Die Viadrina und der Aufstieg der ökonomischen Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung

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Marcus Sandl Die Viadrina und der Aufstieg der ökonomischen Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung Sonderdruck aus Reinhard Blänkner (Hg.) Europäische Bildungsströme Die Viadrina im Kontext der europäischen Gelehrten- republik der frühen Neuzeit 1506-1811 scrîpvaz-Verlag Christof Krauskopf Schöneiche bei Berlin 2008 ISBN 978-3-931278-29-8

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Marcus Sandl

Die Viadrina und der Aufstieg derökonomischen Wissenschaften im

Zeitalter der Aufklärung

Sonderdruck aus

Reinhard Blänkner (Hg.)Europäische Bildungsströme

Die Viadrina im Kontext der europäischen Gelehrten-republik der frühen Neuzeit 1506-1811

scrîpvaz-Verlag Christof KrauskopfSchöneiche bei Berlin 2008

ISBN 978-3-931278-29-8

Die Viadrina und der Aufstieg der ökonomischen Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung

Marcus Sandl

Die ökonomischen Wissenschaften erlebten im 18. Jahrhundert einen nahezu beispiellosen Aufstieg. Dieser Aufstieg war ein euro-päisches Phänomen, nahm jedoch im mitteleuropäischen Raum – innerhalb der Territorien des Alten Reiches – eine besonders ra-sante Entwicklung und erhielt gleichzeitig – im Hinblick auf seine konkrete disziplinäre Ausformung – auch eine spezifische Verfas-sung. Der Name der neuen Disziplin lautete „Kameralwissen-schaften“ – und der Plural wies darauf hin, dass es sich hierbei um die Zusammenfassung einer Reihe von bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unverbundenen Teildisziplinen handelte.1 Die Öko-nomie, die Lehre von den Grundsätzen der Landwirtschaft, des produzierenden Gewerbes und des Handels, bildete nur einen Schwerpunkt der Kameralwissenschaften.2 Neben ihr stand die Polizeiwissenschaft, in der sich unter Anschluss an die ältere Poli-zeilehre ein neues herrschaftliches Steuerungswissen formierte, das die ökonomischen Einsichten aufnahm und in Kategorien des

1 Zur Geschichte und disziplinären Verfassung der Kameralwissenschaf-ten vgl. Hans Erich Bödeker, Das staatswissenschaftliche Fächersystem im 18. Jahrhundert, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Wissenschaften im Zeital-ter der Aufklärung, Göttingen 1985, S. 143–162; Keith Tribe, Governing Economy. The Reformation of German Economic Discourse 1750–1840, Cambridge 1988; Marcus Sandl, Ökonomie des Raumes. Der kameralwis-senschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert, Köln 1999; Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Men-schen, München 2002, bes. S. 54 ff.

2 Sie bestimmte sich im Wesentlichen über ihren Gegensatz zur „alteuropä-ischen Ökonomik“, die sie unter dem Eindruck einer neuen praktischen und theoretischen Herausforderungslage zu erneuern resp. zu überwinden trachtete. Vgl. dazu grundlegend Otto Brunner, Das „ganze Haus“ und die alteuropäische Ökonomik, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und So-zialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 103–127 (zuerst 1952); Erich Egner, Der Verlust der alten Ökonomik. Seine Hintergründe und Wir-kungen, Berlin 1985, sowie Johannes Burkhardt, Der Begriff des Ökono-mischen in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, in: Norbert Waszek (Hg.), Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Uni-versitäten, St. Katharinen 1988, S. 55–76.

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Politischen reformulierte.3 Den dritten Bereich bildete die Lehre von den Einnahmen und Ausgaben des Staates, also die Kamera-listik, die Lehre von der fürstlichen Schatzkammer im engeren Sinne,4 von der die Kameralwissenschaften ihren Namen erhiel-ten. Die Kameralwissenschaften schlossen also an überkommene, sehr unterschiedliche Traditionslinien an und fassten sie zusam-men, vereinigten sie zu einem Korpus komplementärer Wissens-felder und systematisierten sie in Lehrbüchern und Enzyklopä-dien als Felder einer politischen Ökonomie.

Die Universität Frankfurt an der Oder, die Viadrina, hat in der Geschichte des Aufstiegs der Kameralwissenschaften ihren festen Platz. Hier wurde, neben Halle, im Jahre 1727 der erste Lehrstuhl für Kameralistik gegründet; hier wurde eine der zwei ersten Er-nennungsurkunden für eine Professur „Oeconomico-Politico-Cameralium“ überreicht. Der Frankfurter Historiker und Natur-rechtler Justus Christoph Dithmar (1677–1737) nahm sie entge-gen; in Halle war es Simon Peter Gasser (1676–1745), dem diese Aufgabe übertragen wurde.5 Dithmar steht damit am Beginn des-sen, was von der Wissenschaftsgeschichte als Institutionalisierung, Verwissenschaftlichung und Akademisierung der politischen

3 Vgl. zum Begriff und zu den Grundlagen der Policey in der Frühen Neuzeit allgemein Thomas Simon, „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Ziel-vorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2004. Zur Entwicklung, disziplinären Ausformung und diskursiven Ord-nung der Polizeiwissenschaft im 18. Jahrhundert vgl. Joseph Vogl, Staatsbe-gehren. Zur Epoche der Policey, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Lite-raturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. 600–626; Wolfgang Neurath, Regierungsmentalität und Policey. Technologien der Glückse-ligkeit im Zeitalter der Vernunft, in: Österreichische Zeitschrift für Ge-schichtswissenschaften 11 (2000), S. 11–33.

4 Zu den Prinzipien der Einkünfte und Ausgaben des Fürsten gab es seit dem späten 17. Jahrhundert eine breite zeitgenössische Diskussion, die Ansät-ze einer politischen Theoriebildung beinhaltete. Vor allem Veit Ludwig von Seckendorffs „Teutscher Fürsten-Stat“ (1656), Wilhelm von Schröders „Fürstliche Schatz- und Rentkammer“ (1686) sowie Johann Joachim Bechers „Politischer Diskurs“ (1688) gehörten zu den Werken, an die die Kameralwissenschaftler des 18. Jahrhunderts anknüpften. Vgl. dazu Tribe, Governing Economy (wie Anm. 1), S. 19 ff., und Hermann Schulz, Das System und die Prinzipien der Einkünfte im werdenden Staat der Neuzeit. Dargestellt anhand der kameralwissenschaftlichen Literatur (1600–1835), Berlin 1982.

