Europa und ich: Ohnmacht und/oder Mitgestaltung?

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Europa und ich: Ohnmacht und/oder Mitgestaltung? Wolfgang Palaver Auf den ersten Blick erscheint das einzelne Individuum dem großen politischen Gebilde Europa gegenüber als hilf- los und ohnmächtig. Doch dieser oberflächliche Eindruck muss korrigiert und ergänzt werden. Gegen den vorherr- schenden Trend, die individuelle Existenz und die politi- schen Strukturen völlig voneinander loszulösen, möchte der folgende Beitrag zeigen, dass bei aller Unterschieden- heit der beiden Ebenen auch ein wichtiger Zusammenhang - eine Verbindung von Mystik und Politik - festgehalten werden muss. Mein Beitrag zielt auf die spirituellen Grundlagen, die ein christliches Engagement für die politi- sche Gestaltung Europas voraussetzt. Die Antwort auf das gestellte Thema erfolgt in drei Schritten. Erstens wird die gegenwärtig vordringlichste politische Aufgabe Europas erörtert, bei der es um den Aufbau einer positiven Identität geht, die nicht auf Kosten äußerer gemeinsamer Feinde gewonnen wird. Zweitens stellt sich die Frage nach den tieferen Wurzeln politischer Feindschaften, um dadurch zeigen zu können, dass schon unser Verhalten im ganz gewöhnlichen Lebensalltag über die großen politischen Entwicklungen mitentscheidet. Drit- tens wird mit dem spezifischen Beitrag auseinandergesetzt, den die christlichen Kirchen zu einer positiven europä- ischen Identität beitragen können. Das politische Zukunftsprojekt Europas: Europäische Identität ohne äußere Feinde Am Beginn der Überlegungen soll eine der zentralen poli- tischen Aufgaben stehen, die Europa heute und in Zukunft zu bewältigen hat. Es geht um die Entwicklung eines poli- 38 tischen Modells, das ein friedliches Zusammenleben von Regionen, Staaten, Kulturen und Religionen in Europa möglich macht, ohne dazu auf äußere Feinde angewiesen zu sein. Diese Aufgabe bedeutet einerseits eine Weiterent- wicklung jenes einzigartigen Friedensprojektes in Europa, das 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemein- schaft für Kohle und Stahl als Antwort auf die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs begonnen wurde und über ver- schiedene Zwischenstufen vorläufig zu jener gegenwärtigen Europäischen Union geführt hat, die seit Mai 2004 25 Staaten umfasst. Der politischen Einigung Europas kommt andererseits aber auch eine weltweite Bedeutung zu, weil es angesichts einer immer enger zusammenwach- senden Welt neue Formen des politischen Zusammenlebens braucht, die Solidarität und Einheit nicht mehr durch die Abgrenzung von einem gemeinsamen Feind herzustellen versuchen. Wer die politischen Probleme der Globalisie- rung wirklich zur Kenntnis nimmt - der globale Terroris- mus und die dagegen geführten Kriege sind an erster Stelle zu nennen -, wird erkennen, dass wir heute vor der Auf- gabe stehen, Formen des politischen Zusammenlebens zu entwickeln, die über alle bisherigen Modelle hinausgehen müssen. Ein unverstellter Blick auf die europäische Geschichte zeigt, dass die Überwindung von politischen Freund-Feind- Mustern im Zentrum unserer zukünftigen Anstrengungen liegen muss. Obwohl das Moment der Feindschaft nicht zwingend zur Politik gehört, lässt sich in der politischen Geschichte Europas unschwer immer wieder die prägende Kraft verschiedenster Freund-Feind-Muster entdecken. Schon in der griechischen Antike finden sich klare Ausfor- mulierungen des politischen Feinddenkens. In Aischylos' Tragödie Die Eumeniden aus dem 5. Jahrhundert vor 'Christus wird gezeigt, wie die Überwindung des Bürger- kriegs in der Stadt Athen erst durch die kollektive Feind- schaft nach außen möglich wurde. Die entscheidenden Verse betonen zwar das positive Ziel der Politik - gemein- 39

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Europa und ich:Ohnmacht und/oder Mitgestaltung?

Wolfgang Palaver

Auf den ersten Blick erscheint das einzelne Individuumdem großen politischen Gebilde Europa gegenüber als hilf-los und ohnmächtig. Doch dieser oberflächliche Eindruckmuss korrigiert und ergänzt werden. Gegen den vorherr-schenden Trend, die individuelle Existenz und die politi-schen Strukturen völlig voneinander loszulösen, möchteder folgende Beitrag zeigen, dass bei aller Unterschieden-heit der beiden Ebenen auch ein wichtiger Zusammenhang- eine Verbindung von Mystik und Politik - festgehaltenwerden muss. Mein Beitrag zielt auf die spirituellenGrundlagen, die ein christliches Engagement für die politi-sche Gestaltung Europas voraussetzt.

Die Antwort auf das gestellte Thema erfolgt in dreiSchritten. Erstens wird die gegenwärtig vordringlichstepolitische Aufgabe Europas erörtert, bei der es um denAufbau einer positiven Identität geht, die nicht auf Kostenäußerer gemeinsamer Feinde gewonnen wird. Zweitensstellt sich die Frage nach den tieferen Wurzeln politischerFeindschaften, um dadurch zeigen zu können, dass schonunser Verhalten im ganz gewöhnlichen Lebensalltag überdie großen politischen Entwicklungen mitentscheidet. Drit-tens wird mit dem spezifischen Beitrag auseinandergesetzt,den die christlichen Kirchen zu einer positiven europä-ischen Identität beitragen können.

