„Sterb’ ich in Polen …“ Strategische und taktische Vorbedingungen der Kriegsführung an der...

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S ONDERDRUCK AUS : Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Europa Festschrift für Arnold Suppan zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Marija Wakounig, Wolfgang Mueller und Michael Portmann unter redaktioneller Mitwirkung von Anita Biricz, Andreas Rathberger und David Schriffl LIT

Transcript of „Sterb’ ich in Polen …“ Strategische und taktische Vorbedingungen der Kriegsführung an der...

SONDERDRUCK AUS:

Nation, Nationalitäten und Nationalismusim östlichen EuropaFestschrift für Arnold Suppan

zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Marija Wakounig, Wolfgang Mueller

und Michael Portmann

unter redaktioneller Mitwirkung vonAnita Biricz, Andreas Rathberger

und David Schriffl

LIT

INHALT GRUSSWORTE DES REKTORS DER UNIVERSITÄT WIEN 9 VORWORT STATT EINER EINLEITUNG 11 1. GESCHICHTSSCHREIBUNG UND NATION 15 HANS PETER HYE Über die unbedingte Notwendigkeit der Geistes- und Geschichtswissenschaften – eine essayistische Annäherung 17 MICHAEL PORTMANN Die Nation als eine Form kollektiver Identität? Kritik und Konsequenzen für eine zeitgemäße Historiographie 33 CHRISTOPH AUGUSTYNOWICZ Kaiser Maximilian II. als electus Rex Poloniae und der Reichstag von Regensburg 1576. Implikationen des Nationenbegriffs im 16. Jahrhundert 47 MARIJA WAKOUNIG Die drei Kronen Ostmitteleuropas 69 WOLFGANG MUELLER „Die alte Rus’ aber muss man erahnen.“ Nationalgeschichte und „erfindendes Erinnern“ in Russland zwischen Romantik und Historismus 91 ELISABETH VYSLONZIL Samobytnosť – Russlands nationales Selbstverständnis zwischen Vaterlandsliebe und nationalem Pragmatismus 109 OLIVER RATHKOLB Kultur und Nationalitätenpolitik in Österreich 1918: davor/danach 129 ANDREAS KAPPELER Das österreichische Galizien in heutigen ukrainischen Schulbüchern 147 FERENC GLATZ Staat und Nation in Osteuropa 163

Inhalt 6 2. NATIONALITÄTEN ZWISCHEN KOEXISTENZ UND KONFLIKT 177 NORMAN NAIMARK The Killing Fields of the ‘East’: Three Hundred Years of Mass Killing in the Borderlands of Russia and Poland 179 GARY B. COHEN Citizenship and Nationality in Late Imperial Austria 201 CATHERINE HOREL Wem gehört die Stadt? Multikulturalismus versus Magyarisierung am Beispiel dreier Städte Transleithaniens 1880–1914 225 DUŠAN KOVÁČ Die karpatendeutsche Identität im Kräftefeld der mitteleuropäischen Politik 1918–1945 249 ERNST BRUCKMÜLLER Massenuniversität 1910? 263 HELMUT RUMPLER Zwischen allen Fronten. Die Wiener Regierung und die nationalpolitischen Hoffnungen der Slowenen vor 1914 279 MAX DEMETER PEYFUSS Balkanromanität: Perspektiven der Forschung 297 ALOJZ IVANIŠEVIĆ Getrennt durch die „gemeinsame Sprache“. Sprache als Politikum in kroatisch-serbischen Beziehungen und Konflikten vor der Entstehung Jugoslawiens 307 VALERIA HEUBERGER Muslimische Gemeinschaften in Südosteuropa in der Gegenwart: Innere Entwicklungsprozesse und äußere Einflüsse im Überblick 331 3. NATIONALISMUS UND KRIEG 351 WALTER RAUSCHER Der Aufstieg des Faschismus in Italien aus der Sicht der österreichischen Diplomatie 353 RICHARD LEIN „Sterb’ ich in Polen …“ Strategische und taktische Vorbedingungen der Kriegsführung an der österreichisch-ungarischen Nordostfront 1914 369

Inhalt 7 OLIVER JENS SCHMITT „Eine mächtige Bewegung auf den Dörfern“: Mechanismen der politischen Mobilisierung der rumänischen Legionärsbewegung im ländlichen Raum (1933–1937) – Vorskizze zu einer Sozialgeschichte der „Eisernen Garde“ 389 KLAUS BACHMANN Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges in Polen – ein nicht-normativer Ansatz 419 PETAR DRAGIŠIĆ An der Schwelle zum Krieg: Die Krise in Bosnien-Herzegowina 1991/1992 441 4. DIPLOMATIE UND AUSSENBEZIEHUNGEN 451 ALFRED KOHLER „Wir nehmen dieses Land in Besitz“. Anmerkungen zur Eroberungsideologie des „weißen Mannes“ 453 FRANZ A. J. SZABO The Center and the Periphery: Echoes of the Diplomatic Revolution in the Administration of the Habsburg Monarchy, 1753–1773 473 ISKRA SCHWARCZ Unmittelbare Nachbarn. Die Bulgaren und die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert 491 KLAUS KOCH „Hinauswerfen aus Deutschland lassen wir uns nicht!“ – Vom engeren Bund zum weiteren Bund. Österreich und die Deutsche Frage 1848/1849 505 ALEŠ SKŘIVAN SR. Österreich-Ungarn, die Großmächte und die Frage der Reformen in Makedonien Anfang des 20. Jahrhunderts 517 HORST HASELSTEINER Optionen Bulgariens im Ersten Weltkrieg: Zwischen Skylla und Charybdis 533 EMILIA HRABOVEC Die Slowakei, der Heilige Stuhl und die Großmächte 1939–1945 539 DAVID SCHRIFFL „Slowaken?“, „Österreicher?“, „Deutsche?“. Streiflichter zu gegenseitiger Wahrnehmung und zum Selbstbild in Österreich und der Slowakei im 20. Jahrhundert 563

Inhalt 8 5. MENSCHEN 583 DIETER A. BINDER Charles Sealsfield und die Freimaurerei. Von der deutschnationalen und katholischen Verschwörungstheorie zur virtuellen Realität 585 JIŘÍ KOŘALKA Das Wesen des österreichischen Vielvölkerstaates in der Korrespondenz von František Palacký und seinen Freunden im Frühjahr und Sommer 1849 593 EMIL BRIX Theodor Herzl. The Invention of Political Zionism in Vienna 601 LUBOŠ VELEK Die Hochzeit des Herrn Kramář 611 ALENA MIŠKOVÁ Bilder aus Wien. Briefe Josef Pfitzners an Hans Hirsch und seine Frau Lili Pfitzner über seine Aufenthalte in Wien 1931 und 1935 631 KARL W. SCHWARZ Ein Osteuropäer aus „Profession“: Hans Koch. Anmerkungen zu Biographie und Wirken 641 GEORG KASTNER Von Mitteleuropa nach Hollywood und retour. Antifaschismus im Film während des Zweiten Weltkriegs 659 VERZEICHNIS DER SCHRIFTEN VON ARNOLD SUPPAN 679 LEBENSLAUF VON ARNOLD SUPPAN 699 AUTORINNEN UND AUTOREN 701

RICHARD LEIN

„Sterb’ ich in Polen …“ Strategische und taktische

Vorbedingungen der Kriegsführung an der österreichisch-ungarischen Nordostfront 1914

„Drüben am Wiesenrand hocken zwei Dohlen; Fall ich am Donaustrand, sterb’ ich in Polen?“ So dichtete bereits 1913 der k.u.k. Reserveoffizier Hugo Zuckermann in einem Prosawerk, das als das „österreichische Rei-terlied“ bekannt werden sollte.1 Zu diesem Zeitpunkt war sich die politi-sche und militärische Führung Österreich-Ungarns bereits darüber im Klaren, dass ein Krieg mit Russland nicht nur wahrscheinlich war, sondern unmittelbar bevorzustehen schien. Wiewohl der k.u.k. Generalstab vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nur wenig über die operativen Ab-sichten des Zarenreiches wusste2, hatte man doch zumindest eine Theorie, wo der Krieg voraussichtlich stattfinden würde. So erschien es aufgrund der Grenzziehung zwischen den beiden Staaten sowie der Beschaffenheit des Terrains in dieser Region für die Militärs als nahe liegend, dass die kommenden Schlachten entweder in Westgalizien oder in Russisch-Polen3 ausgetragen werden sollten. Grund für diese Annahme war, dass von diesem Gebiet aus der kürzeste Weg in die Hauptstadt Österreich-Ungarns führte, weshalb man annahm, dass das Zarenreich dort im Kriegs-fall den Großteil seiner Truppen konzentrieren würde. Einem solchen An-griff gedachte die Habsburgermonarchie dadurch zuvorzukommen, dass sie selbst ihre Armeen an der Grenze des bedrohten Raums zusammen-zog und so den Gegner an der Ausführung seiner Pläne hinderte.

Grundsätzlich wurde das in Frage stehende Gebiet von Seiten des k.u.k. Generalstabs betreffend seine Eignung als Kriegsschauplatz un-terschiedlich bewertet. Während manche Stabsoffiziere vor Problemen warnten, die sich aus der Weite des Raumes ergeben könnten, zeigten 1 Arnold Friedmann, Dr. Hugo Zuckermann. Ein Gedenkblatt, Wien 1915, 7. 2 Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der

Erste Weltkrieg, Graz/Wien/Köln 21994, 51–58; Hew Strachan, The First World War, Bd. 1: To Arms, New York 2001, 281–286.

3 In den im Wiener Kriegsarchiv aufbewahrten Akten der k.u.k. Militärbehörden findet sich als Bezeichnung für das 1831/1863 vom Zarenreich annektierte Kongresspo-len der Begriff „Russisch-Polen“, weshalb dieser auch in dem vorliegenden Beitrag verwendet wird.

