Krieg und Wahrheit. Michel Foucault als Sprengmeister, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für...

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Philipp Sarasin Krieg und Wahrheit: Michel Foucault als Sprengmeister Das vorliegende Interview, das wir hier erstmalig in deutscher Übersetzung (und mit einer Auslassung, die vor allem in biographischer Hinsicht von Interesse ist) abdrucken, entstand im Juni 1975, d.h. wenige Monate nach der Veröffentlichung von Surveiller et punir. Es war Teil eines Versuchs Foucaults, mit dem jungen Phi- losophiestudenten Roger-Pol Droit als Gesprächspartner und Gegenüber in einer Weise über sein Denken zu sprechen und dieses weiterzutreiben, die den üblichen Zwängen des »Büchergekritzels« 1 entkommen sollte. Doch Foucault war vom respektvollen Interview-Gestus Droits bald enttäuscht und brach die Übung ab. 2 Die drei bis dahin entstandenen entretiens sind nicht in den Dits et Ecrits, den gesammelten Schriften Foucaults, erschienen. Roger-Pol Droit hat das »Spreng- meister«-Interview erstmals am 1. Juli 2004, zum zwanzigsten Todestag Foucaults, im französischen Nachrichtenmagazin Le Point der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und es mit den beiden anderen von ihm geführten Gesprächen im Septem- ber 2004 im Verlag Odile Jacob in Buchform publiziert. Dieses Interview ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Selten hat sich Fou- cault so ausführlich über sein eigenes Schreiben geäußert wie hier: Schreiben ist eine handwerldiche Arbeit, und die kleinen Errungenschaften eines schönen Stils, die er sich gerade noch attestiert, dienen nur wie erotische amuse-bouches dazu, dem Genealogen die Arbeit mit seiner tristen historischen Materie soweit zu ver- süßen, daß er durch den Tag kommt ... Foucaults dezidierte Ablehnung dessen, - was er mit oder vielmehr gegen Barthes l' ecriture nennt, hat allerdings System. Sie gehört zu seiner großen Bewegung weg von der Literatur und der Literaturkritik, die er zu Beginn der 1970er Jahre vollzogen hat, während er sich indenWerken der 1960er Jahre von Walmsinn und Gesellschaft bis mindestens zur Ordnung der Dinge- immer wieder in positiver, ja emphatischer Weise auf die Literatur als eine seiner wichtigen Referenzen bezogen hat. Doch seit seiner Arbeit an Überwachen und Strafen geriet ihm die literarische ecriture zunehmend in den falschen Hals. Als er am 2. Dezember 1970 in seiner Antrittsvorlesung am College de France über den Diskurs sprach, bezeichnete er »das Schreiben der >Schriftsteller<« sogar als ein »Unterwerfungssystem«, ebenso wie das »Gerichtssystem und das institutionelle System der Medizin«. 3 Foucault träumte von einem Schreiben, das ganz anders wäre: instrumentell, auf schnellen Verbrauch ausgerichtet, sich mit anderen !I HD 205 n I

Transcript of Krieg und Wahrheit. Michel Foucault als Sprengmeister, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für...

Philipp Sarasin

Krieg und Wahrheit: Michel Foucault als Sprengmeister

Das vorliegende Interview, das wir hier erstmalig in deutscher Übersetzung (und

mit einer Auslassung, die vor allem in biographischer Hinsicht von Interesse ist)

abdrucken, entstand im Juni 1975, d.h. wenige Monate nach der Veröffentlichung

von Surveiller et punir. Es war Teil eines Versuchs Foucaults, mit dem jungen Phi­

losophiestudenten Roger-Pol Droit als Gesprächspartner und Gegenüber in einer

Weise über sein Denken zu sprechen und dieses weiterzutreiben, die den üblichen

Zwängen des »Büchergekritzels« 1 entkommen sollte. Doch Foucault war vom

respektvollen Interview-Gestus Droits bald enttäuscht und brach die Übung ab.2

Die drei bis dahin entstandenen entretiens sind nicht in den Dits et Ecrits, den

gesammelten Schriften Foucaults, erschienen. Roger-Pol Droit hat das »Spreng­

meister«-Interview erstmals am 1. Juli 2004, zum zwanzigsten Todestag Foucaults,

im französischen Nachrichtenmagazin Le Point der Öffentlichkeit zur Verfügung

gestellt und es mit den beiden anderen von ihm geführten Gesprächen im Septem­

ber 2004 im Verlag Odile Jacob in Buchform publiziert.

Dieses Interview ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Selten hat sich Fou­

cault so ausführlich über sein eigenes Schreiben geäußert wie hier: Schreiben ist

eine handwerldiche Arbeit, und die kleinen Errungenschaften eines schönen Stils,

die er sich gerade noch attestiert, dienen nur wie erotische amuse-bouches dazu,

dem Genealogen die Arbeit mit seiner tristen historischen Materie soweit zu ver­

süßen, daß er durch den Tag kommt ... Foucaults dezidierte Ablehnung dessen,

- was er mit oder vielmehr gegen Barthes l' ecriture nennt, hat allerdings System. Sie

gehört zu seiner großen Bewegung weg von der Literatur und der Literaturkritik,

die er zu Beginn der 1970er Jahre vollzogen hat, während er sich indenWerken der

1960er Jahre von Walmsinn und Gesellschaft bis mindestens zur Ordnung der Dinge- immer wieder in positiver, ja emphatischer Weise auf die Literatur als eine

seiner wichtigen Referenzen bezogen hat. Doch seit seiner Arbeit an Überwachen und Strafen geriet ihm die literarische ecriture zunehmend in den falschen Hals.