5 Erhard Dittrich, Die deutschen und die österreichischen Kameralisten, Darmstadt 1974, S. 80 ff.

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Ökonomie beschrieben wurde. Er steht am Beginn einer Erfolgs-geschichte, die von den Kameralwissenschaften im 18. über die Nationalökonomie im 19. bis zur Betriebs- und Volkswirtschafts-lehre, Politikwissenschaft und Soziologie im 20. Jahrhundert ge-schrieben worden ist.6

6 Dem Narrativ der Institutionalisierungs- und Verwissenschaftlichungsge-schichte folgen die meisten älteren Abhandlungen, die häufig aus einem dogmengeschichtlichen Interesse verfasst wurden und dementsprechend eigene disziplinäre Interessen in die Vergangenheit projizierten. Zur ka-meralwissenschaftlichen Vorgeschichte der Nationalökonomie sowie der Wirtschaftswissenschaften allgemein vgl. Wilhelm Roscher, Geschich-te der National-Oekonomik in Deutschland, München 1874; Gustav Schmoller, Das Merkantilsystem in seiner historischen Bedeutung, städ-tische, territoriale und staatliche Wirtschaftspolitik, in: ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschich-te, Leipzig 1898, S. 1–60; Wilhelm Stieda, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft, Leipzig 1906; Joseph A. Schumpeter, Geschich-te der ökonomischen Analyse, 2 Bde., Göttingen 1965; Karl Brandt, Ge-schichte der deutschen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1: Von der Scholastik bis zur klassischen Nationalökonomie, Freiburg i. Br. 1992. Zur Kameralistik als Staatslehre und politische Theorie (und in diesem Sinne Vorläufer der Politikwissenschaft) vgl. Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philoso-phie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neu-wied 1963; Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl., München 1980; Jutta Brückner, Staatswissenschaften, Kamera-lismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wis-senschaften im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, München 1977. Zur Bedeutung der Kameralwissenschaften im Kontext der modernen Rechtsgeschichte vgl. Wilhelm Bleek, Von der Kameral-ausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1972; Johannes Jenetzky, System und Ent-wicklung des materiellen Steuerrechts in der wissenschaftlichen Literatur des Kameralismus 1680–1840, Berlin 1978; Reiner Schulze, Policey und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert, Berlin 1982. Vgl. dazu als Hinter-grund Rüdiger vom Bruch, Wissenschaftliche, institutionelle oder politi-sche Innovation? Kameralwissenschaft – Polizeiwissenschaft – Wirtschafts-wissenschaft im 18. Jahrhundert im Spiegel der Forschungsgeschichte, in: Waszek, Institutionalisierung (wie Anm. 2), S. 77–108, sowie Johannes Burkhardt, Das Haus, der Staat und die Ökonomie. Das Verhältnis von Ökonomie und Politik in der neuzeitlichen Institutionengeschichte, in: Gerhard Göhler / Kurt Lenk / Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Die Rationali-tät politischer Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden 1990, S. 169–187. Kritisch zur dogmen- und disziplinengeschichtlichen Kontinuität u. a. Rüdiger vom Bruch, Zur Historisierung der Staatswis-senschaften. Von der Kameralistik zur historischen Schule der National-ökonomie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 8 (1985), S. 131–146.

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Das Narrativ der Institutionalisierungs- und Verwissenschaftli-chungsgeschichte weist der Viadrina also einen prominenten Ort zu; sie schreibt sich in sie ein als Ursprung, Beginn und Anfang.7 Aber dieses Narrativ hat auch eine Kehrseite. Denn so wie die Universität Frankfurt am Beginn der Institutionalisierung an pro-minenter Stelle auftaucht, verschwindet sie im Laufe des 18. Jahr-hunderts auch wieder. Die Viadrina partizipiert nicht am Erfolg, an dessen Anfang sie steht. Die weitere Geschichte der Kameral-wissenschaften ist mit den Namen anderer Universitäten verbun-den; 8 Göttingen allen voran,9 Leipzig,10 Königsberg,11 nicht zu-letzt dem der brandenburgischen Konkurrenz aus Halle.12 In Frankfurt blieb der Institutionalisierungsprozess fragmentarisch. Keine Kontinuität lässt sich erkennen auf der Ebene der Besetzung und Wiederbesetzung des eingerichteten Lehrstuhls, auch keine

7 Der Satz, „Die ersten Lehrstühle für Ökonomie in Deutschland wurden 1727 von der preußischen Regierung an den Universitäten Halle und Frankfurt an der Oder eingerichtet“, ist der immer wieder wiederholte narrative Auftakt einer Erfolgsgeschichte der Verwissenschaftlichung öko-nomischer Gegenstandsbereiche. Hier Klaus Hinrich Hennings, Aspekte der Institutionalisierung der Ökonomie an deutschen Universitäten, in: Waszek, Institutionalisierung (wie Anm. 2), S. 42–54, hier S. 42.

8 Dem Vorbild Halles und Frankfurts folgten 1730 zunächst Rinteln, dann Leipzig (1742), Göttingen (1755), Wien (1572), Prag (1763), Freiburg, In-nsbruck und Klagenfurt (1768), Gießen und Marburg (1777), schließlich Ingolstadt (1780) mit der Gründung eigener Professuren für Kameralwis-senschaften. In Tübingen und Heidelberg waren schon früher die kameral-wissenschaftlichen Akademien eingegliedert worden. Vgl. dazu Hennings, Aspekte der Institutionalisierung (wie Anm. 7), S. 42 ff.

9 Ferdinand Frensdorff, Die Vertretung der ökonomischen Wissenschaften in Göttingen vornehmlich im 18. Jahrhundert, in: Festschrift der Gesell-schaft der Wissenschaften in Göttingen 1901, Berlin 1901, S. 495–565; Luigi Marino, Praeceptores Germaniae. Göttingen 1770–1820, Göttingen 1995, bes. S. 343 ff.

10 Stieda, Nationalökonomie (wie Anm. 6), S. 258 ff.; Klaus Hinrich Hennings, Die Wirtschaftswissenschaften an der Universität Leipzig im 18. und 19. Jahrhundert, in: Waszek, Institutionalisierung (wie Anm. 2), S. 122–161.

11 Harald Winkel, Zur Entwicklung der Nationalökonomie an der Universi-tät Königsberg, in: Waszek, Institutionalisierung (wie Anm. 2), S. 109–121.

12 Bruno Feist, Die Geschichte der Nationalökonomie an der Friedrichs-Universität zu Halle (Saale) im 18. Jahrhundert. Diss. rer. pol. Halle 1930. Allgemein zur herausragenden Bedeutung Halles in der Bildungslandschaft der Aufklärung vgl. Notker Hammerstein, Zur Geschichte der deutschen Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: ders., Res publica litteraria. Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Berlin 2000, S. 11–42 (zuerst 1983).