Das politische Zukunftsprojekt Europas:Europäische Identität ohne äußere Feinde

Am Beginn der Überlegungen soll eine der zentralen poli-tischen Aufgaben stehen, die Europa heute und in Zukunftzu bewältigen hat. Es geht um die Entwicklung eines poli-

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tischen Modells, das ein friedliches Zusammenleben vonRegionen, Staaten, Kulturen und Religionen in Europamöglich macht, ohne dazu auf äußere Feinde angewiesenzu sein. Diese Aufgabe bedeutet einerseits eine Weiterent-wicklung jenes einzigartigen Friedensprojektes in Europa,das 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemein-schaft für Kohle und Stahl als Antwort auf die Katastrophedes Zweiten Weltkriegs begonnen wurde und über ver-schiedene Zwischenstufen vorläufig zu jener gegenwärtigenEuropäischen Union geführt hat, die seit Mai 200425 Staaten umfasst. Der politischen Einigung Europaskommt andererseits aber auch eine weltweite Bedeutungzu, weil es angesichts einer immer enger zusammenwach-senden Welt neue Formen des politischen Zusammenlebensbraucht, die Solidarität und Einheit nicht mehr durch dieAbgrenzung von einem gemeinsamen Feind herzustellenversuchen. Wer die politischen Probleme der Globalisie-rung wirklich zur Kenntnis nimmt - der globale Terroris-mus und die dagegen geführten Kriege sind an erster Stellezu nennen -, wird erkennen, dass wir heute vor der Auf-gabe stehen, Formen des politischen Zusammenlebens zuentwickeln, die über alle bisherigen Modelle hinausgehenmüssen.

Ein unverstellter Blick auf die europäische Geschichtezeigt, dass die Überwindung von politischen Freund-Feind-Mustern im Zentrum unserer zukünftigen Anstrengungenliegen muss. Obwohl das Moment der Feindschaft nichtzwingend zur Politik gehört, lässt sich in der politischenGeschichte Europas unschwer immer wieder die prägendeKraft verschiedenster Freund-Feind-Muster entdecken.Schon in der griechischen Antike finden sich klare Ausfor-mulierungen des politischen Feinddenkens. In Aischylos'Tragödie Die Eumeniden aus dem 5. Jahrhundert vor'Christus wird gezeigt, wie die Überwindung des Bürger-kriegs in der Stadt Athen erst durch die kollektive Feind-schaft nach außen möglich wurde. Die entscheidendenVerse betonen zwar das positive Ziel der Politik - gemein-

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same Freude und einmütige Liebe -, aber der gemeinsameHass als Möglichkeitsbedingung dafür wird nicht ver-schwiegen: »Freuden mög wechselnd man tauschen, / Ein-mütig liebenden Herzens, / Und auch hassen eines Sinns!«(Aischylos, V. 984-986; vgl. Palaver, Quellen 36f.) DerKrieg gegen die äußeren Feinde der Polis soll den innerenFrieden herstellen.

Natürlich gehören diese kulturgeschichtlich wichtigenVerse nicht zur Geschichte Europas im engeren Sinn, abersie sind ein früher Beleg für ein politisches Muster, dasauch tiefe Spuren in Europa selbst hinterlassen hat. Im8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung findet sich ein ersterBeleg für die politische Verwendung des Begriffs Europa,der gleichzeitig auch deutlich vom Freund-Feind-Denkengeprägt ist. Anlässlich des Sieges von Karl Martell über diemuslimischen Araber in der Schlacht von Poitiers im Jahre732 wird von den siegreichen Europäern - Europenses -gesprochen, die sich gegen den gemeinsamen Feind ver-bündet hatten (vgl. de Rougemont 46f.).1 Neben den mus-limischen Arabern diente später auch das östliche Byzanzals Feind zur Selbstidentifikation eines auf den Westen be-schränkten Europas (vgl. Harle 67f.).

Auch im Mittelalter war das politische Europabewusst-sein eng mit dem Kampf gegen gemeinsame Feinde ver-bunden. Äußere Feinde - vorrangig der Islam - trugenwesentlich zur Entstehung einer europäischen Identität bei.Vor allem die Kreuzzüge dienten der Einheit der westli-chen Christenheit, indem sie den Kampf gegen islamischeAraber, Juden und das östliche Byzanz antrieben. Ebensoförderte das Vordringen der Mongolen im Osten Europasdiese innere Einheit. Auf dem Ersten Konzil von Lyon imJahre 1245 nannte Papst Innozenz IV. die drei äußeren

De Rougemont 46: »Zum ersten Mal wird hier mit dem WortEuropäer eine kontinentale Gemeinschaft bezeichnet, die alle Völkernördlich der Pyrenäen und der Alpen umfaßt und die sich gegeneinen gemeinsamen Feind verteidigt.«

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Feinde, die im Mittelalter für die Entstehung des christli-chen Europas bestimmend waren: »insolentia Saracenorum,schisma Graecorum und sevitia Tartarorum« - die über-heblichen Sarazenen! Araber, die schismatischen Griechen!Byzanz und die schrecklichen Tataren/Mongolen (zit, nachGeremek 92). Am Ende des Mittelalters tauchte mit denTürken ein neuer äußerer Feind auf, der wiederum deninneren Zusammenhalt in Europa stärkte. Zu Recht fasstder Essayist Denis de Rougemont diese Periode der euro-päischen Geschichte im Kapitel »Der Türke als Sünden-bock« zusammen (de Rougemont 80-82).