Als er am 2. Dezember 1970 in seiner Antrittsvorlesung am College de France über

den Diskurs sprach, bezeichnete er »das Schreiben der >Schriftsteller<« sogar als ein

»Unterwerfungssystem«, ebenso wie das »Gerichtssystem und das institutionelle

System der Medizin«.3 Foucault träumte von einem Schreiben, das ganz anders

wäre: instrumentell, auf schnellen V erbrauch ausgerichtet, sich mit anderen

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Medien vermischend, fern aller literarischer Prätention, die den Schreibenden in

eine Genealogie mit anderen »Schriftstellern« einfügt und ihm eine Identität als

Autor verpaßt. Sein Traum, von all dem Abschied nehmen zu können, liest sich

heute erstaunlich aktuell. Hat nicht das »Schreiben am Netz«,4 haben nicht web­

logs und andere Formen der Internet-Publizistik diesen Traum heute wahr ge­

macht? Mischen sich im Netz nicht die Texte eines Autors mit jenen anderer, mit

anderen Zeichen, Bildern und Medien? Foucault hätte, so scheint es, an dieser

weltweiten Text- und Bildmaschine, die längst schon keinen Autor mehr braucht,

um zu funktionieren, wohl seine Freude gehabt, auch wenn daneben und dank der

Fortexistenz von »Tinte und Papier« weder Literatur noch Autorschaft aufgehört

haben, Leser/innen von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen.

Der Sprengmeister

Der Philosoph mit den vielen Masken hat sich im vorliegenden Interview aber

nicht nur einfach als Schreibhandwerker präsentiert, sondern sich vor allem den

Blaumann eines »Sprengmeisters« übergezogen, der »zunächst ein Geologe ist«

und das Terrain untersucht, um seine Dynamitladungen anbringen zu können.

Und zugleich ist dieser Sprengmeister auch ein Krieger, der das Gelände für den

militärischen Sturmangriff vorbereitet und die feindlichen Festungen beobachtet.

Ja- Foucault meint das metaphorisch: Das, was er in seinen Büchern »macht«, ist

dasselbe wie die Arbeit des Sprengmeisters, es dient wie diese »einer Belagerung,

einem Krieg, einer Zerstörung«. Seine Bücher sollen Druckwellen auslösen, sie sol­

len Türen und Fenster aufsprengen wie »Sprengstoff« - »effizient wie eine Bombe

und schön wie ein Feuerwerk« ... Foucault spielt hier mit Metaphern der Gewalt,

die in den heutigen wie den damaligen Zeiten des Terrors zweifellos einen speziel­

len Klang haben. Aber man darf nicht vergessen, daß sich Foucault immer und in

aller Deutlichkeit etwa vom Terror der RAF distanziert hatte: »Ich habe«, sagte er

im November 1977 zu Claude Mauriac als Erldärung für sein Zerwürfnis mit Gilles

Deleuze, »den Terrorismus und das Blut nicht gebilligt und auch Baader und seine

Gruppe nicht gutgeheißen.«S

Was also sagen diese kriegerischen Metaphern, falls Metaphern eine solche Frage

denn überhaupt zulassen?6 Klar wird zumindest: Das, was der militärische Spreng­

meister tut, ist wesentlich Nicht-Geschichte und Nicht-Philosophie. Foucault

sucht ein »Durchkommen«, er will Schneisen in ein »Gelände« sprengen, das von

der Philosophie und der Geschichte besetzt gehalten wird, von jenen Mächten, die

dem dialektischen Narrativ der weltgeschichtlichen »Entwicldung«, des »Sinns«

und der» Totalität« verhaftetet sind und mit ihren, wie Foucault im Interview sagt,

Krieg und Wahrheit

»apokalyptischen« Perspektiven das Denken gefangen halten. Sogar Nietzsche und

Heidegger, sonst Foucaults verläßliche Referenzen, erscheinen hier als Apokalyp­

tiker, von deren trügerischen Verheißungen eines hellen Morgens oder einer kom­

menden Nacht sich der Sprengmeister in seinen technischen und taktischen Ob­

liegenheiten nicht ablenken lassen will. Es geht ihm darum, in der »Aktualität«

Kämpfe zu bestehen- und nicht, sich auf den »Sinn« der Geschichte einzustellen.

Geschichte und Diskontinuität

Wenn man versuchen will, einige der Bezüge und V erweise dieses Interview zu ent­

flechten, dann kann Foucaults Ablehnung der dialektisch und totalisierend gedeu­

teten Geschichte als Einstiegspunkt dienen. Es ist dies konkret seine explizit be­

nannte Frontstellung gegen Jean-Paul Sartre- das heißt, die Geschichte einer alten

Gegnerschaft, die Mitte der fünfziger Jahre mit der Abwendung einer ganzen

Generation junger französischer Intellektueller von der Bewußtseinsphilosophie

von Busserl bis Sartre und vom Regelmarxismus begonnen hatte und die Foucault

de facto an die Seite der Strukturalisten führte. In seiner literaturkritischen Studie

Raymond Raussei von 1963 (die weit »strukturalistischer« und signifikantentheo­

retischer war, als er je eingestehen wollte) findet sich daher zum Beispiel der fol­

gende kräftige Tritt ans Schienbein des Meisterdenkers: »Im konfusen Spiel von

Existenz und Geschichte« - was ist das, wenn nicht Sartre? - »entdecken wir ganz

einfach das allgemeine Gesetz des SPIELS DER ZEICHEN, in dem sich unsere ver­

nünftige Geschichte abspielt« und was ist das, wenn nicht de Saussure, Barthes,

Greimas, Lacan ... ?7

Damals und noch im späteren Rückblick stellte sich Foucault entschieden auf die

Seite Lacans, um Sartres Ablehnung des Freudschen Unbewußten zu kritisieren.s

Doch auch als er seinerseits dieses psychoanalytische Konzept immer mehr in

Zweifel zu ziehen begann- der Sprengmeister kennt weder die Entfremdung noch

ein U nbewußtes, sondern allein die kapillaren Wirkungsweisen der Macht-, führ­

ten ihn seine Ablehnung der Dialektik, sein gelinde gesagt komplexes Verhältnis

zum Marxismus und seine »archäologische« Auffassung von Geschichte gleich­

wohl in die direkte Konfrontation mit dem Marxisten Sartre. In Die Ordnung der

Dinge (Les mots et les choses, 1966) konstatierte Foucault in jenen drei Sätzen, die

ihn im marxistischen Frankreich so einsam gemacht hatten, mit ebenso trockenem

wie unverhohlenem Spott: »In der Tiefe des abendländischen Wissens hat der Mar­

xismus keinen wirldichen Einschnitt erbracht«; er hatte »weder das Ziel«, die

erkenntnistheoretische Disposition seiner Zeit zu verwirren, >>lloch vor allem die

Kraft, sie zu verändern, sei es auch nur um eine Daumenbreite, weil er völlig auf ihr

