteien Einfluss zu nehmen versucht.
Neben Tunesien ist auch Libyen ein Land, in dem al-Qaida Einfluss zu neh-
men versucht. Nach dem Sturz Ghaddafis ist dort eine unklare politische Lage
entstanden. Immer noch gibt es keine klare Zentralgewalt. Das Land befindet sich
in der Hand von Milizen unterschiedlicher religiöser und politischer und tribaler
49 Vgl. o.V.: „Tunisia declares Ansar al-Sharia a terrorist group”, bbc.co.uk, 23.08.2013.
31
Ausrichtung.50
Seit dem Frühjahr 2012 treten dabei radikal-islamistische Gruppen
mit Anschlägen gegen ausländische Einrichtungen in Libyen auf, die sich Omar
Abdul Rahman Brigaden nannten (benannt nach dem inhaftierten Scheich Omar
Abdul Rahman). Im Sommer zerstörten Angehörige dieser Miliz Heiligtümer der
Sufis in Libyen.51
Im September 2012 wurde der US Botschafter Christopher
Stevens in Bengasi zusammen mit anderen Mitarbeitern der US-Botschaft von
dieser Gruppe bei einem Anschlag getötet.52
Diese und andere Gruppen formen
heute einen eher losen Verband von radikal-salafistischen Milizen, die unter dem
Namen Ansar al-Sharia firmieren und nach unterschiedlichen Schätzungen zwi-
schen 300 und 5.000 Kämpfer haben sollen.53
Nach der französischen Interventi-
on in Mali vom Januar 2013 sind auch Ansar al-Dine Kämpfer aus Mali in den
Süden Libyens eingeströmt.
Mali
In den Jahren 2012 und 2013 beanspruchten vor allem die Entwicklungen in Mali
große Aufmerksamkeit. Hier kam es 2012 zum Entstehen eines jihadistischen
Staatsähnlichen Gebilde im Norden Malis, das im Januar 2013 durch eine franzö-
sische Militärintervention beendet wurde. Die Ereignisse, die zu dieser Entwick-
lung führten, lassen keine zentrale Steuerung durch al-Qaida erkennen, sie ma-
chen aber deutlich, wie sehr schon relativ kleine Gruppen von Jihadisten in unter-
entwickelten Regionen der Sahelzone unter Bedingungen schlechter Regierungs-
führung und mangelhaften internationalen Krisenmanagements zu wichtigen
international beachteten Akteuren mit einem erheblichen Störpotenzial werden
können.
Ein wichtiger Akteur war Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM). Diese
Bewegung entstand Anfang 2007 aus dem Zusammenschluss einer extremisti-
schen Splitterbewegung der radikalen Islamistenbewegung Algeriens (Groupe
50 Kirkpatrick, David D.: „In Libya, Fighting May Outlast the Revolution“, in: The New York
Times, 02.11.2011, S. A4; vgl. o.V.: „Libya defence minister cancels resignation“, aljazeera.com,
07.05.2013.
51 Vgl. o.V.: „Libya Islamists destroy Sufi shrines, library – military“, reuters.com, 25.08.2012. 52 Vgl. Harding, Luke/Stephen, Chris: „Chris Stevens, US ambassador to Libya, killed in Benghazi
attack“, theguardian.com, 12.09.2012; vgl. Robertson, Nic/Cruickshank, Paul/Lister, Tim: „Pro-
al Qaeda group seen behind deadly Benghazi attack“, cnn.com, 13.09.2012. 53 Vgl. Maggie, Michael/Hendawi, Hamza: „A Benghazi power, Libya militia eyed in attack“,
ap.org, 18.09.2012.
32
salafiste pour la prédication et le combat – GSPC) mit Gleichgesinnten aus Liby-
en und Marokko. AQIM hat sich seither al-Qaida unterstellt und operiert heute in
verschiedenen Staaten Nordafrikas. Zahlenmäßig dürfte dieser Ableger klein sein,
zwischen 300 und 800 Kämpfer wird die Stärke von AQIM von Beobachtern
eingeschätzt. Dabei leidet die Bewegung unter der Absplitterung: Im Jahr 2010
hat sich die Bewegung für Einheit und Jihad in Westafrika (Jamāʿat at-tawḥīd
wal-jihād fī gharb ʾafrīqqīyā – MOJUM, oder Movement for Oneness and Jihad
in Westafrica - MOJWA) unter der Leitung von Hamada Ould Mohamed
Kheirou abgespalten. Angeblich wolle diese Bewegung in ganz Westafrika ope-
rieren, nicht nur in dem Bereich der Sahara. Zudem hat sich einer der früheren
Führer von GSPC und AQIM, Mokhtar Belmokhtar, im Jahr 2010 von AQIM
gelöst und eine eigene Gruppe gebildet, die sich Brigade der Maskierten Männer
nennt, und vielleicht 100 Mann umfasst.
Weil der Verfolgungsdruck in Algerien nach dem 11. September 2001 an-
stieg, operierte AQIM vornehmlich im Norden Malis bzw. aus der dortigen
Grenzregion zu Algerien heraus. Dort konnte sie sich 2011 der Zusammenarbeit
mit der radikal-islamistischen Miliz Ansar Dine (auch Ansar Eddine genannt)
versichern, die von Iyad ag Ghaly angeführt wird, einem der Anführer des Tua-
reg-Aufstands der 90er Jahre. 54
Iyad ag Ghaly galt lange Zeit als mainstream
Tuareg Politiker, offenbar wurde er erst vor wenigen Jahren zum radikalen Isla-
misten, wobei die Umstände umstritten sind.55
Ansar Dine ist eng mit einem der
südlichen Stämme der Tuareg verbunden, hat aber die ursprüngliche sezessionis-
tische Zielsetzung zugunsten einer salafistischen Orientierung zurückgestellt.
Über die Größe der bewaffneten Kräfte von Ansar Dine gibt es unterschiedliche
Schätzungen, die zwischen 500 und 2.000 liegen. Sie sind im gewissen Maßstab
zu Angriffsoperationen auf Pickup-Kraftfahrzeugen fähig – so wurde Anfang
2013 von arabischen Journalisten beobachtet, wie eine aus ca. 100 bewaffneten
Fahrzeugen bestehende Kolonne sich in Bewegung setzte.56
Geht man davon aus,
54 Zu den Hintergründen vgl. McDougall, James/Scheele, Judith: Saharan Frontiers – Space and
Mobility in Northwest Africa, Bloomington 2012; s.a. Flood, Derek H.: „Between Islamization and Secession. The Contest for Northern Malin“, in: CTC Sentinel, Vol. 5, No. 7, July 2012, S.
1–6.
55 Vgl. Flood, Between Islamization and Secession, S. 3. Eine Erklärung könnte darin liegen, dass seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts viele Koranschulen gebaut wurden, die die wahabitische
Form des Islam lehrten und die aus saudischen Geldern finanziert wurden; vgl. Scheen, Thomas:
„Die traumatisierte Stadt,“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.07.2013, S. 3. 56 Vgl. o.V.: „Qaeda, Ansar Dine convoy headed for assault on Malian town: sources“,
alarabiya.net, 05.01.2013.
33
dass in jedem der Fahrzeuge mehrere bewaffnete Personen waren und dass dies
nicht die einzige Formation der Ansar Dine gewesen sein dürfte, so sind 500
Kämpfer vermutlich eine zu niedrige Schätzung.
AQIM hat seit 2003 sehr viel Geld mit der Entführung und Lösegelderpressung
von Europäern, Amerikanern und Afrikanern verdient. Über 80 Personen wurden
im Bereich der Sahelzone von AQIM oder seinen Abspaltungen entführt. In den
meisten Fällen gab es Lösegelder in nicht unbeträchtlicher Höhe, vor allem aus
Frankreich, Spanien und Italien. Über die dabei in die Kassen von AQIM geflos-
senen Summen gibt es unterschiedliche Schätzungen, die zwischen 50 und 250
Millionen Dollar schwanken. Vor allem in Frankreich hat dies dazu geführt, dass
die Regierung seit 2011 eine härtere Gangart gegenüber Entführern eingeschlagen
hat – leider mit wenig Erfolg.57
Zudem hat AQIM sehr viel Geld mit dem
Schmuggel von Drogen und Zigaretten verdient: Westafrika ist heute Haupt-
durchgangsgebiet von südamerikanischem Rauschgift nach Europa. Der Über-
gang einer salafistischen Bewegung zum Partner des organisierten Verbrechens
dürfte auch innerhalb dieser Organisation nicht unstrittig gewesen sein. Zumin-
dest wird es darüber kontroverse Debatten gegeben haben. Angeblich ist die Ab-
spaltung der Bewegung der Maskenmänner (Khaled Abu al-Abbas Brigade) unter
der Führung des einäugigen Radikalislamisten und Afghanistan-Veteran Mokhtar
Belmokhtar darauf zurückzuführen, dass dieser den Schmuggel von Drogen und
Zigaretten zu intensiv betrieb (einer seiner Spitznamen ist „Mr. Marlboro“). Er
sei deshalb aus dem engeren Führungszirkel von AQIM verbannt worden und
hätte dann seine eigene Miliz gegründet.
Die Präsenz der AQIM in Nordmali wurde von der Regierung in Bamako un-
ter Präsident Amadou Toumani Touré offenbar weitgehend toleriert. Einigen Ein-
schätzungen zufolge ergaben sich sogar gemeinsame Interessen, etwa bei der
Niederhaltung sezessionistischen Widerstands unter den Tuaregs sowie bei der
Lösung der Geiselfälle, wo viel Geld in unterschiedliche Taschen geflossen sein
soll, auch in die des Präsidenten.58
Sicher ist, dass die Regierung in Bamako
nichts oder wenig tat, um die Probleme im Norden des Landes zu lösen. Mit den
USA wurde allerdings eine Vereinbarung getroffen, um eine aus Tuareg beste-
hende Einheit zu schaffen, die im Norden des Landes AQIM bekämpfen sollte.
57 Vgl. Giudicelli, Anne: „France – A New Hard Line on Kidnappings?“, in: CTC Sentinel, Vol. 6,
No. 4, April 2013, S. 19–21. 58 Vgl. Welsh, May Ying: „Mali – The ‘gentle’ face of al-Qaeda. An exclusive Report from inside
northern Mali“, aljazeera.com, 30.12.2012.
34
Der Hintergrund der Kämpfe, die Anfang 2012 ausbrachen und die relativ
schnell zum Kollaps der Institutionen des Staates Mali im nördlichen Landesteil
führten, ist in dem jahrzehntelangen Bestreben der in Nordmali beheimateten
Tuaregs59
nach Unabhängigkeit und der Gründung eines eigenen Staates zu sehen.
Nach dem gewaltsamen Ende der Herrschaft Ghaddafis in Libyen waren im Ok-
tober 2011 mehrere Hundert bewaffnete Tuaregs nach Mali zurück gekommen,
die zuvor für Ghaddafi gekämpft hatten. Mit den vielen mitgebrachten Waffen
und Kraftfahrzeugen sowie vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus Libyen
begannen sie nun damit zusammen mit lokalen Gleichgesinnten eine Befreiungs-
bewegung der Tuaregs zu gründen, die Mouvement National de Libération de
l’Azawad (MNLA). Ab Januar 2012 unternahm die MNLA Angriffe auf Regie-
rungsstellen und Militäreinrichtungen im Norden Malis. Dabei waren sie erfolg-
reich und wurden zunehmend durch Ansar Dine sowie auch AQIM unterstützt.
Auch die Bewegung für Einheit und Jihad in Westafrika (MOJWA) sowie die
Brigade der Maskenmänner von Mokhtar Belmokhtar nahmen an den Kämpfen
teil und operierten gemeinsam mit AQIM und der MNLA.60
Die malischen Streitkräfte hinterließen einen demoralisierten Eindruck und
zogen sich rasch aus dem Norden des Landes zurück. Die aus Tuareg bestehende
Anti-Terror-Einheit wechselte die Seiten und lief zur MNLA über. Binnen weni-
ger Wochen hatte die Regierung in Bamako die Kontrolle über den Norden des
Landes verloren. Präsident Tourè, der nichts dagegen zu unternehmen schien,
wurde am 21. März 2012 durch aufgebrachte Offiziere abgesetzt.