Der Zusammenbruch der mittelalterlichen Einheit dereuropäischen Christenheit förderte hingegen das Entstehenpolitischer Freund-Feind-Muster im Inneren Europas. Derneuzeitliche Nationalstaat prägte und prägt bis heute diepolitische Ordnung auf unserem Kontinent. Seine konsti-tutive Feindschaft nach außen konnte zwar die mit derEntstehung des Kapitalismus einhergehende zunehmendeinnerstaatliche Konkurrenz einhegen, indem er deren nega-tive Folgen - den Neid, der so leicht mit dem Wetteifereinhergehen kann - nach außen ableitete, gleichzeitig be-drohte der Nationalstaat aber in Folge der technischenEntwicklung immer mehr den Weltfrieden, weil die ausden nationalen Feindschaften hervorgehenden Kriege sichnicht mehr begrenzen ließen. Zwei Weltkriege haben unsim vergangenen Jahrhundert gezeigt, dass der traditionelleNationalstaat mit seiner konstitutiven Verfeindung nachaußen in der modernen Welt seine moralische Berechtigungverloren hat. Das europäische Einheitsprojekt verdanktsich ausdrücklich dieser Einsicht. Ein politisch geeintesEuropa soll zukünftige Kriege für immer verhindern.

Doch auch die Geschichte der Europäischen Unionbleibt von Freund-Feind-Mustern begleitet. Der nach demZweiten Weltkrieg ausbrechende Kalte Krieg spaltete dieWelt in Ost und West und trug damit indirekt auch zurEinigung Westeuropas bei. Die Erbfeinde Deutschland undFrankreich konnten sich angesichts eines gemeinsamen

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Feindes im Osten - die Sowjetunion mit ihren Satelliten-staaten - leichter einigen.

Das Ende des Kalten Krieges hat Europa vor die Aufga-be gestellt, den Einigungsprozess voranzutreiben, ohneweiter auf gemeinsame Feinde angewiesen zu sein. Geradedeshalb ist die gegenwärtige Erweiterung der EU - dieEuropäisierung des europäischen Kontinents - so wichtig.Der Eiserne Vorhang darf nicht die Grenze der EU blei-ben. Die heutige Lage Europas zeigt aber, wie schwierig esist, ohne äußere Feinde innere Einheit herzustellen. Einer-seits sehen wir, wie immer wieder Streit und Spaltungendie Einheit innerhalb der EU gefährden. Die im Jahre 2000von 14 Mitgliedsstaaten der EU gegen Österreich verhäng-ten Sanktionen waren beispielsweise eine Folge dieser Kri-sensituation (vgl. Schneider). Und noch bevor die Erweite-rung über den alten Eisernen Vorhang hinaus vollzogenist, droht schon wieder die Abspaltung eines Kerneuropas.Andererseits können wir seit dem Ende des Kalten Kriegesbeobachten, wie da und dort neue Feindbilder konstruiertwerden, um die innere Einheit Europas zu fördern (Vgl.Ash; Niethammer 530f.). Eine erste, stärker von der politi-schen Linken vorangetriebene Tendenz versuchte in derAbgrenzung von den USA Europas Identität zu festigen.

Die Terroranschläge vom 11. September 2002 stopptenfür kurze Zeit diese Entwicklung. Angesichts Tausendergetöteter Menschen schien die westliche Welt wieder eingeschlossenes Bündnis zu sein. Doch bald verstärkten sichantiamerikanische Strömungen wieder, die von Politikernwie z. B. Gerhard Sehröder geschickt für ihre eigenen in-nenpolitischen Interessen genutzt wurden. Zu Recht hatvor kurzem der niederländische Schriftsteller Leon deWinter vor dem sich breit machenden Antiamerikanismusgewarnt, indem er auf den untergründigen Antisemitismushinwies, der teilweise damit einhergeht. Er spricht von ei-nem »alten Gift«, das sich im neuen Europa wieder auszu-breiten scheint. Mit den Ereignissen des 11. Septembersstieg aber auch die Gefahr, jene alte Feindschaft neu zu be-

leben, die an der Wiege des politischen Europas stand.Deutliche antiislamische Stellungnahmen des italienischenMinisterpräsidenten Berlusconi oder des russischen Präsi-denten Putin lassen erkennen, dass heute auch wieder dieGefahr besteht, Europas Identität in Abgrenzung zum Is-lam zu bestimmen. Selbst unser eigenes kleines LandÖsterreich hat große Mühe, sich von traditionellen politi-schen Freund-Feind-Mustern zu lösen. Das verkrampfteFesthalten an der Neutralität, die als unverzichtbarer Pfei-ler der österreichischen Identität angesehen wird, übersieht,dass jede Neutralität klare Freund-Feind-Muster braucht,um ihrer Bestimmung gerecht werden zu können.

In einem wichtigen Essay hat der englische Zeithistori-ker Timothy Garton Ash vor zwei Jahren darauf aufmerk-sam gemacht, dass Europa nur dann den Gefahren desFeinddenkens entkommen kann, wenn es gelingt, einepositive Identität Europas aufzubauen, die sich nicht gegeneinen Anderen abgrenzen muss.i Auch ich halte diese Auf-gabe für zentral und frage mich, welchen Beitrag wirChristen und unsere Kirchen dazu leisten können undmüssen.