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beruhte. Der Marxismus ruht im Denken des neunzehnten Jahrhunderts wie ein

Fisch im Wasser.« Die Auseinandersetzungen zwischen dem Marxismus und der

bürgerlichen Ökonomie seien daher »lediglich Stürme im Wasserglas«. 9 Das waren

Sätze wie Hiebe in die Weichteile der Linken, das war Krieg in jenem verminten

Gelände, in dem der Sprengmeister sich bewegt, und es war, zusammen mit Fou­

caults Rede vom »Tod des Menschen«, eindeutig zu viel. Sartre persönlich sprach

in der Zeitschrift L'Arc nach dem Erscheinen von Les mots et les choses das Verdikt

aus: »Diese neue Ideologie ist das letzte Bollwerk, das die Bourgeoisie noch gegen

Marx zu errichten vermag«.1 0

Foucault ist glücldicherweise das Lachen nicht vergangen. In den Jahren nach

1966 attestiert er sich das »Temperament [eines] glückliche[n] Positivismus«11

und nennt sich einen »kalten Systematiker«, 12 dessen Arbeit darum kreist, die

»Modernitätsschwelle« am Ende des 18. Jahrhunderts zu beschreiben. Nie hat er so

deutlich wie in diesem Interview vom Juni 1975 bekundet, daß das, was man in

Deutschland mit Reinhard Kaselleck die »Sattelzeit« nennt, in der langen Arbeits­

phase von ca. 1955 bis Ende der siebziger Jahre, bis zu seinem der Antike gewidme­

ten Spätwerk also, sein eigentliches Forschungsthema war: ein Thema, das von der

Frage nach der Genealogie der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts (in Wahnsinn und Gesellschaft) bis zum Problem der sich am Ende des 18. Jahrhunderts formierenden

liberalen Gouvernementalität (in den Vorlesungen der Jahre 1977-79) nicht auf­

hörte, sich in produktiver Weise zu wiederholen. Es ist kein Zufall, daß er im

Anschluß an die Bemerkung »Im Grunde habe ich nur einen einzigen historischen

Untersuchungsgegenstand: die Schwelle der Modernität«, diese Schwelle mit fol­

genden, etwas dunlden Worten kennzeichnete: »Wer sind wir, die wir diese Spra­

che sprechen, die sich uns ebenso aufdrängt wie jene Mächte, die sich uns selbst, in

unserer Gesellschaft, und anderen Gesellschaften aufzwingen?« In Les mots et les choses hieß es zu diesem »wir«, das heißt zum Problem des »Menschen« am Ende

des 18. Jahrhundert präziser: »Wie kann der Mensch dieses Leben sein, dessen

Netz, dessen Pulsieren, dessen verborgene Kraft unendlich die Erfahrung über­

schreiten, die ihm davon unmittelbar gegeben ist? Wie kann er jene Arbeit sein,

deren Erfordernisse und Gesetze sich ihm als ein fremder Zwang auferlegen? Wie

kann er das Subjekt einer Sprache sein, die seit Jahrtausenden ohne ihn gebildet

worden ist [ ... ] und innerhalb deren er von Anfang an sein Sprechen und sein

Denken plazieren muß [ ... ] ? « 13 Das war das Thema Foucaults 1966: Wenn es wahr

ist, daß die am Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen neuen Wissenschaften der

Biologie, der historischen Linguistik und der Ökonomie jene »dunlden« Kräfte des

Lebens, der Sprache und der Bedürfnisse bzw. der Arbeit entdeckten, die sich nicht

mehr im Zeichenraum des 18. Jahrhunderts repräsentieren ließen, sondern die

Krieg und Wahrheit

gleichsam als ein Reales diesen Zeichenraum sprengten, dann machten diese

»Quasi-Transzendentalien « 14 den Menschen zwar ebenso denkbar und denknot­

wendig, wie sie ihn de facto auch gleich wieder dezentrierten, indem sie als über­

individuelle Kräfte über ihn hinausweisen. Es war damals bekanntlich Foucaults

Pointe, daß nur der »anthropologische Schlaf«, d. h. die angesichts dieser Kräfte

illusionäre Traum-Gestalt des »Menschen«, die Humanwissenschaften entstehen ließ.

Daß das »Tableau«, der mathematisch formalisierte Zeichenraum des Zeitalters

der Repräsentation, wie Foucault das Klassische Zeitalter nannte, gesprengt wurde,

erwies sich ihm mehrfach und vielfältig: im Übergang vom eingesperrten Wahn­

sinn als dem reinen Gegenteil der Vernunft im 18. Jahrhundert hin zur Befragung

des Wahnsinns in der Psychiatrie des 19.; von der »Medizin der Arten« vor der

Revolution zur pathologischen Anatomie Bichats danach; oder dann im Wandel

von den das V erbrechen »spiegelnden« Körperstrafen hin zur Bestrafung und

Erziehung der »Seele« im Gefängnis der Moderne. Doch so augenscheinlich dieser

Übergang auch sein mochte, so sehr warf er ein doppeltes methodisches Problem

auf: Wie ist ein solcher Kontinuitätsbruch in der Geschichte zu denken- und wel­che Gründe könnten sich finden lassen, ihn zu erklären?

Zwei Bemerkungen Foucaults im Gespräch mit Roger-Pol Droit dazu scheinen

mir von Gewicht zu sein. Erstens die Aussage, daß der Geologe/Genealoge, zu dem

Foucault mit dem erneuten und vertieften Bezug aufNietzsche in »Nietzsche, die

Genealogie, die Historie« von 1971 endgültig wurde, 15 sich durch seine intellektu­

ellen »Sprengungen« in den frühen siebziger Jahren, die zur Publikation von Sur­veiller et punir führten, einen Durchblick verschafft habe, der dem Archäologen

noch verwehrt gewesen sei. Er konnte nun sagen, daß die Diskontinuität am Ende

des 18. Jahrhundert als ein Effekt der Veränderungen der Machtverhältnisse und

Machttechnologien verstanden werden müsse. Noch 1971 hatte er mit Blick auf die

Modernitätsschwelle bekannt: »Es ist mir noch nicht gelungen, die Wurzel dieser

Veränderungen genau zu lokalisieren. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Diese

Veränderungen haben wirldich stattgefunden, und nach ihrem Ursprung zu

suchen ist kein Hirngespinst«. 16 Jetzt, 1975, war ihm klar: In dem Maße, wie der

»Mensch« mit seiner »Seele« aus den Prozeduren der Disziplinierung, des Strafens

und der Geständniserzwingung entstanden war, erschien daher die in überwachen

und Strafen entfaltete kalte Institutionen- und Apparategeschichte der modernen

Seelenzustände- die man »Psyche, Subjektivität, Persönlichkeit, Bewußtsein, Ge­

wissen, usw.« genannt und worauf man »die moralischen Ansprüche des Huma­

nismus gegründet« hat 17 - als genau jene wirldiche Genealogie des von den Hu­

manwissenschaften erträumten »Menschen«, die er seit langem gesucht hatte.

