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Norbert AnderschSymbolische Formund psychische ErkrankungArgumente für eine ‚Neue Psychopathologie‘Klinische und philosophische Überlegungen
Königshausen & NeumannBibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Inhalt0. Vorwort von John Cutting ...................................................................... 7
I. Das ignorierte ‚Animal Symbolicum‘ .....................................................9(1) Symbolische Formen: ein Schlüssel zur menschlichen Psyche? ........... 9(2) ICD11 und DSM V: Minotaurus im Labyrinth ................................... 14(3) Instinktverlust und Symbolbildung ...................................................... 20(4) Frühe Symboltheorien in der Psychiatrie ............................................. 28
II. Die symbolische Wende(1) Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ .................... 41(2) Psyche und Symbol nach Cassirer ........................................................53(3) Philosophie und Klinik .......................................................................... 69
III. Vorformen und Stufen der Symbolisierung(1) Vorsymbolische Existenz: Autoregulation und Selbstzentrierung.... 77(2) Mathematik und Symboltheorie ........................................................... 89(3) Muster und Metastabilitäten ................................................................. 96(4) Symbolbildung: ein Ordnungsversuch ............................................... 106
IV. Eine ‚Matrix mentaler Funktionsräume‘(1) Eine ,Matrix mentaler Funktionsräume‘ ............................................ 117(2) Zu den spezifischen Qualitäten einzelner Funktionsräume ............. 127(3) Die symbolische Matrix: Gelingen und Zusammenbruch ................. 141
V. ‚Symbolische Form‘ im klinischen Kontext(1) HC Leuners ,konditional-genetische Psychopathologie‘ ................. 151(2) Integrationsstörung statt Schizophrenie? .......................................... 160(3) Gruppenverrücktheit ........................................................................... 174
(4) Neurologie und Symboltheorie .......................................................... 182(5) Symbol und Gestalt: eine produktive Synthese ................................. 192
VI. Szenarien in neuem Licht(1) Neue Definitionen, neue Fragen ........................................................ 201(2) Elf Thesen für eine ,Neuen Psychopathologie‘.................................. 206
Literaturverzeichnis ................................................................................. 209
Dank und Widmung ................................................................................. 237
Vorwort von John Cutting
The 1910s and 1920s were bumper decades for psychiatry, psychologyand philosophy. The American poet Erza Pound referred to 1922 as,‘Yearof a new era’. Virginia Woolf, the English novelist, even considered that‘In or about December 1910, human character changed’.
The flowering of psychiatry is epitomized by the publication of
Bleuler’s treatise on schizophrenia in 1911, Jaspers’ General Psychopathologyin 1913, and a get-together in Zürich in 1922 of four psychiatrists –Minkowski, Binswanger, Straus and von Gebsattel – who would form themovement known as phenomenological psychiatry.
In psychology these decades saw the development of Freud’s andJung’s psychoanalysis, Watson’s behaviourism, and the Gestalt theories ofKoffka, Köhler and Wertheimer.
The outpouring of new philosophy at this time was prodigious –Husserl, Scheler, Heidegger and Cassirer – in particular in the German literature.What a bonanza? One hundred years later in the 2010s we are stillcatching up with this munificence.
What Norbert Andersch has done so magnificently in his book is togive a sense of this exitement for our era. He has shown the byways andforgotten paths that emanated from all this fecundity that are just as viableas the monolithic route that psychiatry has actually taken. He shows,moreover, that psychiatry is more beholden to philosophers and psychologiststhan to the neuroscientists who have taken over our field sincethe glorious 1910s and 1920s.
Dr Andersch’s route is via Cassirer as a philosopher and the few psychiatristsand psychologists who appreciated his greatness as a philosopherand his reference to psychopathology. But, more than that, the bookis about the cultivation of all those psychiatrists and psychologists whohave thought really seriously about psychosis and have put foreward their
views independently of any established rules.
Read the book carefully, and you will enter the realm of the privilegedfew who are allowed insight into one of the last remaining conundrumsof human existence.
1 John Cutting ist Philosoph und Psychiater. Er zählt zu den führenden Denkernund Autoren in theoretischer Psychopathologie. Cutting ist Editor der Philosophie-zeitschrift ‚Appraisal‘ und Übersetzer mehrerer Werke Max Schelers ins englische.Der ehemalige Consultant Psychiatrist am Maudsley und Bethlem Hospitalin London ist derzeit Honorary Senior Lecturer am Institute of Psychiatry und amKings College Hospital.
I (1) Symbolische Formen: der Schlüssel zur menschlichen
Psyche ?
Das vorliegende Buch will auf die Bedeutung aktiver und passiver
Symbolprozesse beim Aufbau menschlicher Bewusstheit und beim
Verständnis psychischer Störungen hinweisen. Es plädiert für die
verstärkte Erforschung einer symbolbasierten ‚Architektur der
Erfahrung’. Es greift die Geschichte symbolischer Ansätze in
Psychiatrie und Psychopathologie auf. Es reflektiert
philosophische und mathematische Aspekte von Symbolen, rekurriert
auf die biologische und soziale Basis von Symbolprozessen und
orientiert auf eine Vereinheitlichung in deren Begriffsgebrauch.
Ich bin als Arzt überzeugt davon, dass dies unser Verständnis für
Menschen in psychischen Krisen verbessern und Heilungsprozesse
fördern kann.
Vertreter der Gestalt- und Symboltheorie, wie auch Philosophen,
Exponenten der Psychoanalyse und der klassischen Psychiatrie
haben in den letzten einhundert Jahren immer wieder die Bedeutung
symbolischer Formen und Prozesse für ein genuines Verständnis
menschlicher ‚Verrückung’ herausgestellt und Versatzstücke von
Symboltheorien in therapeutische Konzepte eingebaut. Ernst
Cassirers mehrbändiges Werk zur ‚Philosophie der symbolischen
Formen’ (1923/29) kann dabei als Wendepunkt in der
wissenschaftlichen Symboldiskussion angesehen werden. In dieser
Arbeit hat Cassirer die Symbolnutzung als entscheidendes
Wesensmerkmal menschlicher Entwicklung erkannt, eine Systematik
symbolbasierter Bewusstheit entworfen und Symbole aus ihrer
einseitigen Verknüpfung mit pathologischen Prozessen befreit.
Seine Konzeption erweitert das weltweit genutzte Schema des
biologischen Funktionskreises (durch J.v. Uexkuell) hin zu der
Metamorphose symbolbasierter Sinnebenen beim Menschen. Ernst
Cassirers stützte sich dabei auf eine enge klinische Kooperation
mit dem Nervenarzt Kurt Goldstein und auf einen intensiven
theoretischen Austausch mit Psychiatern, Anthropologen1,
Gestaltpsychologen, Psychoanalytikern und philosophischen
Kollegen.
In der kurzen Spanne von den frühen 20er Jahren bis zu Hitlers
Machtergreifung gelang es dennoch nicht, Genese und Wandel
symbolischer Formung für Bewusstseinsentwicklung und
1 Eine Übersicht über diese weniger bekannten Kontakte bei Krois, 2005.
Psychopathologie hinreichend zu klären. Die bestehenden
Kooperationsansätze fast aller involvierten Wissenschaftler
wurden durch faschistische Verfolgung und Zwangsexil
zerschlagen. Der Symboldiskurs wurde für fast drei Jahrzehnte aus
der deutschsprachigen Psychiatrie und Psychologie eliminiert und
von den weiter in Amt und Würden sitzenden Parteigängern des
Faschismus bis weit in die Nachkriegsära hinein totgeschwiegen.
