Symbolische Form und psychische Erkrankung . Argumente für eine ‚Neue Psychopathologie‘...

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Norbert Andersch Symbolische Form und psychische Erkrankung Argumente für eine ‚Neue Psychopathologie‘ Klinische und philosophische Überlegungen Königshausen & Neumann Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Norbert AnderschSymbolische Formund psychische ErkrankungArgumente für eine ‚Neue Psychopathologie‘Klinische und philosophische Überlegungen

Königshausen & NeumannBibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2014Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem PapierUmschlag: skh-softics / coverartUmschlagabbildung: Logo design © M.studio #32637297 (fotolia.com)Bindung: Zinn – Die Buchbinder GmbH, KleinlüderAlle Rechte vorbehaltenDieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen.Printed in GermanyISBN 978-3-8260-5304-7www.koenigshausen-neumann.dewww.libri.dewww.buchhandel.dewww.buchkatalog.de

Inhalt0. Vorwort von John Cutting ...................................................................... 7

I. Das ignorierte ‚Animal Symbolicum‘ .....................................................9(1) Symbolische Formen: ein Schlüssel zur menschlichen Psyche? ........... 9(2) ICD11 und DSM V: Minotaurus im Labyrinth ................................... 14(3) Instinktverlust und Symbolbildung ...................................................... 20(4) Frühe Symboltheorien in der Psychiatrie ............................................. 28

II. Die symbolische Wende(1) Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ .................... 41(2) Psyche und Symbol nach Cassirer ........................................................53(3) Philosophie und Klinik .......................................................................... 69

III. Vorformen und Stufen der Symbolisierung(1) Vorsymbolische Existenz: Autoregulation und Selbstzentrierung.... 77(2) Mathematik und Symboltheorie ........................................................... 89(3) Muster und Metastabilitäten ................................................................. 96(4) Symbolbildung: ein Ordnungsversuch ............................................... 106

IV. Eine ‚Matrix mentaler Funktionsräume‘(1) Eine ,Matrix mentaler Funktionsräume‘ ............................................ 117(2) Zu den spezifischen Qualitäten einzelner Funktionsräume ............. 127(3) Die symbolische Matrix: Gelingen und Zusammenbruch ................. 141

V. ‚Symbolische Form‘ im klinischen Kontext(1) HC Leuners ,konditional-genetische Psychopathologie‘ ................. 151(2) Integrationsstörung statt Schizophrenie? .......................................... 160(3) Gruppenverrücktheit ........................................................................... 174

(4) Neurologie und Symboltheorie .......................................................... 182(5) Symbol und Gestalt: eine produktive Synthese ................................. 192

VI. Szenarien in neuem Licht(1) Neue Definitionen, neue Fragen ........................................................ 201(2) Elf Thesen für eine ,Neuen Psychopathologie‘.................................. 206

Literaturverzeichnis ................................................................................. 209

Dank und Widmung ................................................................................. 237

Vorwort von John Cutting

The 1910s and 1920s were bumper decades for psychiatry, psychologyand philosophy. The American poet Erza Pound referred to 1922 as,‘Yearof a new era’. Virginia Woolf, the English novelist, even considered that‘In or about December 1910, human character changed’.

The flowering of psychiatry is epitomized by the publication of

Bleuler’s treatise on schizophrenia in 1911, Jaspers’ General Psychopathologyin 1913, and a get-together in Zürich in 1922 of four psychiatrists –Minkowski, Binswanger, Straus and von Gebsattel – who would form themovement known as phenomenological psychiatry.

In psychology these decades saw the development of Freud’s andJung’s psychoanalysis, Watson’s behaviourism, and the Gestalt theories ofKoffka, Köhler and Wertheimer.

The outpouring of new philosophy at this time was prodigious –Husserl, Scheler, Heidegger and Cassirer – in particular in the German literature.What a bonanza? One hundred years later in the 2010s we are stillcatching up with this munificence.

What Norbert Andersch has done so magnificently in his book is togive a sense of this exitement for our era. He has shown the byways andforgotten paths that emanated from all this fecundity that are just as viableas the monolithic route that psychiatry has actually taken. He shows,moreover, that psychiatry is more beholden to philosophers and psychologiststhan to the neuroscientists who have taken over our field sincethe glorious 1910s and 1920s.

Dr Andersch’s route is via Cassirer as a philosopher and the few psychiatristsand psychologists who appreciated his greatness as a philosopherand his reference to psychopathology. But, more than that, the bookis about the cultivation of all those psychiatrists and psychologists whohave thought really seriously about psychosis and have put foreward their

views independently of any established rules.

Read the book carefully, and you will enter the realm of the privilegedfew who are allowed insight into one of the last remaining conundrumsof human existence.

1 John Cutting ist Philosoph und Psychiater. Er zählt zu den führenden Denkernund Autoren in theoretischer Psychopathologie. Cutting ist Editor der Philosophie-zeitschrift ‚Appraisal‘ und Übersetzer mehrerer Werke Max Schelers ins englische.Der ehemalige Consultant Psychiatrist am Maudsley und Bethlem Hospitalin London ist derzeit Honorary Senior Lecturer am Institute of Psychiatry und amKings College Hospital.

I (1) Symbolische Formen: der Schlüssel zur menschlichen

Psyche ?

Das vorliegende Buch will auf die Bedeutung aktiver und passiver

Symbolprozesse beim Aufbau menschlicher Bewusstheit und beim

Verständnis psychischer Störungen hinweisen. Es plädiert für die

verstärkte Erforschung einer symbolbasierten ‚Architektur der

Erfahrung’. Es greift die Geschichte symbolischer Ansätze in

Psychiatrie und Psychopathologie auf. Es reflektiert

philosophische und mathematische Aspekte von Symbolen, rekurriert

auf die biologische und soziale Basis von Symbolprozessen und

orientiert auf eine Vereinheitlichung in deren Begriffsgebrauch.

Ich bin als Arzt überzeugt davon, dass dies unser Verständnis für

Menschen in psychischen Krisen verbessern und Heilungsprozesse

fördern kann.

Vertreter der Gestalt- und Symboltheorie, wie auch Philosophen,

Exponenten der Psychoanalyse und der klassischen Psychiatrie

haben in den letzten einhundert Jahren immer wieder die Bedeutung

symbolischer Formen und Prozesse für ein genuines Verständnis

menschlicher ‚Verrückung’ herausgestellt und Versatzstücke von

Symboltheorien in therapeutische Konzepte eingebaut. Ernst

Cassirers mehrbändiges Werk zur ‚Philosophie der symbolischen

Formen’ (1923/29) kann dabei als Wendepunkt in der

wissenschaftlichen Symboldiskussion angesehen werden. In dieser

Arbeit hat Cassirer die Symbolnutzung als entscheidendes

Wesensmerkmal menschlicher Entwicklung erkannt, eine Systematik

symbolbasierter Bewusstheit entworfen und Symbole aus ihrer

einseitigen Verknüpfung mit pathologischen Prozessen befreit.

Seine Konzeption erweitert das weltweit genutzte Schema des

biologischen Funktionskreises (durch J.v. Uexkuell) hin zu der

Metamorphose symbolbasierter Sinnebenen beim Menschen. Ernst

Cassirers stützte sich dabei auf eine enge klinische Kooperation

mit dem Nervenarzt Kurt Goldstein und auf einen intensiven

theoretischen Austausch mit Psychiatern, Anthropologen1,

Gestaltpsychologen, Psychoanalytikern und philosophischen

Kollegen.

In der kurzen Spanne von den frühen 20er Jahren bis zu Hitlers

Machtergreifung gelang es dennoch nicht, Genese und Wandel

symbolischer Formung für Bewusstseinsentwicklung und

1 Eine Übersicht über diese weniger bekannten Kontakte bei Krois, 2005.

Psychopathologie hinreichend zu klären. Die bestehenden

Kooperationsansätze fast aller involvierten Wissenschaftler

wurden durch faschistische Verfolgung und Zwangsexil

zerschlagen. Der Symboldiskurs wurde für fast drei Jahrzehnte aus

der deutschsprachigen Psychiatrie und Psychologie eliminiert und

von den weiter in Amt und Würden sitzenden Parteigängern des

Faschismus bis weit in die Nachkriegsära hinein totgeschwiegen.