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Daran ändert nichts, daß er wenig später diese Genealogie des Menschen von den

Disziplinarinstitutionen weg auf die Ebene der Bevölkerungstechnologien gerückt

hat: Seit 1976 war es für ihn die »Biomacht«,18 die- produktiv wie jede Macht­

nun als die genealogische Erldärung für den Übergang zum »Leben« am Ende des

18. Jahrhunderts fungiert; in den Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementa­litätvon 1977/78 nannte er das Auftauchen des neuen Objekts »Bevölkerung« gar

explizit den » Transformationsoperator« dieser Modernitätsschwelle.19

Die Macht rückte zu einem Zeitpunkt ins Zentrum seines Denkens, als Foucault

eben erst begonnen hatte, seine archäologische Auffassung von Geschichte zu

systematisieren. Denn während in der Archäologie des Wissens von 1969 noch die

Regelmäßigkeiteil und Ordnungsstrukturen als der bevorzugte Gegenstand der

Analyse, ja der kalten Systematik dieser neuen Form von Geschichtsschreibung

vorgestellt wurden, geraten - und das ist die zweite Bemerkung, die mir zentral

erscheint- diese Regelmäßigkeiten im Interview von 1975 ihrerseits in den Ver­

dacht, die »Zackenlinie« der sprunghaften, nicht-linearen Geschichte durch eine

dem Diskurs eigene »Linearität« zu verdrängen. Foucault hatte sich zwar auch

schon in der Archäologie deutlich gegen jede Form einer Geschichte des kontinu­

ierlichen Werdens und der begriffenen Totalität ausgesprochen:20 Geschichts­

wissenschaft, wie er sie denkt, favorisiert das kontingente Ereignis und die Serie

solcher Ereignisse gegenüber der ldassischen Auffassung des Ereignisses als Mani­

festation einer letztlich, mit Hegel, metaphysisch begründeten »Entwicldung« oder

»Tradition«. 21 Doch nun scheint er diese in der Archäologie des Wissens entwickelte

Vorstellung noch einmal zu radikalisieren und zuallererst die Unvorhersehbarkeit,

Unregelmäßigkeit, ja »Unmöglichkeit« des Ereignisses herauszustellen, der gegen­

über selbst noch das »lineare«, das heißt Regelmäßigkeiten und Ordnungsmuster

identifizierende Denken des Diskursanalytikers als inadäquat zu erscheinen droht.

Das einzige, was in diesem Feld der >>Universellen Schlacht« bleibt, ist das Experi­

mentieren, das Herumtasten und Herumtappen beim strategischen Versuch, »vor­

anzukommen«.

Wissenschaft und Krieg

Foucaults Auffassung, daß gleichsam >hinter< der Wahrheit die »universelle

Schlacht« und der »Krieg« um die richtigen Interpretationen tobt, ist nicht erst in

den siebziger Jahren entstanden, sondern läßt sich u. a. auf einen Vortrag zurück­

führen, den er 1964 hielt und in dem er über das Problem der Interpretation bei

Freud, Marx und Nietzsche sprach. »Für Nietzsche«, so heißt es hier, »gibt es kein

ursprünglich Bezeichnetes. Die Worte sind selbst nichts als Interpretationen; in

Krieg und Wahrheit

ihrer ganzen Geschichte sind sie Interpretationen, bevor sie Zeichen sind, und sie

haben nur deshalb eine Bedeutung, weil sie Interpretationen sind.« Zeichen, so

Foucault weiter, gebe es nur, »weil unter allem, was spricht, ständig das große

Gewebe' der gewaltsamen Interpretationen liegt«22 - und daher sei »das Zeichen

bereits eine Interpretation, die sich nicht als solche zu erkennen gibt«. 23 Das Pro­

blem des Zeichens ist, anders gesagt, nicht fundamental; dem Zeichen und auch

jeder Aussage liegt immer schon die Gewalt der Interpretation zugrunde. Die

Interpretation, so Foucault, ist jeder ihrer Gestaltwerdungen in Zeichenform und

dann als Aussage vorgängig und begründet diese. Daher habe man letztlich nicht

nach Bedeutungen von Zeichen zu fragen, sondern danach, »von wem die Inter­

pretation stammt«, denn »das Prinzip der Interpretation ist nichts anderes als der

Interpret«. 24

Wie das zu verstehen ist, hat Foucault in einem Vortrag in Rio de Janeiro von

1973 dargelegt. Wie kommt Wissen bzw. Erkenntnis zustande, fragt er hier mit

Nietzsche. Die Antwort konnte nur lauten: »durch dunlde Machtbeziehungen«,

durch »schäbige« und »!deine« »Erfindungen«, hinter denen eben nicht ewige

Ideen, sondern die List und Hinterlist der Interpreten stehen.25 Erkenntnis gehört

zum Repertoire der »Triebe«, ohne selbst ein angeblich der Wahrheit verpflichteter

Trieb zu sein; vielmehr seien »die Triebe die Grundlage und Ausgangspunkt der

Erkenntnis«, und folglich ist »die Erkenntnis nur das äußere Ergebnis ihrer Kon­

frontation«.26 Weil Erkenntnis sich, wie Foucault betont, seit Kant nicht mehr

intrinsisch von den Dingen, den Objekten der Erkenntnis her ableiten läßt, und

weil auch kein Gott mehr die Beziehung zwischen der Erkenntnis und den Dingen

garantiert, sind Wahrheit und Erkenntnisse nur noch strategische Einsätze: »Die

Erkenntnis hat mit einer Welt ohne Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit und

Weisheit zu kämpfen. Darauf bezieht sich Erkenntnis. Nichts in der Erkenntnis

gibt ihr ein Recht darauf, diese Welt zu erkennen. Für die Natur ist es keineswegs

natürlich, erkannt zu werden. Zwischen Trieb und Erkenntnis besteht also keine

Kontinuität, sondern ein Verhältnis des Kampfes, der Herrschaft, der Knechtschaft

und des Ausgleichs, und ebenso wenig kann es zwischen der Erkenntnis und den

zu erkennenden Dingen ein Verhältnis natürlicher Kontinuität geben, sondern nur

ein Verhältnis, das durch Gewalt, Herrschaft und Macht gekennzeichnet ist.