Dies führte zu einem dramatischen Niveauverlust in der
(seinerzeit noch deutschsprachig dominierten)
Psychopathologiedebatte und international zu einer gefährlichen
Dominanz simplifizierter, oberflächlicher Typisierungen
psychiatrischer Symptome, die in dem standardisierten
‚Klassifikationsschema’ ICD der Weltgesundheitsorganisation und
dem DSM der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung ihren
Ausdruck fanden. Diese Kataloge psychiatrischer Diagnostik
basieren auf der Idee, dass psychische Auffälligkeiten in der
menschlichen Interaktion als „Entitäten“ im erkrankten Individuum
zu finden und zu lokalisieren seien. Solche „Entitäten“ wie z. B.
die der ‚Dementia praecox’, - von Bleuler später der ‚Gruppe der
Schizophrenien’ zugeordnet - stellten, wie der Psychiater Emil
Kraepelin vor 120 Jahren postulierte, eine biologisch erklärbare
'natürliche Einheit' dar. Diese Auffassung hat sich längst als
falsch erwiesen. Dennoch bleiben die für das Jahr 2013 bzw. 2015
geplanten Neuauflagen psychiatrischer Diagnosekataloge (DSM V/
ICD11) eben diesem naiven 'Entitätsmodell' weiter verpflichtet.
Ihre oberflächlichen Verhaltensbeschreibungen erfassen dabei
nicht den Kern menschlichen Zusammenseins – und damit auch nicht
die Ursachen seiner Störungen: nämlich ihre mittelbare, auf
Symbolbildung und Symboltransformation fußende Architektur des
Bewusstseins.
Bewusstheit wird im symbolbasierten Kontext immer als dynamische
Beziehungssetzung verstanden - nicht als hirnorganisch
lokalisierte Substanz - die ein Spannungsverhältnis zwischen
quantitativen und qualitativen, kategorialen und sinnlichen,
biologischen und sozialen Elementen repräsentiert.
Auf diesen Annahmen basieren die folgenden Thesen des Autors:
1. Die Grundformen menschlicher Bewusstseinsbildung sind –
unabhängig von Herkunft und Kulturkreis - für alle Menschen
gleich. Ihre unendliche Vielfalt basiert auf einer begrenzten
Anzahl von Musterbildungen und Metastabilitäten. Das darauf
kreierte - nur dem Menschen eigene - System interaktiver
‚symbolischer Formung’ erweitert genetische und angelernte
mentale Bindungen über ständige Interferenz mit Außenwelt und
Milieu um Funktionsmechanismen, die es ermoeglichen, Abbildungs-
und Wiederholungsvorgänge von bedeutungsgebenden Rahmensetzungen
zu trennen. Dies erlaubt ihm sich in ein aktives,
zukunftsorientiertes Verhältnis zu seiner Welt und sich selbst zu
setzen; d.h. die sinnliche Wirklichkeit zu mustern, antizipieren
und konzeptualisieren.
2. Die in diesem Prozess entstehenden Spannungsbögen zwischen
Subjekt und Milieu werden durch Tradition, Ritual, Autorität,
Religion, Arbeit, Sprache, Wissenschaft und Kunst stabilisiert
und von uns als geistige Gesundheit und Stabilität erlebt. Dies
ist das symbolbasierte Konstrukt ‚natürlicher
Selbstverständlichkeit’2, das uns in der psychischen Krise
verloren geht. Ausgangspunkt psychopathologischer Überlegungen
kann deshalb nur ein Modell funktionierender Bewusstheit sein:
ein „Invariantensystem der Erfahrung“, das sich auf
symbolvermittelten Möglichkeits- und Resonanzräume aus Gestalt-
und Sinnstiftung gründet.
3. Psychische Störungen sind immer zwischenmenschliche
Beziehungsstörungen, d.h. fundamentale Einschränkungen unserer
Möglichkeiten des Beisammenseins. Sie sind daher immer (und ohne
Ausnahme) im Einbruch der mit dem Milieu kreierten
symbolbasierten Spannungsräume und im Verlust deren variabler
Membranqualitäten begründet. Dies gilt auch für die psychischen
Aspekte von Störungen, deren (Teil)-Ursachen organisch-
neurologischer Natur sind. In schweren Krisen - nach meist nur
fragmentarisch gelungenem Aufbau, oder beim komplettem
Zusammenbruch ‚symbolischer Formung’ - werden alte
Musterbildungen, mentale Selbstreferenzen und präformierte
Schablonen aktiv, die - verwirrend für Betroffene und
Therapeuten - selbst wieder (passiv und flüchtig) gestalthafter
und figuraler Natur sind, denen aber die stabilisierende
2 ‚natürliche Selbstverständlichkeit’: von W. Blankenburg (1971) geschaffener, heute weithin genutzter Begriff für das Konstrukt ‚psychischer Gesundheit’
Verknüpfung mit sinnlichen Formen fehlt, die zu echter
Symbolbildung unerlässlich ist.
Die Analysen des Autors basieren auf den langjähriger Erfahrungen
psychiatrischer Praxis und den sich daraus ergebenden
Beobachtungen und Rueckschluessen; einer Vorgehensweise die am
ehesten der von Ch. S. Peirce beschriebenen Methode der
‚Abduktion’3 nahe kommt; einem nicht formalen Schlussverfahren
(Wirth 2008) dessen Operation darin liegt, plausible Hypothesen
aufzustellen und Prämissen zu finden. Peirce hält dieses Vorgehen
für die „einzig logische Operation, die irgend eine neue Idee
einführt“ (Peirce 1931/5: 171). Die Argumentation des Autors
nimmt erhebliche Anleihen aus den Schriften des Philosophen
Ernst Cassirer. Eine einseitige philosophische oder
weltanschauliche Festlegung ist damit nicht beabsichtigt.
Vergleichbare Überlegungen finden sich auch bei A. N. Whitehead
und S. Langer, bei Ch. S. Pierce, J. Piaget, N. Goodman, F. de
Saussure, M. Merlaeu-Ponty, A. Gurwitsch und P. Bourdieu4. Auf
der ärztlich-psychologischen Seite führt eine historische Linie
3
? Sie ist der einzige "echt synthetische" Schlussmodus (Peirce CP 2.777) da sie nicht nur eine Erklärung für einen rätselhaften oder überraschenden Umstand findet, sondern auch neue Theorien erfindet. Das Konzept der Abduktionumfasst den kausalen Rückschluss, das Identifizieren und Wiedererkennen von Spuren, das Erschließen von Intentionen, aber auch das kreative Einführen eines neuen Vokabulars zur Neubeschreibung bereits bekannter Phänomene. (Wirth1995)4
? Bordieu himself says that it was Ernst Cassirer who served as the most important influence on the development of his committment to a relational thinking. (Mohr 2000: 26 / Bordieu 1992: 97)
im deutschsprachigen Bereich5 zurück zu Arthur Kronfeld, Adhemar
Gelb und Kurt Goldstein, Kurt Lewin, Siegfried Fuchs (SH Foulkes)
und Karl Bühler; zu wichtigen frühen Arbeiten Ludwig Binswangers
und dem - mehr spiritueller Berufung folgenden - Psychodramatiker
Jacob Moreno.
Hanscarl Leuner hat an diesen Diskurs anschließende symbol- und
gestalttheoretische Überlegungen vorgelegt; in jüngerer
Vergangenheit Luc Ciompi das Konzept einer Affektlogik, Fonagy
das der ‚Mentalisierung’. Auf sie alle wird in dieser Arbeit
Bezug genommen.
