Ein neuer Krieg um Berg-Karabach? Eine Prognose

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Ein neuer Krieg um Berg-Karabach? Eine Prognose Jeannette Bell Einleitung Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist der Südkaukasus von gewaltsamen Konflikten geprägt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion (UdSSR) breiteten sich Unabhängigkeitsbewegungen und der Kampf der Eliten um politische und wirtschaftliche Macht im post-sowjetischen Raum aus. Die Region zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, welche die Staaten Georgien (4,7 Mio. Einwohner), Aserbaidschan (8 Mio. Einwohner) und Armenien (3 Mio. Einwohner) umfasst, beheimatet die sezessionistischen Gebiete Berg-Karabach, Abchasien und Süd- Ossetien. Die beiden letzteren wurden von Russland, Nicaragua, Venezuela und Nauru nach dem „Kaukasuskrieg“ zwischen Georgien und Russland im August 2008 als unabhängige Staaten anerkannt. Alle de facto-Regime weisen zusammen eine Gesamtbevölkerung von weniger als einer halben Millionen Menschen auf. 1 Die Auseinandersetzungen um die de facto-Republiken sind inzwischen nahezu chronisch, vielschichtig und komplex. Die Konflikte bergen regionale, aber auch internationale Sicherheitsrisiken und Eskalationspotenzial in sich. Eine Verschärfung des Berg-Karabach-Konflikts ähnlich wie im Sommer 2008 zwischen Georgien und Russland ist nicht auszuschließen und bedarf daher einer realistischen Betrachtung. Von den Medien, aber auch in der bi- und multilateralen Zusammenarbeit mit Armenien und Aserbaidschan wird die Sprengkraft des Berg- 1 Halbach, Uwe: Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus, SWP-Studie, Stiftung Wissenschaft und Politik/ Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin, März 2010, S. 7. 1

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Ein neuer Krieg um Berg-Karabach? Eine Prognose

Jeannette Bell

Einleitung

Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist der Südkaukasus von

gewaltsamen Konflikten geprägt. Nach dem Zerfall der

Sowjetunion (UdSSR) breiteten sich Unabhängigkeitsbewegungen

und der Kampf der Eliten um politische und wirtschaftliche

Macht im post-sowjetischen Raum aus. Die Region zwischen dem

Schwarzen und dem Kaspischen Meer, welche die Staaten Georgien

(4,7 Mio. Einwohner), Aserbaidschan (8 Mio. Einwohner) und

Armenien (3 Mio. Einwohner) umfasst, beheimatet die

sezessionistischen Gebiete Berg-Karabach, Abchasien und Süd-

Ossetien. Die beiden letzteren wurden von Russland, Nicaragua,

Venezuela und Nauru nach dem „Kaukasuskrieg“ zwischen Georgien

und Russland im August 2008 als unabhängige Staaten anerkannt.

Alle de facto-Regime weisen zusammen eine Gesamtbevölkerung von

weniger als einer halben Millionen Menschen auf.1

Die Auseinandersetzungen um die de facto-Republiken sind

inzwischen nahezu chronisch, vielschichtig und komplex. Die

Konflikte bergen regionale, aber auch internationale

Sicherheitsrisiken und Eskalationspotenzial in sich. Eine

Verschärfung des Berg-Karabach-Konflikts ähnlich wie im Sommer

2008 zwischen Georgien und Russland ist nicht auszuschließen

und bedarf daher einer realistischen Betrachtung. Von den

Medien, aber auch in der bi- und multilateralen Zusammenarbeit

mit Armenien und Aserbaidschan wird die Sprengkraft des Berg-

1 Halbach, Uwe: Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus, SWP-Studie, StiftungWissenschaft und Politik/ Deutsches Institut für Internationale Politik undSicherheit, Berlin, März 2010, S. 7.

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Karabach-Konfliktes unterschätzt, und das, obwohl er sich

derzeit merklich zuspitzt. Ende August kam es zu Feuergefechten

zwischen der Armee Aserbaidschans und Berg-Karabachs.2

Gründe für eine mögliche Eskalation liegen auf der nationalen

sowie auf der internationalen Ebene. Diese Analyse versucht

daher einen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu leisten,

welche Prognose die geopolitische und innenpolitische Lage, in

der sich Aserbaidschan befindet, im Hinblick auf einen

dauerhaften Frieden momentan zulässt?

Im Folgenden soll ein Abriss der Geschehnisse zeigen, wie es

zum Status quo zwischen der im Jahre 1991 proklamierten

„Republik Berg-Karabach“, Aserbaidschan und Armenien kam und

welche Forderungen auf dem Verhandlungstisch liegen. Eine

Analyse der geopolitische Lage und der internationalen

Beziehungen sind anschließend im Fokus der Betrachtungen. Eine

„Innensicht“ Aserbaidschans soll das Bild, soweit wie im Umfang

eines solchen Beitrages möglich, abrunden. Besonders soll in

diesem Teil hervorgehoben werden, dass es nach wie vor Opfer

des Konfliktes gibt. Menschen kommen auch heute noch in Kämpfen

oder durch Landminen und Unexploded Ordinances ums Leben.

Außerdem befinden sich Hunderttausende Vertriebene und

Flüchtlinge in Aserbaidschan in einer prekären Lebenssituation

als „Menschen zweiter Klasse“. Darüber hinaus leben ca. 30 000

Armenier in Aserbaidschan, die besonders gefährdet sind durch

das Eskalationspotenzial.3 2 Ria Novosti: Bergkarabach-Streit: Feuergefechte an armenisch-aserbaidschanischerWaffenstillstandslinie, 01.09.2010:http://de.rian.ru/security_and_military/20100901/257203484.html (Stand: 14.09.2010)3 „Armenians in Azerbaijan are at a high risk of conflict as long as the Nagorno-Karabakh issue remains unsettled.“Assessment for Armeniens in Azerbaijan, Minoritiesat Risk Project, 2004-2010: http://www.cidcm.umd.edu/mar/assessment.asp?groupId=37301 (Stand: 14.09.2010)

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Der Beitrag gründet sich neben wissenschaftlichen und Presse-

Quellen auf Gespräche mit aserbaidschanischen

Regierungsmitgliedern sowie lokalen und internationalen

Organisationen in Aserbaidschan, die im Rahmen eines

Forschungsaufenthaltes 2009 geführt wurden.

1. Analyse im Rückblick: Wo liegen die Ursprünge desKonfliktes?

Man wandte während des Zerfalls der Sowjetunion die Prinzipien

der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975)4 zum Selbstbestimmungsrecht der

Völker und der territorialen Integrität von Staaten an. Dies

hieß für die Nachfolgestaaten der UdSSR, dass als unabhängige

Staaten nur die ehemaligen Unionsrepubliken anerkannt wurden,

jedoch keine nachgeordneten Gebietskörperschaften wie Distrikte

oder Provinzen. Die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung

ethnischer Gruppen stand daher zwangsläufig in Konflikt mit

territorialen Gebietsansprüchen der Nachfolgestaaten.

Ethnisierung der Politik und ein Mangel an demokratischen

Regelungsmechanismen waren die Folge.5

Durch erbitterte Kämpfe wurden in der Folge territoriale de

facto-Grenzen in der Region gezogen. Der Konflikt um das Gebiet

Berg-Karabach (ca. 4400 km2 Fläche und ca. 140 000

hauptsächlich armenische Einwohner)6 wird zumeist als in der

4 Zum Prinzip der territorialen Integrität (in Betrachtung des Kosovo-Falls) machtHans-Joachim Heintze hierzu nähere Ausführungen in: Prinzipien der HelsinkiSchlussakte im Widerspruch? Selbstbestimmungsrecht der Völker versus territorialeIntegrität der Staaten: http://www.core-hamburg.de/documents/jahrbuch/04/Heintze-dt.pdf (Stand: 14.09.2010)5 Halbach: Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus, Berlin, März 2010, S. 10.6 Hier Angaben nach Orth, Stephan: Berg-Karabach, Auferstehung aus Ruinen, SpiegelOnline, 19.02.1008: http://www.spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,533194,00.html(Stand: 14.09.2010). Die Angabe zu der Größe des Territoriums variiert jedoch je

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ethnisch geprägten Politik Josef Stalins begründet gedeutet.