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Kontinuität im Curriculum der Universität. Über den konkreten Unterricht, die Häufigkeit der Lehrveranstaltungen, die Zahl und Herkunft der Studierenden lässt sich kaum etwas herausfinden. Nur sporadisch wurden die Kameralwissenschaften offensichtlich gelehrt. Fast könnte man sagen, dass nach dem furiosen Auftakt die Kameralwissenschaften in Frankfurt nur noch eine marginale Rolle spielten, jedenfalls keine große Bedeutung mehr hatten.13

Mit dem Narrativ der Institutionalisierungsgeschichte an die Frankfurter Kameralwissenschaften heranzugehen, heißt so gese-hen, die Enttäuschung schon vorzuprogrammieren. Um sich diese Enttäuschung zu ersparen, muss man einen anderen Weg der Be-schreibung und Analyse einschlagen. Die Fragmentarität der Insti-tutionalisierungsgeschichte, wie sie sich in Frankfurt zeigt, ist, so die These, nicht etwas in erster Linie Defizitäres, sondern ver-weist, ganz im Gegenteil, auf etwas Symptomatisches, etwas, was die Kameralwissenschaften als Wissen charakterisiert – nämlich ein besonderes Verhältnis des Wissens in Bezug auf die Orte seiner Verfertigung und Distribution. Nicht der Ort der Kameralwissen-schaften innerhalb der Universitätsgeschichte, sondern der Ort der Universität innerhalb des kameralwissenschaftlichen Wissens

13 Nach dem Tode Dithmars 1737 blieb der Lehrstuhl erst einmal vakant. 1756 wurde mit Joachim Georg Darjes ein prominenter Autor eines ka-meralwissenschaftlichen Lehrbuchs (Erste Gründe der Cameral-Wissen-schaften, darinnen die Haupt-Theile so wohl der Oeconomie als auch der Polizei und besondern Cameralwissenschaft [1756], 2. Aufl., Leipzig 1768 [Ndr. Aalen 1969]) berufen, allerdings nicht auf einen Lehrstuhl für Ka-meralwissenschaften, sondern einen für Rechte. In den 1760er Jahren un-terrichtete dann wohl Johann Friedrich Pollack (1700–1771) als Professor an der Juristischen Fakultät auch ökonomische Wissenschaften, ohne al-lerdings viele Spuren zu hinterlassen. Seine Nachfolge trat ab 1772 Karl Renatus Hausen (1740–1805) an, der allerdings, wenngleich er im Curri-culum auch die Kameralwissenschaften vertrat, als Professor für Geschich-te berufen worden war. Erst ab 1789 besaß Frankfurt mit Georg Hein-rich Borowsky (1746–1801) wieder einen Professor für Kameralwissen-schaften, der neben der Naturgeschichte publizistisch einen Schwerpunkt im Bereich der Ökonomie hatte (vgl. u. a. Abriß des praktischen Came-ral- und Finanz-Wesens nach den Grundsätzen, Landesverfassungen und Landesgesetzen in den Königlich-Preußischen Staaten, oder Preußische Cameral- und Finanz-Praxis, Berlin 1795) und auch über Frankfurt hin-aus von Bedeutung war. Die Verankerung der Kameralwissenschaften in-nerhalb der traditionellen Fächerstruktur der Universität blieb über den gesamten Zeitraum ein nicht gelöstes Problem. Vgl. dazu im einzelnen Stieda, Nationalökonomie (wie Anm. 6), S. 65 ff.

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rückt so in den Mittelpunkt des Interesses. Dies beinhaltet einen Perspektivenwechsel von der Institutionalisierungsgeschichte zu einer historischen Epistemologie der Kameralwissenschaften.14

Die folgenden Überlegungen gliedern sich in diesem Sinne in drei Schritte. Zunächst wird die Epistemologie des Anfangs, des Einsetzungsaktes im Mittelpunkt stehen, denn der Einsetzungs-akt war kein trivialer; er eröffnete vielmehr im Modus seiner zeit-genössischen Reflexion einen historischen Raum, in dem die Ka-meralwissenschaften sich als politisch-ökonomisches Wissen mit eigenen diskursiven Regeln und Verfahrensweisen ausbilden konnten. Zweitens werden diese Regeln und Verfahrensweisen dann näher unter dem Aspekt ihrer gegenstandskonstitutiven, ge-wissermaßen poetologischen Dimension beleuchtet werden. Es soll gezeigt werden, dass die Kameralwissenschaften vor dem Hintergrund ihrer universitären Verankerung ein Wissensobjekt neuer Qualität behandelten – nämlich eines, das sich nach eige-nen Gesetzmäßigkeiten ausbildete, ohne sich je endgültig fest-schreiben zu lassen. Man kann dieses Wissensobjekt als eine Ökonomie der Macht bezeichnen, die nur in den Bewegungen, in welchen sie sich formierte und ihre Kraft immer wieder aufs Neue sicherte, zu fassen war. Dieser Ökonomie der Macht als Gegenstand entsprach eine Ökonomie des Wissens, sprich eine prozessual, eine dynamisch bestimmte Form der Verfertigung und Distribution kameralwissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie soll drittens behandelt werden, um dann letztlich den Ort der Uni-versität innerhalb des kameralwissenschaftlichen Wissens näher zu bestimmen. Die folgenden Überlegungen werden sich im Wesentlichen auf Texte Dithmars beschränken.

14 Mit Epistemologie ist hier die Methode der historischen Wissenschafts-theorie gemeint, die sich im Anschluss an Gaston Bachelard und Michel Foucault in der jüngeren Wissenschaftsgeschichtsschreibung entwickelt hat. Vgl. Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt a. M. 1978; Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frank-furt a. M. 1981. Zu den Perspektiven vgl. Joseph Vogl, Für eine Poetologie des Wissens, in: Karl Richter / Jörg Schönert /Michael Titzmann (Hg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, Stuttgart 1997, S. 107–127.

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1. Die Epistemologie des Einsetzungsaktes

Die Einsetzung und Gründung der ersten kameralwissenschaftli-chen Lehrstühle in Brandenburg-Preußen war ein Politikum. Sie war ein Politikum, weil sie begleitet wurde von einem Diskurs der Gründung, in dem es um die Herstellung eines Kontextes, die Offenlegung der Hintergründe, der zugrundeliegenden Mo-tive und Vorstellungen ging. „[A]us höchst eigener Bewegnuß“ habe er, wie Friedrich Wilhelm I. erklärte, sich entschlossen, „[d]aß auf Unserer dortigen Universität die Cameralia Oecono-mica und Policey-Sachen, gleichergestalt wie die übrige Studia und Wissenschafften, dociret werden sollen, und zu dem Ende hiermit und Krafft dieses eine besondere Profession“ einzurich-ten sei.15 Die offensichtlichen Defizite ökonomischer Kenntnisse bei Gutsbesitzern und -verwaltern, das mangelnde Know-How der Amtleute und Bediensteten hatten ihn zu diesem Schritt ver-anlasst. Darum ging es Friedrich Wilhelm I. – dass „die studi-rende Jugend in zeiten, und ehe sie zu Bedienungen employret werden, einen guten Grund in obgedachten Wissenschafften er-langen mögen“.16 Durch die Vorbereitung jedes einzelnen auf seine Aufgaben, durch die Vermittlung grundlegender ökonomi-scher Kenntnisse sollte der Kreislauf von Verschuldung und wirt-schaftlichem Niedergang, der so viele adelige Gutswirtschaften ergriffen hatte, aber auch ein Problem zahlreicher Domänen war, durchbrochen werden.17 Und damit sollte dort angesetzt werden,

15 Friedrich Wilhelm I., Reskript an die Viadrina vom Oktober 1727. Zitiert nach Irina Modrow, Wonach in Frankfurt „jeder, der nur wollte, gute Stu-dien machen konnte ...“. Eine kleine Geschichte der Viadrina, Schöneiche bei Berlin 2006, S. 40 f. Schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts mehrten sich die Stimmen, die eine universitäre Verankerung des politisch-ökono-mischen Wissens verlangten und die dementsprechend zum Kontext des Gründungsdiskurses gehören. Vgl. dazu im Einzelnen Tribe, Governing Economy (wie Anm. 1), S. 35 ff. Zum neuen Verhältnis von Staat und Universität, das sich hier manifestiert, vgl. Rudolf Stichweh, Der frühmo-derne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.–18. Jahr-hundert), Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 93 ff.