In Anwendung einer genetisch-dynamischen Betrachtungsweise nutzt
das Buch klinische Längsschnittbeobachtungen und postuliert eine
‚Matrix mentaler Funktionsräume’ als Architektur menschlicher
Bewusstheit. Dieses Modell aus natürlichen Musterbildungen,
Metastabilitäten und Symbolformen wird als Hilfe verstanden, um
den für ‚symbolische Formung’ typischen, in seiner Vielfalt
jedoch verwirrenden Wandel des Komplexitätstransfers zwischen
biologischen und sozialen Mustern zu erfassen und zu
systematisieren6. Bisher widersprüchlich erscheinende
5
? Ähnliche Denkansätze gab es in Frankreich mit v. Ey, Lacan, in den USA mit Arieti, Hacker, Royce, Rapaport, Werner, Kaplan, Grof u.a., in der UdSSR mit Vigotsky, Luria, Leontjew, Gurwitsch, Jakobson, Deglin, Bachtin, Portnov, in der Schweiz Piaget, Bash, Berthalanffy und Bion in England.6
? „Aufgabe einer wahrhaft universellen Erkenntnislehre wäre es, alle diese Interpretationen in ihrer Bedingtheit – d.h. je in ihrer Bezogenheit auf eine bestimmte Grundklasse von Basisphänomenen, als deren ‚Sinndeutung’, ‚Auslegung’ zu begreifen – und sie dann synthetisch derart miteinander zu vereinen, dass alle Aspekte der Wirklichkeitserkenntnis gleichmaessig zu ihremRecht kommen - …“ (E. Cassirer 1995: 165)
Theorieansätze können damit vereinheitlicht werden. Durch das
Anlegen der ‚Matrix’ an die bisher behaupteten
‚Krankheitsentitäten’ können diese in ihre basalen Invarianten
auf verschiedenen Ebenen unterliegender Sinnstiftung zerlegt
werden. Symptomenkomplexe wie ‚die Schizophrenie’ sind damit im
traditionellen Sinne nicht länger existent. Als einzelne
Fragmente einer Integrations- bzw. Musterstörung neu erkannt,
können sie - genauer als bisher - Sinnstiftungs-, Symbol- und
Gestaltungsebenen zugeordnet werden, und damit gezielter Therapie
zugänglich werden.
Das präsentierte Modell denkt nicht in ‚Pathologien’ sondern geht
von der menschlichen Fähigkeit aus, verschiedene mentale
Funktionsebenen zu betreten, - variable 'Weisen der
Welterzeugung', - mit deren Hilfe der Zugang persönlicher
Intentionalität zu gesellschaftlichen Resonanzräumen erschlossen
oder wiedergewonnen werden kann: ein komplexes persönliches
Universum, das über die Stabilität oder die Schwächen unserer
psychischen Verfassung entscheidet7. Auf deren Folie und
Hintergrund kann der inflationären Pathologisierung früher
(magischer, mythischer und religiöser) Symbolebenen Einhalt
geboten werden, können die Patienten und Klinikern aufgezwungenen
ICD/DSM Einzeldiagnosen mit ihrer stigmatisierend deskriptiven7 Das in diesem Buch vorgestellte ,Matrix-Modell’ verdankt seine Entstehung ausschließlich klinischer Beobachtung und basiert auf der Variabilität multipler interaktiver Spannungsräume zwischen Individuum und biologisch-sozialem Resonanzraum, weist aber in seiner Architektur erhebliche Übereinstimmungen mit Ergebnissen der Hemisphärenforschung (Deglin 1993, Cutting 1990, Crow 1988) und einer Entwicklungsebene typisch menschlicher mentaler Bikameralitaet (Jaynes 1976) auf.
Rolle selbst kritisch hinterfragt werden und so eine neue
Anwendung finden: als Momentaufnahmen in der Entwicklungsdynamik
eines Heilungsprozesses, der nicht mehr klischeehafte
Standardisierungen, sondern den Menschen als ‚animal symbolicum’
(Cassirer 1929) im Gefüge seiner ganz persönlichen
Existenzbedingungen wieder in den Mittelpunkt eines interaktiven
Heilungsprozesses stellt.
Für Patienten wie für Ärzte und Therapeuten besteht der Bedarf
nach einer „Neuen Psychopathologie“8, wie sie Kurt Goldstein 1943
erstmals im amerikanischen Exil einforderte. Einer Methode, die,
ausgehend von menschlicher Sinnstiftung und Alltagskompetenz den
ständig erneuerungsbedürftigen Balanceakt zwischen uns als
Einzel- und Gruppenwesen, zwischen Selbstzentrierung und
Sozialisation reflektiert und eine Neudefinition von psychischer
Gesundheit und Krankheit erlaubt; Bedarf besteht nach einer
„undogmatischen Psychopathologie“, die statt „klinische
Krankheitseinheiten zu postulieren, einen besseren Einblick in
Funktionszusammenhänge zum Ziel hat“ (Leuner 1962).
Die vorgestellte ‚Matrix mentaler Funktionsräume’ ist nicht auf
philosophische Wahrheiten, sondern auf ein praktisches Ende hin
konstruiert: einen heilsameren Umgang mit unseren Patienten. Die
Matrix soll ein Hilfsmittel für klinisches Denken sein und sie
enthält, wie die zu ihrer Struktur beitragenden mathematischen
8
? Den Begriff (‚the New Psychopathological Approach’) verwendet Kurt Goldsteinerstmals in seinem Aufsatz „ The Significance of Psychological Research in Schizophrenia“ (1943: 262), einer Ausarbeitung seiner Präsentation vor der A.P.A. (Chicago 1939).
und philosophischen Überlegungen, notwendigerweise spekulative
Elemente. Der Leser ist eingeladen Lücken zu füllen, wo der Autor
welche gelassen hat und Vorschläge zu verwerfen, die sich als
nicht tragfähig erweisen.
II (1) Ernst Cassirers ‚Philosophie symbolischer Formen’
Die ganze Vielfalt von Zuschreibungen im Bezug auf Rolle und
Potenz von Symbolen beim Denk- und Bewusstseinsprozessen hat
Kreitler (1965) in ihrer Arbeit ‚Symbolschöpfung und
Symbolerfassung’ 9zusammengetragen. Die Bandbreite ihrer
Beobachtungen reicht von der eindeutig pathognomischen
Symbolbedeutung bis zur gegenteiligen Auffassung, dass Symbole
unverzichtbarer Garant reifer, sozialer
Persönlichkeitsentwicklung seien. Die pathognomische Rolle wird
früh von Freud und Jones, ihre vereinigende, kreative hingegen9 Zu mehr detaillierten Einzelinterpretationen des Symbolbegriffes durch Künstler, Philosophen, Psychologen und Ärzte ist die Studie ‚Symbolschöpfung und Symbolerfassung’, (Kreitler 1965) immer noch hilfreich. Die aus Kreitlers Sicht verklärende Darstellung Freudscher Symbolterminologie bei gleichzeitigerstrenger Kritik an der (sicher klareren und umfassenderen) Nutzung des Symbolbegriffes bei Jung folgt der freudschen Orientierung der Autorin. Der von mir (Andersch 2013) genutzte Symbolbegriff umfasst aktive symbolische Formung als auch passive (i.e. spontane oder präformierte) Figur- oder Gestaltbildung. Er orientiert sich an einem erweiterten Cassirerschen Symbolbegriff, der ‚symbolische Form(ung) vorab für eine bedeutungsgebende undantizipatorische Bewusstseinsleistung hält, aber erkennt, dass auch „das Asymbolische (..) nicht einfach in disparate sinnliche Elemente (zerfalle), sondern (..)sich weiter als gestaltetes Gesamterlebnis (praesentiere)“ (Cassirer 1929: 33). Diese letzteren wurden von Freud – anders als bei Cassirer – als die eigentlichen Symbole bezeichnet.
von Jung, Neumann, Bachhofen u.a. belegt, ihre Rolle als
primitive Anpassungswerkzeuge bei Rank und Sachs. Mead und Pavlov
sehen Symbole im Licht von Anpassung und mentaler
Energieersparnis. Luria und Leuner und Lewin sehen in ihnen
Kräfte natürlicher Formbildung und der Erregungskontrolle.