Armeniens kurze Unabhängigkeit zwischen 1918-1920 endete mit

der Invasion der Bolschewiki in der transkaukasischen Region

und deren Einverleibung in die Sowjetunion. Die Sowjetische

Führung entschied, Karabach und Ganja dem Aserbaidschanischen

Gebiet zuzuschlagen, und transformierten außerdem „Nachičevan“

(das traditionell ein Teil des persischen Armeniens war) zu

einer Enklave in Aserbaidschan. Der Großteil des historischen

Armeniens wurde von den Sowjets zwischen Georgien und der

Türkei aufgeteilt, u.a. auch der für Armenier bedeutende Berg

Ararat. Das Gebiet, das letzten Endes zur Sowjetrepublik

Armenien, und somit zur kleinsten aller Sowjetrepubliken wurde,

umfasste nicht wesentlich mehr als den administrativen Distrikt

Jerevan.7

Stalin verlieh Berg-Karabach den Status eines autonomen

Gebietes (oblast) innerhalb der Sowjetunion und Nachičevan den

einer autonomen Republik. Als Motiv der Sowjets, Aserbaidschan

Berg-Karabach als Territorium zuzuschlagen, wird häufig

angenommen, es handele sich um eine Strafmaßnahme für den

armenischen Widerstand:

„The Armenians, who had traditionally backed the Czars,initially resisted the Bolsheviks. This resistance was centeredin Karabakh, which may help explain the retention of Karabakhas a part of Azerbaijan.“8

Seit der Autonomieregelung kam es immer wieder zu Spannungen

und Protestbewegungen in der oblast Berg-Karabach, nichtnach Quelle und wird zwischen 4000 und 12000 km2 angegeben.7 „Armenians in Azerbaijan are at a high risk of conflict as long as the Nagorno-Karabakh issue remains unsettled.“Assessment for Armeniens in Azerbaijan, Minoritiesat Risk Project, 2004-2010: http://www.cidcm.umd.edu/mar/assessment.asp?groupId=37301 (Stand: 14.09.2010)8 Ibid.

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zuletzt wegen unterdrückender Maßnahmen durch Moskau und Baku.

Im Jahre 1979 beispielsweise lebte eine Mehrheit von 74%

Armeniern in Berg-Karabach, doch es wurde ihr während der

gesamten Sowjetherrschaft versagt, höhere armenische

Bildungsinstitutionen zu gründen oder armenisches Fernsehen zu

empfangen.9 Die Unzufriedenheit spitzte sich bis zum Ende der

1980er Jahre daher immer weiter zu. In der Zeit von „glasnost“

stellte die Frage um die Zugehörigkeit Berg-Karabachs ein

zentrales Thema für die meisten Armenier, insbesondere der

Diaspora, dar. Michail Gorbatschow10 distanzierte sich derzeit

stark von einem „Missbrauch von glasnost“, der auf den Versuch

abziele, „internationale Grenzen neu zu ziehen.“11

In den 1970er Jahren gab es Forderungen in Jerevan und

Stepanakert (der Hauptstadt Berg-Karabachs) nach einem

Zusammenschluss mit Armenien. 1988 gingen Hunderttausende

Menschen in Jerevan auf die Straße, um für diese Forderung zu

demonstrieren. Immer öfter kam es in dieser Zeit zu gewaltsamen

Ausschreitungen zwischen Armeniern und Aseris. Mit dem Massaker

von Sumgait im Februar 1988 war ein erster trauriger Höhepunkt

der Gewalt erreicht.12 Gorbatschow versprach, in der Berg-

Karabach Frage zu handeln. Doch er tat es nicht im Sinne der

Armenier: am 18. Juli 1988 lehnte das Präsidium des Obersten

Sowjets in Moskau die Vereinigung Berg-Karabachs mit

9 Ibid.10 Gorbatschow bekleidete von März 1985 bis August 1991 das Amt des Generalsekretärsdes Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und von März 1990 bisDezember 1991 war er Präsident der Sowjetunion.11 Jacoby, Volker: Geopolitische Zwangslage und nationale Identität: Die Konturender innenpolitischen Konflikte in Armenien. Diss., Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 1998, S. 198.12 Zeit Online Archiv: Massaker von Sumgait, 1991, Ausgabe 35:http://www.zeit.de/1991/35/Massaker-in-Sumgait (Stand: 14:09.2010)

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Sowjetarmenien einstimmig ab.13 Die Anzahl sowjetischer Truppen

in Berg-Karabach wurde im Herbst 1988 zudem erhöht,

Demonstrationen und Streiks verboten.14 Die Entscheidungen

empfanden die Armenier als ungerecht. Man zeigte sich

enttäuscht von Moskau und Gorbatschow. In dieser Zeit wurde, so

Jacoby, das erste Mal die Idee einer Nationalbewegung

formuliert.15 Am 10. Dezember 1991 erklärte sich Berg-Karabach

nach einem Referendum für unabhängig.

Der Konflikt um Berg-Karabach erreichte zwischen 1991 und 1994

seinen blutigen Höhepunkt im Krieg zwischen Armenien und

Aserbaidschan. Armenier wurden während des Krieges aus

verschiedenen Städten und Dörfern in den umkämpften Gebieten

vertrieben, ebenso erging es Aseris. Es wurden zudem Massaker

an Armeniern in Aserbaidschan verübt. Mahr als 800 000

Menschen, zumeist Aseris, wurden von den besetzten Gebieten und

aus Armenien vertrieben. Ca. 230 000 Armenier hingegen flohen

aus ihrer Heimat Aserbaidschan nach Berg-Karabach und

Armenien.16 In Aserbaidschan leben heute, je nach Quelle,

zwischen 640 000 und 690 000 Heimatvertriebene.17 Es ist in

Summe von ca. 1 Mio. Flüchtlingen auf beiden Seiten die Rede.18

13 Jacoby: Geopolitische Zwangslage und nationale Identität, Frankfurt am Main,1998, S. 201.14 Ibid., S. 212.15 Ibid., S. 206.16 CIA World Factbook, Armenien: https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/am.html (Stand: 14.09.2010)17 CIA World Factbook, Azerbaijan: https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/aj.html (Stand: 14.09.2010)18 Auswärtiges Amt: Der Konflikt um Nagorny-Karabach, 30.06.2010:http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Armenien/ArmenienLinks/080306-KarabachKonflikt.html (Stand: 14.09.2010)

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Im Jahre 1994 wurde unter der Vermittlung der Organisation für

Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die sich seit 1992 um

Annäherung der Kriegsparteien Aserbaidschan und Armenien

bemühte, ein Waffenstillstand vereinbart. 30 000 Menschen waren

den Kämpfen jedoch bereits zum Opfer gefallen. Leider blieb der

Waffenstillstand, bis heute fragil:

„The cease-fire agreement that theoretically terminated theAseri-Armenian war was by no means a peace treaty, for tensionsand rhetoric remain high on both sides, and the truce has beena number of times, with border incidents and other isolatedskirmishes still an occasional feature in the region, resultingin deaths for both Aseris and Armenians.“

Das Gebiet Berg-Karabach sowie sieben aserbaidschanische

Grenzdistrikte sind derzeit noch von Armenien besetzt. Das

entspricht ca. 16% des Gesamtterritoriums Aserbaidschans.19 Nur

wenige Aseris sind in der umkämpften Region geblieben.20 Erst

seit 2008 sind Vertriebene im Zuge des „Repatriation Plans“ der

aserbaidschanischen Regierung in die Nähe der besetzten Gebiete

zurückgekehrt.