Richard Lein 370 sich andere Militärs hingegen überzeugt, dass die österreichisch-ungari-schen Verbände gerade diesen Faktor zum eigenen Vorteil nutzen konnten. Tatsächlich existierten in dem Gebiet fast keine natürlichen Hindernisse, womit die Truppen sowohl beim Aufmarsch als auch in der Schlacht über großen Handlungsspielraum verfügen würden. Da die militärische Führung davon ausging, dass die k.u.k. Armee für einen Bewegungskrieg auf dem flachen Land gut gerüstet war, wurden in Fol-ge nicht nur die Operationspläne, sondern auch das galizische Straßen- und Bahnnetz primär auf dieses Kriegsszenario hin ausgelegt. Dadurch hoffte man nicht zuletzt, gegenüber dem Zarenreich, das über ein we-sentlich größeres Kräftepotenzial verfügte als Österreich-Ungarn4, beim Aufmarsch einen Zeitvorsprung erzielen zu können. Das eigentliche Kriegsziel bestand für den k.u.k. Generalstab grundsätzlich darin, ge-meinsam mit von Ostpreußen her vorstoßenden deutschen Verbänden die russische Armee noch auf polnischem Gebiet entscheidend zu schlagen, ehe diese ihren Aufmarsch abgeschlossen hatte. Der Schwachpunkt dieses Plans lag jedoch darin, dass sich die militärische Führung seines Gelingens so sicher war, dass sie für andere Kriegssze-narien nur unzureichende Vorkehrungen traf. So verzichtete man dar-auf, Strategien für eine defensive Kriegsführung zu erarbeiten, die im Fall eines Scheiterns der offensiven Pläne hätten angewendet werden können. Dass seine militärischen Vorbereitungen letztlich unzureichend waren, zeigte sich für Österreich-Ungarn im Sommer 1914, als seine Armee in den Einleitungsfeldzügen in Galizien eine schwere Niederlage erlitt und auf breiter Front den Rückzug antreten musste.5

Ziel des vorliegenden Beitrags ist es grundsätzlich nicht, der bereits mehrfach erörterten Frage nach der persönlichen Verantwortung einzel-ner Militärs für die Niederlage der k.u.k. Armee im Jahr 1914 nachzuge-hen. Vielmehr soll ein Überblick über die strategischen und taktischen Vorbedingungen der Kriegsführung Österreich-Ungarns gegenüber Russland im Jahr 1914 gegeben werden, die auf den Verlauf der Ereignis-se in den ersten Monaten wesentlich mehr Einfluss hatten, als der Aus-gang hinlänglich bekannter Schlachten.

Die geographische und territoriale Ausgangslage

Wie eingangs erwähnt, war die Lage Russisch-Polens, das von Russland seit 1867 offiziell nur noch als Priwislinski Kraj (Weichselgebiet) be-zeichnet wurde6, für das Zarenreich überaus günstig, um von dort aus einen Militärschlag gegen die Hauptstädte des Deutschen Reiches und/ 4 Zur Schlagkraft des russischen Heeres vgl. Norman Stone, The Eastern Front 1914–

1917, London 1998, 17–36; Bundesministerium für Heerwesen/Kriegsarchiv (BMHW/ KA) Wien (Hgg.), Österreich-Ungarns letzter Krieg (ÖUlK) 1, Wien 1931, 173–178.

5 BMHW/KA, ÖUlK 1, 155–600; Rauchensteiner, Tod, 125–136, 159–175, 199–211; Strachan, War 1, 347–357.

6 Rudolf Jaworski – Christian Lübke – Michael G. Müller, Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt am Main 2000, 269.

Vorbedingungen der Kriegsführung 371 oder Österreich-Ungarns zu führen. Die Operationslinien verliefen dabei entweder über Ostpreußen in Richtung Berlin bzw. über Krakau (Kra-ków) in Richtung Wien, wogegen ein Vorstoß über die Westgrenze Rus-sisch-Polens in Richtung Berlin oder Breslau (Wrocław) aufgrund un-günstiger geografischer Bedingungen7 vorerst auch nicht geplant war.8 Ebenso wenig durchführbar erschien den russischen Militärs zunächst auch ein direkter Vorstoß in Richtung Budapest, da man in diesem Fall die Karpaten überwinden hätte müssen.9 Trotzdem stellte die Lage des Gebiets, das einen Keil zwischen den Territorien Österreich-Ungarn und Deutschlands bildete, eine ideale Operationsbasis für die russische Armee dar, von der aus nicht nur die gegnerischen Hauptstädte, sondern auch wichtige Industriezentren, namentlich Böhmen und Oberschlesien10, be-droht werden konnten. Ähnlich stellte sich die Situation auch für die bei-den Kaiserreiche dar, die sich der Bedrohung, die von Russisch-Polen ausging, durchaus bewusst waren. Zugleich war jedoch klar, dass sich der Vorteil, der sich für das Zarenreich aus der Lage des Territoriums ergab, ebenso leicht ins Gegenteil verkehren konnte. Hätte nämlich die russi-sche Armeeführung den Großteil ihrer Truppen westlich des Flusses Weichsel versammelt, um von dort aus zu einem Vorstoß in Richtung Wien oder Berlin anzutreten, wären die Verbündeten in der Lage gewe-sen, durch einen Angriff von Galizien und Ostpreußen aus die gegneri-schen Truppen in dem Gebiet einzuschließen. Dieser Umstand war auch dem russischen Generalstab bewusst, weshalb dieser letztlich auf eine Truppenmassierung in der gefährdeten Region verzichtete.11

Wie war nun das Territorium, auf dem der erwartete Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Russland ausgetragen werden sollte, in geografi-scher Hinsicht beschaffen? In der älteren Sekundärliteratur wird die Landschaft zumeist als vollkommen flach beschrieben.12 Zwar ist diesem Befund aus geografischer Hinsicht nicht ganz zuzustimmen, Tatsache ist jedoch, dass die Landschaft sowohl in Galizien als auch in Russisch-Polen weitgehend eben war und in dieser kaum natürliche Hindernisse existierten. So wies das Terrain nördlich der Linie Krakau–Lemberg (L’viv/Lwow) weder Erhebungen über 300 Meter Höhe, noch Berge 7 Einem direkten Vorstoß in Richtung Berlin standen die Festung Posen (Poznań),

einem Angriff auf Breslau der Fluss Warthe im Weg. Vgl. dazu Paul Magocsi, Historical Atlas of Central Europe, Seattle 2002, 122; Strachan, War 1, 304f.

8 Zu den Kriegsplänen Russlands vgl. William C. Fuller, Strategy and Power in Russia 1600–1914, New York 1992, 438–445.

9 BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 1. 10 Herbert Matis – Karl Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, in: Adam

Wandruszka – Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 1: Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien 1973, 105–232, hier 151–177, 222–229.

11 Thomas E. Griess, West Point Atlas for the Great War. Strategies and Tactics of the First World War, Garden City Park 2003, Map 24b.

12 Julius Jandaurek, Das Königreich Galizien und Lodomerien und das Herzogtum Bukowina, Wien 1884, 32–44.

Richard Lein 372 oder Gebirgszüge im eigentlichen Sinn auf.13 Erst südwestlich von Lem-berg wurde das Gelände zunehmend unwegsamer und ging schließlich nahtlos in die Karpaten über.14 Vor diesem Hintergrund stellten die wenigen großen Flüsse, die beiderseits der Staatsgrenze verliefen, die ein-zigen größeren Hindernisse für den Vormarsch einer Armee dar.

Auf dem Gebiet Österreich-Ungarns waren dies vor allem der San und der Dnjestr, die in südöstlicher Richtung quer durch Galizien ver-liefen und so das gesamte Territorium nordöstlich der Linie Sando-mierz–Chotin (Choten), in dem auch die galizische Hauptstadt Lemberg lag, vom Rest des Kronlandes abtrennten. Eine Schwachstelle in dieser Barriere bildete nur die ca. 50 Kilometer breite Lücke zwischen San und Dnjestr, die sich südöstlich von Przemyśl (Peremyšl) auftat.15 Generell stellten die beiden Flüsse ein ernstzunehmendes Hindernis für eine in dem Gebiet operierende Armee dar, vor allem wenn die Verteidiger entlang der Flussläufe Truppen in Stellung brachten. Eine weitere Bar-riere für einen von Russisch-Polen aus in Richtung Wien vordringenden Gegner bildete der entlang der Staatsgrenze von Krakau in Richtung Sandomierz verlaufende Fluss Weichsel16, der jedoch gleichzeitig auch einen Vorstoß österreichisch-ungarischer Truppen in Richtung Norden verhinderte. Grundsätzlich bestand für die k.u.k. Armee im Fall der Überschreitung der San–Dnjestr–Linie durch den Gegner auch die Möglichkeit, sich auf den Karpatenkamm zurückzuziehen, diese Option wurde jedoch als kaum wünschenswert erachtet, da auf diese Weise die Sperrung der Vormarschlinie über Krakau in Richtung Wien nicht mehr gewährleistet gewesen wäre. Ähnlich stellte sich die Situation auch in Russisch-Polen dar, wo gleichfalls nur zwei große Flüsse, die Weichsel und der Bug, existierten, die in Nord-Süd- Richtung von Sandomierz aus in Richtung Warschau (Warszawa) (Weichsel) bzw. von Sokal aus in Richtung Brest-Litovsk (Bjeraszje) (Bug) verliefen.17 Auch diese beiden Flussläufe stellten gemeinsam mit dem einige Kilometer hinter der deutsch-russischen Grenze verlaufenden Fluss Warthe ein nennenswer-tes Hindernis für einen von Südwesten aus in Richtung Brest-Litovsk vordringenden Gegner dar. Eine natürliche Rückhaltestellung in Form eines Gebirgsmassivs, wie es der Karpatenkamm bildete, fehlte in Rus-sisch-Polen dagegen völlig, dafür stellten die östlich von Brest-Litovsk gelegenen Pripjetsümpfe eine nahezu unüberwindliche Barriere für ei-nen Angreifer dar.18

Ungeachtet dieser Einschränkungen wurden sowohl Galizien als auch Russisch-Polen von Seiten des k.u.k. Generalstabs für die Führung eines 13 Jandaurek, Galizien, 34f.; BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 1. 14 Magocsi, Atlas, 3; Strachan, War 1, 286. 15 BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 1. 16 Magocsi, Atlas, 77. 17 BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 1. 18 Griess, Atlas, Map 24b.