In den folgenden Wochen und Monaten zeichnete sich ab, dass zwischen
AQIM, Ansar Dine und den anderen jihadistischen Organisationen auf der einen
und der MNLA auf der anderen Seite grundlegende Differenzen über die Zukunft
von Nordmali bestanden. Die MNLA wollte einen säkularen oder gemäßigt isla-
mischen Staat der Tuaregs haben, die beiden anderen Organisationen strebten vor
allem nach der Einführung der Scharia, am besten in ganz Mali. Die MNLA er-
wies sich dabei als der schwächere Part und wurde von den Jihadisten verdrängt,
die nunmehr eine Art von Scharia-Staat aufzubauen versuchten und dabei viele
Menschen töteten oder verwundeten, eine katastrophale Versorgungslage verur-
sachten und zudem viele alte Kulturschätze vernichteten.
59 Der Begriff „beheimatet“ ist insofern irreführend, weil viele Tuaregs in der Region als Nomaden
leben und dabei auch staatliche Grenzen überschreiten.
60 Flood, Between Islamization and Secession, S. 4.
35
Spätestens mit dem Militärcoup in Bamako trat die „internationale Gemein-
schaft“ auf den Plan, hauptsächlich vertreten durch die Staaten der ECOWAS und
der Afrikanischen Union (AU) sowie der Europäischen Union und des UN-
Sicherheitsrates. Schnell war Einigkeit darüber hergestellt, dass die regionale
Organisation ECOWAS eine politische Lösung herbeiführen sollte, der die ande-
ren Organisationen sich anschließen wollten. In erster Linie sollte die Militärherr-
schaft in Bamako so schnell wie möglich aufgegeben und das Heft in zivile Hän-
de zurückgegeben werden. Durch entsprechenden Druck auf die Machthaber in
Bamako konnte tatsächlich eine Übergangsregierung ins Leben gerufen werden.
Dann sollte im Rahmen von Verhandlungen der Übergangsregierung in Bamako
mit den Milizen im Norden (Ansar Dine und MNLA) eine umfassende politische
Lösung gefunden werden. Das Problem war nur, dass weder die Verhandlungs-
partner miteinander reden wollten, noch dass die Nachbarstaaten in der Lage
waren, sich auf wesentliche Elemente einer politischen Lösung einigen zu können.
Die Ergebnisse der Bemühungen von ECOWAS bestanden lediglich darin, dass
eine von Afrikanern gestellte internationale Militärmission gegründet werden
sollte. Deren Aufgabe sollte es sein, der malischen Übergangsregierung zu er-
möglichen ihre Streitkräfte so auszubilden, dass es ihnen in absehbarer Zukunft
möglich sein werde, die territoriale Ordnung wieder herzustellen. Die Ergebnisse
der ECOWAS-Verhandlungen wurden vom Sicherheitsrat der Vereinten Natio-
nen am 20.12.2012 bekräftigt und die Einrichtung der African-led International
Support Mission to Mali (AFISMA) beschlossen.61
Dieses Ergebnis war im
Grunde eine Bankrotterklärung der Internationalen Gemeinschaft. Die AFISMA
hätte nicht vor September 2013 in Mali die Arbeit aufnehmen können, ob sie im
Sinne ihrer Aufgabe tatsächlich irgendetwas hätte bewirken können, war mehr als
zweifelhaft.
Das Auftreten der Internationalen Gemeinschaft führte auf Seiten der
Jihadisten zu der Fehleinschätzung, dass man nun ungehindert weiter nach Ba-
mako marschieren könnte. Als sich im Januar 2013 abzeichnete, dass sich Mili-
zen von Ansar Dine weiter südlich bewegten, entschloss sich der französische
Präsident zu einer militärischen Operation mit etwa 2.000 Soldaten gegen die
islamistischen Milizen und die MNLA, die rasch zur Befreiung Nordmalis führ-
te.62
Die französischen Truppen trafen auf Widerstand, der aber schnell zusam-
61 Vereinte Nationen Sicherheitsrat: Resolution SC 2085, 20.10.2012. 62 Vgl. Heisbourg, Francois: „A Surprising Little War: First Lessons of Mali“, in: Survival, Vol. 55,
no. 2, April-May 2013, S. 7–18.
36
menbrach. Was überraschte war, dass die Brigade der Maskenmänner von Mokh-
tar Belmokhtar am 16.01.2013 etwa 1200km entfernt ein algerisches Gasfeld (Ain
Amenas) besetzte und dort hunderte Geiseln nahm. Nur einen Tag später befreite
die algerische Armee das Gasfeld, wobei 55 Geiseln und ein Großteil der Kämp-
fer von Mokhtar Belmokhtar zu Tode kamen.63
Angeblich haben sich die Reste
der Truppe mit der oben erwähnten Bewegung für Einheit und Jihad in Westafri-
ka (MOJUM) vereinigt.
Die Befreiung Nordmalis wurde dort von der Bevölkerung weitgehend mit
Erleichterung aufgenommen. Die Schreckensherrschaft der Salafisten war von
den meisten Menschen abgelehnt worden und hinterließ tiefe Narben.64
Die
Jihadisten sind weitgehend vertrieben worden, sie wurden nicht geschlagen und
befinden sich heute in der unzugänglichen Bergregion des Grenzgebietes zwi-
schen Algerien und Mali, wo sie sich einen Guerillakrieg mit den französischen
und afrikanischen Streitkräften liefern und weiterhin westliche Geiseln in ihrer
Hand halten.65
Keine der strukturellen und politischen Probleme des Landes sind
gelöst und es steht zu befürchten, dass bei der nächsten Gelegenheit die
Jihadisten nicht mehr die gleichen Fehler begehen werden wie im Jahr 2012.
Die Frage bleibt, inwieweit al-Qaida in Mali strategisch planend vorgegan-
gen ist und wie weit es sich um ein regionales Ereignis gehandelt hat. Interessant
ist hier der Inhalt eines Briefes, den Journalisten im Februar 2013 auf einem Ge-
lände gefunden hatten, auf dem zuvor AQIM ein lokales Hauptquartier hatte. Der
Brief war von Abdelmalek Droukdel verfasst, dem Emir von AQIM und enthielt
strategische Überlegungen. Zwar war das Dokument nicht vollständig, es enthielt
aber interessante Überlegungen, die darauf hinwiesen, dass angesichts der Gefahr
einer westlichen Intervention der Anschein einer zu starken Involvierung von al-
Qaida unbedingt vermieden werden solle. Hauptsächlich solle Ansar Dine in
Erscheinung treten, da diese für eine regionale Agenda stehe. In einer englischen
Übersetzung des Textes wurden die folgenden Sätze aus diesem Brief wiederge-
geben: „Better for you to be silent and pretend to be a ‚domestic’ movement that
63 Vgl. o.V.: „Mokhtar Belmokhtar – Der einäugige Pate der Sahara“, welt.de, 17.01.2013; sowie
Erlanger, Steven/Nossiter, Adam: „Jihad Prince, a Kidnapper, is Tied to Raid“, in: The New
York Times, 18.01.2013, S. A1; s.a. Roggio, Bill: „US charges Belmokhtar with murder of Americans in Algerian gas plant attack“, longwarjournal.org, 19.07.2013.
64 Vgl. Scheen, „Die traumatisierte Stadt“.
65 Vgl. Tinti, Peter/Nossiter, Adam: „Threat of Guerilla war looms in Mali“, in: International Herald Tribune, 18.02.2013, S. 3; vgl. Scheen, Thomas/Wiegel, Michaela: „Im Krieg“, in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.02.2013, S. 9.
37
has its own causes and concerns. There is no call for you to show that we have an
expansionary, jihadi, Qaeda or any other sort of project.”66
Diese Äußerungen
lassen erkennen, dass die Operationen der Jihadisten in Mali – wenngleich sie
nicht von langer Hand geplant waren – doch einem strategischen Kalkül unterla-
gen, welches auch in anderen Regionen zur Anwendung kommen dürfte.
Zudem ist offen, ob und wieweit die Geiselnahmen der AQIM mit Billigung,
Wissen oder gar Ermächtigungen von Seiten der al-Qaida Zentrale aus erfolgt
sind. Vordergründig sieht es so aus, als ob sich AQIM hier einer eigenen Ein-
nahmequelle bedient, um an dringend benötigte Mittel zur Finanzierung des
Jihads in der Region zu gelangen. Es gibt aber auch Hinweise, die den Schluss
zulassen, dass sich die Zentrale von al-Qaida wiederholt in die entsprechenden
Vorgänge eingemischt hat.67
Nigeria
Ein weiteres Betätigungsfeld von AQIM war und ist die Unterstützung für die
radikal-islamistische Bewegung Boko Haram in Nordnigeria. Boko Haram hat in
den vergangenen zwei Jahren durch unglaublich brutale Anschläge auf sich auf-
merksam gemacht, die vor allem der christlichen Minderheit in Nordnigeria gal-
ten und die zudem die staatlichen Strukturen schwächen sollten. Boko Haram
wurde 2002 im Bundesstaat Yobe gegründet und fiel lange Zeit nur durch be-
grenzte Untergrundaktivitäten auf. Im Jahr 2009 kam es zu einer regelrechten
Schlacht mit nigerianischen Sicherheitskräften, die dazu führte, dass etwa 800
Kämpfer der Gruppe starben, darunter auch ihr Führer Mohammed Yusuf. Unter
seinem Nachfolger Abubakar Shekau wurde Boko Haram wieder aufgebaut und
vor allem durch AQIM aufgerüstet und in terroristischen Anschlagstechniken
geschult. Beobachter nahmen zudem eine „Verfeinerung“ der Taktiken von Boko
Haram wahr. Neben Macheten und Kleinwaffen wurden IEDs, Panzerabwehrwaf-
fen und von Pick-ups getragene Luftabwehrgeschütze benutzt und Angriffstakti-
ken verwandt, die aus anderen Kriegsschauplätzen bekannt waren (Selbstmordan-
schläge, Anschläge mit Lastwagen, oder Schüsse, die aus fahrenden Fahrzeugen
in Menschenmengen abgefeuert wurden).
66 Roggio, Bill: „Al Qaeda in Mali sought to hide foreign designs“, longwarjournal.org, 15.02.2013. 67 Vgl. Joscelyn, Thomas: „Al Qaeda central tightened control over hostage operations“,
longwarjournal.org, 17.01.2013.
38
Im Frühjahr und Sommer 2013 unternahmen die Streitkräfte Nigerias eine
größere Offensivoperation mit etwa 8.000 Soldaten gegen Boko Haram, nachdem
die Regierung die Kontrolle in den Staaten Yobe, Borno und Adamawa zu verlie-
ren drohte. Präsident Goodluck Jonathan hatte zuvor den Notstand über diese
Provinzen ausgerufen. Die Operation dauerte mehrere Monate und führte teilwei-
se zur Vertreibung von Boko Haram Milizen aus ihren Operationsgebieten. Be-
obachter bezweifeln allerdings ob die Operation zu einer dauerhaften Schwä-
chung der Islamistengruppe beigetragen hat.68
Deutlich erkennbar ist, dass die
Zahl der Anschläge und vor allem die Zahl der Todesopfer ansteigt. Im Jahr 2012
starben in Nigeria aufgrund von Terroranschlägen der Boko Haram mehr als 500
Menschen. Dieser Trend hat sich 2013 fortgesetzt.
Somalia
Im Gegensatz zu Syrien, Irak und auch der Sahelzone ist die Bilanz von al-Qaida
in Somalia weniger positiv. Der Hauptpartner in Somalia, die Miliz al-Shabaab,
befindet sich militärisch und politisch in der Defensive und die Führung ist zu-
tiefst zerstritten über die einzuschlagende strategische Richtung. Trotz – oder
wegen dieser Krise – kam es im Oktober 2013 zu einem blutigen Anschlag von
al-Shabaab in der kenianischen Hauptstadt Nairobi, der weit über 60 Menschen
das Leben kostete.