Die selbstproklamierte „Republik Berg-Karabach“ wird bis heute

hauptsächlich von Geldern der armenischen Diaspora finanziert.

Es gilt die armenische Währung, und 20 000 Soldaten des

armenischen Militärs bewachen die Waffenstillstandslinie zu

Aserbaidschan.21 Die Bewohner leben nicht zuletzt wegen der

19 CIA World Factbook, Azerbaijan.20 Als Soforthilfe wurden im Jahre 1989 Zeltcamps von islamischen Organisationen,von lokalen NGOs und hilfsbereiten Landsleuten erstellt. Zelte und Kleidung kamenhauptsächlich aus der Türkei und dem Iran. Erst im Jahre 1994 schalteten sichinternationale Hilfsorganisationen, allen voran das Internationale Komitee vom RotenKreuz (IKRK) und der Hohe Kommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR),in die Konfliktnachsorge ein. Auch der aserbaidschanische Staat begann, Vertriebenesystematisch zu unterstützen.21 Orth: Berg-Karabach, Auferstehung aus Ruinen, Spiegel Online, 19.02.1008:

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regionalen und internationalen Isolation in Armut, und aufgrund

der steten Kämpfe in Unsicherheit.22

2. Analyse der Verhandlungen: Aussicht auf Erfolg in 2010? Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

(OSZE) nahm nach Ausbruch der Kämpfe 1992

Vermittlungsbemühungen durch die sog. Misk-Gruppe mit den Ko-

Vorsitzenden USA, Russland und Frankreich auf.23 Die Mink-

Gruppe, bestehend aus 13 Teilnehmerstaaten, begleitet seit 1992

„track 1“ und „track 2“-Treffen der aserbaidschanischen und

armenischen Seite. Vertreter von Berg-Karabach sind zu den

Verhandlungen nicht eingeladen.

In der Vergangenheit gab es bereits Grund zur Hoffnung auf

Fortschritte, doch weder der Prag-Prozess von 2004, noch die

Verhandlungen von Rambouillet 2006 brachten Erfolge. Ende 2007

unterbreitete die Minsker Gruppe dann Armenien und

Aserbaidschan einen vertraulichen Verhandlungsvorschlag in

Madrid, der seither unter „Basic Principles“ bekannt ist. Die

Grundaussagen machten die Präsidenten der Ko-Vorsitzenden

Staaten auf dem G8-Gipfel im Juli 2009 öffentlich:24

1. Rückgabe der um Berg-Karabach liegendenaserbaidschanischen Gebiete unter aserbaidschanischeKontrolle,

2. Interim-Status für Berg-Karabach einschließlichSicherheitsgarantien und Selbstregierung,

3. Verbindungskorridor zwischen Armenien und Berg-Karabach,

22 Minorities at Risk Project, Center for Development and Conflict Management,Maryland, 2004-2010.23 Weitere Mitglieder sind neben Aserbaidschan und Armenien Belarus, Finnland,Italien, Schweden, die Türkei, Deutschland und die rotierende OSZE-Troika.24 Nach Auswärtiges Amt: Der Konflikt um Nagorny-Karabach, 30.06.2010.

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4. Zukünftige Bestimmung des endgültigen Status‘ von Berg-Karabach durch bindende Willensäußerung,

5. Rückkehrrecht von Flüchtlingen zu ihren früherenWohnorten; internationale Sicherheitsgarantien einschließlichfriedenserhaltender Operationen.

Doch eine Unterzeichnung oder gar Umsetzung der Vorschläge

durch die Streitparteien ist bisher nicht in Sicht.25 Es bleibt

aber zu hoffen, dass eine Unterzeichnung der Madrider

Vorschläge ein Ergebnis der diesjährigen Gespräche sein wird,

denn:

„Importantly, both the Armenian and Azerbaijani sides havelargely accepted the basic principles as a framework fornegotiations, which make it harder and politically more riskythan before for either party to the conflict to reject it andexpect to start negotiations on different grounds.“26

Allerdings sind die Fronten nach wie vor verhärtet. Die

Bewohner Berg-Karabachs haben entgegen internationaler Proteste

im Mai 2010 Parlamentswahlen abgehalten. Die regierende Partei

„Freies Mutterland“ („Freiheitliche Heimat“) siegte mit 45,8%

der Stimmen. Aserbaidschan regierte ungehalten und betonte, die

Wahl verstieße „gegen alle Normen des internationalen Rechts“,

wie der österreichische Standard berichtete.27 Aserbaidschan

ist nach wie vor nicht gewillt, über einen Status zu

verhandeln, der über eine umfassende Autonomie innerhalb

Aserbaidschans hinaus geht. Auch die EU lehnte die Wahlen ab.

25 Siehe hierzu: OSCE: Statement by the OSCE Minsk Group Co-Chair countries, OSCEPress Release, 26.06.2010: http://www.osce.org/item/44971.html (Stand: 14.09.2010)26 Hysenov, Tabib: A Moment of Truth in the Nagorno-Karabakh Talks? 16.06.2010:http://aussenpolitik.net/themen/eurasien/kaukasus/a_moment_of_truth_in_the_nagorno-karabakh_talks/ (Stand: 14.09.2010)27 Der Standard: Internationale Proteste gegen Wahl in Nagorno-Karabach, 23.05.2010:http://derstandard.at/1271377301673/Internationale-Proteste-gegen-Wahl-in-Berg-Karabach (Stand: 14.09.2010)

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Russland unterstütze Aserbaidschan in seiner Forderung nach

territorialer Integrität.28

In diesem Jahr nahm zudem das Säbelrassen an Häufigkeit und

Schärfe nicht ab. Aserbaidschan versäumt nicht zu betonen, es

sei bereit, militärische Gewalt anzuwenden. Im Juli kaufte es

außerdem russische S-300 Raketen, angeblich „der teuerste

Einzelkauf neuer Militärtechnik im GUS-Raum“.29 Die

aserbaidschanische Regierung prangert zudem Übergriffe auf ihre

Soldaten an der Waffenstillstandslinie an. Im Februar wurden

beispielsweise die Anschuldigen laut, armenische Scharfschützen

hätten drei aserbaidschanische Soldaten erschossen.30 Zur

gleichen Zeit erschienen Berichte darüber, dass Armenien „im

Notfall“ gewillt sei, um Berg-Karabach mit Waffengewalt zu

kämpfen.31 Ein aserbaidschanischer Minister des

Verteidigungsministeriums, Safar Abiyev, soll nach einem

Bericht der Nachrichtenagentur Reuters Ende Februar 2010 gesagt

haben:

„Now it is up to the military, and this danger is gradually approaching. If theArmenien occupier does not liberate our lands, the start of a great war in the SouthCaucasus is inevitable.“32

28 Ibid.29 Ria Novosti: Aserbaidschan kauft russische S-300-Raketen, 29.07.2010:http://de.rian.ru/business/20100729/127293716.html (Stand: 14.09.2010)30 Afet Mehtiyeva: Azerbaijan warns of „great war“ in the South Caucasus, ReutersAlertNet, 25.02.2010: http://www.alertnet.org/thenews/newsdesk/LDE61O244.htm (Stand:14.09.2010)31 Ria Novosti: Armenien will Bergkarabach im Notfall auch mit Waffen schützen,11.03.2010: http://de.rian.ru/post_soviet_space/20100311/125444231.html (Stand:14.09.2010)32 Afet Mehtiyeva: Azerbaijan warns of „great war“ in the South Caucasus, ReutersAlertNet, 25.02.2010: http://www.alertnet.org/thenews/newsdesk/LDE61O244.htm (Stand:14.09.2010)