Psychoanalytiker wie Stekel, Ferenczi, Szondi, Klein und Sechhaye
verordnen ihre Hauptbedeutung beim Zugang zu verdrängtem
Material; Psychiater wie Hanfmann, Arieti, Kasanian und Bash
sehen Symbole als Garanten normaler Intelligenzentwicklung; und
vor dem 2. Weltkrieg sind es lediglich Head und Cassirer, die
symbolische Formen als geradezu zentral für die Auffaltung
menschlicher Kulturleistung auf unterschiedlichen Ebenen
menschlicher Sinnstiftung und Bedeutungsgebung betrachten.
In all den genannten Untersuchungen (Zitatnachweise bei Kreitler
1965) kommt Symbolen eine membranartige Rolle zu: im Abtrennen,
Verdichten, Sichern, Kommunizieren, Balancieren, Katalysieren und
im Verbinden. Ganz offensichtlich auch: dass Symbole einerseits
spontan auftreten, ungewollt und ungefragt, ohne das Zutun der
Betroffenen (wenn und weil sie zu einer intentionalen Reaktion
nicht fähig sind); andererseits sind Symbole Ausdruck
intentionaler, willentlich schöpferischer Aktivität und der
Manipulation der erfassbaren Umgebung. Urspruenglich ist die nur
Menchen moegliche ‚Absicht’, mit Zeigen und Blicken gemeinsame
Zielorientierungen mit anderen Gruppenmitgliedern zu erreichen.
Symbole sind einerseits deutlich sichtbar als betastbare Objekte
oder sind dem eigenen Körper eingekerbt; andererseits scheinen
sie aus dem Verborgenen, Unsichtbaren, Virtuellen heraus zu
wirken. Zeitweise haben Symbole geradezu unbeschreibliche Macht
und Energie, zu anderen Zeiten kann auch ihre inständige
Beschwörung nichts bewirken. Das - aus klinischer Erfahrung –
erstaunliche ist, das fast alle Detailbeobachtungen der oben
genannten Ärzte und Forscher ueber Symbolwirkungen korrekt und
reproduzierbar sind; hingegen nicht die von ihnen daraus
gezogenen Verallgemeinerungen. Lediglich Head und Cassirer sahen
sehr früh eine Bandbreite variabler Symbolformationen, die als
Ansatz zur einer Integration der (vermeintlich widersprüchlichen)
Ergebnisse des Symboldiskurses angesehen werden koennen.
Der englische Neurologe Henry Head interpretierte in seiner
Studie „Aphasia and Kindred Disorders of Speech“ Finkelnburgs
Beschreibung von 1871 als einen Paradigmawechsel in klinischer
Beschreibung (Head 1926).10 Head hatte schon früher (1921)
festgestellt, dass Aphasiegestörte nach Hirnlaesionen Symptome
zeigen, die nicht – wie es der ungeschulte Beobachter zu erkennen
glaubt – mit Störungen der Grundfunktionen des Sprechens, Lesens,
Schreibens, u.s.w. zusammenhängen, sondern mit deren symbolischer
Vermittlung und kategorialer Repräsentation. Mentale
Bildvorstellungen z.B. gehen bei diesen Patienten nicht als
solche verloren, sondern werden in abstrakten, präpositionalen
Zusammenhängen schlechter reproduziert als in konkreten,
naturnahen. Ernst Cassirer erkannte fast gleichzeitig mit Head,
ohne aber von dessen Forschungen zu wissen, die Wichtigkeit von
10 Cassirer betont, dass Head besonders den (Zielvorstellungen bildenden) antizipierenden Charakter des symbolischen Denkprozesses herausarbeitet (1929:249). Ein für 1927 geplantes Treffen mit Head in England kam wegen dessen Erkrankung nicht zustande.
Finkelnburgs Arbeit für die Theorie und Struktur der
Psychopathologie: „Was wir hier vor uns haben“ – schreibt der
Philosoph 1929 – „ist nicht der Verlust eines Vermögens, sondern
die Wandlung und Umbildung eines höchst komplexen psychischen und
geistigen Prozesses.“
In seiner ‚Philosophie symbolischer Formen’, deren drei Bände
zwischen 1923 und 1929 erscheinen, postuliert Ernst Cassirer,
dass sich Individuum und Gruppe im Bewusstwerdungsprozess aus
anfänglich gemeinsamen Grund zu ihren, erst später komplementären
Positionen, - Subjekt und Objekt – herausarbeiten; dass sie sich
im Sinne des Wortes: auseinander setzen müssen. Aus der sich
wandelnden Komplexität ihrer subjektiv eingebrachten Denkmuster
bilden Menschen – zusammen mit den sinnlichen Gegenparts ihres
Milieus - zentrale Ganzheiten: ‚symbolische Formen’. Solche, an
Zeichen der aeussere Welt gekoppelte und symbolisch stabilisierte
- deshalb ‚bewusste’ - Ganzheiten fallen jedoch nicht, wie in
Traum oder Psychose, wieder ineinander, sondern finden,
werkzeuggleich, in jetzt jeweils anderen Situationen
vergleichbarer Konstellation erneut Anwendung. Als Sprache,
Mythos, Religion, Gesetz, Wissenschaft und Kunst werden
‚symbolische Formen’ universell als kulturelle
Sinnstiftungsebenen erkannt und genutzt. Es ist das in diesen
Formen sich wandelnde Verhältnis aus kategorialem Muster11 und11 „Kategorien fassen Objekte Aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten zusammen…. Ähnlichkeiten zwischen Objekten oder Ereignissen (ist) der wichtigste Faktor der Kategorisierung. Kategorien (lassen sich) nicht als Bündel von Merkmalen verstehen, sondern als strukturierte Gebilde, die….funktionale oder kausale Relationen zwischen den Merkmalen spezifizieren. Sie können Teil einer hierarchisch taxonomischen Anordnung sein, sich aber auch in ereignisbezogenenBeziehungen befinden oder nicht-hierarchisch nebengeordnet sein. (Waldmann
Sinnlichkeit, welches - symbolisch vermittelt – unsere
Erinnerungsfähigkeit begründet und unseren ‚Common sense’,
schafft; es ist der mögliche Wechsel zwischen diesen Ebenen, und
es ist die Moeglichkeit sie parallel und integriert zu nutzen,
die unsere - außerhalb psychischer Krisen unhinterfragte -
Alltagskompetenz begründet.
„Um das Problem klar zu erfassen – so Cassirer (1944, 57/8, 64) –
muessen wir sorgfaeltig unterscheiden zwischen Zeichen und
Symbolen. Dass es im tierischen Verhalten ziemlich komplexe
Zeichen- und Signalsysteme gibt, scheint eine gesicherte Tatsache
zu sein (…) aber (sie) sind vom Verstehen der Symbolsprache des
Menschen noch sehr weit entfernt. (…) Alle Phaenomene, die man
gewoehnlich als bedingte Reflexe bezeichnet, sind von der
Eigenart des symbolschen Denkens nicht nur weit entfernt, sie
sind ihm sogar entgegengesetzt. Symbole – im strengen Sinne des
Begriffs – lassen sich nicht auf blosse Signale reduzieren.