Die Miliz al-Shabaab entstand im vergangenen Jahrzehnt aus der Union der
Islamischen Gerichte und schaffte es 2009 und 2010 den Süden und das Zentrum
Somalias weitgehend unter ihre Kontrolle zu bekommen. In den Jahren 2008 und
2009 wurden die Beziehungen zu al-Qaida immer enger. Es traten zunehmend
ausländische Männer in führenden Positionen bei al-Shabaab auf und die Zahl der
ausländischen Kämpfer nahm bedeutend zu.69
Von den zeitweilig mehr als 8.000
Kämpfern und Aktivisten stammten etwa 10% aus Kenia, etwa 1.000 waren So-
malis, die aus dem Ausland zurückgekehrt waren und mehrere Hundert Europäer
und Amerikaner hatten sich der Miliz angeschlossen (darunter 50 U.S.-Bürger,
unter ihnen viele, die ihr Engagement als Teil des globalen Jihad ansahen). Al-
Shabaab war eng mit der salafistischen und jihadistischen Szene Europas und der
68 Vgl. o.V.: „Nigeria’s Emergency: Countering Boko Haram“, iiss.org, 09.08.2013. 69 Vgl. Roggio, Bill: „Al Qaeda leaders play significant role in Shabaab“, longwarjournal.org,
01.08.2010.
39
USA verzahnt.70
Seit 2008 kam es immer wieder zu Berichten, wonach al-
Shabaab Führer die Miliz unter die direkte Leitung der al-Qaida Zentrale gestellt
hätten, erst Osama bin Laden, dann Ayman az-Zawahiri.71
Die ständige Wieder-
holung der Unterstellung al-Shabaabs unter al-Qaida ließ erkennen, dass diese
Entscheidung keinesfalls im Konsens gefallen sein muss. Tatsächlich gab es
massive interne Streitigkeiten innerhalb der Miliz über die strategische Aufstel-
lung: war es das Ziel Somalia zum Ausgangspunkt für eine globale jihadistische
Agenda werden zu lassen, oder sollte es darum gehen in dem Land selber eine
jihadistische Staatlichkeit zu erkämpfen?
Diese internen Streitigkeiten verschärften sich in dem Maße, in dem die Mi-
liz immer stärker Terrain an die internationale Streitkraft AMISOM verlor. Die
aus afrikanischen Truppen bestehende Streitkraft wurde im Dezember 2006 vom
UN-Sicherheitsrat autorisiert, die Übergangsregierung Somalias zu unterstützen
und deren Dialog mit der Union Islamischer Gerichte (der Vorgängerorganisation
von al-Shabaab) zu organisieren. Anfangs war sie weitgehend wirkungslos. Erst
nach mehreren Jahren (und einer zwischenzeitlich erfolgten Invasion Äthiopiens,
die wenig erfolgreich war), kam es zur Aufstellung einer effektiven AMISOM-
Truppe. Anlass war die Tatsache, dass Kenia im Sommer 2011 in Somalia direkt
intervenierte und sein Kontingent der AU/UN-Truppe unterstellte. Seit dem
Sommer 2011 haben die etwa 17.000 Soldaten der AMISOM (die überwiegend
aus Kenianern besteht) mit massiver finanzieller Unterstützung der Europäischen
Union und der USA (die auch logistische Unterstützung geben und direkt durch
Drohnenangriffe einwirken) die militärische Lage in Somalia dramatisch verän-
dert und somit den Rahmen geschaffen, innerhalb dessen ein politischer Neube-
ginn in Somalia möglich wird. Im August 2011 wurde Mogadischu von der al-
Shabaab gesäubert, ein Jahr später deren letzte Hochburg Kismayo. Seither ope-
riert al-Shabaab weitgehend nur in ländlichen Räumen und hat auch viele Kämp-
fer verloren.
In dieser Zeit hat sich der Richtungsstreit bei al-Shabaab verschärft und ist in
Gewalt ausgeartet. Es geht weiterhin um die Frage, welche Richtung die Miliz
nehmen soll: die Verfolgung einer regionalen Agenda, bei der die Gründung
eines islamistischen Staates auf somalischem Boden beabsichtigt ist, oder eine
globale Agenda, bei der Somalia hauptsächlich die Rolle übernehmen soll, die
70 Vgl. Baehr, Dirk: „Die somalischen Shabaab-Milizen und ihre jihadistischen Netzwerke im
Westen“, in: KAS Auslandsinformationen, Heft 8, 2011, S. 22–39. 71 Vgl. Roggio, Bill: „Somalia's Shabaab vows allegiance to new al Qaeda emir Zawahiri“, long-
warjournal.org, 17.06.2011.
40
Afghanistan bis Ende 2001 hatte, d.h. Ausbildungslager für Jihadisten und Koor-
dinationszentrum des globalen Jihads zu sein. Innerhalb der al-Shabaab haben
sich im Jahr 2013 offenbar die Vertreter einer radikalen, globalen Agenda mit
Gewalt durchgesetzt. Im Sommer 2013 wurden der seit 2006 für al-Shabaab
kämpfende Amerikaner Omar Shafik Hammani (nom de guerre: Abu Mansur al-
Amriki) und ein aus Großbritannien stammender Islamist pakistanischer Abstam-
mung von Anhängern des den globalen Flügel repräsentierenden Führers Ahmed
Ahdi Godane (nom de guerre: Mukhtar al-Zubair) getötet, nachdem es zuvor zu
einer offenen Kontroverse gekommen war. Im Juni 2013 hatte sich Sheikh Has-
san Dahir Awey, einer der Mitbegründer von al-Shabaab und Vertreter des natio-
nalen Kurses von der Miliz losgesagt und sich den Regierungskräften gestellt.
Die Aussichten für al-Shabaab in Somalia sind daher nicht besonders gut.
Wie groß die Miliz derzeit noch ist, ist schwer zu ermessen. Von den einstmals
8.000 Kämpfern dürften viele die Miliz verlassen haben, mehre Hundert von
ihnen sind in den Jemen gegangen, um dort al-Qaida auf der arabischen Halbinsel
zu unterstützen.
Dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass sich al-Shabaab auflöst oder
in der Versenkung verschwindet. Die Miliz versteht es weiterhin, einen großen
Kern an entschlossenen Kämpfern zu unterhalten, unter denen der Anteil der
„Internationalen“ gewachsen sein dürfte. Al-Shabaab schafft es auch trotz
schlechterer Ausgangsbedingungen sich zu finanzieren, wobei teilweise die Be-
teiligung am illegalen Handel mit Elfenbein sowie die Erhebung von Steuern in
ländlichen Regionen und Städten sowie unter der Diaspora gehören.72
Damit
bleibt der Rest von al-Shabaab extrem gefährlich, vor allem wenn sich diese
Organisation darauf versteht, nicht nur in Somalia sondern auch anderswo Ter-
roranschläge durchzuführen. Am 21. September 2013 verübte al-Shabaab einen
groß angelegten Angriff auf eine modernes Einkaufszentrum in Nairobi, der meh-
rere Tage andauerte und mindestens 68 Menschen das Leben kostete (vermutlich
waren es deutlich mehr). Der Anschlag ließ ein hohes Maß an Vorbereitung und
Investition erkennen, was erstaunlicherweise nicht rechtzeitig von den amerikani-
schen und britischen Nachrichtendienste wahrgenommen worden war.73
Im Ok-
72 Vgl. Gettleman, Jeffrey/Kulish, Nicholas: „Somali militants mixing business and terror“, in: The
New York Times, 01.10.2013, S. A1.
73 Vgl. Gettleman, Jeffrey/Kulish, Nicholas/Schmitt, Eric: „Before Kenya Attach, Rehearsals and
Planning of Machine Gun“, in: The New York Times, 29.09.2013, S. A 12; vgl. Kulish, Nicho-las/Gettleman, Jeffrey: „U.S. sees direct threat in attack at Kenyan mall“, in: The New York
Times, 26.09.2013, S. A 1.
41
tober 2013 kam es zu einem weiteren Vorfall, der erkennen ließ, dass man al-
Shabaab nicht abschreiben darf: ein amerikanisches Kommandounternehmen an
der somalischen Küste musste abgebrochen werden, welches Mohamed Abdikair
Mohamed (nom de guerre: Ikrimah), einen der Hauptstrategen von Terroran-
schlägen in der al-Shabaab, verhaften sollte. Der bewaffnete Widerstand war viel
größer als es die US-Kräfte vermutet hatten, es drohte eine Katastrophe.74
Zusammengefasst bleibt festzuhalten, dass militärisch und politisch gesehen
sich die Dinge in Somalia in eine positive Richtung entwickeln. Al-Shabaab ist
militärisch zurück gedrängt und befindet sich politisch in der Defensive. Die
Organisation scheint entlang der Frage auseinander zu brechen, ob die Agenda
global oder lokal sein soll. Jedoch ist festzuhalten, dass selbst eine auf zwei oder
drei Tausend entschlossene Jihadisten reduzierte Organisation, die terroristische
Anschläge in Nachbarländern oder im Westen vornehmen will, für die internatio-
nale Sicherheit eine größere Bedrohung darstellt als es die alte al-Shabaab tat.
Jemen
Die 2009 im Jemen neu begründete al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (al
Qaida on the Arab Peninsula – AQAP) gilt heute in den USA als der gefährlichste
al-Qaida Ableger.75
Obwohl die AQAP relativ klein ist und gerade mal etwa 500
bis 800 Kämpfer umfassen soll,76
scheinen ihre Führungskader besonders rührig
zu sein und ihre Organisation als eine Art von Vorbild für das ganze Netzwerk
ausbauen zu wollen. Das bisherige Vorgehen von AQAP ließ erkennen, dass
diese drei ehrgeizige Ziele verfolgt, die zusammengenommen ein Modell für das
gesamte Netzwerk darstellen können oder sollen:
- So verfolgt AQAP eine dezidiert regionale Agenda. Sie zielt darauf ab, die
instabile Situation im Jemen auszunützen um die Regierung weiter zu schwä-
chen, diese zu stürzen, Territorium unter seine Kontrolle zu bringen und ei-
nen Bürgerkrieg anzustiften. Dabei greift sie bevorzugt hohe politische Wür-
denträger, Polizisten und Soldaten sowie Vertreter internationaler Organisa-
74 Vgl. Kulish, Nicholas/Schmitt, Eric/Mazzetti, Mark: „Target in U.S. raid on Somalia is called
top Shabab planner of attacks abroard“, in: The New York Times, 07.10.2013, S. A 12; vgl.
Kulish, Nicholas/Schmitt, Eric: „Imperfect intelligence said to hinder U.S. raid on militant in
Somalia“, in: The New York Times, 09.10.2013, S. A 10. 75 Vgl. Zimmerman, Katherine L.: AQAP’s role in the al Qaeda Network, house.gov, 18.09.2013.
76 Vgl. Boniface, Pascale: „Al-Qaïda: de l’Afghanistan au Yémen?“, nouvelobs.com, 16.09.2010.
42
tionen oder Unternehmen an, es finden nur wenige Angriffe auf weiche, zivi-
le Ziele statt. Zudem versucht AQAP mittels einer politischen Front Namens
Ansar al-Sharia Aktionsbündnisse mit anderen politischen Kräften des
Salafismus aufzubauen.77
- Des Weiteren verfolgt AQAP eine ebenso akzentuierte internationale Agenda.
Sie sieht sich als Speerspitze von al-Qaida Attacken gegen Ziele in den USA
und Europa. Von ihr gingen seit 2009 immer wieder Anschlagsplanungen
gegen den internationalen Luftverkehr aus, mit deutlicher Zielrichtung USA.
- Von AQAP gingen wesentliche Impulse für die Nutzung des Internets für
Zwecke der Propaganda der Botschaft von al-Qaida aus.
Was die lokale Agenda betrifft, so ist erstaunlich, wie viele erfolgreiche Aktionen
diese kleine Truppe von wenigen Hundert Mann immer wieder gegen das über-
mächtige Militär durchgeführt hat. Alle paar Monate gelingt es AQAP-Verbän-
den, die in der Größe von 100 bis 200 Mann auftreten, ganze Kasernen zu über-
fallen oder Stützpunkte zu überrennen und große Verluste unter den Streitkräften
anzurichten. Im Dezember 2013 verübte sie einen Sprengstoffanschlag auf das
Verteidigungsministerium in Sana’a, bei dem mehr als 50 Personen getötet wur-
den.78
Die AQAP hat in der Vergangenheit ganze Landstriche besetzt, die außer-
halb der Kontrolle der Zentralregierung standen,79
musste die meisten allerdings
wieder den Streitkräften überlassen, wenn diese in geballter Kraft antraten. Er-
staunlich ist auch, wie widerstandsfähig diese Organisation gegenüber den Ver-
lusten ist, die ihr das jemenitische Militär und auch die USA beigebracht haben.