Dies führte zu einem dramatischen Niveauverlust in der

(seinerzeit noch deutschsprachig dominierten)

Psychopathologiedebatte und international zu einer gefährlichen

Dominanz simplifizierter, oberflächlicher Typisierungen

psychiatrischer Symptome, die in dem standardisierten

‚Klassifikationsschema’ ICD der Weltgesundheitsorganisation und

dem DSM der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung ihren

Ausdruck fanden. Diese Kataloge psychiatrischer Diagnostik

basieren auf der Idee, dass psychische Auffälligkeiten in der

menschlichen Interaktion als „Entitäten“ im erkrankten Individuum

zu finden und zu lokalisieren seien. Solche „Entitäten“ wie z. B.

die der ‚Dementia praecox’, - von Bleuler später der ‚Gruppe der

Schizophrenien’ zugeordnet - stellten, wie der Psychiater Emil

Kraepelin vor 120 Jahren postulierte, eine biologisch erklärbare

'natürliche Einheit' dar. Diese Auffassung hat sich längst als

falsch erwiesen. Dennoch bleiben die für das Jahr 2013 bzw. 2015

geplanten Neuauflagen psychiatrischer Diagnosekataloge (DSM V/

ICD11) eben diesem naiven 'Entitätsmodell' weiter verpflichtet.

Ihre oberflächlichen Verhaltensbeschreibungen erfassen dabei

nicht den Kern menschlichen Zusammenseins – und damit auch nicht

die Ursachen seiner Störungen: nämlich ihre mittelbare, auf

Symbolbildung und Symboltransformation fußende Architektur des

Bewusstseins.

Bewusstheit wird im symbolbasierten Kontext immer als dynamische

Beziehungssetzung verstanden - nicht als hirnorganisch

lokalisierte Substanz - die ein Spannungsverhältnis zwischen

quantitativen und qualitativen, kategorialen und sinnlichen,

biologischen und sozialen Elementen repräsentiert.

Auf diesen Annahmen basieren die folgenden Thesen des Autors:

1. Die Grundformen menschlicher Bewusstseinsbildung sind –

unabhängig von Herkunft und Kulturkreis - für alle Menschen

gleich. Ihre unendliche Vielfalt basiert auf einer begrenzten

Anzahl von Musterbildungen und Metastabilitäten. Das darauf

kreierte - nur dem Menschen eigene - System interaktiver

‚symbolischer Formung’ erweitert genetische und angelernte

mentale Bindungen über ständige Interferenz mit Außenwelt und

Milieu um Funktionsmechanismen, die es ermoeglichen, Abbildungs-

und Wiederholungsvorgänge von bedeutungsgebenden Rahmensetzungen

zu trennen. Dies erlaubt ihm sich in ein aktives,

zukunftsorientiertes Verhältnis zu seiner Welt und sich selbst zu

setzen; d.h. die sinnliche Wirklichkeit zu mustern, antizipieren

und konzeptualisieren.

2. Die in diesem Prozess entstehenden Spannungsbögen zwischen

Subjekt und Milieu werden durch Tradition, Ritual, Autorität,

Religion, Arbeit, Sprache, Wissenschaft und Kunst stabilisiert

und von uns als geistige Gesundheit und Stabilität erlebt. Dies

ist das symbolbasierte Konstrukt ‚natürlicher

Selbstverständlichkeit’2, das uns in der psychischen Krise

verloren geht. Ausgangspunkt psychopathologischer Überlegungen

kann deshalb nur ein Modell funktionierender Bewusstheit sein:

ein „Invariantensystem der Erfahrung“, das sich auf

symbolvermittelten Möglichkeits- und Resonanzräume aus Gestalt-

und Sinnstiftung gründet.

3. Psychische Störungen sind immer zwischenmenschliche

Beziehungsstörungen, d.h. fundamentale Einschränkungen unserer

Möglichkeiten des Beisammenseins. Sie sind daher immer (und ohne

Ausnahme) im Einbruch der mit dem Milieu kreierten

symbolbasierten Spannungsräume und im Verlust deren variabler

Membranqualitäten begründet. Dies gilt auch für die psychischen

Aspekte von Störungen, deren (Teil)-Ursachen organisch-

neurologischer Natur sind. In schweren Krisen - nach meist nur

fragmentarisch gelungenem Aufbau, oder beim komplettem

Zusammenbruch ‚symbolischer Formung’ - werden alte

Musterbildungen, mentale Selbstreferenzen und präformierte

Schablonen aktiv, die - verwirrend für Betroffene und

Therapeuten - selbst wieder (passiv und flüchtig) gestalthafter

und figuraler Natur sind, denen aber die stabilisierende

2 ‚natürliche Selbstverständlichkeit’: von W. Blankenburg (1971) geschaffener, heute weithin genutzter Begriff für das Konstrukt ‚psychischer Gesundheit’

Verknüpfung mit sinnlichen Formen fehlt, die zu echter

Symbolbildung unerlässlich ist.

Die Analysen des Autors basieren auf den langjähriger Erfahrungen

psychiatrischer Praxis und den sich daraus ergebenden

Beobachtungen und Rueckschluessen; einer Vorgehensweise die am

ehesten der von Ch. S. Peirce beschriebenen Methode der

‚Abduktion’3 nahe kommt; einem nicht formalen Schlussverfahren

(Wirth 2008) dessen Operation darin liegt, plausible Hypothesen

aufzustellen und Prämissen zu finden. Peirce hält dieses Vorgehen

für die „einzig logische Operation, die irgend eine neue Idee

einführt“ (Peirce 1931/5: 171). Die Argumentation des Autors

nimmt erhebliche Anleihen aus den Schriften des Philosophen

Ernst Cassirer. Eine einseitige philosophische oder

weltanschauliche Festlegung ist damit nicht beabsichtigt.

Vergleichbare Überlegungen finden sich auch bei A. N. Whitehead

und S. Langer, bei Ch. S. Pierce, J. Piaget, N. Goodman, F. de

Saussure, M. Merlaeu-Ponty, A. Gurwitsch und P. Bourdieu4. Auf

der ärztlich-psychologischen Seite führt eine historische Linie

3

? Sie ist der einzige "echt synthetische" Schlussmodus (Peirce CP 2.777) da sie nicht nur eine Erklärung für einen rätselhaften oder überraschenden Umstand findet, sondern auch neue Theorien erfindet. Das Konzept der Abduktionumfasst den kausalen Rückschluss, das Identifizieren und Wiedererkennen von Spuren, das Erschließen von Intentionen, aber auch das kreative Einführen eines neuen Vokabulars zur Neubeschreibung bereits bekannter Phänomene. (Wirth1995)4

? Bordieu himself says that it was Ernst Cassirer who served as the most important influence on the development of his committment to a relational thinking. (Mohr 2000: 26 / Bordieu 1992: 97)

im deutschsprachigen Bereich5 zurück zu Arthur Kronfeld, Adhemar

Gelb und Kurt Goldstein, Kurt Lewin, Siegfried Fuchs (SH Foulkes)

und Karl Bühler; zu wichtigen frühen Arbeiten Ludwig Binswangers

und dem - mehr spiritueller Berufung folgenden - Psychodramatiker

Jacob Moreno.

Hanscarl Leuner hat an diesen Diskurs anschließende symbol- und

gestalttheoretische Überlegungen vorgelegt; in jüngerer

Vergangenheit Luc Ciompi das Konzept einer Affektlogik, Fonagy

das der ‚Mentalisierung’. Auf sie alle wird in dieser Arbeit

Bezug genommen.