Signale und Symbole gehoeren zwei unterschiedlichen Diskursen an;
ein Signal ist Teil der physikalischen Seinswelt; ein Symbol ist
Teil der menschlichen Bedeutungswelt. Signale sind ‚Operatoren’,
Symbole sind ‚Designatoren’.(…) Wie der Fall von Helen Keller
(die blind und taubstumm geboren wurde N.A.) beweist, kann der
Mensch seine symbolische Welt aus den beschraenktesten und
spaerlichsten Materialien errichten. Entscheidend sind dabei
nicht die einzelnen Steine und Ziegel, sondern ihre allgemeine
Funktion als architektonische Form“
: 3b85)
Die Lösung der sphinxartigen Symbolwandlung besteht darin, dass
ihr Wesen in einer Zwittergestalt begründet ist, die sie den
beiderseits stets wechselnden Korrespondenten vertraut macht und
dass sie über einen Bewegungsmechanismus verfügt, der die konträr
erscheinenden Impulse von Sinn und Sinnlichkeit in eine
gemeinsame Figur einbindet. Diese gewaehrleistet einen
fortwährenden Wandel bei der Auffaltung möglicher Qualitäten,
der dennoch – wenn in eine komplexe Matrix eingebunden (siehe
Kap. 13) – als Gesamtheit fassbar und in seiner inneren
Architektur verstehbar bleibt. „Der echte und wahrhafte Begriff
des ‚Symbolischen’ – so Cassirer – (fügt sich) nicht den
herkömmlichen metaphysischen Einteilungen und Dualismen, sondern
sprengt ihren Rahmen. Das Symbolische gehört niemals dem
‚Diesseits’ oder ‚Jenseits’, dem Gebiet der ‚Immanenz’ oder
‚Transzendenz’ an: sondern sein Wert besteht eben darin, dass es
diese Gegensätze, die einer metaphysischen Zweiweltentheorie
entstammen, überwindet. Es ist nicht das Eine oder das Andere,
sondern es stellt da ‚Eine im Anderen’ und das ‚Andere im Einen’
dar.“ (1929: 447)
Cassirer begreift biologische und soziale Musterungen als
interaktive Korrespondenten auf einem Kontinuum – fähig zu einer
schöpferischen ‚Gestaltbildung’ in ihrem Zentrum. Psychische und
sinnliche Aktivität verlaufen daher nicht stetig stufenlos, noch
chaotisch, sondern entfalten sich entlang ‚symbolischer Formen’
von Alltagshierarchien und Wirklichkeitserzeugung, als Magie,
Mythos, Sprache, Religion, Recht, Politik, Wissenschaft und
Kultur in ‚Symbolräumen’ universeller Geltung.12 Aber nur deren
Gesamtheit, das Integral ihrer parallelen Wirklichkeiten, das so
wachsende "Invariantensystem der Erfahrung" erzeuge in jedem von
uns den lebenden Spannungsraum mit dem umgebenden Milieu, den wir
'Bewusstheit‘ nennen.
Cassirer postuliert, dass in einem Invariantensystem menschlicher
Erfahrung sich die unendliche Vielfalt von Verhaltensweisen auf
einen durchaus beschränkten Vorrat interagierender,
komplementärer Bewegungsformen zurueckfuehren lässt. Das aktive
Verhältnis von Mensch und Milieu durchläuft dabei eine
Stufenfolge der Realität, in deren Verlauf die gesamte Art der
Begriffsbildung eine charakteristische Verschiebung erfährt. Es
ist somit die logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und
ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten,
das den eigentlichen Kern des Wirklichkeitsbegriffes und unseres
Wachbewusstseins bildet. Cassirer verlegt hierbei den Fokus
psychopathologischer Betrachtung heraus aus dem Hirnorgan hin zu
dem gelebten Spannungsfeld zwischen Individuum und Gruppe; hin
zur ‘Zivilisation’ als einer Metamorphose von symbolischen
Formungen zwischen ihnen. Bewusstsein ist somit keine Sache,
sondern ein Verhältnis. Bewusstsein kann konsequenterweise nicht
in einem Organ gefunden oder mit ihm identifiziert werden.
Gleiches gilt für die aus diesem Verhältnis resultierenden
12 „Die symbolischen Zeichen, die uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst entgegentreten, ‚sind’ nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, noch einebestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung (…) Hier erschafft sich das Bewusstsein selbst bestimmte konkrete sinnliche Inhalte als Ausdruck für bestimmte Bedeutungskomplexe.“ (Cassirer 1923: 42/43)
Störungen. Sie können nur in diesem Verhältnis – oder eben in
seinem Zusammenbruch – gefunden werden.
Ernst Cassirer hat Psychologen und Nervenärzte ermutigt, ihren
unmittelbar klinisch-organischen Blick um ein funktionelles
Modell von Bewusstheit zu erweitern. Er fordert ein radikales
Weiterschreiten, weg von der traditionellen Körper-Geist-
Dichotomie mit ihrer organischen Verhaftung des klinischen
Blickes, hin zu einer Substanz-Funktions-Beziehungsbetrachtung:
„Es bedeutet, dass sich das Tun, Wirken, Erleben, Erfinden des
Menschen nicht einen organischen Niederschlag verschafft – dieser
Weg ist durch die Unveraenderlichkeit, Unbeeinflussbarkeit des
Keimplasmas versperrt – dass es sich vielmehr nach aussen, nach
vorwaertz wendet, dass es nicht ihn selbst als den organischen
Leib ergreift und umgestaltet, sondern dass es sich seinen
Ausdruck im Unbelebten, Anorganischen schafft – dass es sich
physisch im Werk statt im Leib objektiviert.“ (Cassirer 2002:204)
In seiner Studie ‚Zur Pathologie des Symbolbewusstseins’
(Cassirer, 1929) resuemiert er: "So müssen wir denn auch hier die
Lehren der Pathologie, denen wir uns nicht entziehen durften“,
schreibt Cassirer (1929: 322), „ in ein allgemeineres
kulturphilosophisches Problem umzuwenden suchen“. Die
Beurteilung einer Pathologie gruendet damit nicht im bloßen
Vollzug einer Handlung, sondern in der Totalität aus konkreter
Aktivität und der ihr "nach der Gesamtheit der Umstände und nach
den Bedingungen, unter denen er (der Vollzug) steht, zukommenden
kulturellen Bedeutung, „denn wonach sie sucht, das sind nicht
sowohl Gemeinsamkeiten im Sein, als es Gemeinsamkeiten in Sinn
sind" (ebd.)13
Cassirers Symbolkonzept konstruierter Bewusstheit aus
‚Invarianten der Erfahrung’ ist nicht deterministisch. Es will
dem vermeintlichen Chaos regelloser Zufälligkeit menschlichen
Verhaltens eine Grammatik von Moeglichkeitsraeumen unterlegen.
Erst auf der sicheren Bühne eines solch komplexen – unserer
Sinnstiftung unterliegenden - Konstruktes eröffnen sich
Moeglichkeitsraeume und Perspektiven, sind Spontaneität und
Kreativität ‚machbar’, deren Struktur als gegeben, als natuerlich
und selbstverstaendlich erscheint. Ein Erklaerungbedarf fuer
deren komplexe Architektur tritt erst in der psychischen Krise
zutage: nämlich als Zusammenbruch einer aus Musterinterferenzen
erstellten ‚Matrix mentaler Funktionsräume’. (Andersch, 2008)
Pathologien können jetzt als sozial unangemessener Wandel
kultureller Rahmensetzungen gesehen werden und Diagnostik und
Therapie müssten den sich ständig ändernden Feldern von
Sinnstiftungen Rechnung tragen.