Laut US Angaben wurden zwischen 2011 und 2013 allein durch amerikanische
Drohnenangriffe 378 AQAP Kämpfer und Führungspersonen getötet.80
Bei einer
geschätzten Stärke von 500 bis 800 Mann müsste das eigentlich einen größeren
Einbruch bei den Aktivitäten verursacht haben. Das war aber nicht der Fall. Mög-
licherweise ist die Zahl der AQAP Mitglieder und Kämpfer nach oben hin zu
korrigieren. Ihre Reihen wurden zudem durch Kämpfer aus Somalia verstärkt.
77 US Department of State: „Terrorist Designations of Ansar al-Sharia as an Alias for Al-Qaida in
the Arabian Peninsula“, state.gov, 04.10.2012. 78 Vgl. Roggio, Bill: „AQAP launches suicide assault on Yemeni defense ministry complex“,
longwarjournal.org, 05.12.2013.
79 Vgl. Raghavan, Sudarsan: „Militants linked to al-Qaeda emboldened in Yemen“, washington-
post.com, 13.06.2011. 80 Vgl. Roggio, Bill/Barry, Bob: „Charting the data for US air strikes in Yemen, 2002 – 2013“,
longwarjournal.org, 19.11.2013.
43
Die Aufstellung einer politischen Front ist von daher bemerkenswert, als hier
versucht wird aus dem Status einer Terrororganisation oder Aufstandsbewegung
heraus zu kommen und zu einer politischen Bewegung zu werden, die Aktions-
bündnisse mit anderen politischen Kräften herstellt. Angesichts der vielfältigen
Formen von Widerstand im Jemen gegen die Zentralregierung gibt es dafür viele
Ansatzpunkte. Das Land ist tief zerrissen, die Konflikte sind teilweise tribaler
Natur, sie reflektieren den Gegensatz zwischen dem Norden und dem extrem
armen Süden und sie spiegeln auch den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten
wider. So konnte AQAP bislang im Süden immer wieder Unterstützung finden
und sucht den Schulterschluss mit Sunniten im Norden, die sich dort in bewaffne-
ten Auseinandersetzungen mit schiitischen Milizen der Hawautis befinden.
Was die globale Agenda betrifft, so ist AQAP derjenige al-Qaida Ableger, in
dem am intensivsten darüber nachgedacht wird, wie man trotz aller Gegenmaß-
nahmen Terroranschläge in den USA oder in Europa organisieren kann. Aus
Jemen kamen die gefährlichsten Anschlagsversuche gegen den internationalen
Luftverkehr oder gegen Ziele in den USA. Sie basierten auf neuen Designs für
den Bau und den Transport von Bomben. AQAP hat offenbar eine eigene For-
schungsabteilung, die nach Möglichkeiten sucht, wie man Bomben entwickeln
kann, die in der Lage sind auch hoch entwickelte Detektoren zu überwinden (so
genannte Artfully Concealed Devices – ACD).81
Chef dieser Abteilung ist der
saudische Bombenexperte Ibrahim al-Asiri. Ein Produkt seiner Werkstatt fand im
Mai 2012 den Weg zum saudischen Geheimdienst, wo man über die hohe Quali-
tät der Waffe bestürzt war.82
Auch die Erfindung des englischsprachigen Internet-
Magazins „Inspire“ im Jahre 2010 war eine Erfindung von AQAP.
Durch diese Vielfalt von Aktivitäten und Initiativen ist das Ansehen von
AQAP im Rahmen des Netzwerks al-Qaida gestiegen. Dies wurde offenkundig
als im Sommer 2013 der Emir von AQAP, Nasir al-Wuhayshi, von al-Qaida Chef
Ayman az-Zawahiri zum Generalmanager von al-Qaida bestimmt wurde. Die
Position des Generalmanagers beinhaltet die operative Kontrollgewalt über eine
81 Hierbei handelt es sich um Bomben, die ein nicht-metallisches Gehäuse haben, deren Spreng-
stoff schwer aufzuspüren ist (z.B. Pentaerythritol Tetranitrat) und die in alltäglichen Gegenstän-den versteckt sind.
82 Vgl. Gardner, Frank: „Yemen bomb-makers ‘working on new devices’“, bbc.co.uk, 04.12.2013.
Die Bombe wurde von einem Überläufer/Doppelagenten an die Saudis übergeben. Der Vorfall zeigt daher auch die Schwäche von AQAP und die Fähigkeit des saudischen Geheimdienstes, die
Gruppe zu infiltrieren.
44
Vielzahl von internen und externen Aktivitäten und ist die wichtigste Funktion
nach derjenigen des Führers von al-Qaida.83
AQAP ist deshalb bemerkenswert, weil sie das Modell einer sich ständig an die
veränderten Umstände anpassenden und modernisierenden al-Qaida bildet.
AQAP stellt sich stärker politisch auf und setzt militärisch andere Schwerpunkte.
Sie setzt weniger auf unterschiedslosen Terror (ganz im Gegensatz zu ISIL) und
sie versucht, die verloren gegangene globale Agenda wieder zu besetzen, ohne
den lokalen Kampf zu vernachlässigen.
Die hier aufgezeigten Trends lassen erkennen, dass wer immer heute al-
Qaidas Kurs bestimmt, derzeit den Schwerpunkt weniger auf Anschläge in den
USA und in Europa legt, sondern dort, wo sich die besten Gelegenheiten ergeben
– im Irak, in Syrien, in Ägypten, in Pakistan, in Afghanistan, in Nigeria und im
Jemen. Das bedeutet aber nicht, dass keine Anschläge in westlichen Ländern
geplant sind, sondern dass Terroranschläge dort erfolgen, wo sie realisierbar sind:
entweder durch hochgradig sophistisierte Sprengsätze oder aber von lokalen
Gruppen und Individuen geplant und durchgeführt, die mehr oder weniger eng
von al-Qaida Ablegern oder von Organisationen mit Kontakten zu al-Qaida ange-
leitet werden.84
Die Krise der westlichen Anti-Terrorpolitik
Der internationale Kampf gegen den salafistischen Jihad wird formell von den
Vereinten Nationen koordiniert, tatsächlich besteht der Kern des Kampfes gegen
das Netzwerk al-Qaida in einer internationalen Kooperation, die weitgehend von
den USA organisiert und strukturiert wird. Wichtigste Partner der USA sind die
Staaten Europas sowie des Mittleren Ostens. Zudem arbeiten die USA mit Regie-
rungen im Nahen und Mittleren Osten, in Südasien, Südostasien und Afrika zu-
sammen. Der Kampf der USA und ihrer Verbündeten hat hauptsächlich sechs
Komponenten:
83 Vgl. Joscelyn, Thomas/Roggio, Bill: „AQAP's emir also serves as al Qaeda's general manager“,
longwarjournal.org, 06.08.2013. 84 Vgl. Bergen, Peter/Hoffman, Bruce: „Assessing the Terrorist Threat“, bipartisanpolicy.org,
10.09.2010.
45
1. Strafrechtliche Verfolgung von Attentätern, die Anschläge in westlichen
Staaten verübt hatten oder an der Vorbereitung beteiligt waren.
2. Militärische Interventionen mit dem Ziel in einem durch Terroristen destabi-
lisierten oder teilweise kontrollierten Land die Grundlagen für terroristische
Aktivitäten zu zerstören.
3. Versuche durch Statebuilding und Friedenskonsolidierende Maßnahmen in
gefährdeten Staaten und Regionen des Nahen und Mittleren Ostens, Afrikas
und Zentral- und Südasiens die Grundlagen der weiteren Ausbreitung des
salafistischen Extremismus und Jihadismus zu schwächen, wobei manche
dieser Versuche unter Bedingungen der Abwehr terroristischer oder guerilla-
kriegsartiger Gewalt stattfinden mussten.
4. Versuche im Rahmen der Vereinten Nationen, der OECD sowie anderer
internationaler Organisationen und Kooperationen die transnationale Hand-
lungsfähigkeit von al-Qaida zu beschränken bzw. zu unterbinden.
5. Bekämpfung von al-Qaida und anderen jihadistischen Salafistengruppen
durch Kommandoaktionen und durch Drohnenangriffe, die primär auf Füh-
rungspersonen und Ausbildungseinrichtungen zielen.
6. Aufklärung der Aktivitäten von al-Qaida und mit ihr verbündeten Organisa-
tionen durch Nachrichtendienste, besonders (aber nicht ausschließlich) im
Bereich elektronischer Medien (Mobiltelefon, Internet) sowie die Aufrecht-
erhaltung einer gewissen Dominanz westlicher, vor allem amerikanischer
Nachrichtendienste im Bereich der elektronischen Kommunikation, insbe-
sondere dem Internet .
Für jeden dieser sechs Bereiche der Terrorismusbekämpfung sind in den vergan-
genen Jahren Grenzen sichtbar geworden, die teilweise dazu geführt haben, dass
bestimmte Instrumente heute kaum noch genutzt werden. Die Grenzen polizeili-
cher und staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen und von Gerichten sind wieder-
holt erkennbar geworden. Polizei und Justiz bleiben zentrale Elemente der Terro-
rismusbekämpfung, sie reichen aber nicht aus um ein transnationales Netzwerk
dieser Größenordnung von Anschlägen abzuhalten. Militärische Interventionen
und internationale Aktionen zum Statebuilding und zur Friedenskonsolidierung
werden nach den Erfahrungen im Irak und Afghanistan praktisch nicht mehr
angewandt (Mali war eine partielle Ausnahme). Die Bemühungen um Koordina-
tion der internationalen Bemühungen zur Terrorismusabwehr und Prävention im
Rahmen der VN, der OECD, der NATO und anderer internationaler Organisatio-
nen sind zwar wichtig, aber ihre Relevanz bleibt begrenzt. Die Rolle von Kom-
46
mandoaktionen und von Drohnenangriffen wird politisch und rechtlich zuneh-
mend in Frage gestellt.
Lediglich die Kontrolle über elektronische Kommunikation und Internetakti-
vitäten des Netzwerks von al-Qaida blieb lange Zeit von politischer Kritik ausge-
spart. In den vergangenen 10 Jahren wurde diese geradezu zur prioritären Kom-
ponente der amerikanischen Terrorismusbekämpfungsstrategie. Die Enthüllungen
des „Whistleblowers“ Edward J. Snowden über die Abhörpraxis amerikanischer
und britischer Geheimdienste im Sommer 2013 haben eine Vielzahl dieser Tätig-
keiten transparent werden lassen und dabei zu einer grundsätzlichen
Infragestellung westlicher Anti-Terrorismuspolitik geführt. Auch hier stehen die
Erfolge der bisherigen Terrorismusabwehr heute in Frage. Die politischen Ver-
werfungen, die diese Veröffentlichungen innerhalb der westlichen Gemeinschaft
verursacht haben, sind tiefgehend. Ob sie in einer Weise geheilt werden können,
dass die Fähigkeit zur Terrorismusprävention und –bekämpfung dadurch nicht
entscheidend geschwächt wird, ist noch offen.
Die NSA Affäre und ihre Bedeutung für den Kampf gegen al-
Qaida
Die Debatte über das, was Nachrichtendienste dürfen und was nicht, ist nicht erst
durch die Enthüllungen Snowdens entstanden. In den 90er Jahren gab es schon
mal eine ähnliche Debatte über das System „Echelon“, wo unter anderem behaup-
tet wurde, dass die USA ihr Aufklärungssystem aus der Zeit des Ost-Konfliktes
nutzen, um gemeinsam mit Großbritannien, Kanada und Australien Wirtschafts-
spionage in Europa zu betreiben.85
Das Europäische Parlament hatte seinerzeit
einen Sonderausschuss eingesetzt (unter dem Vorsitz des deutschen sozialdemo-
kratischen Abgeordneten Gerhard Schmid), der zu einer nüchternen und abgewo-
genen Position gelangte. Der Ausschuss ging vor allem kritisch mit den Medien
zu Gericht und stellte fest, „dass die technischen Kapazitäten des Systems nicht
85 Vgl. McKay, Niall: „Lawmakers Raise Questions About International Spy Network“, ny-
times.com, 27.05.1999; s.a. Poole, Patrick S.: „ECHELON: America's Secret Global Surveil-
lance Network“, ncoic.com, o.D.