Vorbedingungen der Kriegsführung 373 Bewegungskrieges als besonders geeignet betrachtet. Diese Annahme ba-sierte darauf, dass das flache Gelände nicht nur einen raschen Aufmarsch der Truppen ermöglichte, sondern diesen auch größtmögliche Bewegungs-freiheit auf dem Gefechtsfeld einräumte.19 Dies war insofern von Bedeu-tung, als sich die Kriegstaktik damals primär an den Erfahrungen des deutsch-französischen Krieges 1870/1871 orientierte, in dem es Preußen gelungen war, die überlegene französische Armee auszumanövrieren und entscheidend zu schlagen.20 Einen ähnlichen Effekt erhoffte sich die ös-terreichisch-ungarische Armeeführung auch von einem Krieg in Galizien oder Russisch-Polen, wo das Gelände ebenfalls ein rasches Verschieben von Truppen auf dem Gefechtsfeld erlaubte. Das Ziel war es dabei, ein-zelne russische Truppenverbände durch rasche Vorstöße vom Rest der gegnerischen Armee zu isolieren und getrennt von dieser zu schlagen.21 Eine ähnlich große Bedeutung sollte der Weite des Raums auch während des Gefechts zukommen, in dem man den Gegner durch einen Flanken-angriff zu überflügeln und in weiterer Folge zu besiegen gedachte. Eine wichtige Rolle sollte dabei die Kavallerie spielen22, die bereits im Vorfeld der Schlacht Stärke und Marschrichtung der gegnerischen Truppen auf-zuklären und während des Gefechts durch rasche Manöver die Flanken des Gegners anzugreifen hatte. Ähnlich wie die Überlegungen des k.u.k. Generalstabs sahen auch jene der russischen Armeeführung aus, die je-doch über ein wesentlich größeres Truppenkontingent verfügte.

Obwohl das Terrain Galiziens und Russisch-Polens, das in älteren Darstellungen zumeist als Manövriergebiet23 bezeichnet wird, Vorteile für die Führung eines Angriffsgefechts bot, war es jedoch ungeeignet, die sei-tens der Strategen angestrebte Entscheidungsschlacht herbeizuführen. Grund dafür war, dass sich auch der Gegner die Weite des Raumes zu-nutze machen und sich, wenn er die Absichten des Angreifers erkannte, der Einschließung durch einen Rückzug entziehen konnte. Hierbei lag der Vorteil eindeutig beim Zarenreich, das in Russisch-Polen über einen wesentlich größeren Manövrierraum verfügte als die k.u.k. Truppen in Galizien. Darüber hinaus ist zu betonen, dass sich das Gelände auch 19 Hugo Schmid (Hg.), Taktik-Notizen, Wien 1901, 88–93. Conrad von Hötzendorf

äußerte sich in seinen Memoiren später unerwartet kritisch hinsichtlich der Be-schaffenheit der galizischen Schlachtfelder. Vgl. Franz Conrad von Hötzendorf, Aus meiner Dienstzeit 1906–1918, Bd. 1: Die Zeit der Annexionskrise 1906–1909, Wien/Berlin/Leipzig/München 1921, 367–372.

20 Zum deutsch-französischen Krieg vgl. Geoffrey Wawro, The Franco-Prussian War. The German Conquest of France in 1870–1871, Cambridge 2003; Jan Ganschow – Olaf Haselhorst – Maik Ohnezeit (Hgg.), Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, Graz 2009, 83–120, 229–242.

21 Zur Kriegstaktik des k.u.k. Heeres vgl. Franz Conrad von Hötzendorf, Zum Studi-um der Taktik, 2 Bde., Wien 1891, dabei insbesondere Bd. 1, 4–30.

22 Conrad, Taktik 1, 477–536. 23 Eduard von Steinitz – Theodor Brosch von Aarenau, Die Reichsbefestigungen

Österreich-Ungarns zur Zeit Conrads von Hötzendorf, Ergänzungsheft 10 zum Werke „Österreich-Ungarns letzter Krieg“, Wien 1937, 6.

Richard Lein 374 kaum für die Führung eines Verteidigungskrieges eignete, fehlte es doch an natürlichen Barrieren, an denen man sich verteidigen hätte können.24 Dies war insofern von Bedeutung, als sich in sämtlichen Kriegen der Neuzeit gezeigt hatte, dass ein Verband, der sich nach einer Niederlage auf dem Schlachtfeld zurückziehen hatte müssen, erst gesammelt und ge-ordnet werden musste, ehe er wieder eingesetzt werden konnte. Eine sol-che Retablierung konnte jedoch nicht unter Feinddruck geschehen, viel mehr mussten die Truppen dafür hinter eine sichere Verteidigungslinie zurückgezogen werden.25 Hinzu kam, dass aufgrund der Beschaffenheit des Geländes eine defensiv agierende Armee stets eine geschlossene Frontlinie bilden musste, um so zu verhindern, dass der Gegner zwischen ihren Verbänden durchstieß. Gelang es dem Angreifer nun, diese Linie zu durchbrechen, so mussten die Verteidiger zumindest Teile ihrer Trup-pen zurückziehen, um so die Abwehrfront wiederherzustellen. Da jedoch weder in Galizien noch in Russisch-Polen, von den Flussläufen abgesehen, natürliche Hindernisse existierten26, waren beide Seiten auf künstliche Rückhaltestellungen angewiesen, mit deren Errichtung im 19. Jahrhun-dert begonnen wurde.

Das Befestigungswesen

Die ersten Pläne des k.(u.)k. Militärs für die Errichtung von Befesti-gungsanlagen in Galizien gehen auf die Zeit nach der ersten polnischen Teilung im Jahr 1772 zurück, als das Gebiet Teil des österreichischen Staatsverbandes wurde.27 Die damals erarbeiteten Vorschläge standen je-doch noch im Zeichen der Grenzsicherung28, erst ab Mitte des 19. Jahr-hunderts ging man zu einem Konzept der inneren Verteidigung des Kronlandes über. Grundlage dafür bildeten sowohl die Annexion der Stadt Krakau im Jahr 184629 als auch die Erfahrungen der Feldzüge 1848/1849, welche die Verwundbarkeit der österreichischen Außengren-zen gezeigt hatten. Vor diesem Hintergrund wurde 1849 von Kaiser Franz Joseph I. eine Kommission eingesetzt, die Vorschläge zur Errich-tung von Befestigungen im gesamten Reichsgebiet erarbeiten sollte.30 Dabei ging man im Fall von Galizien neue Wege, wurde doch das 24 BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 1; Siegfried Fiedler, Taktik und Strategie der Millio-

nenheere 1871–1914, Bonn 1993, 83f.; Gerhard Groß, Im Schatten des Westens. Die deutsche Kriegsführung an der Ostfront bis Ende 1915, in: ders. (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15: Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Pader-born/München/Wien/Zürich 2006, 49–64, hier 62.

25 Vgl. Fiedler, Taktik, 186–260. 26 BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 1. 27 Jaworski – Lübke – Müller, Geschichte Polens, 186–192. 28 Walter Wagner, Die k. (u.) k. Armee – Gliederung und Aufgabenstellung, in: Adam

Wandruszka – Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie, 1848–1918, Bd. 5: Die bewaffnete Macht, Wien 1987, 142–633, hier 178f.

29 Jandaurek, Galizien, 32; Wagner, K.(u.)k. Armee, 176; Jaworski – Lübke – Müller, Geschichte Polens, 264.

30 Franz Forstner, Przemyśl. Österreich-Ungarns bedeutendste Festung, Wien 1987, 48; Steinitz – Aarenau, Reichsbefestigung, 7f.

Vorbedingungen der Kriegsführung 375 bisherige Konzept der Grenzsicherung verworfen und stattdessen ange-regt, nur die Einbruchslinien von Russisch-Polen über Krakau bzw. über die Karpaten abzusichern. Folglich wurden die Errichtung moderner Festungsanlagen in Krakau, Tarnów, Przemyśl und Zaleszczyki31 vorge-schlagen, durch die nicht nur die Sperrung der Vormarschwegs in Richtung Budapest und Wien, sondern auch die Sicherung der San–Dnjestr–Linie und damit auch der Karpatenübergänge gewährleistet werden sollte.32

Die Umsetzung dieser Pläne wurde jedoch durch den Mangel an Budgetmitteln sowie den Widerstands einzelner Militärs verzögert oder überhaupt verhindert. So wurde zunächst nur Krakau durch die Mo-dernisierung der bestehenden Befestigungsanlagen abgesichert33, der Ausbau von Przemyśl, Zaleszczyki und Tarnów konnte hingegen vor-erst nicht verwirklicht werden.34 Tatsächlich war die Errichtung von Festungen bereits damals sehr kostspielig, wobei in der Regel mehr als die Hälfte der Gesamtkosten auf die Artillerieausstattung entfiel.35 Wohl auch aus diesem Grund wurden letztlich nur Krakau und Prze-myśl ab 1880 sukzessive zu großen Lagerfestungen ausgebaut, die je-doch nicht nur als Verteidigungspositionen, sondern auch als Auf-marschbasen dienen sollten. In beiden Fällen wurden alle bestehenden Befestigungen aufgelassen und an deren Stelle ein kreisförmiges, sechs bis zehn Kilometer um die Stadtmitte herum angelegtes Netz von Sperrforts errichtet.36 Diese Gürtelfestungen, wie sie in der militäri-schen Diktion genannt werden37, sollten sowohl eine große Zahl an Truppen aufnehmen können als auch durch ihre Bauweise verhindern, dass die gegnerische Artillerie die zu schützende Stadt unter Feuer nahm. Beide Festungen wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch-mals modernisiert38, größere Umbauten, wie sie aufgrund der Erfah-rungen des russisch-japanischen Krieges 1904/190539 nötig gewesen wären, unterblieben jedoch aufgrund taktischer Überlegungen seitens des neuen k.u.k. Generalstabschefs Franz Conrad von Hötzendorf.40