Erkenntnis kann den zu erkennenden Dingen nur Gewalt antun; sie kann nicht

wahrnehmen, akzeptieren, sich mit ihnen oder sie mit sich identifizieren.«27 Mit

anderen Worten: »Nietzsche rückt [ ... ] als Wurzel der Erkenntnis Haß, Kampf

und Machtbeziehungen in den Mittelpunkt.«28 Erkenntnis wird auf diese Weise

nicht nur strategisch, sondern vor allem auch perspektivisch, weil es »Erkenntnis

stets nur in Gestalt diverser unterschiedlicher Handlungen gibt, in denen der

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Mensch sich gewaltsam Dinge aneignet, auf Situationen reagiert und sie in Kräfte­

verhältnisse zwingt«. Daher wäre es »vollkommen widersinnig, wenn man sich

eine Erkenntnis vorzustellen versuchte, die nicht zutiefst parteiisch und perspekti­

visch wäre.« Hier geht Foucault mit Nietzsche entschieden über jeden Symbolisie­

rungsrelativismus beiNeu-Kantianern wie Max Weber oder Ernst Cassirer hinaus:

»Der perspektivische Charakter der Erkenntnis resultiert nicht aus der mensch­

lichen Natur, sondern aus dem polemischen und strategischen Charakter der

Erkenntnis. «29

Wenn Foucault daher im Gespräch mit Roger-Pol Droit sagt, er mache einen

radikal »instrumentellen Gebrauch« von Geschichte, dann ist eine solche Bemer­

kung zweifellos nicht nur dazu angetan, empfindliche akademische Gemüter zu

schoclderen, sondern muß tatsächlich in diesem »perspektivischen« Sinne der

Genealogie verstanden werden, die sich in einem Schlachtfeld der Interpretatio­

nen, in einem Kampf um Wahrheiten befindet, in welchem sie sich ihre Angriffe

genau zu überlegen und ihre Sprengladungen zu plazieren hat. Das darf man aller­

dings nicht mißverstehen: Foucault ist kein Zyniker, der die Quellen und die histo­

rische Wahrheit manipuliert, und der ebenso lügen würde, wie er nach der Wahr­

heit der historischen Erkenntnis sucht: Dazu setzt er sich zu sehr der öffentlichen

Kritik und, trotznotorischer Kargheit der Fußnoten-Verweise, der akademischen

Überprüfbarkeit seiner Aussagen aus, und dazu hat er in der Archäologie des Wis­sens auch zu explizit seine eigenen Analyse-Regeln dargelegt: »Insoweit kann alles«,

so Foucault im Gespräch mit Ducio Trombadori 1978, »was ich in meinen

Büchern sage, verifiziert oder widerlegt werden, nicht anders als bei jedem anderen

historischen Buch.«30 Aber Foucault wußte gleichzeitig, daß alle seine Arbeiten

»Erfindungen« sind- Erfindungen im Sinne Nietzsches, Erfindungen, die ihre

Ursprünge in persönlichen Erfahrungen haben und die ihrerseits auch dazu die­

nen, »eine Erfahrung zu machen und die andern aufzufordern, vermittelt über

einen bestimmten historischen Inhalt an dieser Erfahrung teilzunehmen: nämlich

an der Erfahrung dessen, was wir sind und was nicht nur unsere Vergangenheit,

sondern auch unsere Gegenwart ausmacht; an einer Erfahrung unserer Moderni­

tät, derart, daß wir verwandelt daraus hervorgehen.« 31 Hier ldingt möglicherweise

schon jenes Motiv der Wandlung des Subjekts im Hinblick auf die Wahrheit an, die

Foucault später »Spiritualität« nennen wird, weil er sich zur Konzeptualisierung

dieser Wandlung des Subjekts im Spätwerk zunehmend an außereuropäischen

und antiken Beispielen orientieren wird. 32 Vor allem aber zeigt sich, daß auch der

Genealoge darauf zielte, sich selbst bzw. »uns« zu verändern. Denn in dem Maße,

wie die genealogische Geschichtsschreibung »instrumentell« ist und von den

Nöten der Gegenwart daraufzielt, »unsere Modernität« zu verstehen, ist sie ihrem

Krieg und Wahrheit

Wesen nach nichts anderes als der Versuch, uns als politische Erkenntnissubjekte

zu verände1·n, die die Mächte der Gegenwart mit ihren Identitätsbehauptungen

kritisch auf ihre »unreinen« Wurzeln, ihre »schäbigen« Ursprünge zurückführen.

Damit aber, von der Möglichkeit ihrer machtanalytischen Antwort her, erweist

sich nachträglich auch die scheinbar akademische Frage nach der »Modernitäts­

schwelle« als eine genealogische.

Der blinde König

»Wenn du König wirst, wirst du wahnsinnig, leidenschaftlich und blind sein.« Mit

diesem ein wenig rätselhaften Satz charakterisiert Foucault die traditionelle Auffas­

sung desVerhältnissesvon Wissen und Macht, die dieUnabhängigkeitdes Wissens

von der Macht behaupte. Daß Foucault das anders sah, ist bekannt; wesentlich

scheint mir, daß er immer wieder auf die Figur jenes blinden Königs zurücldcam,

um das Verhältnis von Wissen und Macht und ebenso den Mythos ihrer Unverein­

barkeit darzulegen- auf König Ödipus. Unter anderem sprach er im zweiten Vor­

trag in Rio de Janeiro 1973, d.h. im Anschluß an den oben zitierten Vortrag über

Nietzsche Erkenntnistheorie, ausführlich über das Drama König Ödipus von

Sopholdes. Foucault argumentiert, es gehe hier nicht um die Blindheit des Ödipus,