47
annähernd so weitreichend sind, wie von einigen Medien behauptet wurde.“86
Die
Echelon-Affäre ließ erkennen, dass das Thema „nachrichtendienstliche Aufklä-
rungsaktivitäten der USA und anderer angelsächsischer Mächte“ in Europa in
Gefahr läuft, für anti-amerikanische Stimmungsmache instrumentalisiert zu wer-
den. Daneben gab und gibt es aber eine seriöse Debatte, die sich mit der Frage
befasst, wie weit Nachrichtendienste und Strafverfolgungsbehörden gehen dürfen
bei der Verhinderung terroristischer Anschläge oder welche Mittel bei der Ver-
folgung der Täter angewandt werden dürfen und welche nicht. Dass Terroran-
schläge verhütet werden sollen, wird niemand in Frage stellen. Aber kontrovers
ist zu welchem Preis diese Verhütung erfolgen kann, insbesondere dann, wenn
die Privatsphäre von Bürgern beeinträchtig wird. In den meisten westlichen De-
mokratien gibt es konstitutionelle oder gesetzliche Garantien dafür, dass Bürger –
ohne dass der Verdacht besteht, dass sie etwas verbrochen haben – nicht Gegen-
stand von staatlichen Untersuchungen werden, die ihre Privatsphäre beeinträchti-
gen. In den USA ist das der vierte Verfassungszusatz, in Deutschland Art. 10 des
Grundgesetzes.
Anders als bei der „Echelon“-Affäre ist die Snowden-Affäre medial völlig
anders inszeniert worden. Die „Flucht“ des EDV-Systemanalytikers Edward
Snowden aus Hawaii nach Hongkong und später Moskau wurde inszeniert wie in
einem US-Thriller, in dem ein Mitarbeiter eines Geheimdienstes auf gesetzeswid-
rige Aktivitäten seiner Vorgesetzten stößt und dann von diesen mit allen den
Geheimdiensten zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt wird.87
Tatsächlich
hatte sich Snowden als Systemadministrator bei einer mit der NSA zusammen
arbeitenden Firma eingeschlichen, um von dieser Position aus so viel Geheimma-
terial wie möglich abschöpfen zu können. Die Inszenierung seiner „Flucht“, die
offenbar unter Mitwirkung anderer Personen aus dem Feld der Whistleblower wie
Jacob Appelbaum und Julian Assange mit organisiert worden ist, hat ihre Wir-
kung nicht verpasst. Dahinter steht eine politische Ideologie der Whistleblower,
die unter die Kategorie der „Verschwörungstheorien“ zu rechnen ist und die be-
86 Europäisches Parlament (Hrsg.): Bericht über die Existenz eines globalen Abhörsystems für
private und wirtschaftliche Kommunikation (Abhörsystem ECHELON) (2001/2098 (INI), Sit-zungsdokument A5-0264/2001, 11.07.2001; vgl. auch Schmid, Gerhard: „Wer betreibt wozu und
wie Wirtschaftsspionage?“, in: Journal of Intelligence, Propaganda and Security Studies, Vol. 4,
Nr. 2, 2010, S. 40–49. 87 Etwa wie in dem Hollywood-Film „Enemy of the State“ (deutsch: Der Staatsfeind Nr.1) mit Will
Smith und Gene Hackman von 1998.
48
sonders in den deutschen Medien viele Anhänger gefunden hat.88
Während in den
amerikanischen und britischen Medien (das trifft weitgehend auch für den Guar-
dian zu) die Berichterstattung sachlich blieb und sich dennoch in oft kritischer
Weise den weiteren politischen Implikationen widmete (aber weitgehend bei
Abwägung der unterschiedlichen Positionen), war die europäische, vor allem die
deutsche Medienreaktion durch eine Vermischung aus Berichterstattung und
Kommentierung gekennzeichnet, die ein weitgehend einseitiges und
alarmistisches Bild geliefert hat und deren Hauptzweck es war, die Antiterrorpoli-
tik der USA als unmoralisch zu charakterisieren. Auch die Instrumentalisierung
der Affäre für den Bundestagswahlkampf hat nicht zu einer Objektivierung der
Debatte beigetragen.89
Die Enthüllungen der britischen Zeitung The Guardian, der Washington Post
aber auch der New York Times und des Wallstreet Journals vom Sommer und
Herbst 2013 lassen erkennen, dass vor allem der amerikanische Geheimdienst
NSA die ihm zur Verfügung stehenden Spielräume sehr weitgehend interpretiert
und genutzt hat. Auf der Suche nach Hinweisen auf terroristische Aktivitäten und
Terrorgruppen hat vor allem die NSA sowohl im Inland wie international die ihr
zur Verfügung stehenden Möglichkeiten in einem Maße überstrapaziert, welches
Erstaunen hervorgerufen hat. In der Hauptsache hat sich die NSA auf das Internet
und auf die Telefonkommunikation, insbesondere auf den Mobiltelefonverkehr,
konzentriert.
Seit 2004 ist es in den USA zu einer massiven Verstärkung der Rolle von
Nachrichtendiensten bei der Abwehr von Terroristen gekommen. Ausgangspunkt
dafür waren die Empfehlungen der „9/11 Kommission“. Diese war zu dem Er-
gebnis gelangt, dass die Anschläge vom 11. September 2001 hätten verhindert
werden können, wenn Geheimdienste und FBI besser ausgestattet gewesen wären
und wenn sie ihre Informationen ausgetauscht hätten (was ihnen zumeist gesetz-
88 Dieser Ideologie zufolge werden westliche Demokratien schon längst durch Geheimdienste
(insbesondere die der USA) mehr oder weniger ferngesteuert. Typisch für diese Ideologie, die durchaus an linksradikale Ideologien erinnert, ist die Gleichsetzung der Tätigkeiten der NSA mit
der Staatssicherheit in der DDR oder der Geheimen Staatspolizei im Dritten Reich. Laut einem
der Apologeten dieser Verschwörungstheorie, Jacob Appelbaum, soll die NSA schlimmer sein als die Stasi. Diese Äußerung lässt erkennen, dass Jacob Appelbaum wenig oder gar nichts vom
Unterschied zwischen Demokratien und Diktaturen versteht.
89 Zu einer Kritik an der deutschen NSA Debatte vgl. Krause, Joachim: „Diskutieren statt morali-sieren. Was in der deutschen NSA-Debatte notwendig wäre“, in: Internationale Politik, 69.
Jahrgang, Heft 1, 2014, S. 108–119.
49
lich verboten war).90
Aber auch das zunehmende Bewusstsein für andere transna-
tionale Risiken und Bedrohungen (Proliferation von Massenvernichtungswaffen,
illegaler Waffenhandel, Organisierte Kriminalität, Cyberwar) hat dazu geführt,
dass die Nachrichtendienste zusätzliche Kapazitäten erhielten. Über die Notwen-
digkeit, nicht nur transnationale Netzwerke des Terrorismus, sondern auch Netz-
werke der Proliferation, des Waffenhandels und der international organisierte
Kriminalität zu bekämpfen, ist auch innerhalb der NATO wiederholt beraten
worden und die Ergebnisse sind in einschlägigen Dokumenten niedergelegt wor-
den.
Tabelle 5: Das „Black Budget“ der Obama-Administration für 2012 und die
Zuwachsraten seit 2004
Organisation Budget 2012 ($) Zuwachs seit 2004 (%)
CIA 14,7 Mrd. 56
NSA 10,8 Mrd. 53
National Reconaissance
Office91
10,3 Mrd. 12
National Geospatial-
Intelligence Program
4,9 Mrd. 108
General Defence
Intelligence Program92
4,4 Mrd. 3
Justice Department93
3,0 Mrd. 129
Office of the Director of
National Intelligence94
1,7 Mrd. 341
Specialized Reconnaissance
Programms95
1,1 Mrd. 16
DoD Counterintelligence
Programs
0,5 Mrd 13
Dep. of Homeland Security, 0,3 Mrd. 84
90 The National Commission on Terrorist Attacks upon the United States (Hrsg.): The 9/11 Report,
New York 2004, S. 582 ff.
91 Operiert Aufklärungssatelliten 92 Im Originaltext heißt es: „provides assessments of foreign military intentions“.
93 Programme des Justizministeriums mit denen die Einhaltung nationaler Gesetze bei Nachrich-
tendiensten sichergestellt werden soll. 94 Koordiniert die unterschiedlichen Geheimdienste, berät den US-Präsidenten.
95 keine Erklärung über deren Tätigkeit verfügbar.
50
Intelligence
Dept. of Energy, nuclear
material intelligence
0,2 Mrd. 110
Department of the Treasury,
Intelligence
0,03 Mrd. 841
Quelle: Washington Post online, 29.08.2013
Aus Daten, die die Washington Post veröffentlicht hat, geht hervor, dass die ame-
rikanischen Geheimdienste zur Erfüllung dieser Aufgaben seit 2004 erhebliche
Kapazitätsausweitungen vorgenommen haben. Diese wurden in erster Linie im
Bereich der Signal Intelligence (Fernmeldeaufklärung) vorgenommen. Der Zu-
wachs reflektierte die erhöhte Bedeutung der weltweiten digitalen Kommunikati-
on, die gesteigerte Leistungsfähigkeit von Rechnern und Computerprogrammen
sowie die Bedeutung des Internets und der sozialen Netzwerke. Die diesbezügli-
chen Aktivitäten gingen auch von der existierenden Infrastruktur der globalen
Internetkommunikation aus, die einen von den USA ausgehenden Überwa-
chungsansatz fördert.
In diesem Zusammenhang haben seit 2004 die beiden größten Nachrichten-
dienste CIA und NSA erheblich zugelegt. Das Budget der CIA nahm um 56%,
das der NSA um 53% zu. Das Wachstum des National Reconnaissance Office,
welches die Aufklärungssatelliten unterhält, fiel deutlich geringer aus. Aber auch
die Koordination der Nachrichtendienste sowie die Überwachung rechtstaatlicher
Verfahren durch das Justizministerium haben deutlich zugenommen. Im Jahr
2012 umfasste das Budget der US-Bundesregierung für alle geheimdienstlichen
Aktivitäten (intelligence) einschließlich der entsprechenden Überwachung durch
das Justizministerium über 52 Mrd. Dollar, das entsprach etwa 39 Mrd. Euro.
Den größten Anteil davon erhielten die CIA (14,7 Mrd. Dollar) und die NSA mit
(10,8 Mrd. Dollar). Vom Gesamtbudget von 52 Mrd. Dollar entfielen etwa 17,2
Mrd. auf die Bekämpfung von Terrorismus, 20,1 Mrd. auf die weltweite Aufklä-
rung, 6,7 Mrd. auf die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, 4,3 Mrd.
auf Cyberwar-Aktivitäten (defensiv/offensiv) und 3,8 Mrd. auf die Spionageab-
wehr.
Dieser Zuwachs ist vor allem dem Unstand geschuldet, dass im Bereich der
Signal Intelligence (ein Begriff, der in deutscher Sprache mit dem heute veraltet
klingenden Begriff der „Fernmeldeaufklärung“ nur noch unzureichend umschrie-
ben wird) die Bedeutung des Internets und der Mobiltelefone zugenommen haben.
Die relative Bedeutung der Satellitenkommunikation hat abgenommen. Der Zu-
51
wachs hat seine Ursache auch in dem verstärkten Bemühen, Terroristen und Ex-
tremisten, die amerikanische Streitkräfte und Verbündete weltweit bedrohen,
möglichst umfassend in den Blick zu bekommen und nach Möglichkeit mit Hilfe
der dabei gewonnenen Information besser bekämpfen zu können. Gerade weil
nach 9/11 die USA über so wenige Möglichkeiten verfügten, Einblicke in das al-
Qaida Netzwerk zu gewinnen, wurden die technischen Mittel der SIGINT immer
wichtiger und damit die Rolle der NSA, die es verstand diese Mittel zu entwi-
ckeln oder zur Verfügung zu stellen.96
Besonders bedeutend war dabei die Ent-
wicklung eines computergestützten globalen Verbundsystems, mit dessen Hilfe
Militär und Nachrichtendienste auf die gleiche Informationsbasis zurückgreifen
konnten, und welches sich auch für die Führung bei Counterterrorismus-
Operationen nutzen lässt (Real Time Regional Gateway).97
Die NSA wuchs ent-
sprechend und dehnte sich über das Hauptquartier in Fort Meade, MD, hinaus.