Conrad, der dieses Amt im Jahr 1906 übernahm, lehnte den Bau einer quer durch Galizien verlaufenden Festungslinie ab, da er das Gelände für die Errichtung großer Lagerfestungen für ungeeignet hielt. Darüber hinaus 31 Wagner, K.(u.)k. Armee, 178f. Zur Lage der einzelnen Orte vgl. BMHW/KA,

ÖUlK 1, Beilage 1. 32 Forstner, Przemyśl, 48f. 33 Steinitz – Aarenau, Reichsbefestigung, 8; Wagner, K.(u.)k. Armee, 180. 34 Forstner, Przemyśl, 50. 35 Steinitz – Aarenau, Reichsbefestigung, 4f.; Wagner, K.(u.)k. Armee, 408–412. 36 Zum Aufbau der Festungsanlagen in Krakau und Przemyśl vgl. Steinitz – Aarenau,

Reichsbefestigung, Skizzen 2 und 3. 37 Zur Entwicklung des Befestigungswesens im 19. Jahrhundert vgl. Forstner, Prze-

myśl, 60–76. 38 Steinitz – Aarenau, Reichsbefestigung, 8; Wagner, K.(u.)k. Armee, 409. 39 Zum russisch-japanischen Krieg vgl. Richard M. Connaughton, Rising Sun and

Tumbling Bear. Russia’s War with Japan, London 2003. 40 Steinitz – Aarenau, Reichsbefestigung, 8f.

Richard Lein 376 plante er, im Fall eines Krieges gegen Russland eine offensive Strategie anzuwenden, weshalb ihm der Bau einer Verteidigungslinie im Hinter-land als nicht zwingend notwendig erschien.41 So war in seinen Kriegs-plänen nur die Festung Krakau von strategischer Bedeutung, Przemyśl wurde hingegen bloß die Rolle eines Depotplatzes zugedacht.42 Völlig vernachlässigt wurde aus diesem Grund auch der weitere Ausbau der San–Dnjestr–Linie südlich von Przemyśl, da man nicht mit einem Vor-dringen des Gegners bis zu diesem Punkt rechnete. Erst unter dem Ein-druck der Annexionskrise im Jahr 1908 begann Conrad wieder Über-legungen zur Befestigung Galiziens anzustellen43, vorgesehen war jedoch nicht die Errichtung von Festungen entlang des San und des Dnjestr, sondern die Herstellung mehrerer Brückenköpfe entlang der beiden Flussläufe. Obwohl umgehend ein Antrag zur Bewilligung der für den Ausbau benötigten Budgetmittel gestellt wurde, konnte jedoch nur ein Teil der Anlagen bis 1914 fertig gestellt werden. Dabei wurden entlang des San insgesamt zwei Brückenköpfe, bei Sieniewa (Sieniawa) und Jaroslau (Jarosław), errichtet, deren Hauptaufgabe im Schutz der von Krakau in Richtung Przemyśl führenden Bahnlinie bestand.44 Entlang des Dnjestr entstanden ähnliche Anlagen bei Mikołajow, Halicz und Jezupol, wäh-rend bei Nizniów und Zaleszczyki nur Stützpunkte errichtet wurden.45

Ähnlich wie in Österreich-Ungarn gingen auch in Russland die Mei-nungen der Militärs über den Nutzen von Festungen weit auseinander. Interessanterweise stützten sich beide Parteien in ihrer Argumentation auf ein und denselben Fall, namentlich das Schicksal der Festung Port Arthur, die im russisch-japanischen Krieg nach fast einjähriger Belage-rung von den Japanern eingenommen worden war.46 Während ein Teil der russischen Armeeführung das Schicksal Port Arthurs als Beweis da-für ansah, dass Festungen obsolet geworden waren, sahen sich andere führende Militärs durch den Umstand, dass die Zitadelle ein Jahr lang standgehalten hatte, in ihrer Meinung bestätigt, dass solche Anlagen zur Führung eines Verteidigungskriegs von hohem Wert wären.47 Grundsätz-lich befand sich vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Mehrzahl der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russisch-Polen errichteten 41 Zu Dienstzeit Conrads als Generalstabschef vgl. Lawrence Sondhaus, Franz Con-

rad von Hötzendorf. Architekt der Apokalypse, Wien/Graz 2003, 89–147; Conrad, Dienstzeit 1, 126–128; Strachan, War 1, 286; Wagner, K.(u.)k. Armee, 409.

42 Conrad, Dienstzeit 1, 126. 43 Wagner, K.(u.)k. Armee, 412–415; Forstner, Przemyśl, 57. 44 Diese Notwendigkeit ergab sich aus dem Verlauf der Strecke Krakau–Przemyśl, vgl.

dazu: BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 1. 45 Steinitz – Aarenau, Reichsbefestigung, Skizze 1; BMHW/KA, ÖUlK 1, 82f. 46 Zur Belagerung von Port Arthur vgl. Eberhard von Tettau, Der russisch-japanische

Krieg. Amtliche Darstellung des russischen Kriegsministeriums, Band 5: Port Ar-thur. Vom Beginn der Einschließung bis zum Ende der Belagerung (30. Juli 1904 – 2. Jänner 1905), Berlin 1912.

47 Stone, Front, 23.

Vorbedingungen der Kriegsführung 377 Festungen in schlechtem Zustand. So wurden um 1905 sowohl die an der Weichsel gelegene Zitadelle von Ivangorod (Dęblin) als auch die nördlich von Brody gelegene Festung Lutsk (Luts’k) als renovierungsbedürftig be-schrieben, ähnliches traf auch im Fall der östlich von Lutsk gelegenen Festung Rovno (Rivne) sowie der Zitadelle von Brest-Litovsk48 zu.49 Obwohl nicht sicher war, ob die Festungen selbst nach einem Umbau ei-nem Angriff für längere Zeit standhalten können würden, scheuten Teile des russischen Militärs dennoch davor zurück, die Anlagen aufzulassen. Grund dafür waren einerseits die Pläne, im Kriegsfall die Truppen im Schutz der Festungen aufmarschieren zu lassen, andererseits jedoch auch Machtkämpfe innerhalb des russischen Generalstabs. Letztlich sprach sich die Mehrzahl der Stabsoffiziere, wenn auch nicht unbedingt aus sachlichen Gründen50, für den Erhalt der Festungen aus, die in weiterer Folge begonnenen Umbauarbeiten konnten jedoch bis zum Jahr 1914 nicht mehr zum Abschluss gebracht werden.51

Die verkehrstechnische Infrastruktur

Wesentlich bedeutender für die Kriegsführung als der Bau von Festun-gen war hingegen der Bau von Bahnstrecken. Grundsätzlich ist zu be-merken, dass das österreichische Bahnnetz um 1850 noch nicht sehr weitläufig war und nur über eine geringe Leistungsfähigkeit verfügte.52 Ursache dafür war der Mangel an Budgetmitteln für den Bau und Be-trieb neuer Strecken, dem der Staat durch die Vergabe von Linienkonzes-sionen an Privatiers und Kapitalgesellschaften zu begegnen versuchte.53 Dieses Konzept ging jedoch nur zum Teil auf, da die Unternehmer da-vor zurückscheuten, Strecken in dünn besiedeltes Gebiet zu bauen54, wo nur ein geringes Passagier- und Frachtaufkommen zu erwarten war. Wollte der Staat dennoch, etwa aus strategischen Gründen, die Errich-tung einer Linie realisieren, so musste er den Betreibern entweder finanzielle Anreize bieten oder aber den Bau der Strecke selbst finanzie-ren.55 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, warum in Galizien 48 Zur Lage der Orte vgl. BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 1. 49 Stone, Front, 30f. 50 Fuller, Strategy, 428–430; Stone, Eastern Front, 31; David Stevenson, Der Erste

Weltkrieg 1914–1918, Düsseldorf 2006, 86f. 51 Stone, Front, 32; Strachan, War 1, 303f. 52 Zur Frage des Bahnbaus in Österreich bis 1860 sowie zur strategischen Nutzung

der Eisenbahn vgl. Burkhard Köster, Militär und Eisenbahn in der Habsburgermo-narchie 1825–1859, Militärgeschichtliche Studien 37, München 1999, 75–284. Zum Verlauf der Strecken sowie zu deren Fertigstellungsdaten vgl. Helmut Rumpler – Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 9/2: Soziale Strukturen. Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild. Verwal-tungs-, Sozial- und Infrastrukturen, nach dem Zensus von 1910, Wien 2010, 248f.

53 Köster, Militär, 238f.; Karl Bachinger, Das Verkehrswesen, in: Adam Wandruszka – Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 1: Die wirt-schaftliche Entwicklung, Wien 1973, 278–322, hier 282–287.

54 Bachinger, Verkehrswesen, 278f. 55 Franz Saurau, Unsere Eisenbahnen im Weltkrieg, Wien 1924, 6f.

Richard Lein 378 erst um das Jahr 1854 mit dem Bau einer von Krakau in Richtung Lemberg führenden Bahnlinie begonnen wurde56, die im Jahr 1861 fer-tig gestellt werden konnte.57 Der weitere Ausbau der Strecke in Rich-tung Brody und Tarnopol (Ternopil) zog sich hingegen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hin.58

Noch wesentlich langsamer ging der Ausbau des sekundären Schie-nennetzes in Galizien voran; auch eine Verbindung der Linien mit dem ungarischen Bahnnetz existierte zunächst nicht. Grund dafür war die Furcht der privaten Bahnunternehmen vor Konkurrenz, die sich durch einen Zusammenschluss der bestehenden Netze ergeben hätte können.59 Letztlich gelang es durch staatliche Zuschüsse bis 1873, mit der Fertig-stellung der ersten Karpatenbahn, namentlich der Strecke Budapest–Miskolcz–Sanok–Przemyśl60, den Lückenschluss zwischen dem ungari-schen und dem galizischen Bahnnetz herzustellen.61 Weitere Ausbaupro-jekte konnten jedoch vorerst nicht verwirklicht werden, da wegen der Weltwirtschaftskrise 1873 der private Bahnbau in Österreich-Ungarn völ-lig zum Erliegen kam. In weiterer Folge übernahm der Staat nicht nur die zahlungsunfähig gewordenen Bahngesellschaften62, sondern stieg auch selbst wieder in den Bahnbau ein. Interessanterweise wurden in Galizien, sieht man von einigen Lückenschlüssen südlich von Krakau und der Er-richtung eines weiteren Abschnitts der Karpatenbahn ab – die Strecke Budapest–Csap (Záhony)–Sambor (Sambir)–Lemberg63 –, danach jedoch keine Großprojekte mehr in Angriff genommen. Statt dessen konzent-rierte man sich auf die Verbesserung der bestehenden Linien.