Im Vorfeld späterer klinischer Studien hatte der Philosoph die
Arbeiten seines persönlichen Freundes, des Biologen Johannes von
Uexkuell (v. Uexkuell 1909) studiert. Dessen „raffiniertes und
originelles Schema der biologischen Welt“ (Cassirer 1996: 46)
13 Cassirers heute noch wegweisende Arbeit, die durch klinische Kooperation mitNervenärzten und Psychologen außerordentlich fundiert war, erscheint übersetztin einer französischen (Cassirer 1929a) Fachzeitschrift, aber niemals in psychologischen oder psychiatrischen Publikationen im deutschen Sprachraum. (Andersch 2010)
beschreibt mit seinem Merk- und Wirknetz die völlige Einpassung
der Lebewesen in ihre Umgebung. Cassirer ist fasziniert von
diesem ‚biologischen Funktionskreis’ – auch weil v. Uexkuell
psychologische Deutungen zu vermeiden versucht und von einer
gänzlich objektiven, verhaltensorienterten Methode ausgeht. „Aber
in der Menschenwelt – so fährt Cassirer fort (S49) – stoßen wir
auf ein neues Merkmal, welches das eigentliche Merkmal
menschlichen Lebens zu sein scheint. Der „Funktionskreis“ ist
beim Menschen nicht nur quantitativ erweitert; er hat sich auch
qualitativ gewandelt. Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die
uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein
drittes Verbindungsglied, das wir als „Symbolnetz“ oder
Symbolsystem bezeichnen können. Diese eigentümliche Leistung
verwandelt sein gesamtes Dasein. Verglichen mit den anderen Wesen
lebt der Mensch nicht nur in einer reicheren, umfassenderen
Wirklichkeit; er lebt sozusagen in einer neuen Dimension von
Wirklichkeit. Es besteht ein unverkennbarer Unterschied zwischen
den organischen „reactions“ (Reaktionen) und menschlichen
„responses“ (Antwort-Reaktionen). Im ersten Fall wird direkt,
unmittelbar eine Antwort auf einen äußeren Reiz gegeben; im
zweiten Fall wird die Antwort aufgeschoben. Sie wird unterbrochen
und durch einen langsamen, komplexen Denkprozess verzögert.“
Auf dem Höhepunkt klinischer Kooperation mit seinem Cousin, dem
Neuroanatom und Psychiater Kurt Goldstein schreibt Cassirer im
Januar 1925: „Verstehe ich Deinen Fall (eines Goldstein und
Cassirer gemeinsam bekannten Patienten, Anm. N.A.) recht und die
Deutung, die Du ihm gibst, so handelt es sich in ihm gerade um
eine Erkrankung des ‚Symbolbewusstseins’, während das ‚sinnliche
Bewusstsein’ relativ intakt ist. Das Verhältnis dieser beiden
Momente zu einander festzustellen – zu zeigen, wie
Symbolbewusstsein und sinnliches Bewusstsein im Aufbau des
normalen geistigen Lebens ständig ineinander greifen und sich
wechselseitig bedingen – das scheint mir nun gerade eine der
Hauptaufgaben einer künftigen Psychologie und Phänomenologie zu
sein…..Es zeigt sich darin eben, dass, was die Psychologie eine
einfache Empfindung und Wahrnehmung zu nennen pflegt, durchaus
nichts einfaches ist – dass vielmehr in jeder Wahrnehmung ein
sinnliches und sinnhaftes Verhalten sich durchdringen. Und dabei
haben wir uns das Letztere nicht so zu denken, dass es
gewissermaßen als generelle ‚Form’ über dem Ganzen schwebt und
auf jeden beliebigen sinnlichen ‚Stoff’ einfach anwendbar ist, -
sondern jedem bestimmten sinnlichen Stoff wäre eine eigene Weise
der Formung, des ‚kategorialen Verhaltens’ ihm gegenüber,
zugeordnet. Erst indem die spezifische Form sich auf den
spezifischen Stoff richtet, käme die ‚normale’ Wahrnehmung
zustande – während in pathologischen Fällen das Sinnliche als
solches unversehrt sein kann, aber nicht mehr mit der ihm eigenen
‚Sinnhaftigkeit’ zusammengeht.“ (S71) Was Cassirer hier in
philosophischer Argumentation erschließt wäre – klinisch
ausgedrückt - eine psychotische Konstellation: eine (vorwiegend)
linkshirnige Schwäche der Zergliederung, der Kategorisierung und
damit der mustermaessigen Erkennung und eine damit quasi
‚ungefilterte’ Abspeicherung sinnlicher Eindrucke
Schon 1906 hatte Cassirer festgehalten, wie wichtig es ihm ist,
Erkenntnis über bisherige Grenzen voranzutreiben und gleichzeitig
die Fundamente des Wissens tiefer zu legen: „Ein Fortschritt der
Zergliederung und Selbstbeobachtung kann uns lehren, dass ein
Prinzip, welches wir bisher für ein letztes, nicht weiter
auflösbares gehalten haben, sich in Wahrheit noch aus
verschiedenen Bestandteilen von ungleichem logischen Wert
zusammensetzt; dass daher, was uns bisher als unumstoesslich
gewiss erschien, nur einen bestimmten Grad der Wahrscheinlichkeit
besitzt und durch künftige Erfahrungen jederzeit berichtigt
werden kann.“ (Cassirer, 1906:23) Fortschritte der kategorialen
Zergliederung – dies erkennt Cassirer hier – sind unverzichtbare
Notwendigkeit für den Wandel seine philosophischen Blickwinkel.
Und gleichzeitig ist diese philosophische Selbsterfahrung ein
gesetzmaessiger Eckstein jeder menschlichen
Bewusstseinsentwicklung Die geometrisch-mathematische Debatte des
späten 19. Jahrhunderts liefert ihm dazu das philosophische
Modell: der Glaube an die einzig gültige, jedermann sinnlich
nachvollziehbare Euklidische Geometrie hatte sich als falsch
erwiesen; erst die 'Riemannschen Geometrien' (Riemann, 1854),
eine Vielfalt rein virtueller, sich ergänzender Raumwelten
ermöglichte den fundamentalen Wandel von Substanz- zu
Funktionsbegriffen und schuf die für die Relativitätstheorie und
die Maxwell'schen Gleichungen notwendigen Berechnungsgrundlagen.
Einen analogen Paradigmenwechsel fordert Cassirer jetzt in der
Nervenheilkunde, um menschliche Bewusstseinsentwicklung neu zu
fassen.
Cassirers Kritik an der zeitgenössischen entitaeten- und
substanzorientierten Psychopathologie kann am besten in Analogie
zu Goethes Kritik am Naturforscher Linne verstanden werden, die
Cassirer einer philosophischen Betrachtung unterworfen hat:
Goethe bewunderte die Akribie von Linnes faszinierenden
botanischen Beobachtungen, kritisierte aber, dass die
vermeintliche Genauigkeit der gewonnenen Ergebnisse in
kategoriale Instrumente umgewandelt und diese inflationär
extrapoliert wurden. Zweifellos hatten Linnes rastloser
Forscherdrang und seine exakte Erfassung der Pflanzenwelt zu
einem massiven Aufschwung der Botanik und einem Zugewinn an
Wissen geführt, wie auch zu einer deutlichen Vereinfachung und
Katalogisierung botanischer Erkennungsmerkmale. Goethe war
dennoch überzeugt, dass dem aus Linnes Sammeleifer erwachsenden
Eindruck über die Existenz unwandelbarer Bewertungsmerkmale in
der botanischen Klassifikation deutlich widersprochen werden
müsse. Er bezeichnete die Methode fortgesetzter Katalogisierung
und vermeintlicher kausaler Verknüpfung ihrer botanischen
Detailbeschreibungen, besonders aber die sich daraus ergebende
statische Betrachtungsweise als eine „Missrepräsentation der
Natur“. Goethe selbst stand – wie auch Linne – nur das Feld
unmittelbarer (Ärzte würden sagen: klinischer) Beobachtung offen.