In Anwendung einer genetisch-dynamischen Betrachtungsweise nutzt

das Buch klinische Längsschnittbeobachtungen und postuliert eine

‚Matrix mentaler Funktionsräume’ als Architektur menschlicher

Bewusstheit. Dieses Modell aus natürlichen Musterbildungen,

Metastabilitäten und Symbolformen wird als Hilfe verstanden, um

den für ‚symbolische Formung’ typischen, in seiner Vielfalt

jedoch verwirrenden Wandel des Komplexitätstransfers zwischen

biologischen und sozialen Mustern zu erfassen und zu

systematisieren6. Bisher widersprüchlich erscheinende

5

? Ähnliche Denkansätze gab es in Frankreich mit v. Ey, Lacan, in den USA mit Arieti, Hacker, Royce, Rapaport, Werner, Kaplan, Grof u.a., in der UdSSR mit Vigotsky, Luria, Leontjew, Gurwitsch, Jakobson, Deglin, Bachtin, Portnov, in der Schweiz Piaget, Bash, Berthalanffy und Bion in England.6

? „Aufgabe einer wahrhaft universellen Erkenntnislehre wäre es, alle diese Interpretationen in ihrer Bedingtheit – d.h. je in ihrer Bezogenheit auf eine bestimmte Grundklasse von Basisphänomenen, als deren ‚Sinndeutung’, ‚Auslegung’ zu begreifen – und sie dann synthetisch derart miteinander zu vereinen, dass alle Aspekte der Wirklichkeitserkenntnis gleichmaessig zu ihremRecht kommen - …“ (E. Cassirer 1995: 165)

Theorieansätze können damit vereinheitlicht werden. Durch das

Anlegen der ‚Matrix’ an die bisher behaupteten

‚Krankheitsentitäten’ können diese in ihre basalen Invarianten

auf verschiedenen Ebenen unterliegender Sinnstiftung zerlegt

werden. Symptomenkomplexe wie ‚die Schizophrenie’ sind damit im

traditionellen Sinne nicht länger existent. Als einzelne

Fragmente einer Integrations- bzw. Musterstörung neu erkannt,

können sie - genauer als bisher - Sinnstiftungs-, Symbol- und

Gestaltungsebenen zugeordnet werden, und damit gezielter Therapie

zugänglich werden.

Das präsentierte Modell denkt nicht in ‚Pathologien’ sondern geht

von der menschlichen Fähigkeit aus, verschiedene mentale

Funktionsebenen zu betreten, - variable 'Weisen der

Welterzeugung', - mit deren Hilfe der Zugang persönlicher

Intentionalität zu gesellschaftlichen Resonanzräumen erschlossen

oder wiedergewonnen werden kann: ein komplexes persönliches

Universum, das über die Stabilität oder die Schwächen unserer

psychischen Verfassung entscheidet7. Auf deren Folie und

Hintergrund kann der inflationären Pathologisierung früher

(magischer, mythischer und religiöser) Symbolebenen Einhalt

geboten werden, können die Patienten und Klinikern aufgezwungenen

ICD/DSM Einzeldiagnosen mit ihrer stigmatisierend deskriptiven7 Das in diesem Buch vorgestellte ,Matrix-Modell’ verdankt seine Entstehung ausschließlich klinischer Beobachtung und basiert auf der Variabilität multipler interaktiver Spannungsräume zwischen Individuum und biologisch-sozialem Resonanzraum, weist aber in seiner Architektur erhebliche Übereinstimmungen mit Ergebnissen der Hemisphärenforschung (Deglin 1993, Cutting 1990, Crow 1988) und einer Entwicklungsebene typisch menschlicher mentaler Bikameralitaet (Jaynes 1976) auf.

Rolle selbst kritisch hinterfragt werden und so eine neue

Anwendung finden: als Momentaufnahmen in der Entwicklungsdynamik

eines Heilungsprozesses, der nicht mehr klischeehafte

Standardisierungen, sondern den Menschen als ‚animal symbolicum’

(Cassirer 1929) im Gefüge seiner ganz persönlichen

Existenzbedingungen wieder in den Mittelpunkt eines interaktiven

Heilungsprozesses stellt.

Für Patienten wie für Ärzte und Therapeuten besteht der Bedarf

nach einer „Neuen Psychopathologie“8, wie sie Kurt Goldstein 1943

erstmals im amerikanischen Exil einforderte. Einer Methode, die,

ausgehend von menschlicher Sinnstiftung und Alltagskompetenz den

ständig erneuerungsbedürftigen Balanceakt zwischen uns als

Einzel- und Gruppenwesen, zwischen Selbstzentrierung und

Sozialisation reflektiert und eine Neudefinition von psychischer

Gesundheit und Krankheit erlaubt; Bedarf besteht nach einer

„undogmatischen Psychopathologie“, die statt „klinische

Krankheitseinheiten zu postulieren, einen besseren Einblick in

Funktionszusammenhänge zum Ziel hat“ (Leuner 1962).

Die vorgestellte ‚Matrix mentaler Funktionsräume’ ist nicht auf

philosophische Wahrheiten, sondern auf ein praktisches Ende hin

konstruiert: einen heilsameren Umgang mit unseren Patienten. Die

Matrix soll ein Hilfsmittel für klinisches Denken sein und sie

enthält, wie die zu ihrer Struktur beitragenden mathematischen

8

? Den Begriff (‚the New Psychopathological Approach’) verwendet Kurt Goldsteinerstmals in seinem Aufsatz „ The Significance of Psychological Research in Schizophrenia“ (1943: 262), einer Ausarbeitung seiner Präsentation vor der A.P.A. (Chicago 1939).

und philosophischen Überlegungen, notwendigerweise spekulative

Elemente. Der Leser ist eingeladen Lücken zu füllen, wo der Autor

welche gelassen hat und Vorschläge zu verwerfen, die sich als

nicht tragfähig erweisen.

II (1) Ernst Cassirers ‚Philosophie symbolischer Formen’

Die ganze Vielfalt von Zuschreibungen im Bezug auf Rolle und

Potenz von Symbolen beim Denk- und Bewusstseinsprozessen hat

Kreitler (1965) in ihrer Arbeit ‚Symbolschöpfung und

Symbolerfassung’ 9zusammengetragen. Die Bandbreite ihrer

Beobachtungen reicht von der eindeutig pathognomischen

Symbolbedeutung bis zur gegenteiligen Auffassung, dass Symbole

unverzichtbarer Garant reifer, sozialer

Persönlichkeitsentwicklung seien. Die pathognomische Rolle wird

früh von Freud und Jones, ihre vereinigende, kreative hingegen9 Zu mehr detaillierten Einzelinterpretationen des Symbolbegriffes durch Künstler, Philosophen, Psychologen und Ärzte ist die Studie ‚Symbolschöpfung und Symbolerfassung’, (Kreitler 1965) immer noch hilfreich. Die aus Kreitlers Sicht verklärende Darstellung Freudscher Symbolterminologie bei gleichzeitigerstrenger Kritik an der (sicher klareren und umfassenderen) Nutzung des Symbolbegriffes bei Jung folgt der freudschen Orientierung der Autorin. Der von mir (Andersch 2013) genutzte Symbolbegriff umfasst aktive symbolische Formung als auch passive (i.e. spontane oder präformierte) Figur- oder Gestaltbildung. Er orientiert sich an einem erweiterten Cassirerschen Symbolbegriff, der ‚symbolische Form(ung) vorab für eine bedeutungsgebende undantizipatorische Bewusstseinsleistung hält, aber erkennt, dass auch „das Asymbolische (..) nicht einfach in disparate sinnliche Elemente (zerfalle), sondern (..)sich weiter als gestaltetes Gesamterlebnis (praesentiere)“ (Cassirer 1929: 33). Diese letzteren wurden von Freud – anders als bei Cassirer – als die eigentlichen Symbole bezeichnet.

von Jung, Neumann, Bachhofen u.a. belegt, ihre Rolle als

primitive Anpassungswerkzeuge bei Rank und Sachs. Mead und Pavlov

sehen Symbole im Licht von Anpassung und mentaler

Energieersparnis. Luria und Leuner und Lewin sehen in ihnen

Kräfte natürlicher Formbildung und der Erregungskontrolle.