Heute gibt es Dependancen in Bluffdale (Utah), Fort Gordon (Georgia), Hawaii,
San Antonio (Texas) sowie in Menwith Hill in Großbritannien (nahe Harrogate)
und in Pine Gap in Australien.
Die geheimen Dokumente der NSA, die Edward Snowden im Sommer 2013
dem Guardian und der Washington Post zur Verfügung gestellt hat, lassen erken-
nen, wie konsequent die NSA seither die Aufklärung im Internet betreibt, um
Terrorismus, organisierte Kriminalität und illegale Waffenaktivitäten zu überwa-
chen. Im Sommer 2013 stellten der Guardian und die Washington Post Power-
point Folien aus einem Lehrgang für Mitarbeiter der NSA vor, aus denen hervor-
ging, dass die NSA versucht den gesamten Datenverkehr im Internet auf Hinwei-
se zu scannen, die vor allem für die Aufklärung terroristischer Aktivitäten von
Bedeutung sein können. Um an die notwendigen Daten zu gelangen, geht sie auf
zwei Wegen vor: zum einen werden Daten an Stellen abgezapft, wo Glasfiberka-
bel oder Knotenpunkte in der Internetstruktur dieses erlauben. Dies wird entwe-
der in den USA betrieben oder mit Hilfe des britischen Geheimdienstes GCHQ,
der alle über Großbritannien laufenden transatlantischen Glasfaserkabel anzapft
(„Tempora“). Im Falle eines Kabelsystems, welches von Frankreich in den Mitt-
leren Osten und nach Asien verläuft, hat die NSA versucht, Informationen über
das Netzmanagement zu erhalten.98
Zudem hat sich die NSA seit 2007 der Ko-
operation der wichtigsten amerikanischen Internetprovider (Microsoft, Yahoo,
96 Vgl. Priest, Dana: „At NSA, a boom fed by post-9/11 demands“, in: The Washington Post,
22.07.2013, S. A1, A9. 97 Vgl. ebd..
98 Vgl. o.V.: „NSA zapft Datenkabel an“, in: FAZ, 30.12.2013, S. 6.
52
Google, Facebook, PalTalk, Skype, AOL, Apple) versichert. Im Rahmen dieser
Kooperation, die einzugehen die Firmen seit 2008 unter dem Foreign Intelligence
Surveillance Act (FISA), Section 702, verpflichtet sind, kann die NSA Metadaten
zu prinzipiell allen Internet-Aktivitäten dieser Provider anfordern. Dieses Projekt
nennt man PRISM.99
Allerdings ist das keine Hintertür zu allen Datentransfers
dieser Provider, jeder direkte Zugriff auf Inhalte muss durch einen gerichtlichen
Beschluss des geheim tagenden Foreign Intelligence Surveillance Court (FISC)
begründet und angeordnet sein.100
Das FISC soll darauf achten, dass keine Rechte
von Amerikanern unter dem 4. Verfassungszusatz berührt werden, d.h. es sollte
kein Datenaustausch innerhalb der USA der Überwachung unterliegen.
Die von Snowden bereitgestellten Dokumente zeigen, dass im Bereich der In-
ternetaufklärung die von der Verfassung geforderte Aussparung amerikanischer
Bürger (oder von Ausländern, die sich in den USA aufhalten) von Ausspähaktio-
nen der NSA tatsächlich immer weniger gesichert ist. Die NSA muss seit 2008
Nachweise nicht mehr im Einzelfall führen, sondern lediglich gegenüber dem
FISC glaubhaft machen, dass sich das Ziel außerhalb der USA befinde. Dadurch
hat sich eine enorme Ausweitung der Menge der gesammelten Daten (Metadaten
und Inhalte von Kommunikation) ergeben. Auch der Vorsitzende des FISC hat
mittlerweile betont, dass sein Gericht nicht immer die Möglichkeit gehabt habe,
die Korrektheit der Angaben der NSA zu überprüfen.101
Zudem lassen die Doku-
mente Fälle erkennen, wo Daten amerikanischer Bürger versehentlich Gegen-
stand der Aufklärung geworden sind.102
Aus den Dokumenten wird auch ersicht-
lich, dass technisch gesehen die Ausspähung der Internetaktivitäten aller US-
Bürger kein unüberwindliches Problem ist. Das Wallstreet Journal vermutete,
dass etwa 75% aller Emails und anderer Internet-Kommunikation unter US-
Bürgern Gegenstand des Scannings durch die NSA geworden sind, was tatsäch-
lich auf eine schleichende Umgehung des vierten Verfassungszusatzes hinauslau-
99 Vgl. o.V.: „NSA slides explain the PRISM data-collection program“, washingtonpost.com,
06.06.2013; s.a. Greenwald, Glenn/MacAskill, Ewen: „NSA Prism program taps in to user data
of Apple, Google and others“, theguardian.com, 07.06.2013. 100 Vgl. Savage, Charlie/Wyatt, Edward/Baker, Peter: „U.S. Confirms That It Gathers Online Data
Overseas“, in: The New York Times, 07.06.2013, A1.
101 Vgl. Leonnig, Carol D.: „Court – Ability to policy U.S. spying program limited“, washington-post.com, 16.08.2013.
102 Vgl. Gellman, Barton: „NSA broke privacy rules thousands of times per year, audit finds“,
washingtonpost.com, 16.08.2013; vgl. Nakashima, Ellen/Tate, Julie/Leonnig, Carol: „Declassi-fied Court Documents highlight NSA violations in data collection for surveillance“, washington-
post.com, 10.09.2013.
53
fe.103
Rechtlich gesehen stellen all diese Aktivitäten aber keine Verletzung der
geltenden amerikanischen Gesetze dar. Die im Jahre 2008 erfolgten Änderungen
im Foreign Intelligence Surveillance Act machten diese Aktivitäten möglich.
Auch völkerrechtlich lässt sich kein Verbrechen identifizieren. Die Überwachung
von Daten außerhalb der USA ist nach amerikanischem und international ge-
bräuchlichem Recht nicht verboten und wird auch von den meisten Staaten be-
trieben; was nicht ausschließt, dass Staaten auf ihrem Territorium das Ausspähen
von Daten Seitens anderer Geheimdienste als Straftatbestand (Spionage) bewer-
ten.
Ende Oktober 2013 wurde durch Veröffentlichung in der Washington Post
eine handschriftliche Skizze bekannt, wonach die NSA die internen Datennetze
(und damit die Inhalte von Kommunikationen) von Google und Yahoo angezapft
habe oder habe anzapfen wollen, um an unverschlüsselte Dateien aller Art heran
zu kommen (Projekt Muscular).104
Die Existenz dieses Projektes wurde umge-
hend von der NSA dementiert, die darauf hinwies, dass so ein Projekt illegal sei.
Ob es diese Ausspähungen gegeben hat oder nicht, ist bislang unklar. Sollte es sie
gegeben hat, dann wäre das die erste in diesem Zusammenhang erfolgte Rechts-
verletzung durch die NSA.105
Die von Snowden entwendeten Dokumente zeigten auch, dass der amerikani-
sche und der internationale Telefonverkehr Gegenstand von Überwachungen sind.
Hierbei geht es um das Sammeln von Verbindungsdaten und um das selektive
Abhören von Mobil- und Satellitenverbindungen im Ausland und in den USA.
Während völkerrechtlich gesehen Nachrichtendienste im Ausland so viel ausspi-
onieren können wie sie wollen (sofern sie nicht dabei erwischt werden), unterlie-
gen derartige Aktivitäten in den USA strengen Regeln, sofern sie innerstaatlich
erfolgen. Innerstaatlich dürfen – das ist in anderen Demokratien ähnlich – Nach-
richtendienste und Strafverfolgungsbehörden nur in gesondert zu begründenden
Einzelfällen Telefongespräche abhören. Zulässig ist jedoch in den meisten De-
mokratien die Speicherung und Nutzung von Fernmeldeverbindungsdaten durch
die Telefongesellschaften und deren Nutzung durch Strafverfolgungsbehörden
103 Vgl. Valentino-Devries, Jennifer/Gorman, Siobhan: „What you need to know on new details of
NSA Spying“, wsj.com, 20.08.2013. 104 Vgl. Gellman, Barton/Soltani, Ashkan: „NSA infiltrates links to Yahoo, Google data centers
worldwide, Snowden documents say“, washingtonpost.com, 30.10.2013.
105 Die Washington Post glaubte in einer Meldung vom 05.11.2013 dazu Hinweise gefunden zu haben, diese sind aber nicht gerade sehr stark; vgl. Fung, Brian: „The Switchboard: Brazil admits
to spying on U.S.“, washingtonpost.com, 05.11.2013.
54
und Nachrichtendienste, sofern dazu im Einzelfall ein Bedarf nachgewiesen
werden kann und dieser richterlich geprüft worden ist. In den USA ist die Vor-
ratsdatenspeicherung von Telefonverbindungen (Festnetz sowie Mobil) seit Ver-
abschiedung des PATRIOT-Acts im Jahre 2001 obligatorisch (unter Section 215).
Was sich seit 2008 geändert hat ist die Häufigkeit und Intensität der Nachfrage
seitens der NSA. Offenbar sind NSA und CIA dazu übergegangen, Telefongesell-
schaften um die Übergabe praktisch aller Verbindungsdaten zu bitten.106
Zur
Rechtfertigung wird vor allem auf die Gefahren des Homegrown Terrorism hin-
gewiesen, bei dessen Verhinderung die Analyse von Verbindungsdaten hilfreich
sei. Die Veröffentlichung der von Snowden bereitgestellten Dokumente durch den
Guardian im Juni 2013 hat erkennen lassen, wie umfassend NSA und FBI hier
tätig geworden sind.
Im Dezember 2013 hat die Washington Post zudem enthüllt, dass die NSA
massenweise Positions- und Verbindungsdaten von Mobiltelephonen weltweit
sammelt – etwa 5 Milliarden pro Tag. Die Zeitung berichtete weiter, dass mit
Hilfe ausgeklügelter Software Filter entwickelt worden seien, die es erlauben aus
der schier unübersichtlichen Fülle der Daten Informationen herauszufiltern, die
verdächtige Muster erkennen ließen. Die Operation sei rechtmäßig unter der
Präsidentanordnung 12333.107
Bereits die Enthüllungen vom Juni 2013 haben dazu geführt, dass im US-
Kongress im Juli 2013 eine Debatte über die Angemessenheit der vollständigen
Übergabe von Verbindungsdaten an die Geheimdienste stattfand. Ein entspre-
chender Antrag auf Gesetzesänderung fand im Sommer 2013 aber keine Mehr-
heit.108
Viele Kongressabgeordnete und Senatoren drängen aber weiterhin darauf,
durch geeignete gesetzliche Maßnahmen die umfassende Weitergabe dieser Da-
ten an Geheimdienste und FBI ohne konkreten Anlass zu unterbinden.109
Die
Obama-Administration betonte lange, dass nicht nur die Vorratsdatenspeicherung
durch die Telefongesellschaften wichtig sei, sondern dass auch die Auswertung
aller nationalen und internationalen Telefonverbindungsdaten für die Verhinde-
106 Eine solche richterliche Ermächtigung veröffentlichte die britische Zeitung The Guardian am
06.06.2013, die ihr von Edward Snowden zugespielt worden war, vgl. Gleenwald, Glenn: „NSA
collecting phone records of millions of Verizon customers daily“, theguargian.com, 06.06.2013.
107 Vgl. o.V. „New Documents show how the NSA infers relationships based on mobile location data“, washingtonpost.com, 10.12.2013.