Von der persönlichen Wurzel politischer Feindschaften:Die großen europäischen Romanschriftsteller entlarvendie scheinbare Eigenständigkeit politischer Strukturen

Angesichts dieser erdrückenden Vorherrschaft von Freund-Feind-Mustern in der Welt der großen Politik stellt sich ra-dikal die Frage, ob das nicht die Kräfte eines jeden einzel-nen Menschen weit übersteigt und wir daher ohnmächtigeZuschauer der politischen Entwicklungen bleiben müssen.Sozialwissenschaften und politische Philosophie haben ge-rade in der modernen Welt solchen Ohnmachts gefühlen

2 Ash 68: »The task for those who believe, as I do, in a project called-Europe- is to build a strong, positive European identity, one thatbinds people emotionally to a set of institutions, without the helpof a clear and present Other.«

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oft Vorschub geleistet. Die modernen politischen Ideolo-gien Kapitalismus und Kommunismus wurzeln beide imutopischen Traum, allein durch Strukturveränderungen Ge-rechtigkeit und Wohlstand herstellen zu können (vgl.Grote/McGeeney 141-143). Doch dieser Traum ist eineIllusion, der übersieht, dass Struktur- und Selbstverände-rung - bzw. Strukturenethik und Individualmoral - einan-der ergänzen und unterstützen müssen. Die politischeTheorie Carl Schmitts mit ihrer Betonung des Freund-Feind- Verhältnisses und das neoliberale Wirtschaftsdenkenvon Friedrich August von Hayek, das sich ausdrücklichgegen das Freund-Feind-Denken richtet, dienen im Fol-genden als negative Beispiele für die vorherrschende Be-vorzugung der Makroebene.

Der deutsche Staatsrechtsgelehrte Carl Schmitt ist fürseine erstmals im Jahre 1927 ausformulierte These berühmtgeworden, dass das Politische gerade in der Freund-Feind-Unterscheidung bestehen würde: »Die spezifisch politischeUnterscheidung, auf welche sich die politischen Handlun-gen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterschei-dung von Freund und Feind.« (Schmitt 26) Ausdrücklichmeinte Schmitt damit das außenpolitische Verhältnis zwi-schen Staaten oder politischen Großräumen, indem er dasprivate Verhältnis zwischen Menschen von dieser Theseausnahm. Mit dieser radikalen Trennung von privatem Ver-halten der Individuen einerseits und den politischen Ver-hältnissen andererseits glaubte er auch die biblische Auf-forderung zur Feindesliebe entschärfen zu können. NachSchmitt ist in der Bergpredigt »vorn politischen Feindnicht die Rede« (Schmitt 29).

Zur Unterstützung dieser These verweist er auf die Ge-schichte jener schon oben erwähnten europäischen Chris-tenheit, die sich gerade immer wieder durch ihre Feind-schaften nach außen konstituierte: »In dem tausendjährigenKampf zwischen Christentum und Islam ist niemals einChrist auf den Gedanken gekommen, man müsse ausLiebe zu den Sarazenen oder den Türken Europa, statt es

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zu verteidigen, dem Islam ausliefern. Den Feind im politi-schen Sinne braucht man nicht persönlich zu hassen underst in der Sphäre des Privaten hat es einen Sinn, seinen-Feind-, d. h. seinen Gegner, zu lieben.« (Schmitt 29)

Weil Schmitt nach der Machtergreifung Hitlers für eini-ge Jahre den Nationalsozialismus unterstützte, glaubenviele, seine These ließe sich einfach ignorieren. Die heutigeWeltlage konfrontiert uns aber wieder mit seinen Über-legungen. So begegnet uns in Samuel P. Huntingtons Thesevom Kampf der Kulturen eine Freund-Feind-Logik, diedeutliche Parallelen zu Schmitt aufweist, und die oft wie-derholte These, dass mit der Bergpredigt keine Politik zumachen sei, versucht ähnlich wie Schmitt die biblischeAufforderung zur Feindesliebe durch ihre Privatisierungpolitisch zu entschärfen.

Auch auf das vorherrschende neoliberale Wirtschafts-denken müssen wir hier einen kritischen Seitenblick wer-fen, denn dieses ist gerade mit dem moralischen Anspruchin die Welt getreten, durch eine möglichst freie Entfaltungdes Wettbewerbs alle alten Formen von Freund-Feind-Politik für immer aus der Welt verbannen zu können. Derfreie Handelsgeist werde Kriege zum Verschwinden brin-gen. Dabei stimmen aber interessanterweise die traditionel-len Vertreter der Freund-Feind-Politik mit den Befürwor-tern des ungehemmten Wettbewerbs darin überein, dassdie Grundsätze der Individualmoral und die ethischenRegeln für die großen Strukturen klar auseinander zu hal-ten sind.

Der neoliberale Wirtschaftsnobelpreisträger Hayekglaubt, dass mittels der Unterscheidung zwischen Regeln,die bloß für Kleingruppen gültig sind und jenen für Groß-gruppen Freund-Feind-Verhältnisse überwunden werdenkönnen: »Eine friedliche Offene Gesellschaft ist nur mög-lich, wenn sie auf die Methode, Solidarität zu erzeugen,verzichtet, die in der kleinen Gruppe am wirksamsten ist,nämlich nach dem Prinzip zu handeln, -wenn Leute inHarmonie sein sollen, dann lasse man sie nach einem ge-

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meinsamen Ziel streben-, Dies ist eine Vorstellung davon,wie man Kohärenz schaffen kann, die geradewegs zur In-terpretation aller Politik als einer Sache von Freund-Feind-Beziehungen führt.« (Hayek 200f,) Ähnlich wie Schmittunterscheidet auch Hayek zwischen einer Kleingruppen-moral und den Regeln für die großen Strukturen. Das neo-liberale Wirtschaftsdenken geht in seiner Trennung von In-dividualmoral und Strukturenethik sogar über die PositionSchmitts hinaus, insofern es alle positive Hoffnung auf einewundersame Wohltätigkeit individueller Sünden setzt. Dieprivaten Laster der einzelnen - Habgier, Geiz und Neid -sollen zum Wohlstand aller führen.