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Armenien vereinbarte mit Moskau indes im August 2010 im Rahmen

des Vertrages über den Stützpunkt im nordarmenischen Gjumri,

der als Bestandteil der Luftabwehr der GUS gilt und 1995

eingerichtet worden war, eine längere russische Militärpräsenz

in Armenien. Es befinden sich dort derzeit 5000 Soldaten, ein

Flugabwehrsystem S-300 und mehrere MiG-29-Jäger. Der

ursprünglich bis 2010 befristete Vertrag wurde bis 2044

verlängert.33

Dem entgegen stehen die durchaus positiven Annäherungen von

Ende 2009. Im Dezember hatte eine Sitzung des OSZE-

Außenministerrates stattgefunden, das mit einer gemeinsamen

Erklärung mit den Außenministern Armeniens und Aserbaidschan

abgeschlossen wurde, in der es hieß, dass die Bereitschaft

bestehe, das Beste für die Klärung der ungeregelten Fragen zu

tun. Dies solle in Übereinstimmung mit der Schlussakte von Helsinki

passieren, die Gewaltverzicht oder Androhung von Gewalt

verbietet und die territoriale Integrität, die Völkergleichheit

und das Recht der Nation auf Selbstbestimmung hervorhebt.34 In

Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker wird von

Armenien seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo

allerdings vermehrt darauf hingewiesen, dass den Armeniern in

Berg-Karabach das gleiche Recht zugebilligt werden müsse:

„Altough all existing similar cases differ from each other, the Nagorno-Karabakhright to self-determination is no less substantiated than that of Kosovo and someothers.“35

33 Ria Novosti: Medwedew beschwichtigt Baku: Basis in Armenien sorgt für Frieden imKaukasus, 03.09.2010 (Stand: 14.09.2010)34 Ria Novosti: Karbach-Konflikt: Licht am Ende des Tunnels? 27.01.2010:http://de.rian.ru/comments_interviews/20100127/124862427.html (Stand: 14.09.2010)35 Rede von E.H. Edward Nalbadian, Außenminister der Republik Armenien bei der DGAP,Berlin, 15.03.2010: Armenia and Her Neighbourhood: Prospects for New Dynamics.

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Beunruhigend ist jedoch besonders, dass laut Presseberichten am

31. August Feuergefechte an der Waffenstillstandslinie zwischen

der aserbaidschanischen und der Armee von Berg-Karabach mit

Todesopfern stattgefunden haben sollen. Bis heute ist nicht

geklärt, welche Seite in der Nähe des Dorfes Werin Tschailu die

Gegenseite zuerst angriff.36

3. Fallstricke durch Internationale Beziehungen und das

Geopolitische Umfeld

Ein Fallstrick für demokratische und friedensfördernde

Entwicklungen stellt die geopolitisch günstige Lage

Aserbaidschans zwischen Iran und Russland dar. Die Region

zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, insbesondere

Aserbaidschan, liegt an der Schnittstelle zwischen Europa, dem

Nahen und Mittleren Osten und Zentralasien. Es ist nicht mehr

länger sowjetische Peripherie, sondern wirtschaftliches

Zentrum, und Knotenpunkt für Transitwege. Während der

Vermittlungen in den 1990er Jahren nahmen die USA zunächst die

Haltung Russlands ein und unterstützten Armenien. Dies ist im

Besonderen auf die Lobbyarbeit der armenischen Diaspora in den

USA zurückzuführen.37 Zunehmend sahen die USA jedoch

Aserbaidschan als strategischen Partner in der Region,

vorwiegend auf wirtschaftlicher Ebene wegen der reichen Öl- und

Gasvorkommen im Kaspischen Meer, jedoch auch in militärischer

Hinsicht aufgrund seiner geographischen Nähe zu Iran, aber auch

36 Ria Novosti: Bergkarabach-Streit: Feuergefechte an armenisch-aserbaidschanischerWaffenstillstandslinie, 01.09.2010.37 Minorities at Risk Project, Center for Development and Conflict Management,Maryland, 2004-2010.

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zum Irak und Afghanistan.38 Aserbaidschan beteiligte sich

beispielsweise an Antiterroraktionen der USA. US-amerikanische

Flugzeuge seien von Aserbaidschan nach Afghanistan gestartet,

so Leyla Yunus, die wegen ihrer Demokratiebemühungen genauso

wie ihr Mann Arif in Aserbaidschan nicht sicher ist und derzeit

in Hamburg lebt.39 Darüber hinaus wollen die USA ein

Gegengewicht zu Russland in der Region aufbauen.40 Russland

nimmt heute eine neutrale Haltung ein. Es betont, dass die

Konfliktparteien selbst die Verantwortung für eine Regelung

trügen und man keine „Rezepte aufzwingen“ wolle.41 Es

kooperiert mit beiden Seiten.

Der Iran hingegen hat das Ziel, die Präsenz der USA im

Kaspischen Raum minimal zu halten. Die guten Beziehungen

Aserbaidschans zu den USA und Israel ist Iran ein Dorn im Auge,

fürchtet die iranische Führung doch auch ein Näherrücken der

NATO. Der Iran hat daher seine militärische Zusammenarbeit mit

Armenien intensiviert. Ende 2007 haben beide Länder einen

Militärvertrag unterschrieben, in dem sich der Iran

verpflichtet, die Logistik der armenischen Armee vollständig zu

übernehmen.42 Der iranische Botschafter in Baku äußerte sich

2008 auch in Bezug auf die Radaranlage Gabbala sehr kritisch:

38 Ibid.39 Hangen, Claudia: Die doppelgesichtige Demokratie. Aserbaidschan: Ölinteressen undinnere Freiheit, 08.08.2010: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/33/33071/1.html(Stand: 14.09.2010). Siehe auch das hier verwendete Buch von Arif Yunusov:„Azerbaijan in the Early of XXI Century: Conflicts and Potential Threats“.40 Ibid,41 Ria Novosti: Russand, Aserbaidschan und Armenien verhandeln über Berg-Karabach,25.01.2010: http://de.rian.ru/world/20100125/124818386.html (Stand: 14.09.2010)42 Abdolvand, Behrooz/ Liesener, Michael/ Feyzi Shand, Nima: Aserbaidschan - eineUS-Militärbasis gegen den Iran? Eurasisches Magazin, 31.03.2008:http://www.eurasischesmagazin.de/artikel/?artikelID=20080306 (Stand: 14.09.2010)

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„In der Geschichte der Beziehungen beider Republiken gab es immer Höhen undTiefen. Wir betrachten die Frage der Radaranlage mit großer Sensibilität, weil wirden Frieden in Aserbaidschan und Iran erhalten möchten. Wir sind der Meinung,dass weder die aserbaidschanische Regierung, noch die aserbaidschanische Nationzulassen dürfen, unter dem Deckmantel der Sicherheit betrogen zu werden.“43

Gemeint ist ein Betrug durch Russland und die USA, die erwägen,die Anlage gemeinsam zu nutzen.

Iran sieht mit Spannungen auf die aserbaidschanisch-

amerikanischen-russischen Beziehungen und positioniert sich,

entgegen religiöser und kultureller Nähe, gegen Aserbaidschan.

Sollte es zur Eskalation im Berg-Karabach-Konflikt kommen,

würde Iran Armenien unterstützen, möglicherweise mit

militärischen Ressourcen.