Maßgebend für die Frage, welche Strecken ausgebaut werden soll-ten, war die Entscheidung des Militärs, wo letztlich die für den Einsatz gegen Russland vorgesehenen Truppen aufmarschieren sollten. Dabei erhielten die Linien Wien–Krakau–Przemyśl–Lemberg sowie Buda-pest–Sanok–Przemyśl–Lemberg die höchste Priorität und bekamen in weiterer Folge einen zweiten Schienenstrang.64 Der Rest der Strecken blieb hingegen eingleisig, was im Mobilisierungsfall bedeutete, dass auf ihnen deutlich weniger Züge verkehren konnten. Aber auch bezüglich der maximalen Zuglänge und Zugzahl gab es Unterschiede. So wurden 56 Magocsi, Atlas, 91; Peter Kupka, Die Eisenbahnen Österreich-Ungarns 1822–1867,

Leipzig 1888, 276. 57 Kupka, Eisenbahnen, 282. 58 Magocsi, Atlas, 91. 59 Conrad, Dienstzeit 1, 442. 60 BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilagen 1 und 3. 61 Bachinger, Verkehrswesen, 289; Magocsi, Atlas, 91. 62 Bachinger, Verkehrswesen, 292–295. 63 BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilagen 1 und 3. 64 Conrad, Dienstzeit 1, 442f.; BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 3; Conrad von Hötzen-

dorf, Aus meiner Dienstzeit 1906–1918, Bd. 4: 24. Juni 1914 bis 30. September 1914. Die politischen und militärischen Vorgänge vom Fürstenmord in Sarajevo bis zum Abschluß der ersten und bis zum Beginn der zweiten Offensive gegen Serbien und Rußland, Wien/Leipzig/München 1923, Anlage 13.

Vorbedingungen der Kriegsführung 379 etwa nur die durch Galizien führenden Hauptstrecken so weit ausge-baut, dass auf ihnen Züge mit 100 Achsen verkehren konnten, der Rest der Strecken wies hingegen eine geringere Kapazität auf.65 Ebenso wichtig war jedoch auch die maximale Zahl an Zügen pro Tag und Strecke, und gerade dabei war in Galizien ein West-Ost-Gefälle er-kennbar. Die maximal zu erreichende Zugzahl hing dabei weniger von den Gleisanlagen, als von der Kapazität der Betriebsanlagen entlang der Strecke ab. So waren diese nur entlang der Linie Wien–Krakau–Przemyśl–Lemberg so gut ausgebaut, dass hier pro Tag 60 Züge ver-kehren konnten66, die übrigen Strecken in Galizien verkrafteten kaum mehr als 15 Züge täglich. Eine Ausnahme bildete dabei die Strecke Bu-dapest–Homonna–Przemyśl–Lemberg, die für 30 Züge pro Tag ausge-legt war.67 Das Problem lag jedoch darin, dass die Linie in jenem Ab-schnitt, wo sie die Karpaten querte, nur 70 Achsen pro Zug zuließ68, was eine Teilung der Transporte erforderlich machte. Damit war die Strecke jedoch immer noch leistungsfähiger als die nach 1878 errichte-te, von Budapest über Csap und Munkács (Mukačevo) nach Lemberg führende Bahnlinie, die gleichfalls nur 15 Züge pro Tag bewältigen konnten.69 Im Hinblick darauf, dass das Schwergewicht des Aufmar-sches aber nicht über diese Strecke, sondern über die Hauptlinien von Wien und Budapest in Richtung Przemyśl und Lemberg abgewickelt werden sollte, schien dies jedoch keine besondere Rolle zu spielen.

Seitens des k.u.k. Generalstabes war man sich vor diesem Hinter-grund darüber im Klaren, dass aus Kapazitätsgründen der Großteil der gegen Russland einzusetzenden Kräfte über die Strecken Wien–Krakau–Przemyśl und Budapest–Sanok–Przemyśl transportiert werden musste, da die übrigen Linien nur ein Drittel des zu erwartenden Frachtaufkom-mens bewältigen konnten.70 Hinzu kam, dass der Großteil dieser Stre-cken nur eingleisig war, so dass einige von ihnen freigehalten werden mussten, um die von der Front zurückkehrenden Leerwagen ins Hinter-land befördern zu können. Um trotzdem einen reibungslosen Betriebsab-lauf gewährleisten zu können, wurde seitens des Kriegsministeriums ein eigener Fahrplan, die so genannte Kriegsfahrordnung erstellt, die festlegte, welchen Weg die Transporte an die Front zu nehmen hatten und wie das Rollmaterial wieder ins Hinterland zurückzuführen war. Die Kriegsfahrordnung gab drüber hinaus auch Höchstgeschwindigkeit und Fahrzeit der Transporte vor, wobei man sich an den voraussichtlich lang-samsten Zügen orientierte.71 Voraussetzung für das Gelingen des Bahn-Aufmarschplans war es, bereits vor dem Abfahren der ersten Transporte 65 Conrad, Dienstzeit 4, Anlage 13; BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 3. 66 Ebda. 67 Conrad, Dienstzeit 4, Anlage 13; BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 5. 68 Ebda., Beilage 3. 69 Ebda., Beilage 5. Zu den Ursachen vgl. Conrad, Dienstzeit 4, 284f. 70 Conrad, Dienstzeit 4, Anlage 13; BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 5. 71 Rauchensteiner, Tod, 114–116; Saurau, Eisenbahnen, 5–7.

Richard Lein 380 den regulären Bahnverkehr stark einzuschränken, damit die Strecken frei werden und das von Seiten des Militärs benötigte Waggonmaterial recht-zeitig zur Verfügung stehen konnte.72

Grundsätzlich ist zu bemerken, dass die Kriegsfahrordnung zwar einer-seits die bestmögliche Nutzung der Strecken und des Rollmaterials garan-tierte, andererseits das System jedoch sehr starr war und, hatte der Auf-marsch erst einmal begonnen, keinerlei Änderungen mehr zuließ.73 Dies war problematisch, als es im Fall, dass sich kurz nach Beginn der Mobili-sierung die militärische Lage ändern sollte, unmöglich war, die bereits auf dem Weg befindlichen Transporte anzuhalten oder umzuleiten. Dadurch war das Kriegsministerium, das für jedes denkbare Kriegsszenario einen eigenen Fahrplan erstellt hatte74, darauf angewiesen, im Konfliktfall rechtzeitig zu erkennen, auf welchen Kriegsschauplatz die Truppen zu transportieren waren. Weitere Probleme konnten sich durch die Trassie-rung der Strecken und die Dimensionierung der Bahnanlagen in Galizien ergeben. So bemängelten die Militärs etwa, dass der Verlauf der Linie Krakau–Lemberg ungünstig sei, da die Strecke zwischen Rzeszów und Przemyśl nicht in gerader Linie, sondern entlang des Santals verlief und so in einem Bogen von Nordosten her kommend nach Przemyśl hinein-führte.75 Dadurch konnte der Gegner, wenn er die Festung von Norden her angriff, die Strecke sofort unterbrechen und damit den Bahnverkehr in Richtung Lemberg zum Erliegen bringen. Die problematische Tras-senwahl ging noch auf den ursprünglichen, privaten Betreiber der Bahn zurück76, der beim Bau primär auf Kostenminimierung und weniger auf strategische Überlegungen geachtet hatte. Den Militärs war dieser Umstand bekannt, doch fehlten für eine Neutrassierung des kritischen Abschnitts re-spektive den Ausbau der bestehenden, parallel zur Hauptstrecke verlaufen-den Linie Krakau–Neusandez (Nowy Sącz)–Sanok–Przemyśl77 die nötigen Mittel. Ähnlich verhielt es sich auch mit der Bahninfrastruktur, die eben-falls nur für den Friedensbetrieb ausgelegt war. So wiesen die Militärs später mit Recht darauf hin, dass die Hauptstrecken wesentlich mehr Züge verkraften hätten könnten78, die Unterdimensionierung der Be-triebsanlagen jedoch zu den bekannten Einschränkungen geführt hätte. Auch in diesem Fall konnten, trotz einiger Bemühungen, bis 1914 keine Verbesserungen mehr erzielt werden.

Noch ungünstiger als in der Habsburgermonarchie sah die Situation hingegen in Russisch-Polen aus, wo aufgrund politischer Wirren79 sowie 72 Ebda., 12–15. 73 Rauchensteiner, Tod, 115–119; Saurau, Eisenbahnen, 12. 74 Ebda., 5–7; Conrad, Dienstzeit 1, 365. 75 BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilagen 1 und 3. 76 Kupka, Eisenbahnen, 276–282. 77 Zur Lage der Orte vgl. BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 1; zum Verlauf der Strecke ebda.,

Beilagen 3 und 5; sowie Rumpler – Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 9/2, 248f. 78 Rauchensteiner, Tod, 119f. 79 Jaworski – Lübke – Müller, Geschichte Polens, 264–275.