Psychoanalytiker wie Stekel, Ferenczi, Szondi, Klein und Sechhaye

verordnen ihre Hauptbedeutung beim Zugang zu verdrängtem

Material; Psychiater wie Hanfmann, Arieti, Kasanian und Bash

sehen Symbole als Garanten normaler Intelligenzentwicklung; und

vor dem 2. Weltkrieg sind es lediglich Head und Cassirer, die

symbolische Formen als geradezu zentral für die Auffaltung

menschlicher Kulturleistung auf unterschiedlichen Ebenen

menschlicher Sinnstiftung und Bedeutungsgebung betrachten.

In all den genannten Untersuchungen (Zitatnachweise bei Kreitler

1965) kommt Symbolen eine membranartige Rolle zu: im Abtrennen,

Verdichten, Sichern, Kommunizieren, Balancieren, Katalysieren und

im Verbinden. Ganz offensichtlich auch: dass Symbole einerseits

spontan auftreten, ungewollt und ungefragt, ohne das Zutun der

Betroffenen (wenn und weil sie zu einer intentionalen Reaktion

nicht fähig sind); andererseits sind Symbole Ausdruck

intentionaler, willentlich schöpferischer Aktivität und der

Manipulation der erfassbaren Umgebung. Urspruenglich ist die nur

Menchen moegliche ‚Absicht’, mit Zeigen und Blicken gemeinsame

Zielorientierungen mit anderen Gruppenmitgliedern zu erreichen.

Symbole sind einerseits deutlich sichtbar als betastbare Objekte

oder sind dem eigenen Körper eingekerbt; andererseits scheinen

sie aus dem Verborgenen, Unsichtbaren, Virtuellen heraus zu

wirken. Zeitweise haben Symbole geradezu unbeschreibliche Macht

und Energie, zu anderen Zeiten kann auch ihre inständige

Beschwörung nichts bewirken. Das - aus klinischer Erfahrung –

erstaunliche ist, das fast alle Detailbeobachtungen der oben

genannten Ärzte und Forscher ueber Symbolwirkungen korrekt und

reproduzierbar sind; hingegen nicht die von ihnen daraus

gezogenen Verallgemeinerungen. Lediglich Head und Cassirer sahen

sehr früh eine Bandbreite variabler Symbolformationen, die als

Ansatz zur einer Integration der (vermeintlich widersprüchlichen)

Ergebnisse des Symboldiskurses angesehen werden koennen.

Der englische Neurologe Henry Head interpretierte in seiner

Studie „Aphasia and Kindred Disorders of Speech“ Finkelnburgs

Beschreibung von 1871 als einen Paradigmawechsel in klinischer

Beschreibung (Head 1926).10 Head hatte schon früher (1921)

festgestellt, dass Aphasiegestörte nach Hirnlaesionen Symptome

zeigen, die nicht – wie es der ungeschulte Beobachter zu erkennen

glaubt – mit Störungen der Grundfunktionen des Sprechens, Lesens,

Schreibens, u.s.w. zusammenhängen, sondern mit deren symbolischer

Vermittlung und kategorialer Repräsentation. Mentale

Bildvorstellungen z.B. gehen bei diesen Patienten nicht als

solche verloren, sondern werden in abstrakten, präpositionalen

Zusammenhängen schlechter reproduziert als in konkreten,

naturnahen. Ernst Cassirer erkannte fast gleichzeitig mit Head,

ohne aber von dessen Forschungen zu wissen, die Wichtigkeit von

10 Cassirer betont, dass Head besonders den (Zielvorstellungen bildenden) antizipierenden Charakter des symbolischen Denkprozesses herausarbeitet (1929:249). Ein für 1927 geplantes Treffen mit Head in England kam wegen dessen Erkrankung nicht zustande.

Finkelnburgs Arbeit für die Theorie und Struktur der

Psychopathologie: „Was wir hier vor uns haben“ – schreibt der

Philosoph 1929 – „ist nicht der Verlust eines Vermögens, sondern

die Wandlung und Umbildung eines höchst komplexen psychischen und

geistigen Prozesses.“

In seiner ‚Philosophie symbolischer Formen’, deren drei Bände

zwischen 1923 und 1929 erscheinen, postuliert Ernst Cassirer,

dass sich Individuum und Gruppe im Bewusstwerdungsprozess aus

anfänglich gemeinsamen Grund zu ihren, erst später komplementären

Positionen, - Subjekt und Objekt – herausarbeiten; dass sie sich

im Sinne des Wortes: auseinander setzen müssen. Aus der sich

wandelnden Komplexität ihrer subjektiv eingebrachten Denkmuster

bilden Menschen – zusammen mit den sinnlichen Gegenparts ihres

Milieus - zentrale Ganzheiten: ‚symbolische Formen’. Solche, an

Zeichen der aeussere Welt gekoppelte und symbolisch stabilisierte

- deshalb ‚bewusste’ - Ganzheiten fallen jedoch nicht, wie in

Traum oder Psychose, wieder ineinander, sondern finden,

werkzeuggleich, in jetzt jeweils anderen Situationen

vergleichbarer Konstellation erneut Anwendung. Als Sprache,

Mythos, Religion, Gesetz, Wissenschaft und Kunst werden

‚symbolische Formen’ universell als kulturelle

Sinnstiftungsebenen erkannt und genutzt. Es ist das in diesen

Formen sich wandelnde Verhältnis aus kategorialem Muster11 und11 „Kategorien fassen Objekte Aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten zusammen…. Ähnlichkeiten zwischen Objekten oder Ereignissen (ist) der wichtigste Faktor der Kategorisierung. Kategorien (lassen sich) nicht als Bündel von Merkmalen verstehen, sondern als strukturierte Gebilde, die….funktionale oder kausale Relationen zwischen den Merkmalen spezifizieren. Sie können Teil einer hierarchisch taxonomischen Anordnung sein, sich aber auch in ereignisbezogenenBeziehungen befinden oder nicht-hierarchisch nebengeordnet sein. (Waldmann

Sinnlichkeit, welches - symbolisch vermittelt – unsere

Erinnerungsfähigkeit begründet und unseren ‚Common sense’,

schafft; es ist der mögliche Wechsel zwischen diesen Ebenen, und

es ist die Moeglichkeit sie parallel und integriert zu nutzen,

die unsere - außerhalb psychischer Krisen unhinterfragte -

Alltagskompetenz begründet.

„Um das Problem klar zu erfassen – so Cassirer (1944, 57/8, 64) –

muessen wir sorgfaeltig unterscheiden zwischen Zeichen und

Symbolen. Dass es im tierischen Verhalten ziemlich komplexe

Zeichen- und Signalsysteme gibt, scheint eine gesicherte Tatsache

zu sein (…) aber (sie) sind vom Verstehen der Symbolsprache des

Menschen noch sehr weit entfernt. (…) Alle Phaenomene, die man

gewoehnlich als bedingte Reflexe bezeichnet, sind von der

Eigenart des symbolschen Denkens nicht nur weit entfernt, sie

sind ihm sogar entgegengesetzt. Symbole – im strengen Sinne des

Begriffs – lassen sich nicht auf blosse Signale reduzieren.