Trotz aller Streitpunkte lässt sich das gemeinsam Interesse an

Prosperität und Fortschritt in der Region ausmachen. Für die EU

spielt die Region für die zukünftige Energieversorgung eine

Schlüsselrolle – Stichwort Nabucco-Pipeline, aber auch wegen

Sicherheitsfragen. Die Bekämpfung von Menschen-, Waffen-, und

Drogenhandel sind ein vordergründiges Anliegen der EU im

Transkaukasus. Auch Russland hegt energiewirtschaftliches

Interesse, ebenso die USA. Hinzukommen militärisch-strategische

Überlegungen von Seiten der USA und der NATO auf der einen, und

Russland auf der anderen Seite. Russland bezeichnet den

Schwarzmeerraum als „Zone privilegierten Einflusses“.44 Die USA

verfolgen eine Reihe politischer, wirtschaftlicher und

militärischer Pläne zur Sicherung des Energietransits und zur

Förderung der Terrorismusbekämpfung im Bereich des „Greater

43 Ibid.44 Halbach: Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus, März 2010, S. 6. Zu dengeopolitischen Interessen externer Akteure bezüglich Georgien aber auch derGesamtregion Südkaukasus siehe auch: Werkner: Die Rolle der EU zwischen westlichenund östlichen hegemonialen Interesen – Eine Analyse des Russisch-GeorgischenKrieges, 2010, S. 95 ff.

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Middle East“ und des „Wider Europe“.45

Als Fallstrick für vermehrten internationalen Druck in Richtung

demokratischen Wandels und friedenspolitische Fortschritte kann

die pro-westlichen Haltung des aserbaidschanischen Präsidenten

Heydar Aliyevs und dem Öl- und Gasreichtum der Republik gesehen

werden.46 Die reichen Öl- und Erdgasquellen ermöglichen Europa

eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber russischem Öl, was nicht

zuletzt das Pipeline-Projekt Nabucco sicherstellen soll. Das

Gas, das einmal durch die geplante Nabucco-Pipeline unter

Umgehung Russlands aus dem Kaspischen Raum nach Europa gepumpt

werden soll, soll u.a. aus Aserbaidschan kommen. Genau deshalb

scheint das Ausland allerdings den Konflikt um Berg-Karabach

und die regionalen Spannungen in der Zusammenarbeit mit

Aserbaidschan als Thema und Betätigungsfeld zu meiden. Dies

geschieht vermutlich, um wirtschaftliche Beziehungen nicht

durch (vermeintliche) Parteinahme zu gefährden.

Die ausländischen Diplomaten kennen die sozio-politische

Situation sowie die Lebensumstände der Bevölkerung am

Kaspischen Meer. Demokratiedefizite und

Menschenrechtsverletzungen sind hinlänglich bekannt und

dokumentiert.47 Das Ausland „hütet sich aber vor Einmischung in die inneren

Angelegenheiten der Republik im östlichen Südkaukasus.“48 Auch Hillary

Clinton war bei ihrem Besuch am 4. Juli 2010 in Aserbaidschan

45 Werkner: Die Rolle der EU zwischen westlichen und östlichen hegemonialenInteresen, 2010, S. 99.46 Hangen: Die doppelgesichtige Demokratie. Aserbaidschan: Ölinteressen und innereFreiheit, 08.08.2010.47 OSZE: Wo die Medienfreiheit in Europa eingeschränkt ist. , Die Presse (Wien),29.07.2010: http://diepresse.com/home/kultur/medien/584447/index.do?_vl_backlink=/home/kultur/medien/index.do (Stand: 14.09.2010) 48 Hangen: Die doppelgesichtige Demokratie. Aserbaidschan: Ölinteressen und innereFreiheit, 08.08.2010.

15

vorsichtig in ihrem Urteil: "Auch die USA haben 230 Jahre auf dem Weg

zur Demokratie gebraucht"49, lautete ihr Resümee.

Dass die Konflikte bisher stiefmütterlich behandelt wurden,

zeigen nicht zuletzt die Dokumente der EU zur

Nachbarschaftspolitik im Südkaukasus, zum Schwarzmeerraum oder

zur Östlichen Partnerschaft.50 Umso wichtiger ist es, dass die

EU nicht weiterhin „working around conflict“, sondern „working

on conflict“ betreibt. Die EU hat sich bisher mehr im Konflikt

um Süd-Ossetien engagiert, am wenigsten in der Karabach-

Frage.51 Dieser ist jedoch der Schlüsselkonflikt in der Region

und ist am tiefsten historisch verankert. Wenn er nicht

beigelegt wird, werden die Menschen in der Region nicht zur

Ruhe kommen.

Dazu kommt, dass trotz des positiv erscheinenden Einsatzes des

Auslandes in Aserbaidschan in zivilen wie Regierungskreisen

Frustration über dessen Rolle bei den Verhandlungsrunden,

jedoch insbesondere bezüglich ihres Handelns im Land

vorherrscht. Besonders die Regierung betonte in Gesprächen

2009, dass sie nicht auf finanzielle Hilfe aus dem Ausland

angewiesen sei, das im Konflikt mit Armenien bei der

Durchsetzung, ihrer Ansicht nach legitimer Gebietsansprüche

keine Unterstützung zeige. Diese Kritik bezog sich auch auf die

humanitären und Entwicklungsorganisationen im Land. Mit fast

allen ausländischen Nicht-Regierungsorganisationen wurden

deshalb 2009 keine Kooperationsabkommen mehr geschlossen und

sie verließen das Land. Die offizielle Begründung von beiden

49 Ibid,50 Halbach: Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus, März 2010, S. 5.51 Halbach: Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus, März 2010, S. 5.

16

Seiten lautet, Aserbaidschan käme aufgrund des Ölwohlstandes

ohne internationale Gelder und Aufbauhilfe zurecht. Sehr gerne

wird hierbei auf die Siedlungsprojekte in den Kriegsgebieten

verwiesen, die die Regierung selbständig finanziert.

Ein weiterer Fallstrick für ein Vorwärtskommen in den

Verhandlungen könnte außerdem durch die Dreiecksbeziehung

Armenien-Türkei-Aserbaidschan drohen. Der Konflikt um Berg-

Karabach entfaltet auf dem diplomatischen Prozess der türkisch-

armenische Annährung eine „Störwirkung“. Für Armenien ist daher

die Lösung des Berg-Karabachs-Konfliktes oder zumindest eine

Annäherung an Aserbaidschan auch im Hinblick auf eine positive

Entwicklung seiner Beziehungen zur Türkei wichtig.52 Denn durch

Baku, das fürchtet, dass die im Jahre 1993 geschlossene

türkisch-armenische Grenze geöffnet werden könnte, ohne dass

die armenischen Truppen zuvor von aserbaidschanischem Gebiet

abgezogen sind, wird eine mögliche Aussöhnung zu einer

„trilaterale Angelegenheit“.

3. Innenpolitische Zwänge und Konfliktpotenziale

4.1. Aserbaidschan als „No War, No Peace Society“

Versucht man die Ursachen des Konflikts um die Bergregion

Karabach zu verstehen, stößt man auf vielschichtige

Erklärungsversuche in der Literatur. Historische, religiöse,

territoriale Motive sind ebenso von Bedeutung wie

nationalistische Trends, geopolitische Einflüsse und sozio-

ökonomische Gegebenheiten. Eine Einordnung in Kategorien wie

52 Ria Novosti: Karbach-Konflikt: Licht am Ende des Tunnels? 27.01.2010:http://de.rian.ru/comments_interviews/20100127/124862427.html (Stand: 14.09.2010)

17

„Territorialkonflikt“, „Regionalkonflikt“, „ethnischer“ oder

„religiöser Konflikt“, trägt zwar zum Verständnis einzelner

Facetten bei, der Komplexität der Gegebenheiten wird ein

solches „definitorisches Korsett“ jedoch nicht gerecht.