108 Vgl. O’Keefe, Ed: „NSA restrictions fail in House vote“, in: The Washington Post, 25.07.2013,
S. A3; vgl. o.V.: „Kongress will Befugnisse der NSA im Inland einschränken“, in: FAZ, 25.07.2013, S. 1.
109 Vgl. o.V.: „Der Kongress wird der NSA die Flügel stutzen“, in: FAZ, 09.11.2013, S. 7.
55
rung terroristischer Anschläge notwendig und zulässig wäre.110
Die Gegner der
Regierungspolitik haben im Dezember 2013 Unterstützung sowohl durch das
Oberste Distriktgericht des Bundesdistriktes als auch durch eine Expertenkom-
mission bekommen, die Präsident Obama eingesetzt hatte, um die Tätigkeiten der
NSA zu überprüfen. Das Oberste Distriktgericht befand den umfassenden Zugriff
der Geheimdienste auf Metadaten für verfassungswidrig und forderte, dass eine
Prüfung der entsprechenden gesetzlichen Grundlage durch das Oberste Bundes-
gericht erfolgen sollte.111
Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass der umfas-
sende Zugriff zu den Verbindungsdaten unverhältnismäßig sei und keine wesent-
liche Hilfe beim Kampf gegen den Terrorismus darstelle.112
Im Januar 2014 kün-
digte Präsident Obama eine Revision der nachrichtendienstlichen Aktivitäten an,
die den oben geäußerten Bedenken Rechnung tragen sollte.
Die Informationen über die Ausspähaktivitäten der NSA haben besonders in
Deutschland nicht nur kritische, sondern geradezu hysterische Reaktionen ausge-
löst. Dem US Nachrichtendienst wurde vorgeworfen, alle Bürger unter General-
verdacht zu stellen und alle auszuspionieren. Auch wurde behauptet, die US-
Regierung würde durch die NSA in Deutschland Wirtschaftsspionage mit dem
Ziel betreiben, amerikanischen Firmen unbillige Vorteile zu verschaffen. Die
NSA wurde mit dem Großen Bruder aus dem Roman „1984“ von George Orwell
verglichen und mit Stasi und Gestapo gleichgesetzt. Die meisten dieser Vorwürfe
gehen an der Realität vorbei und sind teilweise grotesk, weil die Fähigkeiten der
US-Nachrichtendienste derartige Aktivitäten nicht zulassen.113
Selbst wenn die
NSA sämtliche Internetverbindungen und Datentransfers der USA scannen würde,
würde das nicht eine allumfassende Überwachung bedeuten. Dazu sind die Da-
tenmengen zu groß und die Auswertungskapazitäten der NSA viel zu klein.114
110 In dem entsprechenden Weissbuch der Obama-Administration heißt es: “The program is care-
fully limited to this purpose: it is not lawful for anyone to query the bulk telephony metadata for
any purpose other than counterterrorism, and Court-imposed rules strictly limit all such queries”,
vgl. o.V.: „Administration White Paper. Bulk Collection of Telephony Metadata under Section
215 of the USA Patriot Act“, washingtonpost.com, 09.08.2013, S. 1.
111 Vgl. Ackerman, Spencer: „NSA collection of phone metadata likely in breach of fourth amend-ment – read the judges ruling“, theguardian.com, 16.12.2013.
112 Vgl. The White House (Hrsg.): „Liberty and Security in a Changing World. Report and Recom-
mendations of the President’s Review Group on Intelligence and Communications Technology“, whitehouse.gov, 12.12 2013.
113 Vgl. Krause, Joachim: „Die deutsche NSA Debatte“, in: Internationale Politik, Heft 1, Janu-
ar/Februar 2014, S. 128–139. 114 Vgl. den sehr lesenswerten Artikel des früheren BND-Vizepräsidenten Adam, Rudolf G.: „De-
batte um die Überwachung. Die naive Empörung der Deutschen“, sueddeutsche.de, 26.07.2013.
56
Die NSA hat hierzu Zahlen veröffentlicht, die auch durch Kalkulationen anderer
Experten bestätigt werden. Gegenwärtig (2013) liegt die täglich anfallende Da-
tenmenge im Internet bei 1828 Petabyte (das sind 1828 x 1015
Byte).115
Davon
kann die NSA nur einen Bruchteil erfassen (etwa 1,2 Prozent) und davon auch
nur einen Bruchteil wirklich zur Kenntnis nehmen (das wären dann etwa 0,0004
Prozent des gesamten Datenverkehrs). Sie hat dazu spezielle Software entwickelt,
die das Vorsortieren entlang bestimmter Kriterien erlaubt und dabei Daten unter-
schiedlicher Natur berücksichtigt (Verbindungsdaten, Inhalte von E-Mails und
Tweets, Dateitransfers, Inhalte von Webseiten, etc.). Ist diese Vorsortierung er-
folgt, wird spezielle Software zur Spracherkennung (NUCLOEN), zur Bearbei-
tung von Videos (PINWALE) und zur Speicherung von Sprache (MAIWAY) und
Internetseiten (MARINA) eingesetzt. Die Software Xkeystore soll weitere, per-
sonenbezogene Recherchen im Internet ermöglichen. Offenbar läuft die Überwa-
chung darauf hinaus, sich auf Ziele zu beschränken, die als relevant gelten. Im
Rahmen von PRISM sollen weltweit etwa 177.675 Überwachungsziele identifi-
ziert worden sein.116
Unterlagen aus den von Snowden bereitgestellten Doku-
menten zeigen, dass es zwischen 2007 und 2012 neben Afghanistan und Pakistan
weitgehend sechs Staaten waren, die im Zentrum des Interesses der NSA standen:
Russland, China, Nordkorea, Iran, Irak und Venezuela. Diese Dokumente, die die
New York Times ausgewertet hat – und die von den deutschen Medien weitge-
hend unberücksichtigt geblieben sind – zeigen auch, wo und wie NSA Aufklä-
rung erfolgreich zur Bekämpfung transnationaler Bedrohungen beigetragen hat
und wo auch die Grenzen der Leistungsfähigkeit dieser Instrumente liegen.117
Was dabei auch oft übersehen wird, sind die technischen Probleme, die sich
stellen, wollte man auch nur Teile des Internetverkehrs dauerhaft speichern.
Schon um nur einen Bruchteil des Internet-Verkehrs vorübergehend zu speichern,
bedarf es gigantischer Speichermedien. Derzeit werden durch die NSA Spei-
chermedien im großen Maßstab geschaffen. Doch ist eine Speicherung des ge-
samten Datenverkehrs weder beabsichtigt noch möglich, die zeitweilige Speiche-
rung von Verbindungsdaten schon. Diese Verbindungsdaten sind häufig wichti-
ger als die oft verschlüsselten Inhalte von Emails. Aus ihnen lassen sich Struktu-
115 Vgl. NSA (Hrsg.): „Missions, Authorities, Oversight and Partnerships, Paper“, nsa.gov,
09.08.2013, S. 6; die dortige Berechnung enthält allerdings einen Rechenfehler, der hier bereits
korrigiert ist.
116 Vgl. o.V.,“NSA slides explain the PRISM data-collection program”. 117 Vgl. Shane, Scott: „No Morsel too Miniscule for all-consuming N.S.A.“, in: The New York
Times, 03.11.2013, S. A1.
57
ren von Gruppen erkennen, die Anschlagsplanungen betreiben oder die im orga-
nisierten Verbrechen zusammenarbeiten. Im Zusammenspiel mit der Überwa-
chung des Mobilfunkverkehrs, der traditionellen Funkaufklärung und anderen
Quellen können sich Hinweise auf verbrecherische Handlungen oder terroristi-
sche Anschlagsplanungen ergeben – sei es in den USA, in Europa oder auch an
anderen Orten, etwa in Afghanistan und Pakistan. Von Seiten der amerikanischen
Regierung wird angegeben, dass mehr als 50 terroristische Anschläge durch die
Überwachungsaktivitäten der NSA im Internet verhindert worden seien, darunter
auch in Deutschland.118
Die Behauptung, die NSA würde Wirtschaftsspionage gegen deutsche Fir-
men betreiben, ist bislang durch nichts untermauert worden. Schon Ende der 90er
Jahre war der Vorwurf im Zusammenhang mit dem Echelon System erhoben
worden. Der oben erwähnte Ausschuss des Europaparlaments hatte sich auch mit
diesem Vorwurf auseinander gesetzt. Er kam zu dem Ergebnis, dass dafür keine
konkreten Fälle mit klarer Beweislage vorlägen.119
An dieser Lage hat sich offen-
bar nicht viel geändert. Vorwürfe stehen im Raum, es gibt Firmen, die sich über
die Ausspähung von Informationen beklagen, aber es gibt in den seltensten Fällen
Klarheit wer tatsächlich für was verantwortlich war und ist. Firmenspionage
durch Privatfirmen und Hacker sind heute ein alltägliches Phänomen.120
Ob und
wieweit die NSA Spähaktivitäten in Deutschland oder anderen EU-Ländern mit
dem Ziel unternommen hat, amerikanischen Firmen Wettbewerbsvorteile zu
verschaffen, ist weder nachgewiesen noch widerlegt.
Die derzeitige Revision der amerikanischen Politik wird vermutlich zu einer
deutlichen Reduzierung der Überwachungsaktivitäten von NSA und der CIA
führen. Sie wird auch zu einer kritischen Bewertung der Tätigkeiten der Geheim-
dienste im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus führen. In dem oben
erwähnten 9/11-Bericht war seinerzeit gefordert worden, dass der CIA die we-
sentlichen Aufklärungsarbeiten übernimmt, während das Militär für Operationen
gegen Terroristen zuständig sein solle und dass der gesamte nachrichtendienstli-
118 Vgl. Nakashima, Ellen: „Officials – Surveillance programs foiled more than 50 terrorist plots“,
washingtonpost.com, 18.06.2013.
119 Vgl. Schmid, Gerhard: Abhörsystem "Echelon", europarl.europa.eu, 05.09.2001.
120 Vgl. Schnaas, Dieter: „Die Angst vor der Innovationsperipherie. Wirtschaftsspionage ganz anderer Qualität gefährdet den Vorsprung des Westens“, in: Internationale Politik, Jg. 69, Heft 1,
Januar/Februar 2014, S. 8–14.
58
che Apparat der USA transparenter werden soll.121
Keine von diesen Forderungen
ist umgesetzt worden: die NSA scheint die führende Organisation zur Aufklärung
von terroristischen Organisationen und Aktivitäten geworden zu sein, der CIA
scheint mehr und mehr das operative Geschäft der Bekämpfung terroristischer
Gruppen durch Kommandotruppen und Drohnenangriffe übernommen zu haben
und die Transparenz ist erst durch die Veröffentlichungen der Snowden-Papiere
entstanden.
Ausblick
Fasst man zusammen, so wird deutlich, dass zwei Trends zusammenfallen, die –
wenn sie konstruktiv aufgenommen werden – die Chance zu einer strategischen
Neubewertung der westlichen Politik im Kampf gegen den salafistischen
Jihadismus eröffnen. Die Bedrohungslage verändert sich, sie kann immer weniger
mit dem Begriff des „Terrorismus“ allein gefasst werden, sondern muss als Aus-
einandersetzung mit dem salafistischen Jihadismus im Allgemeinen und mit dem
Netzwerk al-Qaida im Besonderen aufgefasst werden. Al-Qaida ist deshalb rele-
vant, weil es ein transnationales religiös-politisches Projekt ist, welches sich als
Avantgarde des salafistischen Jihad versteht. Ziel von al-Qaida ist es, dem ver-
streuten Kampf vieler unterschiedlicher Jihadisten eine strategische Richtung zu
geben, die sowohl globale wie regionale Elemente vereint. Die Bedrohungslage
aus dieser Perspektive neu zu fassen und daraus Konsequenzen für die operative
Politik zu ziehen, ist eine der politischen Hauptaufgaben der kommenden Jahre
und sollte in einer Weise vorgenommen werden, die innenpolitische, außenpoliti-
sche, verteidigungspolitische und entwicklungspolitische Instrumente miteinan-
der kombiniert. Diese Neubewertung setzt in den USA ein und sie stellt eine
Chance auch für deutsche Politik dar. Dazu bedarf es allerdings einer strategisch
orientierten deutschen Debatte zu dem Thema, die derzeit nur in Ansätzen vor-
handen ist (etwa bei der Diskussion über vernetzte Sicherheit, die aber vorwie-
gend nur in der Bundeswehr geführt wird). Deutsche Beiträge könnten sich an
den durchaus positiven Erfahrungen im Bereich Statebuilding und zivil-
militärischer Kooperation im Fall Afghanistans festmachen oder an konstruktiven
121 Vgl. The National Commission on Terrorist Attacks upon the United States (Hrsg.): The 9/11
Report, a.a.O., S. 590–592.