16 Friedrich Wilhelm I., Reskript, zitiert nach Modrow, Kleine Geschichte der Viadrina (wie Anm. 15), S. 41.

17 Einer ausführlichen Darstellung des historischen und aktuellen Kontextes der Neugründung widmete sich der Hallesche Universitätskanzler Johann Peter von Ludewig. Noch 1727 erschien ein von ihm verfasster Abriss der

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wo das Fundament der vormodernen Wirtschaft, der branden-burgischen insbesondere lag – zum Zwecke der Errichtung einer geordneten und prosperierenden fürstlichen Finanzwirtschaft.18

Dass Friedrich Wilhelm ‚höchstselbst‘ den Entschluss zur Gründung kameralwissenschaftlicher Lehrstühle gefasst hatte, war mehr als eine Floskel. Höchstselbst nahm er vor allem in Halle Einfluss auf die Gestaltung des Studiums. Im persönlichen Gespräch entwickelte er mit Simon Peter Gasser ein Programm des kameralistischen Unterrichts, ja diktierte die Lehrinhalte z. T. bis in die Einzelheiten hinein in die Feder des Hallenser Professors, der sie 1729, zwei Jahre nach seiner Ernennung, in dem ersten im Druck erschienenen kameralwissenschaftlichen Lehrbuch zusammenfasste.19 Gasser berichtete ausführlich über

Wirtschaftstheorie seit der Antike und eine umfangreiche Beschreibung der Voraussetzungen und Leistungen der brandenburg-preußischen Po-litik, wobei der Zusammenhang von militärischer Stärke und wirtschaft-licher Prosperität den Leitfaden bildete. Vgl. Johann Peter von Ludewig, Die, von Sr. königlichen Majestät, unserm allergnädigsten Könige, auf Dero Universität Halle, am 14. Iulii 1727 Neu angerichtete Profession in Oeconomie, Policey, und Cammer-Sachen wird, nebst Vorstellung einiger Stücke verbesserter Kön. Preuß. Policey, bekannt gemachet, Halle 1727.

18 Zum brandenburg-preußischen Kontext der Kameralwissenschaften vgl. Jutta Hosfeld-Guber, Der Merkantilismusbegriff und die Rolle des absolu-tistischen Staates im vorindustriellen Preussen, München 1985. Zur wei-teren Entwicklung Kurt Wolzendorff, Der Polizeigedanke des modernen Staats. Ein Versuch zur allgemeinen Verwaltungslehre unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in Preußen, Breslau 1918 (Ndr. Aa-len 1964); Ernst Klein, Johann Heinrich Gottlob von Justi und die preußi-sche Staatswirtschaft, in: Vierteljahresschrift für Sozial und Wirtschaftsge-schichte 48 (1961), S. 145–202; Rüdiger vom Bruch, Der Kameralismus in Preußen und die Berliner Akademie, in: Armin Hermann /Hans Peter Sang (Hg.), Technik und Staat, Düsseldorf 1992, S. 41–59.

19 Simon Peter Gasser, Einleitung zu den Oeconomischen Politischen und Cameral-Wissenschaften. [...] Nebst einem Vorbericht Von der Funda-tion der neuen oeconomischen Profession, und des Allerdurchlauchtigs-ten Stifters eigentlichen allergnädigsten Absicht, Halle 1729. Gasser war vor seiner Ernennung Kammerkonsulent, später Kriegs- und Domänen-rat gewesen. Bei seiner Berufung hatte nach Aussage des Halleschen Uni-versitätskanzlers von Ludewig vor allem seine Erfahrung in der Praxis eine große Rolle gespielt – „weil derselbe [...] die, andern abgehende, Gelegen-heit gehabt; die Einrichtung des Landwesens in den Königl. Aemtern; wie auch der Policeysachen in den Städten und überhaupt allen Anstalten der Königl. Cammer [...] täglich mit anzusehen und zu hören, auch in derglei-chen Geschäfften selbsten Hand anzulegen“. Von Ludewig, Die neu ein-gerichtete Profession (wie Anm. 17), S. 139.

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dieses Gespräch in einem „Vorbericht von der Fundation der neuen oekonomischen Profession“, den er seinem Buch voran-stellte.20 Auch Dithmars wiederum zwei Jahre später, also 1731 in Frankfurt erschienene eigene Einführung in das kameralwissen-schaftliche Studium, seine „Einleitung in die Oeconomische Po-licei und Cameralwissenschaften“,21 nahm den Diskurs der Grün-dung auf. Das lateinische Mandat der Einrichtung, die Ernen-nungsurkunde sowie die Schilderung der konkreten Umstände und Motive seiner Ernennung bildeten im Druck den Rahmen eines auf Systematisierung und enzyklopädische Ordnung ange-legten Überblicks über die neue Disziplin. Weniger in Gassers als in Dithmars Fall war der Text, den der Diskurs der Einsetzung paratextuell rahmte, von innovativer Qualität.22 Geordnet nach

20 Gasser, Einleitung (wie Anm. 19), S. 1–23. Gasser nannte dieses Gespräch „die erste Stunde“, die in dem neu eingerichteten „collegio oeconomico-camerali“ vom König selbst abgehalten worden sei (ebd., S. 6). Friedrich Wilhelm äußerte sich gegenüber Gasser demnach auch über die Absichten der Lehrstuhl-Gründungen. Sie sollten der Tatsache, dass so viele Grund-besitzer und -verwalter aus „Mangel des geringsten Begriffes von den prin-cipiis oeconomicis“ allenthalben „schlechte Oeconomie“ trieben, Abhilfe schaffen. Universitätsintern seien sie aber auch als ein Gegenpol zur „bis-herigen Juristerey“ gedacht, die bislang dafür verantwortlich gewesen sei, dass „man auf Universitäten sehr wenig wahre politische Wissenschaften dociret“. Ebd., S. 8 f.

21 Justus Christoph Dithmar, Einleitung in die Oeconomische Policei- und Cameral-Wissenschaften. Nebst Verzeichniß eines zu solchen Wissen-schaften dienlichen Bücher-Vorraths Und ausführlichen Register, Franck-furt an der Oder 1731. Im Folgenden wird die Auflage Frankfurt an der Oder 1745 verwendet (Ndr. Glashütten i. T. 1971).