In der historischen Betrachtung des Berg-Karabach-Konfliktes

wurde deutlich, dass ethnische und religiöse Aspekte im Diskurs

innerhalb der betroffenen Gesellschaften und im Gespräch mit

der Konfliktpartei an Bedeutung zunahmen. Geschichtsdeutungen

in Abgrenzung zum „Feind“ und religiöse Unterschiede wurden auf

allen Seiten mehr und mehr betont. Ein in seiner Schärfe und

Abgrenzung als neu zu charakterisierendes, historisch-

ethnisches Selbstverständnis wurde etabliert.53 Häufig wurde

der Armenisch-Aserbaidschanische Konflikt aufgrund dieser

Rhetorik als „religiöser“ oder „ethnischer Konflikt“ in der

Literatur gedeutet. Die Autoren des „Minority at Risk Project“

interpretieren beispielsweise die armenischen Sentiments in die

ethnische Richtung:

„The Azerbaijani control of Karabakh represented the continuingsubjugation of Armenians by Turks (as Armenians tend to see allAseris as Turks) and ultimately would lead to calls foroverarching political reform in the Soviet Union. Turkicnationalism has been a powerful force in Baku and hasundoubtedly contributed to the conflict with the Armeniansgiven the lingering historical enmity between Armenians andTurkey.“54

Die Unterschiede in Religion und Volkszugehörigkeit stellen

53 Hierzu unternimmt insbesondere Volker Jacoby sehr interessante Analysen, in:Geopolitische Zwangslage und nationale Identität: Die Konturen der innenpolitischenKonflikte in Armenien. Diss., Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main,1998, S. 198.54 Die türksich-armenisch-aserbaidschanische Konfliktlinie ist auch heute noch vonBedeutung, wie der Abriss über geopolitische Zusammenhänge verdeutlichen wird. Zitataus: Assessment for Armeniens in Azerbaijan, Minorities at Risk Project, 2004-2010.

18

jedoch nicht die Ursprünge (root causes) des Konfliktes dar.

Diese Aspekte wurden im Konfliktprozess in eine

„ethnonationalistische“ Rhetorik von Identitätspolitik

eingebettet. Diese Politik stellt zunächst eine Folge des

Konfliktes, und im fortschreitenden Verlauf einen erneuten

Auslöser für Gewalt dar.

Die Sezessionskonflikte des südlichen Kaukasus wurden zudem

häufig als „frozen conflicts“ – einem Zustand zwischen Krieg

und Frieden55 – bezeichnet. Diese Überlegung geht zurück auf

Johan Galtungs Verständnis von Krieg und Frieden. Nach der

Beendigung eines Krieges folgt zunächst eine Phase des

negativen Friedens (die pure Abwesenheit von Krieg) bevor

positiver Frieden (die Verwirklichung von Gerechtigkeit)

erreicht werden kann.56 Spätestens seit August 2008 ist die

Bezeichnung „eingefrorener Konflikt“ jedoch eine überholte

Bezeichnung für die Konflikte im Südkaukasus, da Krieg zwischen

Georgien und den separatistischen Gebieten Süd-Ossetien und

Abchasien mit militärischer Unterstützung Russlands ausbrach.

Die zwischenstaatlichen Konfrontationen zwischen Russland und

Georgien hatten bereits seit 2006 „besorgniserregende Ausmaße“

angenommen.57 Der Konflikt war niemals „frozen“ im Sinne von

statisch vereist, er war stets dynamisch und „brodelte“. Der

Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ist ebenfalls nur

oberflächlich betrachtet als eingefroren zu deuten. Aufrüstung

wird vor allem auf aserbaidschanischer Seite betrieben, und in

55 Vgl. Dijkzeul, Dennis: Towards a Framework for the Study of „No War, No Peace“Societies, Swiss Peace Working Paper, 2/ 2008, S. 17.56 Ferdowsi, Mir A.: Der Positive Frieden. Johan Galtungs Ansätze und Theorien desFriedens. Minerva Fachserie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, München, 1981(Diss.), hier insbesondere S. 99 ff.57 Halbach: Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus, März 2010, S. 6.

19

Umfragen unter aserbaidschanischen Bürgern sind Militärgänge

als nicht auszuschließen und sogar als wünschenswert bewertet

worden. Beide Gesellschaften scheinen in einem

Sicherheitsdilemma zu verharren. Das Misstrauen ist auf beiden

Seiten groß, man sucht Verbündete und rüstet auf.

In Anlehnung an Galtungs Model entwickelten Dennis Dijkzeul et

al. „Societal Models of War and Peace“, und unterscheiden hierin

neben Gesellschaften in Krieg oder Frieden auch Gesellschaften

in einem Zustand/ einer Phase von „weder Krieg, noch

Frieden“.58 Dieser Ansatz versucht, der Komplexität und Dynamik

von Nachkriegsgesellschaften Rechnung zu tragen. Er beschreibt

eine „no war, no peace“ society als:

„(…) a complex and dynamic social system in which institutions become reproducedwith the potential for – positive or negative – conflict transformation.“59

Unter Institutionen, die Friedens- und Konfliktpotenzial

tragen, sind gesellschaftliche Strukturen wie das politische,

kulturelle oder religiöse System zu verstehen, Organisationen

wie beispielsweise Diasporagruppen, politische Parteien oder

Nichtregierungsorganisationen (NRO), sowie informelle

Strukturen wie Normen und Werte, Mythen oder Identitäten.60 Die

Ideen dieses Ansatzes, der noch in der Entwicklung ist, sind

hilfreich, um die Geschehnisse in Aserbaidschan (aber auch in

58 Dijkzeul: Towards a Framework for the Study of „No War, No Peace“ Societies, 2/2008, S. 17. Zu diesem Thema wurden ebenfalls u.a. veröffentlicht: Richards, Paul:No Peace, No War: An Anthropology of Contemporary Armed Conflicts, Ohio UniversityPress, Athen, 2005, siehe auch: African Studies Quarterly, Volume 8, Issue 3, Spring2006: http://www.africa.ufl.edu/asq/v8/v8i3a12.pdf (Stand: 14.09.2010); Mac Ginty,Roger: No War, No Peace: The Rejuvenation of Stalled Peace Processes and PeaceAccords, Palgrave Macmillian, Houndsmills, 2006.59 Dijkzeul: Towards a Framework for the Study of „No War, No Peace“ Societies, 2/2008, S. 17.60 Ibid., S. 26.

20

Armenien, Berg-Karabach und anderen Gesellschaften) zu

verstehen.

Nimmt man den Ansatz als Grundlage und denkt an Diskurse in den

Gesellschaften, kann man folgern, dass Institutionen nicht

zuletzt Einfluss nehmen auf die Wahrnehmung und das

Selbstverständnis der Menschen in der Gesellschaft als

Individuum oder Teil des Kollektivs. Öffentliche Meinung wird

geprägt, der Konflikt geschürt oder ihm die Schärfe genommen.

Umfragen, die versucht haben die Stimmung in Aserbaidschan

abzubilden zeigen, dass die Mehrheit nicht mehr an eine

friedliche, politische Lösung glaubt. 2006 sprachen sich mehr

als 60 Prozent der fast 1000 Befragten für eine militärische

Lösung des Konfliktes aus. Die Stimmenzahl der

Kriegsbefürworter in Aserbaidschan war drei Mal so hoch wie die

derjenigen, die an eine friedliche Lösung glaubten. Persönliche

Gespräche 2009 belegen diese Einstellung.61

Ein eindringliches Beispiel, wie institutionelle Gewalt in

Aserbaidschan gelebt wird, zeigt die Situation der im Berg-

Karabach-Krieg Vertriebenen in Aserbaidschan.62

4.2. Institutionelle Gewalt gegenüber der Opfer des Berg-Karabach-Konfliktes63

Nach Angaben der aserbaidschanischen Regierung wurden nach dem

Krieg zwölf Camps für ca. 640 000 Vertriebene gebaut sowie

Unterkünfte in alten Zugwaggons und in unfertigen Gebäuden

61 Yunusov, Arif: Azerbaijan in the Early of XXI Century: Conflicts and PotenialThreats, ADILOGLU, Baku, 2007, S. 209.62 An dieser Stelle sollte angemerkt werden, dass auch Armenien Defizite bei derVerwirklichung von Menschen- und Bürgerechten aufweist. 63 Die folgenden Ausführungen gründen auf Interviews, die in Aserbaidschan im Mai2009 geführt wurden.