59
Vorschlägen dazu, wie Privatsphäre und Überwachung im Bereich der SIGINT
miteinander kombinierbar wären. Auch könnte Deutschland eine konstruktive
Rolle in der Debatte über die Angemessenheit von Interventionen spielen. All das
findet derzeit nicht statt. In dem Bericht der Expertenkommission des amerikani-
schen Präsidenten zur NSA Affäre kommt Deutschland nur als Beschwerdeführer
vor. Das ist auf die Dauer zu wenig.
Im ungünstigsten Fall verschlechtert sich die Bedrohungslage und die bishe-
rige westliche Politik im Kampf gegen den jihadistischen Terrorismus verfällt,
weil ein Instrument nach dem anderen in Frage gestellt wird und immer weniger
Anwendung findet. Dies ist eine Gefahr, die durchaus real ist. Die kommenden
Jahre werden zeigen, in welche Richtung die Politik gehen wird.
60
Anhang: Das globale Netzwerk von Al-Qaida
Bezeichnung Abkürz-ung
Operations-gebiet
Anzahl Kämpfer und
Aktivisten
Anmerkungen
A. Al-Qaida Zentrale und Regionalorganisationen
Al-Qaida AQ Afghanisch/ pakistanisches Grenzgebiet;
weltweit
300–500 Kernorganisation von al-Qaida, wird seit dem Tod bin Ladens von
Ayman al-Zawahiri geführt
Al-Qaida im Irak /al-Qaida in
Mesopotamien/ Tanzim Qai’dat al-Jihad fi Bilad
al-Rafidayn/ Islamic State of
Iraq and the Levant
AQI Irak 2.500 – 3.500; sowie etwa 6.000 bis 8.000
ausländische Kämpfer, die in Syrien tätig
sind
Ging 2004 aus Terroristengruppe Ansar-i-Islam hervor; arbeitete
zeitweilig erfolgreich mit sunniti-schen Stämmen zusammen, seit 2007 schwer angeschlagen, 80% des Führungspersonals getötet;
Führer: Abu Bakr al-Baghdadi, seit 2012 Wiedererstarken, Versuch der Fusion mit Jabhat al-nusra in 2013
Jabhat al-nusra JN Syrien 10.000–15.000
Ableger von ISI, hat sich der direk-ten Führung durch al-Qaida unter-
stellt; Emir: Abu Mohammad al-Julani (al-Golani)
Al-Qaida im Maghreb
AQIM Algerien, Mali, Marokko, Mau-
retannien, Niger, Nigeria
300-800 Die aus Algerien stammende salafistische Gruppe GSPC unter-
stellte sich 2006 al-Qaida und nennt sich seither AQIM; Führer: Abu
Musad Abdel Wadoud
Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel
AQAP Jemen, Saudi Arabien
Führer: Nazir al-Wuhayshi; existiert seit 2009
Al-Shabaab Somalia, Kenia, Uganda
4.000 – 6.000 Miliz wurde 2005 gegründet, schloss sich 2012 al-Qaida an,
derzeit in Führungskrise und Disput
61
über Ausrichtung
B. Verbündete Milizen und Terrorgruppen, die mit al-Qaida kooperiert haben
Taliban Afghanistan, ca. 30.000 In 80er Jahren entstanden, regier-ten Afghanistan zwischen 1996 und 2001; Führer: Mullah Mohammed
Omar
Hizb-e-Islami Gulbuddin
(HIG) Afghanistan, Pakistan
5.000–7.000 Anti-westliche Mujahedin-Miliz, arbeitet mit Taliban und AQ zu-
sammen: Führer: Gulbuddin Hek-matyar
Haqqani-Netzwerk
Afghanistan, Pakistan
5.000–7.000 Gruppe ist in Waziristan beheimatet, ist für terroristische Anschläge in Afghanistan verantwortlich, wird
vom pakistanischen Geheimdienst ISI unterstützt; arbeitet mit Taliban
und AQ zusammen; Führer: Sirajuddin Haqqani
Tehrik-e-Taliban Pakistan
TTP Pakistan 20.000–30.000
TTB ist Schirmorganisation für mehr als 40 pakistanische
Talibangruppen aus den Stammes-gebieten und Waziristan; Führer:
Hakimullah Mehsud
Lashkar-e-Taiba LeT Pakistan, Kaschmir,
Indien, Afgha-nistan
500-1.000 LeT ist militärischer Arm der in Kaschmir beheimateten Bewegung
Jamaat-du-Dawa, kämpft gegen Indien in Kaschmir und in Indien
selber: arbeitet mit AQ zusammen; Führer: Hafiz Saeed (Said)
Muqami Tehrik-e-Taliban
MTT Pakis-tan/Waziristan
13.000 Lokale Taliban Organisation in Waziristan; arbeitet mit AQ, Taliban und Haqqani-Netzwerk zusammen,
2008 von Maulvi Nazir und Hafiz Gul Badahar gegründet und geführt
Jaysh-e-Mohammad
JeM Indien, Kasch-mir, Pakistan, Afghanistan
500–700 Wurde gegründet um indische Herrschaft in Kaschmir zu bekämp-
fen, führt heute auch Terroran-schläge in Pakistan aus; arbeitet mit AQ und Taliban zusammen, Führer:
Mufti Abdul Rauf
62
Sipah-e-Sahaba Pakistan/Millat-e-Islamia Pakistan
SSP Pakistan, transnational
3.000–6.000 Wurde in den 80er Jahren gegrün-det um Schiiten zu bekämpfen;
Gruppe arbeitet mit TTP und AQ zusammen
Lashkar-e-Jhangvi
LeJ Pakistan, transnational
300 Abspaltung von SSP, extrem ge-walttätig, in kleine Zellen organisiert,
AQ Verbindungen
Lashkar-e-Islam/ Jaysh-e-Islami
LeI/JI Pakistan, Stammesge-biete, Khyber
Region
k.A. Ziel Umsetzung der Scharia in Khyber Region, arbeitet mit TTP zusammen und mit AQ, Führer:
Mangal Bagh
Ahrar al-Sham Islamic Movement
Syrien 20.000 + islamistische Miliz, die sich im September 2013 mit dem al-Qaida Ableger Jabhat al-Nusrah in einer gemeinsamen Front vereint hat
Liwa al Tawhid Syrien 500-1.000 eine mehrere hundert Mann umfas-sende Brigade der Freien Syrischen Armee, die in Aleppo operiert und
sich im September 2013 mit dem al-Qaida Ableger Jabhat al-Nusrah in einer gemeinsamen Front vereint
hat
Liwa al Islam Syrien 500-1.000 eine salafistische islamistische Brigade von mehreren Hundert
Mann, die in Damaskus operiert und die sich im September 2013 mit dem al-Qaida Ableger Jabhat al-
Nusrah in einer gemeinsamen Front vereint hat
Suqur al Sham Brigades
Syrien 500-1.000 eine Brigade der Freien Syrischen Armee von mehreren hundert Mann,
die einen islamischen Staat in Syrien anstrebt und die sich im
September 2013 mit dem al-Qaida Ableger Jabhat al-Nusrah in einer gemeinsamen Front vereint hat
Al Fajr Islamic Movement
Syrien 1.000 + eine mehr als 1000 Mann umfas-sende Einheit in der Syrischen Islamischen Front, die sich im
September 2013 mit dem al-Qaida Ableger Jabhat al-Nusrah in einer
63
gemeinsamen Front vereint hat
Al Noor Islamic Movement
Syrien 500-1.000 eine islamistische Brigade mit mehreren hundert Kämpfern, die in
Aleppo operiert und die sich im September 2013 mit dem al-Qaida Ableger Jabhat al-Nusrah in einer gemeinsamen Front vereint hat
Noor al Din al Zanki Battalion
Syrien 500-1.000 eine aus Saudi Arabien unterstützte islamistische Brigade, die vornehm-lich in Aleppo kämpft und die sich im September 2013 mit dem al-
Qaida Ableger Jabhat al-Nusrah in einer gemeinsamen Front vereint
hat
Fastaqim Kama Umirta Group
Syrien k.A. eine Miliz, die in Aleppo kämpft und die sich im September 2013 mit dem al-Qaida Ableger Jabhat al-
Nusrah in einer gemeinsamen Front vereint hat
19th Division – Syrien k.A. Einheit der Freien Syrischen Armee, die in Aleppo kämpft und die sich im September 2013 mit dem al-Qaida Ableger Jabhat al-Nusrah in einer gemeinsamen Front vereint hat
Liwa al Ansar Syrien k.A. Eine islamistische Rebellengruppe, die in Aleppo kämpft und die sich im September 2013 mit dem al-Qaida Ableger Jabhat al-Nusrah in einer gemeinsamen Front vereint hat
Jaish al-Muhajireen wa Ansar (Army of the Emigrants and Helpers)
Syrien Ca. 1.000 Besteht aus Ausländern und Syri-ern, wird von einem Tschetschenen
kommandiert
Ansar al-Sharia Libyen 300–5.000 Loser Zusammenschluss von Milizen mit al-Qaida Kontakten; Sprecher Ahmed Abu Khattala
(Khattalah)
64
Ansar al-Sharia Tunesien Politische salafistische Bewegung, die im August 2013 nach einigen Anschlägen von der tunesischen
Regierung als terroristische Organi-sation eingestuft wurde, soll etwa
100.000 Mitglieder haben, wie viele davon gewalttätig sind, bleibt unklar;
Führer ist Seif Allah Ibn Hussein, alias Abu Iyadh
Islamic Movement of Uzbekistan/
Islamic Movement of Turkestan
IMU/IMT Usbekistan, Turkestan,
Afghanistan, Pakistan,
Deutschland, Türkei
1.200 Koalition extremistischer islamisti-scher Milizen, kooperieren mit
Taliban, TTP und AQ
Caucasus Emira-te
Nordkaukasus (russischer Teil)
1.000 Selbsterklärter virtueller Staat, Terrorbewegung mit al-Qaida Verbindungen; Führer: Dokka
Umarow
Fatah al-Islam Libanon, Syrien, Jordanien
150-200 Radikale Islamistengruppe aus palästinensischem Flüchtlingsmili-eu; Gruppe soll 2006 missglückten Anschlag auf Vorortzüge bei Köln organisiert haben; Sprecher: Abu
Salim Taha
Movement for Oneness and Jihad in West
Africa, Movement for Unity and Jihad in West
Africa, or Jamāʿat at-tawḥīd wal-jihād fī gharb
ʾafrīqqīyā
Mouvement pour l’unicité et le jihad
en Afrique de l’Oeust
MOJWA MUJWA Muhao
Mali, Mauretan-nien
k.A. Absplitterung oder Ableger von AQIM, Führer der Gruppe vermut-lich Hamada Ould Mohamed Kheirou
65
Ansar Dine Mali 500-2.000 trat im März 2012 bei der Eroberung Nordmalis durch Tuaregs auf, arbeitet mit AQIM zusammen;
Führer: Iyad ag Ghaly
Masked Men Brigade / Khaled
Abu al-Abbas Brigade
< 100 Gruppe, die mit Drogen- und Ziga-rettenschmuggel Geld verdient, verübte Anschlag auf algerische
Gasförderanalge ; Führer: Mokhtar Belmokhtar, erklärte 2012 Fusion
mit MOJWA
Boko Haram Nigeria k.A. Gewaltätige Islamistengruppe, die die Schariah in Nigeria einführen wollen, arbeitet mit AQIM zusam-
men
Moro Islamic Liberation Front
MILF Philippinen 10.000 + Größte islamistische Rebellengrup-pe auf den Philippinen, trotz Waf-fenstillstands 2001 immer wieder Terroranschläge, teilweise Ausbil-
dung durch AQ, Führer: Mohammad Nasif Dua
Abu Sayyaf Group
ASG Philippinen 300–400 Terrororganisation, die sich haupt-sächlich auf das Sulu Archipel
konzentriert, enge Bindung an AQ in der Vergangenheit; Führer: Abu
Sayyaf
Jemaah Islamiyah JI Indonesien 300 + Verantwortlich für Bali-Anschläge 2002; enge Kontakte zu AQ in
Vergangenheit; enge Kooperation mit ASG
East Turkestan Islamic Movement
ETIM China, Kirgisien, Afghanistan
300–1000 Verübt Anschläge vor allem in Chi-na, Anführer ist Memetiming Meme-
ti122
; arbeitet mit AQ zusammen
122 Nach unbestätigten Berichten 2010 getötet. Siehe Roggio, Bill: „Al Qaeda-linked Chinese
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