Signale und Symbole gehoeren zwei unterschiedlichen Diskursen an;

ein Signal ist Teil der physikalischen Seinswelt; ein Symbol ist

Teil der menschlichen Bedeutungswelt. Signale sind ‚Operatoren’,

Symbole sind ‚Designatoren’.(…) Wie der Fall von Helen Keller

(die blind und taubstumm geboren wurde N.A.) beweist, kann der

Mensch seine symbolische Welt aus den beschraenktesten und

spaerlichsten Materialien errichten. Entscheidend sind dabei

nicht die einzelnen Steine und Ziegel, sondern ihre allgemeine

Funktion als architektonische Form“

: 3b85)

Die Lösung der sphinxartigen Symbolwandlung besteht darin, dass

ihr Wesen in einer Zwittergestalt begründet ist, die sie den

beiderseits stets wechselnden Korrespondenten vertraut macht und

dass sie über einen Bewegungsmechanismus verfügt, der die konträr

erscheinenden Impulse von Sinn und Sinnlichkeit in eine

gemeinsame Figur einbindet. Diese gewaehrleistet einen

fortwährenden Wandel bei der Auffaltung möglicher Qualitäten,

der dennoch – wenn in eine komplexe Matrix eingebunden (siehe

Kap. 13) – als Gesamtheit fassbar und in seiner inneren

Architektur verstehbar bleibt. „Der echte und wahrhafte Begriff

des ‚Symbolischen’ – so Cassirer – (fügt sich) nicht den

herkömmlichen metaphysischen Einteilungen und Dualismen, sondern

sprengt ihren Rahmen. Das Symbolische gehört niemals dem

‚Diesseits’ oder ‚Jenseits’, dem Gebiet der ‚Immanenz’ oder

‚Transzendenz’ an: sondern sein Wert besteht eben darin, dass es

diese Gegensätze, die einer metaphysischen Zweiweltentheorie

entstammen, überwindet. Es ist nicht das Eine oder das Andere,

sondern es stellt da ‚Eine im Anderen’ und das ‚Andere im Einen’

dar.“ (1929: 447)

Cassirer begreift biologische und soziale Musterungen als

interaktive Korrespondenten auf einem Kontinuum – fähig zu einer

schöpferischen ‚Gestaltbildung’ in ihrem Zentrum. Psychische und

sinnliche Aktivität verlaufen daher nicht stetig stufenlos, noch

chaotisch, sondern entfalten sich entlang ‚symbolischer Formen’

von Alltagshierarchien und Wirklichkeitserzeugung, als Magie,

Mythos, Sprache, Religion, Recht, Politik, Wissenschaft und

Kultur in ‚Symbolräumen’ universeller Geltung.12 Aber nur deren

Gesamtheit, das Integral ihrer parallelen Wirklichkeiten, das so

wachsende "Invariantensystem der Erfahrung" erzeuge in jedem von

uns den lebenden Spannungsraum mit dem umgebenden Milieu, den wir

'Bewusstheit‘ nennen.

Cassirer postuliert, dass in einem Invariantensystem menschlicher

Erfahrung sich die unendliche Vielfalt von Verhaltensweisen auf

einen durchaus beschränkten Vorrat interagierender,

komplementärer Bewegungsformen zurueckfuehren lässt. Das aktive

Verhältnis von Mensch und Milieu durchläuft dabei eine

Stufenfolge der Realität, in deren Verlauf die gesamte Art der

Begriffsbildung eine charakteristische Verschiebung erfährt. Es

ist somit die logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und

ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten,

das den eigentlichen Kern des Wirklichkeitsbegriffes und unseres

Wachbewusstseins bildet. Cassirer verlegt hierbei den Fokus

psychopathologischer Betrachtung heraus aus dem Hirnorgan hin zu

dem gelebten Spannungsfeld zwischen Individuum und Gruppe; hin

zur ‘Zivilisation’ als einer Metamorphose von symbolischen

Formungen zwischen ihnen. Bewusstsein ist somit keine Sache,

sondern ein Verhältnis. Bewusstsein kann konsequenterweise nicht

in einem Organ gefunden oder mit ihm identifiziert werden.

Gleiches gilt für die aus diesem Verhältnis resultierenden

12 „Die symbolischen Zeichen, die uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst entgegentreten, ‚sind’ nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, noch einebestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung (…) Hier erschafft sich das Bewusstsein selbst bestimmte konkrete sinnliche Inhalte als Ausdruck für bestimmte Bedeutungskomplexe.“ (Cassirer 1923: 42/43)

Störungen. Sie können nur in diesem Verhältnis – oder eben in

seinem Zusammenbruch – gefunden werden.

Ernst Cassirer hat Psychologen und Nervenärzte ermutigt, ihren

unmittelbar klinisch-organischen Blick um ein funktionelles

Modell von Bewusstheit zu erweitern. Er fordert ein radikales

Weiterschreiten, weg von der traditionellen Körper-Geist-

Dichotomie mit ihrer organischen Verhaftung des klinischen

Blickes, hin zu einer Substanz-Funktions-Beziehungsbetrachtung:

„Es bedeutet, dass sich das Tun, Wirken, Erleben, Erfinden des

Menschen nicht einen organischen Niederschlag verschafft – dieser

Weg ist durch die Unveraenderlichkeit, Unbeeinflussbarkeit des

Keimplasmas versperrt – dass es sich vielmehr nach aussen, nach

vorwaertz wendet, dass es nicht ihn selbst als den organischen

Leib ergreift und umgestaltet, sondern dass es sich seinen

Ausdruck im Unbelebten, Anorganischen schafft – dass es sich

physisch im Werk statt im Leib objektiviert.“ (Cassirer 2002:204)

In seiner Studie ‚Zur Pathologie des Symbolbewusstseins’

(Cassirer, 1929) resuemiert er: "So müssen wir denn auch hier die

Lehren der Pathologie, denen wir uns nicht entziehen durften“,

schreibt Cassirer (1929: 322), „ in ein allgemeineres

kulturphilosophisches Problem umzuwenden suchen“. Die

Beurteilung einer Pathologie gruendet damit nicht im bloßen

Vollzug einer Handlung, sondern in der Totalität aus konkreter

Aktivität und der ihr "nach der Gesamtheit der Umstände und nach

den Bedingungen, unter denen er (der Vollzug) steht, zukommenden

kulturellen Bedeutung, „denn wonach sie sucht, das sind nicht

sowohl Gemeinsamkeiten im Sein, als es Gemeinsamkeiten in Sinn

sind" (ebd.)13

Cassirers Symbolkonzept konstruierter Bewusstheit aus

‚Invarianten der Erfahrung’ ist nicht deterministisch. Es will

dem vermeintlichen Chaos regelloser Zufälligkeit menschlichen

Verhaltens eine Grammatik von Moeglichkeitsraeumen unterlegen.

Erst auf der sicheren Bühne eines solch komplexen – unserer

Sinnstiftung unterliegenden - Konstruktes eröffnen sich

Moeglichkeitsraeume und Perspektiven, sind Spontaneität und

Kreativität ‚machbar’, deren Struktur als gegeben, als natuerlich

und selbstverstaendlich erscheint. Ein Erklaerungbedarf fuer

deren komplexe Architektur tritt erst in der psychischen Krise

zutage: nämlich als Zusammenbruch einer aus Musterinterferenzen

erstellten ‚Matrix mentaler Funktionsräume’. (Andersch, 2008)

Pathologien können jetzt als sozial unangemessener Wandel

kultureller Rahmensetzungen gesehen werden und Diagnostik und

Therapie müssten den sich ständig ändernden Feldern von

Sinnstiftungen Rechnung tragen.