die zum Modell für den Freudschen Mythos wurde, sondern um die Königsmacht

des Ödipus: das heißt um die Frage, ob ödipus die Macht behalten könne, obwohl

die Wahrheit seiner Verfehlungen an den Tag kommt. Für Foucault war die Tat­

sache entscheidend, daß Ödipus ein Mann des Wissens, des Sehens, der offenen

Augen gewesen sei, der das Rätsel der Sphinx löste und sich dann zum Tyrannen

von Theben aufschwang. Der Ödipusmythos behaupte zwar mit dem V erweis auf

das Scheitern des Ödipus, daß die Macht und das Wissen einander fremd seien,

doch diesen Mythos gelte es im Anschluß an Nietzsche zu zerstören:33 Anhand des

Sopholdes-Dramas konnte Foucault die aus seiner Perspektive manifeste und fun­

damentale Rolle der Gewalt und der Macht darlegen, während Freud an diesem

Ausgangspunkt einen Mythos eingesetzt habe, der die Unterwerfung des Subjekts

unter das Gesetz des Vaters als Notwendigkeit behaupte, und der bei Lacan dazu

geführt hat, dieses Gesetz des Vaters mit der Ordnung der Sprache in eins zu setzen

und so als unausweichlich und universell zu setzen. 34 Mit anderen Worten: In

Foucaults jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit König Ödipus- implizit schon

in Walmsinn und Gesellschaft 196135 bis zur Vorlesungsreihe Hermeneutik des Sub­jekts 198236 - geht es um die Frage, ob jede Form eines Gesetzes, eines Allgemeinen

oder einer Regel, wie Lacan sie zusammenfassend als das »Symbolische« bezeichnet

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Philipp Sarasin

und im Ödipus-Mythos fundiert hatte, auf ein Strategem im Feld von universellen

Machtkämpfen reduziert werden kann oder muß.

In dem Maße allerdings, wie Foucault selbst mit Bezug aufNietzsche einen Dis­

kurs des »Ursprungs« führt- des gewalthaften Ursprungs vonWerten und sozialen

Verhältnissen ebenso wie von Erkenntnis und Wahrheit -, wird deutlich, an wel­

chem Punkt die Genealogie in jene Ursprungsmystik zurückfällt, die sie um jeden

Preis verhindern will: dort nämlich, wo sie die Dekonstruktion von gesellschaftli­

chen Verhältnissen soweit treibt, diese vollständig auf Kämpfe um Macht zurück­

zuführen, auf ein Ursprüngliches der Gewalt und der Überwältigung. »Die Regel«

der gesellschaftlichen Verhältnisse und Auseinandersetzung »ist«, so Foucault in

»Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, »die kalkulierte Lust am Gemetzel und

die Hoffnung auf Blut.« Alle Regeln haben ihre Wurzel in diesem Krieg; alle Regeln

und alle Zeichen sind nichts als »>nterpretationen« oder strategische Kalküle;

daher fährt Foucault fort: »Das große Spiel der Geschichte dreht sich um die Frage,

wer sich der Regeln bemächtigt; wer an die Stelle derer tritt, die sie für sich nutzen;

wer sie am Ende pervertiert, in ihr Gegenteil verkehrt und gegen jene wendet, die

sie einst durchsetzten«.37

Die Frage muß erlaubt sein, ob Foucaults Annahme, daß das tiefste, zugleich

aber offen zutage liegende Geheimnis sozialer wie epistemologischer Verhältnisse

der Krieg sei, zwingend oder zumindest plausibel ist. Ich vertrete die These, daß

dies nicht der Fall ist. Es ist vielleicht sinnvoll, sich daran zu erinnern, daß Nietz­

sche selbst, in dem von Foucault in Rio de Janeiro ausführlich zitierten Text

»Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn« von 1873 zwar notierte,

der Intellekt des Menschen sei »das Mittel, durch das die schwächeren, weniger

robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit

Hörnern oder scharfem Raubthier-Gehiss zu führen versagt ist«, und daß das Indi­

viduum, »soweit es sich gegenüber anderen Individuen erhalten will, in einem

natürlichen Zustande der Dinge den Intellekt zumeist nur zur Verstellung be­

nutzte«. Das bezieht sich wie gesagt auf den »natürlichen Zustande«, d. h. auf eine

Art Vorgeschichte. Weil jedoch, so fährt Nietzsche fort, »der Mensch zugleich aus

Nothund Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will, braucht er

einen Friedensschluss und trachtet darnach daß wenigstens das allergröbste bell um

omnia contra omnes aus seiner Welt verschwinde.« Es ist für unsere Diskussion

von Belang, wie Nietzsche diesen Übergang deutet: »Dieser Friedensschluss bringt

nun aber etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes räthselhaften

Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an >Wahr­

heit< sein soll d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung

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Krieg und Wahrheit

der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze de1: Wahrheit.«38

Irgendwann einmal wurden also gewisse Tiere so ldug, daß sie begonnen haben,

ihre fehlenden Hörner und Raubtiergebisse durch Täuschung und Verstellung,

List und Hinterlist zu ersetzen, um sich im Dasein zu halten. Aus »Noth und Lan­

geweile« wollten diese Tiere aber überdies nicht alleine leben, sondern »gesell­

schaftlich«. Die ldugen Tiere haben damit zwei Dinge getan: Einerseits haben sie

Frieden geschlossen, um dem gröbsten Krieg unter ihnen zumindest Einhalt zu

gebieten. Und gleichzeitig- Nietzsche sagt: »bringt mit sich« -wurde »eine gleich­

mäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden«.39 Mit anderen

Worten, der Friedensschluß von Tieren, die gesellschaftlich existieren wollen,

wurde begleitet von der Erfindung der Sprache. Damit aber konnten sowohl das

Problem der Wahrheit als auch der Lüge entstehen, denn »die Gesetzgebung der

Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit«. Wenn am Anfang von Gesell­

schaft der Friedensvertrag steht, steht am Anfang der Wahrheit die sprachliche

»Convention«. Das aber würde heißen, daß diese Konvention und nicht die »uni­

verselle Schlacht« der Ausgangspunkt des »räthselhaften Wahrheitstriebes« ist. Der

von Nietzsche angedeutete Übergang von den »Individuen« im Naturzustand zu

den »Menschen« im Gesellschaftszustand ist daher wohl so zu verstehen, daß die

Tier-Individuen erst dann zu Menschen wurden, als sie nicht nur in Herden, bzw.