Seine spätere Wortkreation 'Morphologie' erwuchs jedoch einer
Erkenntnis, die die endlosen Variationen und Charakterwechsel von
Organismen im Blick hat. Ihn faszinierte nicht nur die
Metamorphose der einzelnen Pflanze in den verschiedenen
Entwicklungsstadien, sondern auch, dass gleiche Pflanzen sich in
unterschiedlichen Milieus ganz verschieden entwickeln. Cassirer
kommt bei seiner Metaanalyse zu dem Schluss, dass Goethe nicht
mehr nur in Substanz- sondern vermehrt in Funktionsbegriffen
denkt. Dass weniger 'Raumgestalten' denn 'Zeitgestalten' dessen
Ansätze leiten. Dass Goethes Entwicklungskonzept deshalb nicht
als historisch sondern eher als dynamisch beschrieben werden
sollte. Um einen erweiterten Möglichkeitsraum zu gewinnen, müsse
das Verständnis rein göttlicher Zweckbestimmung von seinem
finalen teleologischen Ansatz gelöst und zu einem komplexeren
Modell sich wandelbarer Gestaltungen und endogener Sinnstiftungen
fortschreiten. Erst ein fortwährendes Transformieren, die
Fähigkeit zum erforderlichen Wechsel der jeweiligen Bezugsrahmen,
schaffe den Raum, neues Erleben, ein je neues Equilibrium aus
Wesen und Milieu in ihrem Prozesscharakter zu verstehen, um so
anfangs unvereinbare Ebenen von Wirklichkeit als notwendige Teile
einer Ganzheit zu erkennen und zu integrieren. Ein solches
Konzept lebender Struktur orientiert sich – Cassirer zufolge -
an naturgegebenen, statt an vordergründig ins Auge fallenden,
letztlich aber willkürlichen, Einteilungskriterien und befreit
sich vom Zwang verfrühter und falscher Schlussbildung, von
konstruierten Zusammenhängen und spekulativen Erklärungen.
Cassirer möchte eine derartige Sichtweise auch auf den Menschen –
das ‚Animal symbolicum’ - in der psychischen Krise angewendet
sehen: In seiner Entwicklung durch magische, mythische,
religiöse, Körperbezogene, politische, wissenschaftlich und
künstlerische Formen hindurch hat er frei verfügbare
Intentionalität und Resonanzraum gewonnen. Dieses kulturelle
Potential geht beim Einbruch seiner Symbolräume, in umgekehrter
Reihenfolge und wie im Zeitraffer - komprimiert auf wenige Wochen
oder Tage - wieder verloren: als Verlust der Sinngebung, als
Aufbrechen des Weltbildes, als Auflösung des Resonanzraumes, als
Entschwinden von Perspektive und Möglichkeit, als Zerfall des
Erlebnisfeldes, als der Verlust von Abstraktion, Integration,
Kommunikation und schützender Abgrenzung; als Einbusse von
Raum/Zeitempfindung, von Körperschemata und Willenskontrolle. Wo
das Gelingen symbolischer Formung Handlungskompetenz und spontane
Gestaltung erlaubt, hat ihr Zusammenbruch ein psychisches
Einwickeln zur Folge, eine wie erzwungen wirkende
Wiederankopplung an frühere Lebenszusammenhänge und eine
Ineinanderfallen sich plötzlich auflösender Objektwelten, die man
vorher sicher getrennt glaubte. Cassirer erscheint es plausibler,
ausgehend von einem Bauplan gelungener Kulturleistung, -
'natürlichem Selbstverständnisses', wie dies der Psychiater
Blankenburg (1971) später nennt - erst in einem zweiten Schritt
auf die universale Spezifik psychopathologischer Phänomene zu
schließen, ihre Entstehungsweise zu erklären und Lösungsmodelle
zu finden.
Fortschreiten vom klinisch-organischen Blick heißt für Cassirer
in der Psychopathologie: nicht an den Grenzen sinnlicher
Phänomenologie und beispielhafter Erläuterung stehen zu bleiben.
Solche Selbstbegrenzung und sinnliche Verhaftung haben
Mathematik, Sprache und arbeitsteilige Techniken längst
überwunden. Auch sie suchten in ihren Anfängen die Nähe zur
Natur, "gaben sich dem sinnlichen Eindruck der Dinge hin und
versuchten, ihn auszuschöpfen" , aber "die in (ihnen)
schlummernde Leistung komm(e) erst zum wahrhaften Durchbruch", so
Cassirer (1995), ihr eigentümlich geistiger Gehalt trete erst
dort zutage, wo die Sprache sich vom onomatopoetischen Ausdruck,
von der bloßen Lautmethapher freimache; wo die Geometrie sich von
der täuschenden Offensichtlichkeit der sinnlichen
Alltagserfahrung löse, und wo, - wie im Bereich der
Arbeitsteilung, in dem alle frühen Werkzeuge artifizielle
Verlängerungen und Verfeinerungen der menschlichen Hand waren -
die Emanzipation von (dieser) organischen Schranke erfolge und
die Errichtung der 'technischen Ordnung' nicht in Anlehnung an
die Natur, sondern nicht selten in scheinbar bewusstem Gegensatz
zu ihr gefunden werde (Cassirer, 1995:73). Cassirer ist bei
alldem kein Gegner von Klassifikationen: „Unsere sprachlichen und
die ersten wissenschaftlichen Namen lassen sich als Ergebnis des
gleichen Klassifikationstriebes auffassen. Was in der Sprache
unbewusst geschieht, wird in der Wissenschaft bewusst und
methodisch vollzogen.“ (Cassirer, 1996: 319) Er bemüht hier sogar
Linnees Rechtfertigung gegen dessen Kritiker: „Wenn man die Namen
nicht kennt, misslingt auch die Erkenntnis der Dinge“. (ebd.)
Gleichwohl müsse die Wissenschaft „ diese auf aeusseren
Ähnlichkeiten beruhenden Auffassungen korrigieren und überwinden“
(ebd.:318).Eine solche Entwicklung habe das psychopathologische
Denken noch vor sich14. 14 Rapaport: jede Symbolisation ist in gewisser Hinsicht Konzeptualisation (Kreitler 1965: 37)
Auch wenn Cassirer sich nicht ähnlich ausführlich und explizit
wie etwa Merleau-Ponty zu Fragen von Leib und Leiblichkeit
geaeussert hat, wäre es falsch anzunehmen, dass solche Kategorien
nicht integraler Bestand von Cassirers philosophischer Welt
seien. Die symbolische Relation von Sinn und Sinnlichkeit setzt
Cassirer als Urphänomen, denn er geht, so J M Krois (1995: 63),
„nicht von der Theorie des ‚Bewusstseins’, sondern vom belebten
Leib aus. Symbolische Formen markieren dabei Reflektionsstufen,
d.h. Positionen auf einer imaginären Skala, welche die Distanz
misst, die kulturschaffende Wesen auf dem Weg von einem Zustand
unmittelbarer leiblicher und emotionaler Betroffenheit zu
demjenigen freier, selbstbewusster Tätigkeit zurücklegen können“
(Lauschke 2012 : 228).
Lauschke stimmt in der von ihr unternommenen ‚Verortung des
Leibbegriffes bei Cassirer’ (ebd S227) der Kritik Helmuth
Plessners zu, dass Cassirer mit seiner Philosophie dort aufhöre,
wo die körperliche Dimension beginne. Sie trifft jedoch eine
strenge Differenzierung, indem sie herausarbeitet, dass „der
Körper als Naturding unter Naturdingen….für Cassirer in der Tat
nicht von Interesse (ist); anders jedoch der menschliche Leib,
der als Grenzphänomen den Ursprung des Symbolisierens darstellt“.
Cassirer – so Lauschke (ebd: 229f)– entwickele seine semiotische
Kulturtheorie als eine Verkörperungstheorie des polyglotten
Geistes: verschiedene Gesetzlichkeiten des Bewusstseins
manifestieren sich als unterschiedliche Idiome des Denkens. Sinn
entsteht Cassirer zufolge nur durch Verkörperung im Sinnlichen.
Cassirers Definition symbolischer Form, dass „unter einer
‚symbolischen Form’ jene Energie des Geistes verstanden werden
(soll), durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein
konkret sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich
zugeeignet wird“ (Cassirer 1923: 79) leiste eben diese
Vermittlung von Sinn und Sinnlichkeit.