21

geschaffen. Es kamen auch viele Aserbaidschaner aus Armenien,

um bei Verwandten und Freunden in Aserbaidschan Zuflucht zu

finden. Bis heute ist gesetzlich festgeschrieben: wenn

Vertriebene vor 1998 ein leer stehendes Haus besetzten,

genießen sie Bleiberecht bis sie nach Berg-Karabach

zurückkehren können. Selbst die Eigentümer dürfen sie nicht des

Hauses verweisen. Allein die Regierung kann sie im Zuge des

„Repatriation Plans“ verpflichten, in die alte Heimat

zurückzukehren. Bereits an diesem Beispiel zeigt sich, dass die

Heimkehr, im Gegensatz zur Integration in das Heimatland und

den neuen Wohnort, institutionell in Aserbaidschan verankert

sind.

Auch gesetzlich wurden Regelungen institutionalisiert, die den

Status (das Stigma) des Opfers aus dem Berg-Karabach-Konflikts

dauerhaft festig. Den Vertriebenen wurde ein besonderer

rechtlicher Status verliehen. Sie sind durch ein Dokument

ähnlich eines Personalausweises zu erkennen. Der Status geht

bei Geburt auch auf Kinder über. Das Dokument berechtigt

Vertriebene dazu, durch den Staat eine Unterkunft und gewisse

Unterstützungen zu erhalten. Internationale Hilfsgelder flossen

bis 2008 ins Land und wurden zentral von der

aserbaidschanischen Regierung an ausführende Organisationen

verteilt. Ende 2008 wurde jedoch von den internationalen Gebern

entschieden, dass die Regierung aufgrund ihres Ölreichtums

allein in der Lage sei, das humanitäre Problem zu bewältigen.

Indikator dafür waren vor allem die neuen Dörfer, die von der

Regierung nahe der Waffenstillstandsgrenze errichtet wurden.

Die Bau- und Umsiedelungsbemühungen dauern an.

22

Der Repatriierungsplan der Regierung kommt jedoch im Gewand von

Zwangsmaßnahmen daher. Internationale Standards – die UN

Guiding Principles on IDPs64 – werden nicht erfüllt. Ein

Mitspracherecht bei der Umsiedelung haben die „Heimatlosen“

nicht. Zudem wurde ihnen die patriotische Verpflichtung

auferlegt, zurückzukehren, um die Heimat „heim zu holen“, sie

können sich nicht gegen die Umsiedelung wehren. Öffentlich

würde niemand an der Pflicht zur „Heimkehr“ zweifeln, weder

Regierung noch Bürger, am wenigsten die Vertriebenen selbst.

In der Praxis und auch rechtlich hat kein Vertriebener die

Entscheidungsfreiheit, wo er sich ansiedeln möchte und ob er in

die umkämpften Gebiete zurückkehren will. In Nacht- und

Nebelaktionen werden Menschen und Habseligkeiten aus den

Notunterkünften in LKW verladen und in die Grenzregionen

gebracht. Alternative Wohnmöglichkeiten oder Entschädigungen

werden nicht angeboten. Die Siedlungspolitik soll Fakten

schaffen, die die Armenische Regierung und die Bewohner Berg-

Karabachs nicht ignorieren können.

Doch die Kämpfe haben bisher nicht aufgehört, die Minen sind

nicht vollständig geräumt. Die neu gebauten Siedlungen in den

Distrikten um Berg-Karabach sind deshalb für ihre Bewohner ein

unsicherer Ort. An der nahen Waffenstillstandsgrenze wird nach

wie vor gekämpft und wöchentlich gibt es Verletzte oder sogar

Tote. Bis Mai starben nach Angaben des Aserbaidschanischen

Roten Kreuzes im Jahre 2009 in den kampfnahen Siedlungen 17

Menschen, d.h. ein Mensch pro Woche.

Besonders in diesen neuen Siedlungen ist die Arbeitslosigkeit

ein drängendes Problem, da sie sich weit entfernt von

64 Internally Displaced Persons

23

ökomischen Zentren befinden. Für wirtschaftliche Interaktion

fehlt es an Infrastruktur wie Straßen oder Bahnverbindungen und

Stromversorgung. Der Mangel an Wasser- und Bewässerungssysteme

macht zudem das Bestellen von Feldern mühselig und ertragsarm.

Ein Ausweg aus der Arbeitslosigkeit ist, als Arbeitspendler in

die Städte, hauptsächlich nach Baku, zu gehen, was zur

Abwanderung der Männer beiträgt. Der „Männermangel“ ist ein

besonders schwerwiegender sozialer und wirtschaftlicher Faktor.

Denn auf dem Land gilt es auch heute noch als ehrlos, wenn

Frauen außerhalb des häuslichen Bereiches tätig sind. Allein

stehende Flüchtlingsfrauen sind somit zweifach stigmatisiert.

Da Vertriebene in ihrem „Heimat“ort registriert sind, besitzen

sie keine Arbeitserlaubnis in den Städten. Damit nehmen die

pendelnden Siedlungsbewohner ein großes Risiko auf sich. Werden

sie von den Behörden kontrolliert, droht ihnen der Verlust des

Status` und somit ihrer Wohnung. Das Pendler-Dasein stellt

dennoch die Regel, nicht die Ausnahme dar, und wird durch das

komplizierte Geflecht von Schmiergeldern ermöglicht.

Politisch nimmt die institutionalisierte Ausgrenzung z.B.

dadurch eine maßgebende Dimension an, dass Vertriebene nicht

berechtigt sind in der Stadt zu wählen, in der sie ansässig

sind. Sie sind lediglich bezüglich ihrer Gemeinden im Exil

wahlberechtigt.

Dazu kommen Nachteile durch separate Schulen für Vertriebene

und ihre Kinder. Es ist ihnen nicht erlaubt „normale“ Schulen

zu besuchen. Damit fehlt es neben Integration an guten

Bildungsmöglichkeiten, was eine der größten Belastungen für die

junge Generation darstellt. Das Bildungssystem zementiert zudem

die Ausgrenzung der Vertriebenen und trägt zur Stigmatisierung

24

und damit zu weitverbreiteten psychischen Problemen bei. Zudem

unterrichten fast ausschließlich Lehrer aus der Gemeinschaft

der Vertriebenen an den extra eingerichteten Schulen, was

wiederum ein Aufrechterhalten der Gruppengrenzen festigt und

die Entwicklung und Beibehaltung einer Opferidentität

begünstigt.

Heimatvertriebene aus Berg-Karabach und den besetzten Gebieten

sind also bis heute nur mangelhaft in das gesellschaftliche,

wirtschaftliche und politische Leben integriert. Sie

unterliegen struktureller Gewalt, durch ungerechte politisch,

juristische und gesellschaftliche Institutionen fortgepflanzt.

Das Hauptargument der Regierung von Aserbaidschan für das

Separieren ist der „Great Return Plan“. Der Aussage eines

Regierungsvertreters zufolge, schließe das Ziel der Heimkehr

jegliche Integration als nachhaltige Lösung aus. Das Ziel der

Wiederansiedlung nach der Rückgewinnung der Territorien von

Armenien mache alle Maßnahmen für Vertriebene und ihre

Lebensumstände zu einer Zwischenstation auf dem langen Weg nach

Hause. Es bestehe kein Interesse daran, dauerhafte

Eingliederung in die lokalen Gruppen und Gesellschaften zu

fördern. Vertriebene sitzen also aufgrund ihres rechtlichen

Status` in der Falle. Sie befinden sich in „politischer

Geißelhaft“, denn ihr Schicksal und die Heimkehr nach Berg-

Karabach sind das „Ass“ im Ärmel der Regierung in den

Verhandlungen mit Armenien, und der humanitäre Grund für

Unterstützung aus dem Ausland. Sie wurden zum Instrument der

Außenpolitik ihrer Regierung.