Vorbedingungen der Kriegsführung 381 taktischer Überlegungen80 erst spät mit der Errichtung eines Bahnnet-zes begonnen worden war. So entstand dort bis zum Jahr 1846 zu-nächst nur eine einzige, von Krakau nach Warschau führende Bahnlinie, erst nach 1860 kamen weitere, ins Innere Russlands führende Strecken hinzu. Aus diesem Grund gingen Österreich-Ungarn und Deutschland lange davon aus, dass der Gegner zumindest einen Monat für seinen Truppenaufmarsch benötigen würde, eine Annahme, die bis zum Jahr 1880 durchaus zutreffend war.81 Um Abhilfe zu schaffen, ordnete der russische Generalstab den Bau von 12 Strecken in die Grenzgebieten zu Deutschland und Österreich-Ungarn an82, wobei die Projekte zu-nächst nur schleppend vorankamen. Der russische Wirtschaftsboom nach 1890 sowie Investitionen französischer Firmen83 sorgten jedoch dafür, dass der entstandene Zeitverlust wettgemacht werden konnte. So entstanden bis 1914 mehrere neue, in den Raum östlich und nördlich der galizischen Grenze führende Strecken84, gleichzeitig wurden die be-reits existierenden, in die Aufmarschräume bei Ivangorod, Lublin, Cholm, Kovel, Rovno und Proskurov (Chmelnyzkyj)85 führenden Li-nien zweigleisig ausgebaut. Infolge dessen konnten auf den in das Grenzgebiet führenden russischen Bahnen 1914 pro Tag etwa 260 Züge mit je 100 Achsen verkehren, während das Schienennetz Öster-reich-Ungarns nur 150 solcher Züge verkraften konnte.86 Dadurch war klar, dass die russische Armee im Kriegsfall deutlich schneller an der galizischen Grenze aufmarschieren konnte, als es die Generalstäbe Österreich-Ungarns und Deutschlands angenommen hatten.

Kriegspläne und Kriegsstrategie

Die ersten Pläne für einen gemeinsamen Krieg Österreich-Ungarns und Deutschlands gegen Russland wurden bereits in den 1870er Jahren vom deutschen Generalstabschef Helmuth Graf von Moltke erstellt. Obwohl die beiden Staaten noch nicht verbündet waren, stellte er Überlegungen hinsichtlich einer großen Militäraktion gegen Russland an, wobei er eine Offensive der beiden Staaten von Ostpreußen und Galizien aus in Rich-tung Warschau vorschlug.87 Mit dem Abschluss des Zweibundvertrages zwischen der Habsburgermonarchie und dem Deutschen Reich im Jahr 80 So ging der russische Generalstab davon aus, dass ein zu dichtes Eisenbahnnetz

den Vormarsch des Gegners beschleunigen würde. Stevenson, Weltkrieg, 86. 81 Marian Zgórniak, Galizien in den Kriegsplänen Österreichs und Österreich-

Ungarns, in: Studia Austro-Polonica 5, Krakau 1996, 295–307, hier 303. Zur Ent-wicklung des russischen Bahnnetzes vgl. Magocsi, Historical Atlas, 91.

82 Fuller, Strategy, 339. 83 Stevenson, Weltkrieg, 87; Fuller, Strategy, 362; David Stevenson, Armaments and

the Coming of War. Europe 1904–1914, Oxford 1996, 323f. 84 Magocsi, Atlas, 91. 85 Zur Lage der Orte vgl. BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 1. 86 Conrad, Dienstzeit 4, 284f., Anlage 13; BMHW/KA, ÖUlK 1, Beilage 5; Steven-

son, Armaments, 356; Strachan, War 1, 291f., 297f. 87 Hermann von Kuhl, Der deutsche Generalstab in Vorbereitung und Durchführung

des Weltkrieges, Berlin 1920, 146–151; Zgórniak, Galizien, 298.

Richard Lein 382 187988 wurden diese Überlegungen zwar auf eine reelle Basis gestellt, trotzdem jedoch arbeiteten die beiden Generalstäbe weiterhin getrennt.89 Österreich-Ungarn erkannte bald die Notwendigkeit einer Zusammenar-beit mit Deutschland, war man doch nur gemeinsam in der Lage, Russland militärisch zu besiegen.90 So fanden 1882 erstmals Gespräche zwischen den beiden Generalstabschefs statt, bei denen die Frage erörtert wurde, wie man im Fall eines Konflikts mit Russland vorgehen sollte.91 Dabei wurde festgelegt, dass man im Kriegsfall den Großteil der Truppen an die russische Front verlegen und an deren übrigen Außengrenzen nur schwache Verbände zurücklassen würde.92 Dieser Plan basierte auf der Überlegung, dass der Waffengang nur dann Aussicht auf Erfolg hatte, wenn die Verbündeten das Zarenreich noch vor dem Abschluss seines Aufmarsches zu schlagen vermochten. Tatsächlich verfügte Russland über ein größeres Kräftepotenzial als Deutschland oder Österreich-Ungarn93, so dass diese bei einem lang andauernden militärischen Kon-flikt zwangsläufig ins Hintertreffen geraten mussten. Konkret planten die Zweibundmächte im Kriegsfall innerhalb von weniger als 30 Tagen94 ent-lang der Süd- und Nordgrenze Russisch-Polens aufzumarschieren und durch einen gemeinsamen Vorstoß in Richtung Brest-Litovsk die in die-sem Gebiet konzentrierten russischen Truppen zu schlagen. Erst nach Abschluss dieser Operation sollten die in Galizien und Ostpreußen zu-rückgelassenen Verbände gemeinsam mit den in Polen eingedrungenen Truppen weiter in Richtung Osten vorstoßen.95 Dabei ist zu bemerken, dass dieser Plan nur auf mündlichen Vereinbarungen der beiden Gene-ralstabschefs beruhte, eine schriftliche Festlegung der Operationsziele er-folgte hingegen nicht.96

Die Strategie der Zweibundmächte gegenüber Russland erfuhr jedoch ab dem Jahr 1891 eine entscheidende Änderung, als der neue deutsche Generalstabschef, Alfred Graf von Schlieffen, einen alternativen Opera-tionsplan auszuarbeiten begann, der dem russischen Kriegsschauplatz deutlich weniger Bedeutung einräumte. Die Basis für diese Planänderung

88 Zum Zweibund vgl. Helmut Rumpler (Hg.), Der „Zweibund“ 1879. Das deutsch-

österreichisch-ungarische Bündnis und die europäische Diplomatie, Zentraleuropa-Studien 2, Wien 1996; Holger Afflerbach, Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Wien 2002.

89 BMHW/KA, ÖUlK 1, 12f.; Edmund Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefähr-te. Das Leben des Generalstabschefs Grafen Beck, Zürich/Leipzig/Wien 1930, 284–290; Zgórniak, Galizien, 299.

90 Strachan, War 1, 286. 91 Fiedler, Taktik, 81; Strachan, War 1, 287. 92 Conrad, Dienstzeit 1, 368–372; Strachan, War 1, 286–288. 93 Stone, Front, 37f.; Stevenson, Weltkrieg, 96. 94 Fiedler, Taktik, 82. Zum Kräftekalkül vgl. Glaise-Horstenau, Weggefährte, 284f. 95 Conrad, Dienstzeit 1, 371f. 96 Theobald von Schäfer, Deutsche Offensive aus Ostpreußen über den Narew auf

Siedlec, in: Militärwissenschaftliche Mitteilungen, Ergänzungsheft 1 zum Werke „Österreich-Ungarns letzter Krieg“, Wien 1930, 1–16, hier 1f.

Vorbedingungen der Kriegsführung 383 bildete die zunehmende Annäherung Russlands an Frankreich97, die zu Befürchtungen Anlass gab, dass im Fall eines Konflikts mit einer der bei-den Nationen auch der jeweils andere Staat dem Deutschen Reich den Krieg erklären würde. Weil seitens des deutschen Generalstabs Frank-reich als der gefährlichere Gegner angesehen wurde98, ist es klar, warum Schlieffen das Schwergewicht der Operationen von Osten nach Westen verlegte. Konkret sah der 1905 präsentierte „Schlieffen-Plan“99 vor, dass Deutschland im Fall eines Zweifrontenkrieges zunächst den Großteil sei-ner Truppen an der Westfront zum Einsatz bringen und erst nach dem Sieg über Frankreich an der russischen Front aktiv eingreifen werde. Ös-terreich-Ungarn wurde dabei die Aufgabe zugedacht, gemeinsam mit schwachen deutschen Kräften die Ostfront so lange zu halten, bis nach der Niederwerfung Frankreichs weitere Truppen herangeführt werden konnten.100 Nachdem diese Strategieänderung vom k.u.k. Generalstabs-chef, Friedrich Graf von Beck-Rzikowsky, nicht gebilligt wurde, Schlief-fen jedoch nicht bereit war, von seinem Plan abzurücken, brachen die Kontakte zwischen der militärischen Führung Österreich-Ungarns und Deutschlands vorerst zur Gänze ab.101

Erst nach der Annexionskrise 1908 nahmen die Generalstäbe wieder Verbindung zueinander auf, inzwischen standen sich hier jedoch nicht mehr Schlieffen und Beck, sondern deren Nachfolger, Helmuth Johan-nes von Moltke und Franz Conrad von Hötzendorf102, gegenüber. Zwi-schen Conrad und Moltke entwickelte sich in weiterer Folge ein reger Schriftverkehr, in dem es primär um die geplanten Operationen an der russischen Front ging.103 Der Inhalt dieser Briefe ist bis heute umstritten, wobei sich die Diskussion generell um die Frage dreht, ob Moltke seinem Kollegen gegenüber Zusagen über die Zahl der in Ostpreußen zu statio-nierenden Truppen gemacht hatte. Unbestritten ist, dass der deutsche Generalstabschef in seinen Briefen Conrad gegenüber angab, dass das deutsche Heer in der Lage sei, Frankreich in zwei bis maximal vier Wo-chen nach dem Abschluss der Mobilisierung zu bezwingen, was bedeutet hätte, dass die k.u.k. Armee nur für relativ kurze Zeit an der Ostfront auf sich alleine gestellt geblieben wäre. Unklar ist dagegen, ob Moltke Conrad zugesagt hatte, eine Offensive Österreich-Ungarns in Richtung Brest-Litowsk durch einen Vorstoß deutscher Truppen in Richtung Siedlec zu 97 Stevenson, Weltkrieg, 33; Fuller, Strategy, 328f. 98 Terence Zuber, Strategische Überlegungen in Deutschland zu Kriegsbeginn, in:

Gerhard Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15: Ereignis, Wir-kung, Nachwirkung, Paderborn/München/Wien/Zürich 2006, 35–48, hier 43–46.