Kritisch bleibt anzumerken, dass E. Cassirer nie ein wirkliches
Bewusstheitsschema ausgearbeitet hat. Er hat viele Grundfragen
einer Klärung näher gebracht – hatte aber nicht die historische
Distanz, ein Gesamtbild zu sehen, wollte es vielleicht auch
nicht.
Cassirer vertritt eine Konzeption eines neutralen Monismus
(Andersch 2007), dessen sich auseinander entwickelnde Gegenpole
letztlich immer nur die aeusseren Enden eines Kontinuums sind.
Symbolische Formung ist aber nicht das Aufspüren einer alten,
verlorenen gegangenen Verbindung, sondern sie ist der Sprung über
den Graben: in die neue Figur, in die gemeinsame Gestalt mit dem
Komplementären und der Versuch, mit ihm zu tanzen.15 Cassirer
glaubte so an die aktive (Neu)Gestaltbarkeit der Welt - und dass
alle machbaren Ebenen solcher Wirklichkeiten immer nur Teile der
Wahrheit sein können.
„Cassirers Symbolisierungen – schreibt Mersch (2003) – sind
Weisen der Entdeckung; sie erschließen, wie Cassirer mit Bezug
15 H.Werner : die mentale Funktion, die uns befähigt, Objekte durch Vermittlungdarzustellen…… die Funktion der Repräsentation, welche sich in der Fähigkeit zeigt, Erkanntes durch symbolische Formulierungen (Gesten/Geräusche/Schrift/Zeichnung) weiterzugeben (1957: 250)
auf Leibnitz sagt, ’neue Wege ins Unbekannte’. Jede Synthesis
entwirft, entdeckt, eröffnet eine ‚neue Sicht’, gewährt eine
andere Richtung des Sehens. Durch sie wird allererst Welt beherrschbar – doch
nicht so, dass Welt damit aus einem Prinzip ‚erklärbar’ ist, sondern im beständigen
Wechselspiel von Erklären (Begriff) und Verstehen, von Bild (Metapher) und Intuition
zugänglich und aufschliessbar wird.“
Cassirer fand die Aeusserung eines englischen Mathematikers
attraktiv (und für seine symbolischen Formen zutreffend), dass
das wahre Ganze nur in der Gesamtheit aller Sinnebenen („a
perspektive of no one specifically’) liegen kann. Man kann vieles
aus seinen Texten lesen, was er so nicht in Worte gefasst hat:
dass es komplementärer Komplexität bedarf, um haltbare und
belastbare Spannungsbögen zu kreieren; auch dass sich
Komplexitäten von Einzel- und Gruppenverhalten in Zahlen
ausdrücken lassen und dass unterliegende Musterkomponenten jeder
echten sinnlichen Situation inert zugehörig – und extrahierbar –
sind.
Cassirer hat die symbolischen Formen, die sinnhaftigkeit
kreierenden Gestaltbildungen menschlicher Kultur schon
(weitgehend) für deren Wesen gehalten, was sie in Alltag, Routine
und Traditionspflege auch sind. Er hat weniger gesehen, dass
diese Buehne erst das Spielfeld und der Tanzboden ist, der
vielen schöpferischen (und unsinnigen) Dingen den Raum gibt,
sich zu entfalten; nicht immer nur gelingenden Gestalten, sondern
auch einfach Zusammengezimmertem, Erzwungenem, Phantastischem und
Schrecklichem. Auch: das das Sinnhafte sich erst in ständiger
unlösbarer Spannung mit dem Unsinnigen und ‚Verrückten’
konstituiert. Hier war der Philosoph Moritz Schlick in seiner
‚Gestaltkritik’ realistischer. (Gower, 2000)
Cassirer ist auch bei dem Versuch, die besondere Bedeutung
symbolischer Formung hervorzuheben, der Versuchung verfallen
‚autoregulatives’ und vorsprachliches Verhalten zu
pathologisieren.16 Er hat wohl über eine (endliche) Folge
symbolischer Formen sinniert, aber nicht recht den entscheidenden
Punkt gefunden, von dem an die ‚Zerlegung’ des Menschen wieder
integriert werden muss; ab welcher Ebene subjektiver Komplexitaet
Abstraktionsvorgänge in Integrationsmechanismen umschlagen.
Dennoch hat Cassirer Integrationsbewegungen im Fortgang
menschlicher Paradigmen vorhergesehen. Sein Gedanke, dass
einstmals erlebte Seinsebenen im Fortschreiten dann ‚von der
Gegenseite aus betreten werden können’ legt diesen Gedanken nahe.
Cassirer hat magische und mythische Welten nie förmlich
geschieden, obwohl sich die massive Andersartigkeit magischen
Erlebens aus seinen wenigen guten Beschreibungen solcher
Verfasstheiten selbst ablesen lässt. Cassirer hatte den Mut, die
mentalen Prozesse mathematischer Theoriebildung auf unser
psychisches Geschehen, unsere Entwicklung zu übertragen. Ohne die
Auflösung ursprünglich primitiver Substanzbegriffe in
Relationsbegriffe, ohne den Funktionsbegriff als Erfassung einer
gesetzlichen fortwährenden Veränderung des gesamten Systems über
16 „…vollständig individuelle singuläre Wahrnehmung….sie ist im Grunde selbst nichts anderes als ein pathologisches Phänomen, das dann eintritt, wenn die Wahrnehmung ihren Halt an der Sprache zu verlieren beginnt und wenn ihr damit der wichtigste Zugang zum Reich des Geistigen verschlossen wird.“ ECW 13: 268)
Zeitabläufe hinweg, lassen sich mentale Prozesse (und ihre
Störungen) überhaupt nicht begreifen. Hier besteht bei Cassirer
eine starke Neigung, zeitweilig den Begriff der Substanz durch
den der Funktion/Relation komplett zu ersetzen. Die klinische
Erfahrung zeigt, dass das nicht möglich ist. Jede noch so exakte
Musterung und Codierung erlebter Realität lässt sich
oberflächlich vom sinnlichen Bezug, dem konkret Erlebten trennen
und doch schwingt immer eine untergründige Färbung mit, die aus
der Einzigartigkeit eben dieser Verbindung von Sinn und
Sinnlichkeit resultiert.17
Cassirer bietet mit der Kategorie der symbolischen Form etwas an,
- so Kittsteiner 2006: 99/100 - „mit dem sich die Begriffe
‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’ verbinden lassen.
Unterschaetzt bleibt aber das Moment des ‚Geworfenseins’ in den
Strom der Zeit, das sich auch anders ausdruecken laesst, als mit
Heideggerschem Vokabular.“
17 Giest 2012: Insgesamt gilt allerdings auch hier, daß Cassirer im Sinne seiner Grundauffassung dazu neigt, im Symbolbegriff um seiner hermeneutischen Integrität willen alle anderen möglichen Unterschiede aufzuheben, ohne je zwischen hermeneutischer und semiotisch-logischer Bedeutung zu unterscheiden….Cassirer erklärt dazu, daß die verschiedenen Kulturformen nicht « als bloße Nachbilder zu verstehen [seien], … [sondern] wir [müssen] in jeder von ihnen eine spontane Regel der Erzeugung erkennen; eine ursprüngliche Weise und Richtung des Gestaltens, die mehr ist als der bloße Abdruck von etwas, das unsvon vornherein in fester Seinsgestaltung gegeben ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wird der Mythos, wird die Kunst, werden die Sprache und die Erkenntnis zu Symbolen : nicht in dem Sinne, daß sie ein vorhandenes Wirkliches in der Form des Bildes, der hindeutenden und ausdeutenden Allegoriebezeichnen, sondern in dem Sinne, daß jede von ihnen eine eigene Welt des Sinnes erschafft und aus sich hervorgehen läßt. In ihnen stellt sich die Selbstentfaltung des Geistes dar, kraft deren es für ihn allein eine ‹ Wirklichkeit ›, ein bestimmtes und gegliedertes Sein gibt. »