22 Im Gegensatz zu Gasser konnte Dithmar keine praktischen Erfahrungen vorweisen. Er hatte in Marburg Geschichte und Jura studiert und wurde 1710 als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Geschichte, später auf den für Natur- und Völkerrecht an der Viadrina berufen. Zu Dithmars Bedeutung als Kameralwissenschaftler gab und gibt es, nicht zuletzt we-gen seiner Praxisferne, durchaus unterschiedliche Meinungen innerhalb der Forschungsliteratur. So sah Roscher in der Einteilung der Kameralwis-senschaften in Ökonomie, Polizei- und Finanzwissenschaft die paradigma-tische Leistung Dithmars, während er die inhaltlichen Ausführungen als „eine von eigentlich nationalökonomischen Ideen fast unberührt geblie-bene Schilderung des damaligen preußischen Wirthschafts-, Polizei- und Finanzwesens“ abwertete. Roscher, National-Ökonomik (wie Anm. 6), S. 431. Dagegen hob Rüdiger vom Bruch die Bedeutung Dithmars „als zukunftsweisendes Bindeglied zwischen den Intentionen des rex oecono-micus und der um die Jahrhundertmitte systematisch aufblühenden Kame-ralwissenschaft“ hervor. Vom Bruch, Innovation (wie Anm. 6), S. 94.

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Paragraphen, die jeweils kurze konzise Definitionen enthielten, bestimmte Dithmar die Gebiete des neuen Wissens jeweils vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitend: Definitionen des-sen, was die Ökonomie, die Polizei- und die Finanzwissenschaf-ten beinhalteten, standen am Anfang.23 Dem folgten die jeweili-gen Unterabteilungen, die Land- und Stadtwirtschaft als die zwei Hauptbereiche der Ökonomie,24 die Sittenzucht, die Kirchenauf-sicht oder das Erziehungswesen als Gegenstände der Polizei,25 Zölle, Steuern oder Buchführung als Gebiete der fürstlichen Fi-nanzwissenschaft 26. Jedes dieser Gebiete erschien in sich geord-net, untereinander fügten sich die Teile, die bis hin in ihre kleins-ten Einheiten – die richtige Aufzucht von Schafen und Rindern, die Verwendung von Kuhmist zur Düngung der Felder oder die Einrichtung von Brauereien und Gastwirtschaften – zerlegt wur-den, zu einem systematischen Ganzen. In Anmerkungen zu den einzelnen Paragraphen sowie in einem angehängten „Bücher-Vorrat Zu den Oeconomischen Policei und Cameral-Wissen-schaften“ 27 wurde die vorhandene Literatur zu jedem dieser Tei-laspekte verfügbar gemacht; am Ende stand ein „Register der vor-nehmsten Sachen“,28 das auf eine nichtlineare Lektüre ausgerichtet die Lückenlosigkeit des Gesamtentwurfs noch einmal unterstrich.

Dithmars und nicht Gassers Lehrbuch ist das eigentliche Grün-dungsdokument der Kameralwissenschaften.29 Mit Dithmars Ein-leitung stand ein Lehrbuch zur Verfügung, das nicht nur in knap-per Form einen systematischen Überblick über die Felder der neuen Disziplin gab, sondern auch wie ein Prisma alle vorherge-henden Ansätze in ihrem Zusammenhang zu sehen, das Wich-tige vom Unwichtigen zu trennen, das Falsche vom Richtigen zu

23 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 2 ff.24 Ebd., S. 13 ff.25 Ebd., S. 133 ff.26 Ebd., S. 225 ff.27 Ebd., S. 289 ff.28 Ebd., S. 298 ff.29 Gassers Überlegungen beschränkten sich im Wesentlichen auf die Domä-

nenverwaltung, auf Gebäudeanordnungen, Viehhaltung, Ackerbau, Be-steuerung, Waldnutzung und Jagd. Vgl. dazu neben Roscher, National-Ökonomik (wie Anm. 6), S. 371 ff., und Brückner, Staatswissenschaften (wie Anm. 6), S. 66 f., auch Albion Small, The Cameralists. The Pioneers of German Social Polity, New York 1909, S. 206 ff.

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unterscheiden erlaubte.30 Es stellte gewissermaßen ein Okular dar, welches das zur Einheit fügte, was bislang nicht zu vereinen war: Die aristotelische Ökonomik, also die Ethik des häuslichen Wirtschaftens, die an den Universitäten bis zu diesem Zeitpunkt gelehrt wurde, die sogenannten Fürstenspiegel und die Handbü-cher aus der Praxis der fürstenstaatlichen Verwaltung sowie die politischen Klugheitslehren, die die Techniken und Kenntnisse zur Gründung, Mehrung und Erhaltung der fürstlichen Macht versammelten. Dithmar wurde für zahlreiche Kameralisten der folgenden Generation zum Ausgangspunkt ihrer eigenen Überle-gungen – Georg Heinrich Zincke, Johann Heinrich Gottlob von Justi, Joachim Georg Darjes oder Daniel Gottfried Schreber werden in den folgenden Jahrzehnten anhand dieses Buches, das insgesamt fünf Auflagen erlebte, unterrichten, es loben, bemän-geln und verwerfen, sich seiner paradigmatischen Qualität jeden-falls nicht entziehen können.31

Die paradigmatische Bedeutung von Dithmars „Einleitung“ lag zum einen darin begründet, dass sie eine Synthese bislang un-verbundener, z. T. auch vielfach amorpher Wissensfelder auf der Basis einer neuen Wissensordnung leistete.32 Was mit Dithmars „Einleitung“ als politische Ökonomie die Bühne betrat, defi-nierte sich anders als in den vorhandenen Lehrbüchern weder auf der Grundlage einer prästabilisierten Ordnung, noch einer Ethik des richtigen Handelns und Verhaltens. Dithmars politische Ökonomie korrelierte „die Erhaltung der Menschen“ in ihren alltäglichen Verrichtungen mit der „Wohlfahrt“ des Staates unter der Perspektive, „wie etwas zu erwerben [...], oder das erworbene

30 Vgl. dazu neben Dittrich, Kameralisten (wie Anm. 5), S. 83 ff., und Brück-ner, Staatswissenschaften (wie Anm. 6), S. 67 ff., auch Kurt Zielenziger, Die alten deutschen Kameralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Natio-nalökonomie und zum Problem des Merkantilismus, Jena 1914, S. 101 ff., sowie die ausführliche Darstellung von Dithmars Werk bei Small, The Ca-meralists (wie Anm. 29), S. 222 ff.

31 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Dithmars Tribe, Governing Economy (wie Anm. 1), S. 50 ff., sowie vom Bruch, Innovation (wie Anm. 6), S. 94 f.

32 Was auch Dithmar dabei nicht leistete – und auch die Kameralwissen-schaftler der folgenden Generation nicht leisten konnten – war die Zu-sammenfassung dieser Wissensfelder unter einen Begriff. Schon von Lude-wig hatte festgestellt, dass die zur Verfügung stehenden „Wörter zu enge“ seien, und darüber geklagt, „dass es [...] uns Teutschen an einem füglichen Wort fehlet, welches alles dieses, mit eins, sagen und ausdrücken solle“. Von Ludewig, Die neu eingerichtete Profession (wie Anm. 17), S. 145.