Im Vorfeld späterer klinischer Studien hatte der Philosoph die

Arbeiten seines persönlichen Freundes, des Biologen Johannes von

Uexkuell (v. Uexkuell 1909) studiert. Dessen „raffiniertes und

originelles Schema der biologischen Welt“ (Cassirer 1996: 46)

13 Cassirers heute noch wegweisende Arbeit, die durch klinische Kooperation mitNervenärzten und Psychologen außerordentlich fundiert war, erscheint übersetztin einer französischen (Cassirer 1929a) Fachzeitschrift, aber niemals in psychologischen oder psychiatrischen Publikationen im deutschen Sprachraum. (Andersch 2010)

beschreibt mit seinem Merk- und Wirknetz die völlige Einpassung

der Lebewesen in ihre Umgebung. Cassirer ist fasziniert von

diesem ‚biologischen Funktionskreis’ – auch weil v. Uexkuell

psychologische Deutungen zu vermeiden versucht und von einer

gänzlich objektiven, verhaltensorienterten Methode ausgeht. „Aber

in der Menschenwelt – so fährt Cassirer fort (S49) – stoßen wir

auf ein neues Merkmal, welches das eigentliche Merkmal

menschlichen Lebens zu sein scheint. Der „Funktionskreis“ ist

beim Menschen nicht nur quantitativ erweitert; er hat sich auch

qualitativ gewandelt. Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die

uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein

drittes Verbindungsglied, das wir als „Symbolnetz“ oder

Symbolsystem bezeichnen können. Diese eigentümliche Leistung

verwandelt sein gesamtes Dasein. Verglichen mit den anderen Wesen

lebt der Mensch nicht nur in einer reicheren, umfassenderen

Wirklichkeit; er lebt sozusagen in einer neuen Dimension von

Wirklichkeit. Es besteht ein unverkennbarer Unterschied zwischen

den organischen „reactions“ (Reaktionen) und menschlichen

„responses“ (Antwort-Reaktionen). Im ersten Fall wird direkt,

unmittelbar eine Antwort auf einen äußeren Reiz gegeben; im

zweiten Fall wird die Antwort aufgeschoben. Sie wird unterbrochen

und durch einen langsamen, komplexen Denkprozess verzögert.“

Auf dem Höhepunkt klinischer Kooperation mit seinem Cousin, dem

Neuroanatom und Psychiater Kurt Goldstein schreibt Cassirer im

Januar 1925: „Verstehe ich Deinen Fall (eines Goldstein und

Cassirer gemeinsam bekannten Patienten, Anm. N.A.) recht und die

Deutung, die Du ihm gibst, so handelt es sich in ihm gerade um

eine Erkrankung des ‚Symbolbewusstseins’, während das ‚sinnliche

Bewusstsein’ relativ intakt ist. Das Verhältnis dieser beiden

Momente zu einander festzustellen – zu zeigen, wie

Symbolbewusstsein und sinnliches Bewusstsein im Aufbau des

normalen geistigen Lebens ständig ineinander greifen und sich

wechselseitig bedingen – das scheint mir nun gerade eine der

Hauptaufgaben einer künftigen Psychologie und Phänomenologie zu

sein…..Es zeigt sich darin eben, dass, was die Psychologie eine

einfache Empfindung und Wahrnehmung zu nennen pflegt, durchaus

nichts einfaches ist – dass vielmehr in jeder Wahrnehmung ein

sinnliches und sinnhaftes Verhalten sich durchdringen. Und dabei

haben wir uns das Letztere nicht so zu denken, dass es

gewissermaßen als generelle ‚Form’ über dem Ganzen schwebt und

auf jeden beliebigen sinnlichen ‚Stoff’ einfach anwendbar ist, -

sondern jedem bestimmten sinnlichen Stoff wäre eine eigene Weise

der Formung, des ‚kategorialen Verhaltens’ ihm gegenüber,

zugeordnet. Erst indem die spezifische Form sich auf den

spezifischen Stoff richtet, käme die ‚normale’ Wahrnehmung

zustande – während in pathologischen Fällen das Sinnliche als

solches unversehrt sein kann, aber nicht mehr mit der ihm eigenen

‚Sinnhaftigkeit’ zusammengeht.“ (S71) Was Cassirer hier in

philosophischer Argumentation erschließt wäre – klinisch

ausgedrückt - eine psychotische Konstellation: eine (vorwiegend)

linkshirnige Schwäche der Zergliederung, der Kategorisierung und

damit der mustermaessigen Erkennung und eine damit quasi

‚ungefilterte’ Abspeicherung sinnlicher Eindrucke

Schon 1906 hatte Cassirer festgehalten, wie wichtig es ihm ist,

Erkenntnis über bisherige Grenzen voranzutreiben und gleichzeitig

die Fundamente des Wissens tiefer zu legen: „Ein Fortschritt der

Zergliederung und Selbstbeobachtung kann uns lehren, dass ein

Prinzip, welches wir bisher für ein letztes, nicht weiter

auflösbares gehalten haben, sich in Wahrheit noch aus

verschiedenen Bestandteilen von ungleichem logischen Wert

zusammensetzt; dass daher, was uns bisher als unumstoesslich

gewiss erschien, nur einen bestimmten Grad der Wahrscheinlichkeit

besitzt und durch künftige Erfahrungen jederzeit berichtigt

werden kann.“ (Cassirer, 1906:23) Fortschritte der kategorialen

Zergliederung – dies erkennt Cassirer hier – sind unverzichtbare

Notwendigkeit für den Wandel seine philosophischen Blickwinkel.

Und gleichzeitig ist diese philosophische Selbsterfahrung ein

gesetzmaessiger Eckstein jeder menschlichen

Bewusstseinsentwicklung Die geometrisch-mathematische Debatte des

späten 19. Jahrhunderts liefert ihm dazu das philosophische

Modell: der Glaube an die einzig gültige, jedermann sinnlich

nachvollziehbare Euklidische Geometrie hatte sich als falsch

erwiesen; erst die 'Riemannschen Geometrien' (Riemann, 1854),

eine Vielfalt rein virtueller, sich ergänzender Raumwelten

ermöglichte den fundamentalen Wandel von Substanz- zu

Funktionsbegriffen und schuf die für die Relativitätstheorie und

die Maxwell'schen Gleichungen notwendigen Berechnungsgrundlagen.

Einen analogen Paradigmenwechsel fordert Cassirer jetzt in der

Nervenheilkunde, um menschliche Bewusstseinsentwicklung neu zu

fassen.

Cassirers Kritik an der zeitgenössischen entitaeten- und

substanzorientierten Psychopathologie kann am besten in Analogie

zu Goethes Kritik am Naturforscher Linne verstanden werden, die

Cassirer einer philosophischen Betrachtung unterworfen hat:

Goethe bewunderte die Akribie von Linnes faszinierenden

botanischen Beobachtungen, kritisierte aber, dass die

vermeintliche Genauigkeit der gewonnenen Ergebnisse in

kategoriale Instrumente umgewandelt und diese inflationär

extrapoliert wurden. Zweifellos hatten Linnes rastloser

Forscherdrang und seine exakte Erfassung der Pflanzenwelt zu

einem massiven Aufschwung der Botanik und einem Zugewinn an

Wissen geführt, wie auch zu einer deutlichen Vereinfachung und

Katalogisierung botanischer Erkennungsmerkmale. Goethe war

dennoch überzeugt, dass dem aus Linnes Sammeleifer erwachsenden

Eindruck über die Existenz unwandelbarer Bewertungsmerkmale in

der botanischen Klassifikation deutlich widersprochen werden

müsse. Er bezeichnete die Methode fortgesetzter Katalogisierung

und vermeintlicher kausaler Verknüpfung ihrer botanischen

Detailbeschreibungen, besonders aber die sich daraus ergebende

statische Betrachtungsweise als eine „Missrepräsentation der

Natur“. Goethe selbst stand – wie auch Linne – nur das Feld

unmittelbarer (Ärzte würden sagen: klinischer) Beobachtung offen.