99 Zuber, Überlegungen, 35–39; Groß, Schatten, 51–53; Strachan, War 1, 288. 100 Zum Schlieffenplan vgl. Terence Zuber, Inventing the Schlieffen Plan. German

War Planning 1871–1914, Oxford/New York 2002; Fiedler, Taktik, 165–185. Zur Änderung der deutsche Aufmarschdisposition vgl. Kuhl, Generalstab, 142–179.

101 Fiedler, Taktik, 82f.; Zgórniak, Galizien, 300; Strachan, War, 288. 102 Oskar Regele, Feldmarschall Conrad. Auftrag und Erfüllung 1906–1918, Wien/

München 1955, 99f. 103 Zgórniak, Galizien, 300f.; Fiedler, Taktik, 84f; Conrad, Dienstzeit 1, 373–406.

Richard Lein 384 unterstützen.104 Sowohl in Teilen der älteren österreichischen Historio-graphie105 als auch in der Autobiographie Conrads106 findet sich die An-gabe, Moltke habe versprochen, von Ostpreußen aus anzugreifen, jedoch später sein Wort nicht gehalten.107 In den zeitgenössischen deutschen Werken wird hingegen zumeist angegeben, dass eine solche Zusage nicht gegeben worden sei, vielmehr habe Conrad nur einen der Briefe Moltkes falsch interpretiert.108 Welche der beiden Aussagen zutreffend ist, kann nicht mehr festgestellt werden, da auch diesmal auf die schriftliche Fest-legung der getroffenen Vereinbarungen verzichtet wurde.

Unabhängig von den Entscheidungen seines Amtskollegen hielt der k.u.k. Generalstabschef jedoch an dem Plan fest, unmittelbar nach Kriegsbeginn eine Offensive gegen Russisch-Polen durchzuführen.109 Entscheidend für den Erfolg dieses Vorstoßes war dabei weniger, ob sich deutschen Truppen dem Angriff anschließen würden, sondern vielmehr, wie gut die k.u.k. Armee auf einen modernen Krieg vorberei-tet war. Doch gerade in diesem Punkt befanden sich die Streitkräfte der Habsburgermonarchie eindeutig im Nachteil, da ihre Kampfverfahren längst nicht mehr zeitgemäß waren. Grund dafür war, dass Österreich-Ungarn seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts keinen Krieg mehr geführt und auch die Erfahrungen anderer Konflikte nur zum Teil berücksichtigt hatte.110 Generell ging man davon aus, dass im Ge-fecht die Entscheidung möglichst im Angriff gesucht werden sollte111, wobei es die Infanterie war, die den Sieg im Nahkampf mit dem aufge-pflanzten Bajonett erzwingen sollte. Diese archaisch anmutende Taktik war jedoch nicht darauf zurückzuführen, dass die Entwicklung der Feu-erwaffen negiert worden wäre112, viel mehr hatte man gerade aus dem

104 Die russische Mobilisierungsdauer wurde mit einem Monat veranschlagt, während

die Mittelmächte ihren Aufmarsch in 20 Tagen abzuschließen gedachten. Vgl. Zgórniak, Galizien, 302f.; Strachan, War 1, 286–288.

105 BMHW/KA, ÖUlK 1, 13f.; Regele, Conrad, 319–323. Die Behauptung findet sich auch noch in moderneren Beiträgen. Vgl. dazu Zgórniak, Galizien, 301.

106 In der Autobiographie Conrads wird der Vorwurf indirekt vorgebracht, indem auf die von Moltke angeblich gemachten Versprechen verwiesen wird. Vgl. dazu Con-rad, Dienstzeit 1, 373–406; Conrad von Hötzendorf, Aus meiner Dienstzeit 1906–1918, Bd. 3: 1913 und das erste Halbjahr 1914. Der Ausgang des Balkankrieges und die Zeit bis zum Fürstenmord in Sarajevo, Wien/Berlin/Leipzig/München 1922, 85–89, 669–673; ders., Dienstzeit 4, 279.

107 Conrad ging sogar so weit zu behaupten, Österreich-Ungarn wäre von seinem Ver-bündeten schmählich im Stich gelassen worden. Vgl. dazu Strachan, War 1, 290f.

108 Der Weltkrieg 1914–1918. Die militärischen Operationen zu Lande, Bd. 2, Berlin 1925, 251–253; Schäfer, Offensive, 11–16; Strachan, War 1, 289–294.

109 Conrad, Dienstzeit 4, 283f.; Strachan, War 1, 288–291. 110 Zu den militärischen Konflikten nach 1871 vgl. Fiedler, Taktik, 186–260. 111 Wagner, K.(u.)k. Armee, 626–628; Franz Conrad von Hötzendorf, Gefechtsausbil-

dung der Infanterie, Wien 1913, 24–36. 112 Vgl. dazu Hans Linnenkohl, Vom Einzelschuss zur Feuerwalze. Der Wettlauf zwi-

schen Technik und Taktik im Ersten Weltkrieg, Koblenz 1990, 11–162; Georg Or-tenburg, Waffen der Millionenheere 1871–1914, Bonn 1992, 47–119.

Vorbedingungen der Kriegsführung 385 Krieg gegen Deutschland 1866113 die falschen Schlüsse gezogen. So ging man davon aus, dass es wegen der größeren Schussfolge moderner Waf-fen notwendig wäre, die Truppen beim Angriff so rasch wie möglich an den Gegner heranzubringen, um so hohe Verluste zu vermeiden.114 Vor diesem Hintergrund wurde auch das Zusammenwirken der Infanterie mit anderen Waffengattungen, wie etwa der Artillerie115, als nicht unbedingt notwendig erachtet. Diese Taktik, die gerade von Generalstabschef Franz Conrad favorisiert wurde116, stellte trotz der bereits im Frieden erkannten Mängel bis zum Sommer 1914 das gängige Angriffsverfahren der k.u.k. Armee dar. Doch auch in anderen Bereichen gab es zum Teil erhebliche Mängel. So verließ sich die militärische Führung darauf, im Kriegsfall al-leine durch den Einsatz der Kavallerie in den Grenzgebieten Nord- und Ostgaliziens die Stärke der gegnerischen Truppen sowie den Schwer-punkt ihres Aufmarsches ermitteln zu können, auch wenn dies aufgrund der Größe des Gebiets unmöglich erschien.117 Andere Aufklärungsmittel, wie etwa die bereits in Truppenerprobung stehenden Flugzeuge118, be-rücksichtigte man hingegen kaum.

Ein weiteres Problem hinsichtlich der Operationsplanungen Öster-reich-Ungarns ergab sich aus der Notwendigkeit für den Generalstab, ge-gebenenfalls an zwei Fronten Krieg führen zu müssen. So rechnete Conrad fix mit einem Krieg gegen Serbien, der allerdings wegen der Bündnislage auch zu einem Konflikt mit Russland führen konnte. Aus diesem Grund wurden die Landstreitkräfte der Habsburgermonarchie in drei Gruppen, die Staffeln „A“ und „B“ sowie die „Minimalgruppe Balkan“ unterteilt, die unterschiedliche Aufgaben erhielten. So waren die Kräfte der A-Staffel im Kriegsfall für den Einsatz gegen Russland bestimmt, während die Minimalgruppe Balkan entlang der Grenze zu Serbien in Stellung ge-hen sollte. Der Einsatzort der B-Staffel stand hingegen nicht von vorn-herein fest, sondern hing vom eventuellen russischen Kriegseintritt ab. Für den Fall, dass das Zarenreich neutral bleiben sollte, war geplant, die B-Staffel auf dem Balkan einzusetzen, bei einem Krieg gegen Russland hingegen hatte man die Truppen nach Galizien zu verlegen.119 Dies stellte den k.u.k. Generalstab vor das Problem, im Konfliktfall rasch erkennen zu müssen, ob Russland in den Krieg eintrat oder nicht, da im Hinblick auf den komplizierten Eisenbahn-Aufmarschplan ein nachträgliches Umdirigieren der Kräfte der B-Staffel nach Galizien große Probleme verursachen musste.120 Tatsächlich hing vom reibungslosen Ablauf des 113 Zu Königgrätz vgl. Gordon Craig, Königgrätz 1866 – eine Schlacht macht Weltge-

schichte, Wien 1997. 114 Conrad, Gefechtsausbildung, 52–61; Fiedler, Taktik, 79. 115 Strachan, War 1, 285. Zum Kampf verbundener Waffen vgl. Ortenburg, Waffen, 212–229. 116 Conrad, Dienstzeit 1, 368–370; ders., Dienstzeit 4, 283. 117 Rauchensteiner, Tod, 126f. 118 Wagner, K.(u.)k. Armee, 476–478. 119 Rauchensteiner, Tod, 113–121; BMHW/KA, ÖUlK 1, 3–9; Stevenson, Weltkrieg, 89f. 120 Saurau, Eisenbahnen, 12f.; BMHW/KA, ÖUlK 1, 21–24; Strachan, War 1, 290–295.