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zu beschützen, oder dasselbige mäßig und zu Gottes Ehren zu ge-brauchen und anzuwenden sei“.33 Sie konterkarierte geradezu die Vorstellung, die politisch-ökonomische Welt würde sich den Ka-tegorien einer individuellen Ethik, einer allgemeinen Logik oder einer deduktiven Methode fügen. Das, was Dithmar behandelte, war ein Wissensobjekt eigener Qualität, das sich dem Diktat einer intellektuellen Tradition oder vorgefasster Meinungen entzog.34

An dieser Stelle erhielten bei Dithmar die Paratexte der Ein-setzung ihre diskursive Funktion.35 Die Einsetzung einer univer-sitären Kamerallehre folgte der Notwendigkeit eines empirischen Befundes; sie war das Ergebnis eines vorbehaltlosen Augenscheins, dem die Mängel der bestehenden Wirtschaftsverfassung nicht ent-gingen. Der Blick des Souveräns, seine ‚höchsteigene‘ Entschei-dung zur Einrichtung eines kameralwissenschaftlichen Lehrstuhls, stand so gesehen für den souveränen Blick an sich – einem Blick, dem sich die Dinge so darstellten, wie sie tatsächlich waren. Nichts anderem als der Souveränität dieses Blicks zeigte sich Dithmar in der Vorrede verpflichtet; in dieser „Function“ sei er „auf hiesiger Universität“ berufen, um „die heilsamste Absicht darunter zu er-reichen nach allem Vermögen mir angelegen sein (zu) lassen“.36

33 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 7.34 Michel Foucault hat diese epistemologische Signatur des Gegenstandes po-

litisch-theoretischen Wissens als Charakteristikum der modernen Regie-rungskunst beschrieben: „Der Staat lässt sich nach rationalen Gesetzen re-gieren, die ihm eigen sind – Gesetze, die sich weder allein aus natürlichen oder göttlichen Gesetzen noch allein aus Weisheits- und Vorsichtsmaßre-geln ableiten lassen; wie die Natur hat der Staat seine eigene Rationalität, wenn auch von einem anderen Typus. Umgekehrt wird die Regierungs-kunst, statt ihre Grundlagen in transzendenten Regeln, einem kosmolo-gischen Modell oder einem philosophischen und moralischen Ideal zu suchen, die Prinzipien ihrer Rationalität in dem finden müssen, was die spezifische Wirklichkeit des Staates ausmacht.“ Michel Foucault, Die Gouvernementalität, in: ders., Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005, S. 148–174, hier S. 163.

35 Zum Begriff und zur Funktion des Paratextes vgl. Gérard Genette, Para-texte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 1989.

36 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), Vorrede o. P. Diese Position hatte si-cherlich auch eine universitätspolitische Komponente, da die Einrichtung des neuen Lehrstuhls intern kaum von jedem begrüßt worden sein dürfte. Von Ludewig sprach in seinem anlässlich der Hallenser Gründung publi-zierten Überblick über die Materie diese Frage direkt an und artikulierte die Erwartung, dass es Widerstände gebe, „weil die meisten professores

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In der Koinzidenz des Blicks des Souveräns mit der Souverä-nität des Blicks, dem sich nichts entzog, war also eine Begrün-dungsfigur gegeben, die sich gegen bestimmte universitäre Tra-ditionslinien und erkenntnistheoretische Moralitäten wenden ließ.37 Gleichzeitig beinhaltete sie noch eine andere, zweite Wen-dung. Denn der Gegenstandsbereich, der sich dem souveränen Blick offenbarte, entzog sich der Vorstellung einer hierarchisch geordneten Welt, in der Herrschaftswissen an einer Stelle akku-muliert und seine Distribution und Wirkung kontrolliert werden konnte. Die Gründung des kameralwissenschaftlichen Lehrstuhls war so gesehen auch der Einsicht geschuldet, dass Wissen zirkulie-ren musste, um Wirkung zu entfalten. Sie setzte auf die katalysa-torische Funktion jedes einzelnen Ökonomen, der sein Geschäft mit gründlicher Kenntnis und klaren Perspektiven betrieb. Die politische Ökonomie des Staates war nicht hierarchisch zu diri-gieren, sie musste sich selber initiieren und immer wieder durch neue Gründungsakte, durch die Herstellung von Beziehungen, Relationen und Ereignissen reproduzieren. In der Gründung der universitären Kameralwissenschaften artikulierte sich mithin so etwas wie eine Verdoppelung, ja Vervielfältigung des Monar-chen – eine Vervielfältigung, die den kameralwissenschaftlichen Gegenstandsbereich im Modus der Wissensdistribution und -zir-kulation begründete. Nicht aus der Sicht des Herrschers waren die Kameralwissenschaften Dithmars deshalb entworfen, sondern aus der Vorstellung einer in sich bewegten Ordnung, die hinter den Einzelphänomenen, scheinbar ungeordneten Beziehungen und disparaten Ereignissen zu entschlüsseln war.

gegen einander eyfersichtig seyn. So dass jeder, was er nicht verstehet oder bestreiten kann, deßwegen zu unterdrucken suchet, damit kein Gewinn [...] ihme entgehe und an andere vertragen werde“. Von Ludewig, Die neu eingerichtete Profession (wie Anm. 17), S. 141.

37 Zum spannungsreichen Verhältnis von Macht und Wissen resp. Ge-lehrsamkeit und Politik im Kontext der frühneuzeitlichen Universitäts-geschichte vgl. allgemein auch Stichweh, Der frühmoderne Staat (wie Anm. 15), S. 125 ff., sowie zum 18. und 19. Jahrhundert im Besonderen Walter Höflechner, Bemerkungen zur Differenzierung des Fächerkanons und zur Stellung der philosophischen Fakultäten im Übergang vom 18. auf das 19. Jahrhundert, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Basel 1999, S. 297–318, bes. S. 299 ff.

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Dem kameralwissenschaftlichen Wissen in diesem Sinne eine epistemologische Wende zu geben, darin liegt die zweite Bedeu-tung von Dithmars „Einleitung“. Seit Dithmar behandelten die Kameralwissenschaften das Staatswesen als ökonomisch-politi-schen Gegenstandsbereich mit eigenen Gesetzen der Bewegung und Veränderung. Sie nahmen diese Gesetze auf und verlänger-ten sie in die Bewegungen des Denkens, gleichzeitig verbanden sie die Existenz ihres Gegenstandes, seine Gründung und Verste-tigung, mit der Produktion, Zirkulation und Distribution des Wissens selbst, als dessen Umschlagsplatz nun die Universität be-stimmt worden war. Diese beiden Aspekte, die Beschreibung und diskursive Produktion einer Ökonomie der Macht einerseits, die epistemologische Wende, die kameralwissenschaftliche Öko-nomie des Wissens andererseits, sollen im Folgenden nacheinan-der weiter verfolgt werden.