Seine spätere Wortkreation 'Morphologie' erwuchs jedoch einer

Erkenntnis, die die endlosen Variationen und Charakterwechsel von

Organismen im Blick hat. Ihn faszinierte nicht nur die

Metamorphose der einzelnen Pflanze in den verschiedenen

Entwicklungsstadien, sondern auch, dass gleiche Pflanzen sich in

unterschiedlichen Milieus ganz verschieden entwickeln. Cassirer

kommt bei seiner Metaanalyse zu dem Schluss, dass Goethe nicht

mehr nur in Substanz- sondern vermehrt in Funktionsbegriffen

denkt. Dass weniger 'Raumgestalten' denn 'Zeitgestalten' dessen

Ansätze leiten. Dass Goethes Entwicklungskonzept deshalb nicht

als historisch sondern eher als dynamisch beschrieben werden

sollte. Um einen erweiterten Möglichkeitsraum zu gewinnen, müsse

das Verständnis rein göttlicher Zweckbestimmung von seinem

finalen teleologischen Ansatz gelöst und zu einem komplexeren

Modell sich wandelbarer Gestaltungen und endogener Sinnstiftungen

fortschreiten. Erst ein fortwährendes Transformieren, die

Fähigkeit zum erforderlichen Wechsel der jeweiligen Bezugsrahmen,

schaffe den Raum, neues Erleben, ein je neues Equilibrium aus

Wesen und Milieu in ihrem Prozesscharakter zu verstehen, um so

anfangs unvereinbare Ebenen von Wirklichkeit als notwendige Teile

einer Ganzheit zu erkennen und zu integrieren. Ein solches

Konzept lebender Struktur orientiert sich – Cassirer zufolge -

an naturgegebenen, statt an vordergründig ins Auge fallenden,

letztlich aber willkürlichen, Einteilungskriterien und befreit

sich vom Zwang verfrühter und falscher Schlussbildung, von

konstruierten Zusammenhängen und spekulativen Erklärungen.

Cassirer möchte eine derartige Sichtweise auch auf den Menschen –

das ‚Animal symbolicum’ - in der psychischen Krise angewendet

sehen: In seiner Entwicklung durch magische, mythische,

religiöse, Körperbezogene, politische, wissenschaftlich und

künstlerische Formen hindurch hat er frei verfügbare

Intentionalität und Resonanzraum gewonnen. Dieses kulturelle

Potential geht beim Einbruch seiner Symbolräume, in umgekehrter

Reihenfolge und wie im Zeitraffer - komprimiert auf wenige Wochen

oder Tage - wieder verloren: als Verlust der Sinngebung, als

Aufbrechen des Weltbildes, als Auflösung des Resonanzraumes, als

Entschwinden von Perspektive und Möglichkeit, als Zerfall des

Erlebnisfeldes, als der Verlust von Abstraktion, Integration,

Kommunikation und schützender Abgrenzung; als Einbusse von

Raum/Zeitempfindung, von Körperschemata und Willenskontrolle. Wo

das Gelingen symbolischer Formung Handlungskompetenz und spontane

Gestaltung erlaubt, hat ihr Zusammenbruch ein psychisches

Einwickeln zur Folge, eine wie erzwungen wirkende

Wiederankopplung an frühere Lebenszusammenhänge und eine

Ineinanderfallen sich plötzlich auflösender Objektwelten, die man

vorher sicher getrennt glaubte. Cassirer erscheint es plausibler,

ausgehend von einem Bauplan gelungener Kulturleistung, -

'natürlichem Selbstverständnisses', wie dies der Psychiater

Blankenburg (1971) später nennt - erst in einem zweiten Schritt

auf die universale Spezifik psychopathologischer Phänomene zu

schließen, ihre Entstehungsweise zu erklären und Lösungsmodelle

zu finden.

Fortschreiten vom klinisch-organischen Blick heißt für Cassirer

in der Psychopathologie: nicht an den Grenzen sinnlicher

Phänomenologie und beispielhafter Erläuterung stehen zu bleiben.

Solche Selbstbegrenzung und sinnliche Verhaftung haben

Mathematik, Sprache und arbeitsteilige Techniken längst

überwunden. Auch sie suchten in ihren Anfängen die Nähe zur

Natur, "gaben sich dem sinnlichen Eindruck der Dinge hin und

versuchten, ihn auszuschöpfen" , aber "die in (ihnen)

schlummernde Leistung komm(e) erst zum wahrhaften Durchbruch", so

Cassirer (1995), ihr eigentümlich geistiger Gehalt trete erst

dort zutage, wo die Sprache sich vom onomatopoetischen Ausdruck,

von der bloßen Lautmethapher freimache; wo die Geometrie sich von

der täuschenden Offensichtlichkeit der sinnlichen

Alltagserfahrung löse, und wo, - wie im Bereich der

Arbeitsteilung, in dem alle frühen Werkzeuge artifizielle

Verlängerungen und Verfeinerungen der menschlichen Hand waren -

die Emanzipation von (dieser) organischen Schranke erfolge und

die Errichtung der 'technischen Ordnung' nicht in Anlehnung an

die Natur, sondern nicht selten in scheinbar bewusstem Gegensatz

zu ihr gefunden werde (Cassirer, 1995:73). Cassirer ist bei

alldem kein Gegner von Klassifikationen: „Unsere sprachlichen und

die ersten wissenschaftlichen Namen lassen sich als Ergebnis des

gleichen Klassifikationstriebes auffassen. Was in der Sprache

unbewusst geschieht, wird in der Wissenschaft bewusst und

methodisch vollzogen.“ (Cassirer, 1996: 319) Er bemüht hier sogar

Linnees Rechtfertigung gegen dessen Kritiker: „Wenn man die Namen

nicht kennt, misslingt auch die Erkenntnis der Dinge“. (ebd.)

Gleichwohl müsse die Wissenschaft „ diese auf aeusseren

Ähnlichkeiten beruhenden Auffassungen korrigieren und überwinden“

(ebd.:318).Eine solche Entwicklung habe das psychopathologische

Denken noch vor sich14. 14 Rapaport: jede Symbolisation ist in gewisser Hinsicht Konzeptualisation (Kreitler 1965: 37)

Auch wenn Cassirer sich nicht ähnlich ausführlich und explizit

wie etwa Merleau-Ponty zu Fragen von Leib und Leiblichkeit

geaeussert hat, wäre es falsch anzunehmen, dass solche Kategorien

nicht integraler Bestand von Cassirers philosophischer Welt

seien. Die symbolische Relation von Sinn und Sinnlichkeit setzt

Cassirer als Urphänomen, denn er geht, so J M Krois (1995: 63),

„nicht von der Theorie des ‚Bewusstseins’, sondern vom belebten

Leib aus. Symbolische Formen markieren dabei Reflektionsstufen,

d.h. Positionen auf einer imaginären Skala, welche die Distanz

misst, die kulturschaffende Wesen auf dem Weg von einem Zustand

unmittelbarer leiblicher und emotionaler Betroffenheit zu

demjenigen freier, selbstbewusster Tätigkeit zurücklegen können“

(Lauschke 2012 : 228).

Lauschke stimmt in der von ihr unternommenen ‚Verortung des

Leibbegriffes bei Cassirer’ (ebd S227) der Kritik Helmuth

Plessners zu, dass Cassirer mit seiner Philosophie dort aufhöre,

wo die körperliche Dimension beginne. Sie trifft jedoch eine

strenge Differenzierung, indem sie herausarbeitet, dass „der

Körper als Naturding unter Naturdingen….für Cassirer in der Tat

nicht von Interesse (ist); anders jedoch der menschliche Leib,

der als Grenzphänomen den Ursprung des Symbolisierens darstellt“.

Cassirer – so Lauschke (ebd: 229f)– entwickele seine semiotische

Kulturtheorie als eine Verkörperungstheorie des polyglotten

Geistes: verschiedene Gesetzlichkeiten des Bewusstseins

manifestieren sich als unterschiedliche Idiome des Denkens. Sinn

entsteht Cassirer zufolge nur durch Verkörperung im Sinnlichen.

Cassirers Definition symbolischer Form, dass „unter einer

‚symbolischen Form’ jene Energie des Geistes verstanden werden

(soll), durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein

konkret sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich

zugeeignet wird“ (Cassirer 1923: 79) leiste eben diese

Vermittlung von Sinn und Sinnlichkeit.