Gesellschaft existierten, sondern vor allem, als sie sich »Conventionen« unterwar­

fen: der Konvention eines Friedensvertrags und zugleich auch jener »Gesetzgebung

der Sprache«, die die konventionellen Bezeichnungen der Dinge festlegt. Ist es

daher nicht plausibel anzunehmen, dieser ursprüngliche Friedensvertrag sei in

Wahrheit nichts anderes als genau jenes Gesetz der Sprache?

Die doppelte Aufgabe der Genealogie

Von einer solchen Lektüre Nietzsches ausgehend ließe sich folgern, daß Erkenntnis

und Wahrheit nicht ausschließlich und »ursprünglich« aufnichts anderes denn auf

das belZum omnia contra omnes zurückzuführen sind; vielmehr wären Menschen

zugleich und gewissermaßen gleichursprünglich immer schon in ein Symbolisches

eingehüllt: sprechend und kämpfend. Dieses Symbolische wäre eine Ordnung, die

man mit Nietzsche mit der »Ordnung der Sprache« identifizieren kann, und die

selbstverständlich vollkommen fiktiv ist: Es gibt kein fundamentum in re dieser

sprachlichen Konventionen, es gibt keine transzendentale oder metaphysische

Stütze dessen, was Menschen in historisch je vollkommenkontingenterWeise als

eine ihnen übergeordnete Gerechtigkeit oder Wahrheit imaginieren. Es scheint

CJ II 215

Philipp Sarasin

216 •

allerdings so zu sein, daß Menschen das mit Notwendigkeit tun. Es ist plausibel

anzunehmen, daß sie, weil sie sprechen, in symbolischen Ordnungen leben, die ihr

Handeln ebenso strukturieren, wie es der Kampf ums Überleben und damit die

Gewalt tun. Symbolische Systeme »rahmen« die Kämpfe um Macht und Einfluß

ein, indem sie ihnen einen Ort, eine Struktur und eine Bedeutung geben. Wir ver­

stehen mit Foucault besser, daß diese symbolischen Ordnungen selbst Objekt von

Kämpfen sind und darin oft tiefgreifend modifiziert werden; es gibt wenig Grund,

an seiner illusionslosen Diagnose zu zweifeln, daß die Kämpfenden letztlich da­

nach trachten, die jeweils geltenden »Regeln« zu ihrem Vorteil zu ändern. Aber

Nietzsches Überlegungen zum Ursprung des »Wahrheitstriebes« legen es nahe

anzunehmen, daß die »Regeln« und damit die Sprache kaum ohne Rest auf den

Krieg reduzierbar und damit in reine Strategeme auflösbar wären- und auch nicht

auf strategische »Kopplungen« in einem Netzwerk von Aktanten, wie Bruno

Latour in Anschluß an Gilles Deleuze und implizit auch an Foucaults Genealogie

sagt.40 Daher stellt sich an diesem Punkt die theoretische Aufgabe, die Genealogie

mit einem Ansatz zu verbinden, der die Notwendigkeit der Filetion des Symboli­

schen zu denken gestattet, der es, mit anderen Worten, zu verstehen erlaubt, daß

Menschen sich auf wissenschaftliche Wahrheiten zu einigen vermögen, wenn und

weil sie sich auf ein gemeinsames Symbolisches als ein »Drittes« beziehen können.

Dann sind wissenschaftliche Wahrheiten eben mehr als nur strategische Hinterli­

sten von Kämpfenden, bzw. mehr als strategische Kopplungen, die zerfallen müs­

sten, wenn die strategische Situation sich ändert. Ein illustratives und zugleich

ungemein kontrastives Beispiel für reine »Kriegs-Wissenschaft«, für »Wissen­

schaft« im Dienste nationaler Propaganda im Krieg - und das kann im Rahmen

dieses Kommentars nicht mehr als ein einfaches Beispiel und ein kurzer Hinweis

sein - lieferte etwa die französische Anthropologie im Ersten Weltkrieg in ihren

Beschreibungen der Physiologie der »Boches«.41 Diese »Wahrheiten« waren zwar

im Netzwerk mächtiger Institutionen und anerkannter Wissenschaftler entstan­

den, sie waren wirkungsvoll und überzeugend ... - dochnurums Jahr 1917 herum,

nach dem Waffenstillstand zerfielen sie ziemlich schnell zu Staub. Daß solche

»Wissenschaft« zumindest intuitiv mit aller Deutlichkeit von Normal-Wissen­

schaft unterschieden werden kann und muß, ist keine Frage. Dieser intuitiv leicht

zugängliche Unterschied kann wahrscheinlich - das wäre die These - nur mit

Bezug auf die notwendigerweise gemeinsame Fiktion eines Symbolischen der Wis­

senschaft begründet werden, was allerdings nicht bedeutet, daß man damit

zugleich auch zu unterstellen gezwungen wäre, Wissenschaft sei nach dem idea­

listischen Prinzip des »besseren Arguments« bzw. des »Zwanglosen Zwangs der

Vernunft« (Habermas) zu modellieren. Jedenfalls wäre das Funktionieren von

Krieg und Wahrheit

Wissenschaft in emer so verstandenen genealogischen Perspektive jeweils in

gleichsam doppelterWeise zu beschreiben: als Produkt von permanenten Konflik­

ten und Kämpfen und damit weit jenseits der Möglichkeit, irgendetwas als »wahr«

oder auch nur »gewiß« von diesen Auseinandersetzungen auszunehmen, und

zugleich als ein symbolisches System, das immer auch ein Stück weit den Regeln zu

folgen gezwungen ist, die zwar ebenso aus diese Kämpfe hervorgehen, wie sie diese

aber immer auch »rahmen« und auch die Kontrahenten eine Zeit lang verbinden.

Genealogische Wissensgeschichte hat, so scheint mir, nur dann die Chance, nicht

reduktionistisch zu werden, sondern komplex zu bleiben, wenn sie sich diese dop­

pelte Fragestellung offen hält. Sie wüßte zwar mit Foucault, daß sie der Wissen­

schaft keine teleologischen Garantiescheine auf die hyperbolische Annäherung an

die Wahrheit qua »besseres Argument« ausstellen kann. Aber sie könnte dennoch

verstehbar machen, warum gewisse Wahrheiten eine Weile lang im Fluß der Zeit

Bestand haben und nicht im Strudel der Kriege untergehen.