2. Die kameralwissenschaftliche Ökonomie der Macht

Frankfurt an der Oder hat für die Entstehung und Entwicklung der Kameralwissenschaften im 18. Jahrhundert also eine heraus-ragende Bedeutung – weniger als konkreter, als vielmehr als dis-kursiver Ort, an dem sich die verschiedensten politisch-theoreti-schen und ökonomischen Traditionslinien brechen und zu einer neuen systematischen Einheit einer politisch-ökonomischen Wissenschaft formieren. Dabei ist die tatsächliche wissenschafts-politische Geographie möglicherweise nicht bedeutungslos. Die Provinzialität, die Frankfurt als Universitätsstandort auch und vor allem im Vergleich zu Halle auszeichnete, konvergierte in gewis-ser Weise mit Dithmars Anliegen, einen Raum politisch-ökono-mischer Erkenntnisbildung zu eröffnen, der weder Hierarchien noch Zentrum-Peripherie-Verhältnisse akzeptierte. Über die ur-sprüngliche Intention Friedrich Wilhelms, konkrete ökonomi-sche Kenntnisse an zukünftige Amtsträger und Gutsbesitzer zu vermitteln – ein Motiv, das wohl gerade im Falle Frankfurts eine große Rolle gespielt hat – setzte sich Dithmar im Gegensatz zu Gasser jedenfalls hinweg. Auf Dithmars Agenda stand nicht die Verbesserung lokaler Ökonomien, sondern der Entwurf einer Staatswirtschaft – einer territorialen Ökonomie der Macht. Und das hieß, dass er etwas zum Gegenstand machte, was im Gegen-satz zu den lokalen Ökonomien in dieser Form nicht existierte.

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Dithmars Kameralwissenschaften perspektivierten die behandel-ten Gegenstände im Hinblick auf etwas, das es allererst noch her-zustellen galt. Darin liegt ein besonderes Charakteristikum der Kameralwissenschaften: Sie waren nicht nur eine wissenschaftli-che Erkenntnisweise, sondern auch ein politisches Programm zur Konstitution ihres Gegenstandes.

Nichtsdestoweniger war Dithmars Ausgangspunkt ein Er-fahrungssatz. In der Erfahrung begründet seien, so Dithmar, die ökonomischen, Polizei- und Kameralwissenschaften, und ausge-hend von der Erfahrung mussten „generale Regeln“ entwickelt werden, „nach welchen die bey solchem Wesen vorkommenden Umstände leicht können beurtheilt werden“.38 Dithmar appel-lierte damit an die Souveränität des Blicks, die im Gründungsdis-kurs anvisiert worden war.39 Das was sich einem vorbehaltlosen Blick auf die Dinge zeigte, war das Material, mit dem die Ka-meralwissenschaften arbeiteten: es umfasste Geld- und Waren-ströme, Tiere und Pflanzen, Sitten und Gebräuche, Geburt und Tod. Natürlich musste sich der Kameralist im Landwirtschafts-wesen, der Gewerbekunde und der Commercienwissenschaft auskennen, aber seine Interessen reichten wesentlich weiter. Im Grunde gab es keinen Bereich und keine Disziplin, die per defini-tionem nicht in das Feld der Kameralistik fiel: „Geometrie, Me-chanique, Civil-Baukunst, Physic und Chymie“ gehörten ebenso dazu wie die „Anatomie Menschlicher und Viehischer Cörper“ und die „Artzney-Kunst“. „In der Rechtsgelehrsamkeit“ musste der Kameralist bewandert sein ebenso wie in der Geschichte – das Wissen von der Natur war sein Metier genauso wie das Wissen über den Menschen und über den sozialen Raum.40

Diese schiere Grenzenlosigkeit des kameralwissenschaftlichen Interesses, die Dithmar am Beginn seines Lehrbuchs prokla-mierte, war Programm. Das Feld der kameralwissenschaftlichen Empirie kannte keinen Exklusionsmechanismus hinsichtlich der Dinge und Beziehungen, die es umfasste. Der perfekte Kamera-list war Universalist und kannte sich nicht nur mit Ackergeräten

38 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 3.39 Zur Souveränität des kameralwissenschaftlichen Blicks und zum Problem

des „Sichtbarmachens unsichtbarer Verhältnisse und Kräfte“ vgl. auch Vogl, Kalkül und Leidenschaft (wie Anm. 1), S. 62 ff.

40 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 9 f.

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und unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten aus, verstand nicht nur etwas von Stoffen, Metallen oder Buchführung, sondern war gleichzeitig auch Arzt, Jurist und Theologe. „Es macht gerade den spezifischen Charakter dieses Wissens aus“, so stellt Joseph Vogl zu Recht fest, „dass es sein empirisches Feld konsequent ausweitet und zwischen den Gebieten von Staatsfinanzen und Gewerben, Landwirtschaft und Handel, Naturgeschichte und Rechtswissen-schaft, Techniken und Geldverkehr, Medizin und Sittenwesen die Positivität eines staatlichen Wesens zu erfassen versucht“.41

War mithin das Feld des kameralwissenschaftlichen Wissens durch keinen exklusiven Gegenstand begrenzt, so verlor es sich dennoch nicht in Einzelheiten. Denn der souveräne Blick des Kameralwissenschaftlers beinhaltete ein Dispositiv, das die zahl-losen Gebiete, mit welchen er sich beschäftigte, wie eine trans-versale Linie durchschnitt und anhand derer sie sich einander zu-ordnen und in Beziehung setzen ließen. Er betrachtete das „in-nerliche und eusserliche Wesen eines Staats“ unter dem Aspekt, wie es „in guter Verfassung zu eines jeden und zur gemeinen Glückseeligkeit zu erhalten sei“.42 Eine eudämonistische Pers-pektive – die Korrelierung des Wohlfahrtsrechtes der Untertanen mit der Sorgepflicht des Regenten zum Zwecke der umfassenden Prosperität des Staates selbst – brach also die grenzenlose Vielfalt empirischer Befunde und ließ sie als Aspekte eines möglichen Zusammenhangs, eines emergenten Ganzen in den Blick geraten. Als Dispositiv ermöglichte der Staatszweck dem Kameralisten, das, was als Gegenstand ihm ursprünglich zugewiesen wurde – nämlich die Ökonomie – zu einem Prinzip des Sehens zu ma-chen, unter welchem alle Dinge, soziale Tausch- und Verkehrs-formen ebenso wie Fragen der politischen Lenkung oder der Or-ganisation noch der kleinsten sozialen Parzellen, sich einander zuordnen ließen.43

41 Vogl, Kalkül und Leidenschaft (wie Anm. 1), S. 65.42 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 134.43 Zum Staatszweck der „allgemeinen Glückseligkeit“ und seiner formativen

Kraft innerhalb des kameralwissenschaftlichen Systemdenkens im Anschluss an Dithmar vgl. Ulrich Engelhardt, Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts (J. H. G. v. Justi), in: Zeit-schrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 37–79; Peter Preu, Polizeibe-griff und Staatszwecklehre. Die Entwicklung des Polizeibegriffs durch die Rechts- und Staatswissenschaften des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1983.