Richard Lein 386 Aufmarsches auch das Gelingen der Kriegspläne ab, hatte doch der Ge-neralstab Berechnungen angestellt, denen zufolge Russland bis zum 20. Tag seiner Mobilisierung 35 Infanteriedivisionen (ID), bis zum 30. Tag der Mobilisierung jedoch bereits bis zu 60 ID an der galizischen Grenze versammeln konnte.121 Aufgrund der Tatsache, dass die k.u.k. Armee an der russischen Front nur 40 ID aufzubieten vermochte122, war es also nötig, dass die Offensive in Galizien frühzeitig begann, da ansonst der Gegner in der Überzahl sein würde.123

Wesentlich einfacher stellte sich dagegen die Situation für den russi-schen Generalstab dar, der gleichfalls zwei Kriegspläne, Plan „A“ und „G“, ausgearbeitet hatte.124 Grundsätzlich gingen beide Szenarien von einem Krieg mit Deutschland aus, der Unterschied bestand darin, dass Plan „A“ auch die Habsburgermonarchie als Gegner vorsah, während Plan „G“ nur eine Konfrontation mit dem Deutschen Reich enthielt. Konkret plante Russland bei einem Kriegseintritt Österreich-Ungarns, mit vier Armeen gegen Galizien aufzumarschieren und dort die k.u.k. Armee entscheidend zu schlagen; erst danach sollte der eigentliche Vor-stoß der russischen Truppen über Ostpreußen auf Berlin beginnen.125 Der Angriffsplan sah vor, dass je zwei russische Armeen an der Nord- und der Ostgrenze Galiziens versammelt werden sollten, um von dort aus gemeinsam gegen die westlich von Lemberg vermuteten Kräfte des Gegners vorzugehen.126 Ein solcher Angriff hatte durchaus Aussicht auf Erfolg, da der k.u.k. Generalstab nicht mit einem Vorstoß aus die-ser Richtung rechnete. Auch was den Aufmarsch betraf, war Russland gegenüber den Mittelmächten im Vorteil, weil seine Aufmarschbahnen, wie bereits erwähnt, sehr leistungsfähig waren und ein Teil der für den Kriegseinsatz in Galizien vorgesehenen Truppen bereits im Frieden in der Region stationiert worden war.127 Der wichtigste Vorteil Russlands bestand jedoch darin, dass seine Streitkräfte seit dem russisch-japanischen Krieg über wertvolle Kriegserfahrung verfügten und auch technisch gut ausgerüstet waren.128 Nicht zuletzt aus diesem Grund war die Armee des Zarenreiches jener Österreich-Ungarns 1914 nicht nur ebenbürtig, sondern eher sogar überlegen, was in den ersten Schlachten des Ersten Weltkriegs an der russischen Front für die Truppen der k.u.k. Armee fatale Folgen haben sollte.

121 BMHW/KA, ÖUlK 1, 12. 122 Boris Khavkin, Russland gegen Deutschland. Die Ostfront des Ersten Weltkrieges

in den Jahren 1914 bis 1915, in: Gerhard Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15: Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn/München/Wien/ Zürich 2006, 65–85, hier 70; BMHW/KA, ÖUlK 1, 63–79.

123 Strachan, War 1, 293–295. 124 Stone, Front, 33–36; Griess, Atlas, Map 24b. 125 Fuller, Strategy, 442–445; Khavkin, Russland, 67f. 126 Griess, Atlas, Map 24b. 127 Stone, Front, 41f. 128 Stone, Front, 17–36; Stevenson, Weltkrieg, 87.

Vorbedingungen der Kriegsführung 387 Das Kriegsjahr 1914

Das Problem Österreich-Ungarns bestand letztlich darin, dass bei Kriegsbeginn im Juli 1914 alle zuvor skizzierten Versäumnisse und Probleme mit einem Schlag zu Tage traten. So ergab sich bereits beim Aufmarsch die ungünstige Situation, dass unmittelbar nach dem Anlauf der Transporte für einen Krieg gegen Serbien auch Russland in den Konflikt eintrat. Nachdem die Truppen jedoch bereits abmarschiert waren, befand sich nun die B-Staffel auf dem Weg an die serbische Grenze, obwohl sie eigentlich in Galizien gebraucht worden wäre.129 Zwar hätte die Möglichkeit bestanden, die Transporte anzuhalten, un-geachtet dessen entschied sich Generalstabschef Conrad jedoch dafür, nicht in den Aufmarsch einzugreifen und die Truppen erst später vom Balkan nach Galizien weiterbefördern zu lassen.130 Seine Einschätzung, dass die B-Staffel dennoch pünktlich im Einsatzgebiet ankommen wer-de131, erwies sich jedoch als falsch. Gleichzeitig stand die militärische Führung vor dem Problem, dass der russische Aufmarsch wesentlich schneller vor sich ging, als man vermutet hatte. Obwohl infolge des Versagens der Aufklärung der Schwerpunkt der gegnerischen Kräfte nicht festgestellt werden konnte und zu diesem Zeitpunkt auch klar war, dass wegen der Lageentwicklung in Ostpreußen132 die deutschen Truppen nicht zu einem Vorstoß in Richtung Siedlec antreten würden, entschloss sich Conrad dennoch dazu, in die Offensive zu gehen. Zugleich mit dem Angriff auf Russisch-Polen brachen jedoch auch überlegene russische Kräfte über die galizische Ostgrenze herein und schlugen die um Lemberg stehenden k.u.k. Truppen vernichtend. Hilfe hätten nur die Truppen der B-Staffel bringen können, diese befanden sich jedoch noch im Anmarsch, und kamen letztlich zu spät an, um die Lage noch wenden zu können.133 Zugleich gerieten auch die in Rich-tung Norden vorgestoßenen österreichisch-ungarischen Verbände im-mer mehr in die Defensive, wobei die Truppen in dem deckungslosen Terrain keinen Halt fanden und immer weiter zurückweichen mussten. Auch eine Verteidigung entlang der San–Dnjestr–Linie stand außer Frage, weil dort keine ausreichend starken Rückhaltepositionen existier-ten.134 Letztlich blieb der Armeeführung, welche die Vernichtung ihrer Streitkräfte vor Augen hatte135, nichts anderes übrig, als den Rückzug 129 BMHW/KA, ÖUlK 1, 18–25. 130 Zur Diskussion über die Richtigkeit der Entscheidung vgl. Graydon Tunstall, The

Habsburg Command Conspiracy. The Austrian Falsification of Historiography on the Outbreak of World War I, in: Austrian History Yearbook 27, Cambridge 1996, 181–198.

131 Saurau, Eisenbahnen, 12f.; Strachan, War 1, 296. 132 Stone, Front, 44–69; BMHW/KA, ÖUlK 1, 155–162; Groß, Schatten, 53f. 133 Robert Wegs, Transportation. The Achilles Heel of the Habsburg War Effort, in:

Robert A. Kann – Béla K. Király – Paula S. Fichtner (Hgg.), The Habsburg Empire in World War I. Essays on the Intellectual, Military, Political and Economic As-pects of the Habsburg War Effort, New York 1977, 121–134, hier 123.

134 Steinitz – Aarenau, Reichsbefestigung, Skizze 1. 135 Khavkin, Russland, 73f.; BMHW/KA, ÖUlK 1, 308–321.

Richard Lein 388 der eigenen Truppen in die Karpaten respektive hinter den Dunajec anzuordnen, wodurch ganz Galizien in die Hand des Gegners fiel.

Schlussbemerkung Abschließend ist zu betonen, dass die schwere Niederlage, die Öster-reich-Ungarn 1914 in Galizien und Russisch-Polen hinnehmen musste, weniger auf das Versagen einzelner Militärs, sondern eher auf ein Zu-sammenwirken der skizzierten, ungünstigen Vorbedingungen zurückzu-führen war. So erwies sich das Terrain letztlich als so unübersichtlich, dass nicht nur die Aufklärung der k.u.k. Armee völlig versagte, sondern auch die Truppen wiederholt den Anschluss zueinander verloren.136 Auch das beim Aufmarsch entstandene Chaos war weniger auf menschliches Versagen, als viel mehr auf die mangelnde Kapazität ein-zelner Bahnstrecken sowie das strategische Dilemma der militärischen Führung Österreich-Ungarns zurückzuführen, die für zwei verschiedene Kriegsfälle Vorsorgen treffen hatte müssen. Persönliche Verantwortung trug am ehesten noch Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, dessen Entscheidung, die Transporte der B-Staffel nicht anzuhalten, sondern den Umweg über den Balkan nehmen zu lassen, für deren ver-spätetes Eintreffen auf dem russischen Kriegsschauplatz ursächlich war. Conrad kann zudem der Vorwurf gemacht werden, dass er an sei-ner Offensive festhielt, obwohl ihm klar sein musste, dass der deutsche Vorstoß auf Siedlec nicht erfolgen würde. Seine Entscheidung, auf ei-nen Ausbau der San–Dnjestr–Linie zu verzichten, wird hingegen unter-schiedlich bewertet, da im Hinblick auf das spätere Schicksal Przemyśls unklar ist, ob es gelungen wäre, hier effektiv Widerstand zu leisten.137 Dass er wohl mit für die erlittene Niederlage verantwortlich war, dürfte Conrad jedoch klar gewesen sein, äußerte er doch später gegenüber einem Kameraden, dass man ihn wohl hingerichtet hätte, wenn Thronfolger Franz Ferdinand noch am Leben gewesen wäre.138 Ihm die alleinige Schuld für die Niederlage zu geben, wäre aber verfehlt. Ursache dafür waren eher die erwähnten, ungünstigen Vorbedingungen, die von Sei-ten der Generalstäbe der Mittelmächte entweder negiert oder aber un-terschätzt worden waren. Auch Hugo Zuckermann, der Schöpfer des österreichischen Reiterlieds, wurde letztlich ein Opfer des vermutlich vermeidbaren Debakels. Für ihn erwies sich sein Prosawerk, das wäh-rend des Nationalsozialismus aufgrund von Zuckermanns jüdischer Abstammung als „Volksweise unbekannten Ursprungs“ bezeichnet wurde, als geradezu prophetisch: Er fiel im Dezember 1914 in der Karpatenschlacht.139 136 Als Beispiel wären etwa die unglücklich verlaufenen Operationen der 1. und 4. k.u.k.

Armee im September 1914 zu nennen, vgl. dazu BMHW/KA, ÖUlK 1, 269–298. 137 Przemyśl wurde nach dem Rückzug der k.u.k. Armee von russischen Truppen ein-

geschlossen und kapitulierte am 22. März 1915. Vgl. Forstner, Przemyśl, 134–255. 138 Hew Strachan, Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte, München

32009, 52. 139 Friedmann, Zuckermann, 10.