Doch hat sich dieser Wunschtraum erfüllt? In unseremZeitalter der Globalisierung erkennen wir zwar, wie dieweltweite ökonomische Konkurrenz alte politische Gren-zen obsolet werden lässt und traditionelle Freund-Feind-Muster sich aufzulösen beginnen. Aber ist damit tatsäch-lich das Problem der politischen Feindschaft gelöst? Andie Stelle der nationalstaatliehen Feindschaften, die aucheine gewisse Hegung der ökonomischen Konkurrenz be-wirkten, ist eine weltweite Konkurrenz getreten, die denglobalen Terrorismus hervorbringt. Versuche, den Terroris-mus auf einen Kampf der Kulturen zurückzuführen, ver-schleiern seinen tatsächlichen Ursprung in jenem Neid,den die globale Konkurrenz mit sich bringt (vgl. Girard,Gewalt 441-443; Palaver, Terrorismus 219-221). Weil dergegen das Feind-Denken angetretene Neoliberalismus ähn-lich wie Schmitt die tiefere Wurzel politischer Konflikte imNeid zwischen einzelnen Individuen ausblendet, bedeutetseine Ausbreitung keine Überwindung des Problems, son-dern dessen Globalisierung und Verschärfung.

Auch wenn sich - um auf Schmitts These zurück-zukommen - die Bergpredigt sicher nicht naiv politischumsetzen lässt, möchte ich gegen die Trennung zwischenindividuellem Verhalten und den großen politischen Struk-turen die Verbundenheit von Mikro- und Makroebenehervorheben. Wir können uns dabei auf die großen euro-

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päischen Romanschriftsteller berufen, die diesen Zusam-menhang in ihren Schriften immer wieder betont haben.Der französisch-amerikanische Kulturtheoretiker ReneGirard hat diese Einsichten systematisiert und vor allemam Beispiel von Autoren wie Proust oder Dostojewski ge-zeigt, wie eng Mikro- und Makrokosmos im menschlichenLeben zusammenhängen (Girard, Figuren 224-236; Ressu-rection 59, 139f.; Heilige 41H). Neidischer Wetteifer undFeindschaft auf der individuellen Ebene führen nämlichkaskaden artig zu den Feindschaftsmustern auf politischerEbene. Ein arabisches Sprichwort bringt die in den ele-mentarsten menschlichen Verhältnissen wurzelnde Feind-schaft mit ihrer Neigung, sich bis hin zur weltpolitischenEbene aufzuschaukeln, gut zum Ausdruck: "Ich gegenmeine Brüder, meine Brüder und ich gegen unsere Vettern,meine Brüder, Vettern und ich gegen die Welt.« (Zit, nachGellner 111) Sozial philosophisch hat der deutsche Schrift-steller Hans Magnus Enzensberger festgehalten, dass derKonflikt mit dem Nachbarn der Fremdenfeindschaft vor-ausgeht: »Der verabscheute Andere ist ursprünglich wohlimmer der Nachbar, und erst, wenn sich größere Gemein-wesen gebildet haben, wird der Fremde jenseits der Grenzezum Feind erklärt.« (Enzensberger 11) Die Feindstruktu-ren in der Politik können nur dann überwunden werden,wenn auch die Feindschaften in den elementaren menschli-chen Beziehungen ein Ende finden. Letztlich haben diegroßen Schriftsteller in ihrem eigenen Leben erkannt, dasses eine persönliche Umkehr braucht - eine Absage an densatanischen Stolz und den giftigen Neid -, um auch diesozialen und politischen Verhältnisse verändern zu kön-nen.

Ein gutes Beispiel dafür ist das Romanwerk Dostojew-skis, das in einem Aufruf zur persönlichen Vervollkomm-nung gipfelt. Weil für den russischen Dichter alles wie;n--einem großen Ozean zusammenhängt, erkannte er, dassauch das scheinbar nebensächlichste Verhalten der Men-schen die großen politischen Entwicklungen beeinflusst.

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Im seinem Roman Die Brüder Karamasow findet sich einebeeindruckende Stelle, die diese umfassende Sicht des rus-sischen Dichters zum Ausdruck bringt:

»Tag für Tag und Stunde für Stunde, jede Minute habedich im Auge und gib acht auf dich, dass deine Erschei-nung eine wohlgestalte ist. Es geschieht einmal, daß du aneinem kleinen Kind vorbeigehst, grollend, mit einem häßli-chen Wort auf den Lippen und Zorn im Herzen; vielleichthast du das Kind nicht einmal beachtet, aber es hat dichgesehen, und dein Bild, ungestalt und unanständig, ist viel-leicht in seinem wehrlosen kleinen Herzchen geblieben.Du hast es nicht einmal gemerkt, aber vielleicht hast dudamit einen bösen Samen in das Kind gesät, und er könntein ihm aufgehen, und dies nur, weil du vor dem Kind dichnicht in acht genommen hast, weil du in deinem Innerendie tätige, die umsichtige Liebe nicht großgezogen hast.«(Dostojewskij, Brüder 515)

Auf den ersten Blick wirkt eine solche moralische Auf-forderung politisch naiv und für die großen ProblemeEuropas ungeeignet. Schon zu seinen Lebzeiten wurdeDostojewski deshalb vom liberalen Staatsrechts gelehrtenAlexander D. Grad6wskij scharf kritisiert. DostojewskisAppell an die persönliche Umkehr genüge nicht, es kommenämlich einzig und allein auf die Errichtung geeigneter so-zialer Institutionen an. Dostojewski hat in der von ihmherausgegeben Monatszeitschrift Tagebuch eines Schrift-stellers auf diesen Vorwurf geantwortet und Grad6wskijentgegen gehalten, dass dessen Art von Wissenschaft einenlebendigen Organismus wie mit einem Messer zerschneide,wenn er die sozialen Institutionen von der persönlichenVervollkommnung abtrenne. Die in der FranzösischenRevolution neben der Freiheit und Gleichheit geforderteBrüderlichkeit setze nämlich brüderliche Verhältnisse zwi-schen den Menschen voraus und könne nicht ohne grau-same, alle Menschen auf den Status von Insekten reduzie-rende Zwangsmaßnahmen als bloße Institution eingerichtetwerden (Dostojewski, Tagbuch 524-549).