Kritisch bleibt anzumerken, dass E. Cassirer nie ein wirkliches

Bewusstheitsschema ausgearbeitet hat. Er hat viele Grundfragen

einer Klärung näher gebracht – hatte aber nicht die historische

Distanz, ein Gesamtbild zu sehen, wollte es vielleicht auch

nicht.

Cassirer vertritt eine Konzeption eines neutralen Monismus

(Andersch 2007), dessen sich auseinander entwickelnde Gegenpole

letztlich immer nur die aeusseren Enden eines Kontinuums sind.

Symbolische Formung ist aber nicht das Aufspüren einer alten,

verlorenen gegangenen Verbindung, sondern sie ist der Sprung über

den Graben: in die neue Figur, in die gemeinsame Gestalt mit dem

Komplementären und der Versuch, mit ihm zu tanzen.15 Cassirer

glaubte so an die aktive (Neu)Gestaltbarkeit der Welt - und dass

alle machbaren Ebenen solcher Wirklichkeiten immer nur Teile der

Wahrheit sein können.

„Cassirers Symbolisierungen – schreibt Mersch (2003) – sind

Weisen der Entdeckung; sie erschließen, wie Cassirer mit Bezug

15 H.Werner : die mentale Funktion, die uns befähigt, Objekte durch Vermittlungdarzustellen…… die Funktion der Repräsentation, welche sich in der Fähigkeit zeigt, Erkanntes durch symbolische Formulierungen (Gesten/Geräusche/Schrift/Zeichnung) weiterzugeben (1957: 250)

auf Leibnitz sagt, ’neue Wege ins Unbekannte’. Jede Synthesis

entwirft, entdeckt, eröffnet eine ‚neue Sicht’, gewährt eine

andere Richtung des Sehens. Durch sie wird allererst Welt beherrschbar – doch

nicht so, dass Welt damit aus einem Prinzip ‚erklärbar’ ist, sondern im beständigen

Wechselspiel von Erklären (Begriff) und Verstehen, von Bild (Metapher) und Intuition

zugänglich und aufschliessbar wird.“

Cassirer fand die Aeusserung eines englischen Mathematikers

attraktiv (und für seine symbolischen Formen zutreffend), dass

das wahre Ganze nur in der Gesamtheit aller Sinnebenen („a

perspektive of no one specifically’) liegen kann. Man kann vieles

aus seinen Texten lesen, was er so nicht in Worte gefasst hat:

dass es komplementärer Komplexität bedarf, um haltbare und

belastbare Spannungsbögen zu kreieren; auch dass sich

Komplexitäten von Einzel- und Gruppenverhalten in Zahlen

ausdrücken lassen und dass unterliegende Musterkomponenten jeder

echten sinnlichen Situation inert zugehörig – und extrahierbar –

sind.

Cassirer hat die symbolischen Formen, die sinnhaftigkeit

kreierenden Gestaltbildungen menschlicher Kultur schon

(weitgehend) für deren Wesen gehalten, was sie in Alltag, Routine

und Traditionspflege auch sind. Er hat weniger gesehen, dass

diese Buehne erst das Spielfeld und der Tanzboden ist, der

vielen schöpferischen (und unsinnigen) Dingen den Raum gibt,

sich zu entfalten; nicht immer nur gelingenden Gestalten, sondern

auch einfach Zusammengezimmertem, Erzwungenem, Phantastischem und

Schrecklichem. Auch: das das Sinnhafte sich erst in ständiger

unlösbarer Spannung mit dem Unsinnigen und ‚Verrückten’

konstituiert. Hier war der Philosoph Moritz Schlick in seiner

‚Gestaltkritik’ realistischer. (Gower, 2000)

Cassirer ist auch bei dem Versuch, die besondere Bedeutung

symbolischer Formung hervorzuheben, der Versuchung verfallen

‚autoregulatives’ und vorsprachliches Verhalten zu

pathologisieren.16 Er hat wohl über eine (endliche) Folge

symbolischer Formen sinniert, aber nicht recht den entscheidenden

Punkt gefunden, von dem an die ‚Zerlegung’ des Menschen wieder

integriert werden muss; ab welcher Ebene subjektiver Komplexitaet

Abstraktionsvorgänge in Integrationsmechanismen umschlagen.

Dennoch hat Cassirer Integrationsbewegungen im Fortgang

menschlicher Paradigmen vorhergesehen. Sein Gedanke, dass

einstmals erlebte Seinsebenen im Fortschreiten dann ‚von der

Gegenseite aus betreten werden können’ legt diesen Gedanken nahe.

Cassirer hat magische und mythische Welten nie förmlich

geschieden, obwohl sich die massive Andersartigkeit magischen

Erlebens aus seinen wenigen guten Beschreibungen solcher

Verfasstheiten selbst ablesen lässt. Cassirer hatte den Mut, die

mentalen Prozesse mathematischer Theoriebildung auf unser

psychisches Geschehen, unsere Entwicklung zu übertragen. Ohne die

Auflösung ursprünglich primitiver Substanzbegriffe in

Relationsbegriffe, ohne den Funktionsbegriff als Erfassung einer

gesetzlichen fortwährenden Veränderung des gesamten Systems über

16 „…vollständig individuelle singuläre Wahrnehmung….sie ist im Grunde selbst nichts anderes als ein pathologisches Phänomen, das dann eintritt, wenn die Wahrnehmung ihren Halt an der Sprache zu verlieren beginnt und wenn ihr damit der wichtigste Zugang zum Reich des Geistigen verschlossen wird.“ ECW 13: 268)

Zeitabläufe hinweg, lassen sich mentale Prozesse (und ihre

Störungen) überhaupt nicht begreifen. Hier besteht bei Cassirer

eine starke Neigung, zeitweilig den Begriff der Substanz durch

den der Funktion/Relation komplett zu ersetzen. Die klinische

Erfahrung zeigt, dass das nicht möglich ist. Jede noch so exakte

Musterung und Codierung erlebter Realität lässt sich

oberflächlich vom sinnlichen Bezug, dem konkret Erlebten trennen

und doch schwingt immer eine untergründige Färbung mit, die aus

der Einzigartigkeit eben dieser Verbindung von Sinn und

Sinnlichkeit resultiert.17

Cassirer bietet mit der Kategorie der symbolischen Form etwas an,

- so Kittsteiner 2006: 99/100 - „mit dem sich die Begriffe

‚Erfahrungsraum’ und ‚Erwartungshorizont’ verbinden lassen.

Unterschaetzt bleibt aber das Moment des ‚Geworfenseins’ in den

Strom der Zeit, das sich auch anders ausdruecken laesst, als mit

Heideggerschem Vokabular.“

17 Giest 2012: Insgesamt gilt allerdings auch hier, daß Cassirer im Sinne seiner Grundauffassung dazu neigt, im Symbolbegriff um seiner hermeneutischen Integrität willen alle anderen möglichen Unterschiede aufzuheben, ohne je zwischen hermeneutischer und semiotisch-logischer Bedeutung zu unterscheiden….Cassirer erklärt dazu, daß die verschiedenen Kulturformen nicht « als bloße Nachbilder zu verstehen [seien], … [sondern] wir [müssen] in jeder von ihnen eine spontane Regel der Erzeugung erkennen; eine ursprüngliche Weise und Richtung des Gestaltens, die mehr ist als der bloße Abdruck von etwas, das unsvon vornherein in fester Seinsgestaltung gegeben ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wird der Mythos, wird die Kunst, werden die Sprache und die Erkenntnis zu Symbolen : nicht in dem Sinne, daß sie ein vorhandenes Wirkliches in der Form des Bildes, der hindeutenden und ausdeutenden Allegoriebezeichnen, sondern in dem Sinne, daß jede von ihnen eine eigene Welt des Sinnes erschafft und aus sich hervorgehen läßt. In ihnen stellt sich die Selbstentfaltung des Geistes dar, kraft deren es für ihn allein eine ‹ Wirklichkeit ›, ein bestimmtes und gegliedertes Sein gibt. »