Anmerkungen

1 Michel Foucault: Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits), hg. von Daniel Defert und Fran<;ois

Ewald, Frankfurt 2001-2005, Bd. II, S. 374 (im folgenden zitiert als >>Schriften«).

2 Foucault, Schriften, a.a.O., Bd. I, S. 73 (Zeittafel).

3 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am College de France -

2. Dezember 1970, Frankfurt/M. 1991 (L'Ordre du Discours, Paris 1970), S. 31.

4 Johannes Fehr und \'\~'alter Grond (Hg.): Schreiben am Netz. Literatur im digitalen Zeitalter, Innsbruck 2003.

5 Didier Eribon: Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1991, S. 372f.

6 Vgl. MaxBlack: »Die Metapher<<, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher, Darm­

stadt 1996, S. 55-79.

7 Michel Foucault: Raymond Roussel, Frankfurt/M. 1989 (Paris 1963), S. 191 (Großschreibung

im Original, Ph.S.).

8 Foucault, Schriften, a.a.O., Bd. III, S. 741.

9 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frank­

furt/M. 1978 (Les mots et les choses, Paris 1966), S. 32lf.

10 >>Jean-Paul Sartre repond<<, in: L'Arc, No 30, 1966.

11 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, a.a.O., S. 48.

12 Foucault, Schriften, a.a.O., Bd. I, S. 670.

13 Foucault, Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 390.

14 Ebd., S. 307.

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218

15 Michel Foucault: >>Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders.: Schriften, a.a.O., Bd. II,

s. 166-190.

16 Foucault, Schriften, a.a.O., Bd. li, S. 199.

17 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1976

(Paris 1975), S. 42.

18 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France (1975-76),

Frankfurt/M. 1999, S. 276, 280; ders.: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977 C=Sexualität 11nd

Wahrheit, Bd. 1), S. 166, 168.

19 Michel Foucault: Geschichte der Gouvemementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkemng.

Vorlesung am College de France 1977-1978, hg. von Michel Sennelart, Frankfurt/M. 2004, S. 118-

120.

20 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1995 (Paris 1969), S. 23.

21 Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer: Wahrheit 11nd Methode, Tübingen 1975, S. 324f.

22 Michel Foucault: »Nietzsche, Freud, Marx«, in: ders.: Schriften, a.a.O., Bd. I, S. 735 (Hervor­

hebung durch mich, Ph. S.).

23 Ebd., S. 736.

24 Ebd.

25 Foucault, Schriften, a.a.O., Bd. II, S. 677.

26 Ebd.

27 Ebd., S. 679.

28 Ebd., S. 682.

29 Ebd., S. 684 (Hervorhebung durch mich, Ph.S.).

30 Michel Foucault: Der Mensch ist ein E1jahnmgstier. Gespräch mit D11ccio Trombadori, Frank­

fm"t/M. 1996, S. 28.

31 Ebd., S. 28f.

32 Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am College de France (1981/82), Frank­

furt/M. 2004 (Paris 2001); vgl. dazu Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg

2005, Kap. 7.

33 Foucault, Schriften, a.a.O., Bd. II, S. 686-706.

34 Vgl. Jacques Lacan: >>Funktion und Feld des Sprechensund der Sprache in der Psychoanalyse

(Bericht auf dem Kongress von Rom 1953)«, in: ders.: Schriften, hg. von N. Haas und H. J, Metz­

ger, Berlin 1991, Bd. 1, insb. S. 112-119.

35 Michel Foucault: Walmsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Walms im Zeitalter der Ver­

mmft, Frankfurt/M. 1973 (Paris 1961), S. 512.

36 Foucault, Hermeneutik des Subjekts, a.a.O., S. 541.

37 Foucault, Schriften, a.a.O., Bd. II, S. 177.

Krieg und Wahrheit

38 Friedrich Nietzsche: >>Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« [1873], in:

ders.: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli u. M. Montinari, München,

Berlin, NewYork 1980, Bd, 1, S. 873-890, hier S. 877.

39 Ebd.

40 Bruno Latour: >>On Actor-Network Theory. A few Clarifications<<, in: Soziale Welt, 1996, 47, S.369-381

41 Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien z11m nationalen Feindbegriff und Selbst­verständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992, S. 349-355.

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Herausgegeben von

David Gugerli, Michael Hagner, Michael Hampe, Barbara Orland, Philipp Sarasin und Jakob Tanner

Nach Feierabend Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 1

Bilder der Natur­

Sprachen der Technik

diaphanes

Publiziert mit freundlicher Unterstützung der OPO-Stiftung, Zürich und des Zentrums >>Geschichte des Wissens«, gemeinsam getragen von ETH und Universität Zürich.

Redaktion: Barbara Orland Zentrum »Geschichte des Wissens<< ETH Zentrum RAC 8092 Zürich

ISBN 3-935300-97-2 ©diaphanes, Zürich-Berlin 2005 www.diaphanes.net Alle Rechte vorbehalten

Satz und Layout: 2edit, Zürich www.2edit.ch Druck: Königsdruck, Berlin

Inhalt

Editorial 7

" Bilder der Natur- Sprachen der Technik

• Essay

Philipp Felsch Aufsteigesysteme 1800- 1900 15

Charlotte Bigg Das Panorama, oder La Nature A Coup d'CEil 33

Erich Hörl Zahl oder Leben: Zur historischen Epistemologie des Intuitionismus 57

Wolfgang Pircher Die Sprache des Ingenieurs 83

Valentin Groebner Historische Kostüme 111

• Lektüre

Michael Hagner Du störst! Menschen im Labor und Fallibilismus: über Benjamin Libets »Mind Time« 127

• Dialoge

lan Hacking Ein Stilbegriff für Historiker und Philosophen 139

Michael Hampe Die Archäologie vorgeschichtlicher Fliegengläser: lan Hackings historische Ontologie 169

Michel Foucault »Ich bin ein Sprengmeister« Ein Gespräch über die Macht, die Wissenschaften, die Genealogie und den Krieg 187

Philipp Sarasin Krieg und Wahrheit: Michel Foucault als Sprengmeister 205