Auch wenn Dostojewski in seinen politischen Essaysselbst immer wieder den Versuchungen des Feinddenkens- auch des Antisemitismus - erlegen ist, bleiben diese Ein-wände gegen Grad6wskij bedeutend. In seinem RomanDie Brüder Karamasow finden sie sich an entscheidendenStellen wieder. So erklärt der fremde Gast dem StarezSossima, warum die gelebte Brüderlichkeit absoluten Vor-rang vor ihrer institutionellen Verwirklichung haben muss,ein Gedanke, den der Starez später selbst in seine Lehreaufnimmt:

»Um die Welt verwandeln zu können, müssen die Men-schen selbst innerlich einen anderen Weg einschlagen. Be-vor nicht jeder tatsächlich zum Bruder des anderen wird,kann es keine Brüderlichkeit geben. Keine Wissenschaftund kein Utilitarismus werden den Menschen jemals dazubringen, sein Hab und Gut und seine Rechte redlich zuteilen. Jeder wird sich übervorteilt fühlen, alle werdenmurren, einander beneiden und einander vertilgen.«(Dostojewskij, Brüder 488; vgl. 510)

In der politisch wichtigen und berühmten Legende vomGroßinquisitor zeigt Dostojewski im selben Roman auf,welche Konsequenzen von den rein institutionellen Ein-richtungen des Friedens zwischen den Menschen zu er-warten sind und zielt damit indirekt auf die beiden obendiskutierten Versuchungen unserer Welt: einerseits die tra-ditionellen politischen Freund-Feind-Muster und anderer-seits die Abschaffung des herkömmlichen Menschen durcheine ökonomistische Zentralverwaltung - die universelleVereinigung der Welt in Form eines »allgemeinen undgleichgesinnten Ameisenhaufens« (Dostojewskij, Brüder415; vgl. Palaver, Distanz 116). Was der russische Dichterin seiner Legende ausgesprochen hat, hat sich in der mo-dernen Welt vielfach bestätigt und erklärt, warum diese zueinem der großen klassischen Texte des politischen Den-kens geworden ist.

Dostojewskis Einsicht in den organischen Zusammen-hang von persönlichem Verhalten und politischen Struktu-

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ren bedeutet für die Frage nach der Zukunft Europas, dasswir alle in unserem ganz alltäglichen Leben immer auchschon an den politischen Entwicklungen mitwirken. Woimmer wir den Versuchungen zur Feindschaft widerstehen,ermöglichen wir auch politische Formen des Zusammen-lebens, die nicht auf äußere Feinde angewiesen bleiben.Wo wir aber diesen Versuchungen nachgeben, ebnen wirfür die großen Freund-Feind-Muster die Bahn. Dostojew-ski ist in seiner Einsicht in den organischen Zusammen-Hang zwischen persönlichem Verhalten und den politischenStrukturen entschieden von der christlichen Tradition ge-prägt, die diesen Gedanken immer wieder herausgestrichenhat.

Ein frühes Beispiel dafür ist Augustinus, der den Un-frieden nicht auf einen Kampf zwischen fremden Kulturen,sondern auf die Feindschaft im eigenen Haus zurückführt.Für den lateinischen Kirchvater nennt Mt 10,36 die tiefereUrsache des Unfriedens: »Des Menschen Feinde sind seineeigenen Hausgenossen« (Augustinus 537f [XIX.5]). DieseEinsicht führt ihn konsequent zur These, dass der staatli-che Friede bereits auf dem Frieden in der Familie aufbauenmuss (Augustinus 560 [XIX.16]j vgl. Elshtain 34-42, 96).

Auch die Tradition der katholischen Soziallehre betontden Zusammenhang von persönlichem Verhalten und poli-tischen Strukturen. So heißt es im Konzilsdokument Gau-dium et spes, dass die »tieferen Wurzeln« für die in der»gesellschaftlichen Ordnung vorkommenden Störungen«im »Stolz und Egoismus der Menschen« zu finden sind(Nr.25). Und Papst Johannes Paul 11. führt die »Struktu-ren der Sünde« - eines der zentralen Beispiele für ihn istdie Spaltung der Welt in Ost und West während des KaltenKrieges - in seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis auf die»Gier nach Profit« und dem »Verlangen nach Macht« zu-rück, dem sowohl »Einzelpersonen- als auch »Nationenund Blöcke« verfallen können (Nr.37). Diese Einsicht inden Zusammenhang von persönlichem Verhalten und poli-tischen Strukturen führt konsequent zur These, dass sich

Selbstveränderung und Strukturveränderung gegenseitrgbedingen. Am ausführlichsten hat dies Papst Paul VI. inseinem apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi ausge-sprochen: »Die Kirche erachtet es gewiss als bedeutendund dringlich, Strukturen zu schaffen, die menschlicherund gerechter sind, die Rechte der Personen mehr achten,weniger beengend und unterdrückend sind; sie ist sich aberdessen bewusst, dass die besten Strukturen, die idealisti-schen Systeme schnell unmenschlich werden, wenn nichtdie unmenschlichen Neigungen im Herzen des Menschengeläutert werden, wenn nicht bei jenen, die in diesenStrukturen leben oder sie bestimmen, eine Bekehrung desHerzens und des Geistes erfolgt.« (Nr.36)