25

Fazit und Ausblick

Hinsichtlich der Analyse des internationalen und nationalen

Umfelds, welches die Verhandlungen mit Armenien beeinflusst,

erscheint die Prognose für den Frieden in der Region mehr denn

je abhängig vom Willen der Eliten. Es gibt Anzeichen, dass es –

sollte es kein Umdenken geben – kurz-oder mittelfristig erneut

zum Krieg kommen könnte. Der internationale Rahmen ist

begünstigend für den Frieden, die innenpolitische „no war, no

peace“-Situation mit hohem Konfliktpotenzial durch

institutionelle Gewalt in Aserbaidschan jedoch ein Risiko für

dauerhaften Frieden.

Die internationalen Voraussetzungen für Frieden:

Der Friedensprozess um Berg-Karabach befindet sich derzeit in

einem entscheidenden Stadium. International sind die

Voraussetzungen für eine Einigung gut, denn Russland, die USA

und die EU nutzen die Verhandlungen im OSZE-Rahmen, um ihre

nach dem Georgienkrieg 2008 beschädigten Beziehungen zu

reparieren.65

Für alle Friedensbemühungen gilt: Vertrauensbildende Maßnahmen,

wirtschaftliche Zusammenarbeit und vor allem

zivilgesellschaftliche Verbindungen müssen etabliert und, wenn

vorhanden, verstärkt werden. Es ist wichtig, dass externe

Akteure, allen voran die EU, verstehen, dass

Konfliktbearbeitung und -transformation mindestens

gleichgewichtet sein müssen, wie die Förderung demokratischer

Entwicklung und (energie)wirtschaftlicher Kooperation.

Der Türkisch-Armenische Annährungsprozess muss nachdrücklich

unterstützt werden und Aserbaidschan muss überdies begreifen,

65 Hysenov: A Moment of Truth in the Nagorno-Karabakh Talks? 16.06.2010.

26

dass ein Rückbezug auf Berg-Karabach nicht zu machen ist. Dies

ist keine leichte Überzeugungsarbeit und Einsicht, doch vor

allem die Türkei mit Unterstützung der EU muss für ein solches

Verständnis werben. Wichtig ist es außerdem, die Annäherung der

Türkei und Armeniens auch als symbolisches Ereignis zu

erkennen. Es kann als Vorbild im Südkaukasus dienen und zeigen,

dass historische Feindseligkeiten überwunden werden können –

und müssen! 66

Problematisch ist indes auch das fehlende Engagement

internationaler Hilfs- und Entwicklungsorganisationen. Denn

durch ihren Rückzug sind nur wenige ausländische Beobachter der

gesellschaftlichen und politischen Situation im Land. Die

aserbaidschanischen NRO, die sich für die Rechte der

Vertriebenen einsetzen, müssen vorsichtig agieren.

Zivilgesellschaftliche Organisationen - lokale und

internationale - haben jedoch eine Schlüsselrolle. Sie sind es,

die langfristig von innen heraus Druck auf die jeweilige

Regierung ausüben und Missstände aufdecken können. Sie prägen

den Diskurs zur Bildung der öffentlichen Meinung und wirken im

Bereich der Konfliktbearbeitung.

Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Frieden:

Versteht man Gewalt und Krieg wie in diesem Beitrag als

dynamischen Prozesse, betont man gleichzeitig die Möglichkeit

der Konflikttransformation durch friedensfördernde,

vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den Konfliktparteien und

in den betroffenen Gesellschaften. Wie der historische Abriss

zeigte, handelt es sich vor, während und nach dem Krieg

zwischen Armenien und Aserbaidschan um einen nie komplett

66 Halbach: Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus, März 2010, S. 8.

27

abreißenden Diskurs zwischen den Streitparteien unter

Einbeziehung internationaler Vermittler. Durch diese Tatsache

besteht die Hoffnung, dass sich individuelle und kollektive

Wahrnehmungen positiv und friedensstiftend ändern. Doch ist

auch das Gegenteil möglich, sollte die Gewalt, wie sie im

September 2010 aufflammte, nicht abreißen.

Problematisch ist jedoch, dass die Verwirklichung von Bürger-

und Menschenrechten, vor allem die der Vertriebenen aus den

umkämpften Gebieten, durch das Andauern des Konfliktes gehemmt

wird. Das autoritäre System der aserbaidschanischen

„Scheindemokratie“ kennt keine Verteilungsgerechtigkeit,

sondern lässt weite Bevölkerungsteile in Armut hinter dem

Ölreichtum der wenigen Oligarchen zurück. Aliyev versucht sein

Wahlvolk deshalb umso mehr durch die Karabach-Frage zu binden

und verliert den Blick für das Eskalationspotenzial dieses

Weges.

Wichtige Schritte zum Frieden:

Vor einer möglichen Rückkehr der Vertriebenen müssen ihre

Lebensbedingungen nachhaltig verbessert und Integration

ermöglicht werden. Denn eine Masse junger, perspektivloser

Menschen mit diskriminierendem Vertrieben-Status wird nicht die

Geduld aufbringen, eine Generation länger auf eine positive

Veränderung zu warten. Geschichtsverklärung und Feindbilder

verfestigen sich in die nächste Generation hinein. Die

Verstaatlichung der Opferrolle und die Instrumentalisierung der

Heimat sowie die politische Geißelhaft der „Bürger zweiter

Klasse“ muss ein Ende haben. Auf Dauer wird dieser Zustand

sonst die fragile Waffenruhe gefährden. Sollte sich die

Situation der Überlebenden des Konfliktes mittelfristig nicht

28

nachhaltig verbessern, werden die Menschen für militärische

Maßnahmen Stimmung machen. Sie sind als Wahlvolk zu groß und

bedeutend, als dass die aserbaidschanische Regierung solche

Forderungen langfristig ignorieren könnte.

Es müssen deshalb bald tragfähige Absprachen bezüglich ihrer

Rückkehr getroffen werden. Aseris und Armenier sollten den

Schutz internationaler Friedenstruppen genießen. Ein erster und

wichtiger Schritt wäre die offizielle Annahme der „Basic

Principles“ durch Armenien und Aserbaidschan als verbindliche

Roadmap im Friedensprozess.

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Ria Novosti: Bergkarabach-Streit: Feuergefechte an armenisch-aserbaidschanischer Waffenstillstandslinie, 01.09.2010:http://de.rian.ru/security_and_military/20100901/257203484.html(Stand: 14.09.2010)

Ria Novosti: Armenien will Bergkarabach im Notfall auch mitWaffen schützen, 11.03.2010:http://de.rian.ru/post_soviet_space/20100311/125444231.html(Stand: 14.09.2010)

Ria Novosti: Karbach-Konflikt: Licht am Ende des Tunnels?27.01.2010:http://de.rian.ru/comments_interviews/20100127/124862427.html(Stand: 14.09.2010)

Ria Novosti: Russand, Aserbaidschan und Armenien verhandelnüber Berg-Karabach, 25.01.2010:http://de.rian.ru/world/20100125/124818386.html (Stand:14.09.2010)

Richards, Paul: No Peace, No War: An Anthropology ofContemporary Armed Conflicts, Ohio University Press, Athen,2005, siehe auch: African Studies Quarterly, Volume 8, Issue 3,Spring 2006: http://www.africa.ufl.edu/asq/v8/v8i3a12.pdf(Stand: 14.09.2010)

Zeit Online Archiv: Massaker von Sumgait, 1991, Ausgabe 35:http://www.zeit.de/1991/35/Massaker-in-Sumgait (Stand:14:09.2010)

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