Der biblische Geist der Feindesliebe will verkörpert werden:Die christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinden alsBausteine einer europäischen Kultur des Friedens

Dostojewskis Aufforderung zur persönlichen Umkehr ver-dankt sich letztlich seinem christlichen Hintergrund. Aus-drücklich verweist der Starez Sossima auf das Bild Christi,das wie ein »kostbarer Diamant der ganzen Welt leuchtenwird« und damit das Fundament einer wahren Brüderlich-keit legt (Dostojewskij, Brüder 510). Ähnlich hat diesChiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, an-lässlich der Tagung »1000 Städte für Europa« in Innsbruckim November 2001 in ihrem Referat »Geschwisterlichkeitin der Politik als Schlüssel zur Einheit Europas und derWelt« zum Ausdruck gebracht: »Die Geschwisterlichkeitwurde der Menschheit von Jesus geschenkt, der vor seinemTod gebetet hat: -Vater, alle sollen eins sein.. Jesus offen-bart, dass Gott der Vater aller ist und die Menschen folg-lich untereinander Brüder und Schwestern, eine einzigeFamilie sind. Damit reißt Jesus die Mauern ein, die die-Gleichen- von den -Anderen-, die Freunde von den Fein-den, eine Stadt von der anderen trennen. Er befreit jedenMenschen aus den Banden, die ihn gefangen halten, aus

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den unzähligen Formen von Abhängigkeit und Sklaverei,aus jeder ungerechten Beziehung und bewirkt so eine wah-re Revolution auf existentieller, kultureller und politischerEbene.« (Lubich 27)

In Leben und Lehre Jesu Christi entdecken wir eineradikale Absage an das übliche Feinddenken. Während fürAischylos die gegenseitige Liebe den gemeinsamen Hasszur Voraussetzung hat, fordert Jesus in der Bergpredigtdazu auf, herkömmliche Freund-Feind-Muster zu über-winden: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollstdeinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich abersage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euchverfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel wer-det.« (Mt 5,43-45)

Girards Kulturtheorie hilft uns zu verstehen, wie sehrdie biblische Botschaft mit ihrer Betonung der Feindesliebeeine neue Form des Zusammenlebens der Menschen in dieWelt bringt, die die bisherigen kulturellen Formen grund-sätzlich in Frage stellt (vgl. Palaver, Theorie 251-345).Während das Freund-Feind-Denken in einem Gründungs-mord am Beginn der menschlichen Zivilisation wurzelt, beidem mittels eines Sündenbockmechanismus Frieden aufKosten eines gemeinsamen Feindes erzeugt wurde, decktdie biblische Offenbarung diese Gewaltstrukturen auf,indem sie sich mit den ausgeschlossenen Sündenböckender menschlichen Geschichte solidarisch erklärt. In derEucharistie feiern wir diese Umkehr der Sündenbocklogik(vgl. Schwager 279-287; Niewiadomski). Von der LiebeGottes beschenkt können wir uns für alle Menschen öff-nen. Der Empfang der Hostie ist keine Wiederholung derarchaischen Opferlogik oder eines damit verbundenenFeindmusters, wie die lateinische Wurzel des Wortes ver-muten lassen könnte - hostia bedeutet Menschen- oderTieropfer und hostis steht für Fremder oder Feind -, son-dern die Öffnung für jene Wirklichkeit Gottes, die in derHingabe Jesu eine Liebe sichtbar werden ließ, die allenausgrenzenden Formen des Opfers ein Ende bereitete. Am

Beginn der Eucharistie steht nicht das Einschwören auf ge-meinsame Feinde, sondern das Bekenntnis der eigenenSchuld. Getragen von der Barmherzigkeit Gottes brauchenwir unsere eigenen Schwächen nicht mehr auf Fremde ab-zuwälzen.

Das in der Eucharistie gefeierte Geheimnis gehört zujenen kulturprägenden Impulsen unserer Welt, die auf einLeben ohne politische Feindstrukturen hoffen lässt. Seitden Anfängen der frühen Kirche hat das Christentum indiese Richtung auch die Entwicklung der europäischenKultur beeinflusst. Neben den großen Freund-Feind-Strukturen, die die Geschichte der Christenheit begleiten,gibt es auch ein Fortwirken des Offenbarungsimpulses, derzu einer Humanisierung der Welt beigetragen hat. Immerwieder haben einzelne Menschen und Gruppen Zeugnisdafür abgelegt, dass Feindschaft kein unausweichlichesSchicksal der Menschen ist. Als Beispiel sei auf Franz vonAssisi, einem der großen Heiligen der europäischen Ge-schichte, hingewiesen, der sich mitten in der Zeit derKreuzzüge für die von Jesus grundgelegte Feindesliebeund Gewaltfreiheit entschied. So wollte er beispielsweisesowohl die als Ketzer bekämpften Katharer als auch dieandersgläubigen Mauren ohne Waffengewalt bekehren.»Als er 1219 das Kreuzfahrerheer nach Ägypten begleitete,konnte er es wagen, mitten durch die vor Damiette Kämp-fenden zum Sultan vorzudringen und ihm von der Liebedes Erlösers zu erzählen; er wies damit der Mission desKreuzes einen neuen Weg; statt mit Waffen zu besiegen,sollte sie durch Liebe bezwingen.« (Franzen 206f.)

Mit Franziskus ist einer jener europäischen Heiligen er-wähnt, die als Vorbild für jene persönliche Vervollkomm-nung stehen, die uns allen aufgetragen ist. Am Beginn derchristlichen Tradition wurde Europa - im Gegensatz zumschon lange vorher hoch gepriesenen Orient - erst dannzu einem positiven Begriff, als es selbst auf das Vorbildvon Heiligen verweisen konnte. Sulpicius Severus, der Bio-graph des hl. Martin von Tours, erkennt um das Jahr 400

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eine solche positive Entwicklung in Europa: »Wenn du bisnach Ägypten gehst, das sich so stolz der großen Zahl undder Tugenden seiner Heiligen rühmt, kannst du es trotz-dem wissen lassen, daß Europa ganz Asien nicht nachstehtund dies ganz allein schon wegen Martinus.« (Zit. nach deRougemont 45)

Der hl. Martin fand viele Nachfolger und Chiara Lubichkann zugestimmt werden, wenn sie herausstreicht, dass»Europa auf Heiligkeit gegründet ist« (Lubich 27). Siespannt den Bogen von Benedikt von Nursia über dieSlawenapostel Kyrill und Methodius, Brigitta von Schwe-den, Katharina von Siena sowie Edith Stein bis hin zurEinleitung von Seligsprechungsprozessen für Robert Schu-man und Alcide de Gasperi, zwei Gründervätern der mo-dernen Europäischen Einigung.

Es wäre eine konsequente Fortsetzung dieser Linie,wenn wir in Zukunft auch den oberösterreichischen Bau-ern und Wehrdienstverweigerer Franz Jägerstätter in dieseReihe europäischer Heiliger aufnehmen könnten. Jäger-stätter wurde 1943 von den Nationalsozialisten hingerich-tet, weil er sich geweigert hatte, am EroberungskriegHitlers teilzunehmen. Ausdrücklich widersprach er derideologischen Rechtfertigung dieses Krieges, die denKampf gegen den Bolschewismus als Rettung des »Chri-stentums in Europa- ausgab Qägerstätter 139). Für Jäger-stätter waren sowohl die regelmäßige Feier der Eucharistie,die Verehrung der Heiligen als auch die eingehende Aus-einandersetzung mit der Bibel wichtige Quellen seinerSpiritualität (vgl. Scheuer). Mit dem hl. Franziskus verbin-det ihn dabei vor allem sein Beitritt zum Dritten Orden imJahre 1940 (vgl. Putz 103-105). Jägerstätters Betonung derFeindesliebe verdankt sich seiner Bibellektüre und stelltihn in die Reihe jener großen europäischen Christen, diesich vom herkömmlichen Feinddenken distanzierten. ZweiAufzeichnungen - die zweite bereits 1943 im Gefängnis inBerlin geschrieben - unterstreichen dies deutlich: »DieLiebe, sie soll in uns so wachsen, daß wir auch unsere

Feinde lieben können, dann erst können und dürfen wiruns Christen nennen, denn seine Freunde lieben, das kannder Antichrist oder der Heide auch- Qägerstätter 116). -»Feindesliebe ist nicht charakterlose Schwäche, sondernheldische Seelenkraft und Nachahmung des göttlichen Vor-bildes- Qägerstätter 184).

Es ist die in den großen Heiligen repräsentierte christli-che Tradition, die es fortzusetzen gilt, um jene europäischeIdentität zu fördern, die ein politisches Zusammenlebenohne äußere Feinde möglich machen soll. Für uns einzelneChristen heißt dies zuerst, an unserer eigenen persönlichenUmkehr zu arbeiten. In einem weiteren notwendigenSchritt sind aber damit vor allem auch die christlichen Kir-chen und Gemeinden aufgefordert, zu einer europäischenKultur des Friedens beizutragen. Die biblische Botschaftder Feindesliebe darf nicht spiritualistisch zur Flucht ausder Kultur und den politischen Verhältnissen führen, son-dern fordert seine Verkörperung. So wie der gewaltfreieGott der Bibel in Christus Mensch geworden ist, so zieltauch der Geist der Feindesliebe auf eine konkrete sozialeExistenz. Die Kirche ist der politische Körper, in dem sichdieser biblische Geist zuerst verwirklichen muss. Die ka-tholische Kirche ist dabei ganz besonders herausgefordert,wenn sie allen Versuchungen, sich durch Abgrenzungen zudefinieren, widersteht und mit dem modernen Kirchen-vater Henri de Lubac den Katholizismus als jene »einzigeWirklichkeit« versteht, »die, um zu sein, es nicht nötig hat,sich entgegenzusetzen, also alles andere als eine -geschlos-sene Gesellschaft-« ist (de Lubac 263). Es ist genau dieseroffene Katholizismus, der uns helfen muss, eine positiveeuropäische Identität ohne äußere Feinde aufzubauen.

Insofern in den kirchlichen Gemeinden Feindschaften,Nationalismus sowie ethnische Vorurteile überwunden undVergebung gelebt wird, tragen sie entscheidend zu einereuropäischen Kultur des Friedens bei. So wie in unsereneigenen Gemeinden erste Schritte zur Überwindung vonFeindschaft gesetzt werden müssen, so sind wir auch auf-

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Es geht in Europa um das Bauen von Brücken (ebd.Nr. 148-153). Überregionale Projekte über Diözesan- undLändergrenzen hinweg gehören genauso dazu wie dasEngagement einzelner Pfarrgemeinden. Partnerschaftenzwischen Pfarrgemeinden in Ost und West könnten bei-spielsweise dazu beitragen, die Wunden des Kalten Kriegesschneller zu heilen. Wichtiger als die Nennung Gottes oderein entsprechender Hinweis auf die christliche Tradition ineiner zukünftigen europäischen Verfassung, sind tätigeChristen, die dem Weg der Heiligen nachfolgen und christ-liche Gemeinden, die den Geist Jesu Christi in sozialer,politischer Gestalt lebendig werden lassen. EntsprechendeHinweise in der Verfassung könnten für uns aber eine zu-sätzliche Motivation sein.

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