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Der Kameralwissenschaftler betrachtete anders ausgedrückt mit Dithmar nicht die ökonomischen Dinge, sondern er betrach-tete die Dinge ökonomisch, und zwar tendenziell alle Dinge.44 Die ökonomische Betrachtung zeichnete sich dadurch aus, dass sie sich für die Ordnung der Dinge interessierte, allerdings nicht um deren Identität zu bestimmen, sondern um nach den Unter-schieden zu fragen. Sie zielte auf die Differenzen, welchen die Gegenstände der Betrachtung ihre Eigenheit verdankten, und machte diese Differenzen zum Ausgangspunkt, um etwas über Übergänge, Transitionen und Verschiebungen zu sagen. Das ge-samte Lehrbuch Dithmars beruhte in seiner Einteilung auf die-sem Prinzip. Das beginnt mit der Unterscheidung der „zwey Haupt-Theile“ der ökonomischen Wissenschaften, „deren eines von der Land-Wirthschaft, das andere aber von dem Stadt-Wesen handelt“.45 Stadt und Land unterschieden sich demnach hinsicht-lich ihrer politischen Verfassung sowie der Arten des Wirtschaf-tens: „Die Wissenschaft von der Land-Oeconomie lehret, wie durch Nutzung der Landgüter, und derselben Zubehörungen, Nahrung und Uberfluß an zeitlichen Gütern möge erworben werden“,46 die „Wissenschaft von der Stadt-Oeconomie“ be-schäftigte sich mit der Frage, „wie durch bürgerliche Gewerbe, Nahrung und Reichthum zu eines jeden und gemeiner Glückse-ligkeit zu erlangen sind“ 47. Als jeweils spezifische Einheiten, wel-chen Dithmar ausführliche Überlegungen widmete, waren sie

44 Darin liegt ein wesentlicher Unterschied von Kameralwissenschaften und Naturrecht. Ihnen geht es nicht, wie Foucault zu Recht festgestellt hat, um das Problem der Souveränität, sondern um die Kunst des Regierens als öko-nomische Fertigkeit: „Während der Zweck der Souveränität in ihr selbst liegt und sie aus sich selbst in der Form des Gesetzes ihre Instrumente zieht, liegt der Zweck der Regierung in den von ihr geleiteten Dingen.“ (Foucault, Gou-vernementalität (wie Anm. 34), S. 161). Insofern scheinen die Forschungsan-sätze, die die Kameralwissenschaften im Kontext des zeitgenössischen Staats-rechtsdenkens verorten und als einen Teil des älteren deutschen Naturrechts beschreiben, problematisch. Die eigenständige epistemologische Signatur der Kameralwissenschaften kommt dabei selten in den Blick. Vgl. z. B. Diethelm Klippel, Politische Theorien im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: Auf-klärung 2 (1987), S. 57–87; Christof Dipper, Naturrecht und wirtschaftliche Reformen, in: Otto Dann /Diethelm Klippel (Hg.), Naturrecht – Spätaufklä-rung – Revolution, Hamburg 1995, S. 164–181.

45 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 13.46 Ebd.47 Ebd., S. 91.

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dennoch nur insofern von kameralwissenschaftlichem Interesse, als sie die Grenzen, die sie selbst markierten, buchstäblich pro-duktiv machten, Überfluss und Reichtum produzierten und da-mit Austauschprozesse initiierten. „Die Land- und Stadt-Oeco-nomie“, so Dithmar, „würde vergeblich sein, wann nicht das da-durch erworbene durch die Kauffmannschafft und Commercien würde können verthan werden“.48 Die Einheit und Geschlossen-heit unterschiedlicher Wirtschaftsräume und Gegenstände war also im Motiv der Bewegung, der Zirkulation von Waren, Geld und Gütern begründet. In der Bewegung, die Stadt- und Land-wirtschaft aufgrund ihrer Differenzen ermöglichten, fand der Ka-meralwissenschaftler seinen Gegenstand.49

Eine zweite wichtige Differenz, die die horizontale Unter-scheidung von Stadt und Land um eine vertikale Perspektive ergänzte, war die zwischen Staat und Familie. Dithmar schloss einerseits an die überkommene aristotelisch begründete Ökono-mik als Lehre von der weisen Verwaltung des Hauses zum Nut-zen der Familie an. In diesem Sinne gab es zwischen der Ein-heit der Familie und der Einheit des Staates, der Verwaltung der „großen Familie“, eine strukturelle Analogie. Insbesondere die Finanzwissenschaft beinhaltete Prinzipien, die der Staat und die Familie hinsichtlich der klugen Relation von Einnahmen und Ausgaben teilten, ebenso die Polizeiwissenschaft in ihrer Verant-wortung für das „tugendhafte Leben“ der Untertanen und die Si-cherstellung einer „guten Ordnung der Personen und Sachen“.50 Andererseits polemisierte Dithmar gegen die aristotelische Öko-nomik als Haupthindernis eines „rechten Begriffs“ von „der Oe-conomischen Wissenschaft“.51 Die Ökonomie staatlicher Macht und Glückseligkeit beruhte geradezu auf der Einsicht, dass Staat und Familie Gegenstände unterschiedlicher Ordnung waren. In der Differenz zwischen Staat und Familie begründete Dithmar die „bürgerliche Gesellschaft“, „welcher zufolge dem Landes-Herrn zustehet, seiner Unterthanen Handlungen und Sachen zu

48 Ebd., S. 115.49 Vgl. dazu ausführlich Sandl, Ökonomie des Raumes (wie Anm. 2), S. 209 ff.,

sowie ders., Die Stadt, der Staat und der politische Diskurs am Beginn der Moderne, in: Rudolf Schlögl (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Poli-tik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 357–378.

50 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 134.51 Ebd., S. 7.

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Erhaltung des gemeinen Wesens zu regieren“.52 Die Familie war damit nicht länger ein Modell, sondern ein Instrument der Erzie-hung und Verwaltung der Menschen.53 Auch hier zeigt sich, dass Dithmar auf der Basis einer differenztheoretischen Bestimmung überkommener Einheiten auf eine systemförmige Ordnung des Wirklichen und ein Denken funktionaler Abhängigkeiten zielte – mit der Konsequenz, dass sich die Einheit des Hauses in den komplexen Relationen der Staatswirtschaft auflöste.

Eine dritte Differenz war hier wiederum mitgedacht. Damit sich die Einheit des Hauses in den Beziehungen der Staatswirt-schaft auflöste, musste sich die Staatswirtschaft selbst gegenüber einem Außen als Einheit konstituieren. So definierte sich auf der Ebene des Fürstenstaates als Ganzem die „Glückseligkeit des Staates“ ebenfalls über eine Differenz, nämlich die gegenüber an-deren territorialen Einheiten, ja dem europäischen Staatensystem insgesamt.54 Auch hinsichtlich dieses Außen war Differenz als Organisation von Übergängen konzipiert – sprich als Kontrolle

52 Ebd., S. 134.53 „Umgekehrt wird genau zu diesem Zeitpunkt die Familie wieder als Ele-

ment innerhalb der Bevölkerung und als fundamentales Relais ihrer Re-gierung auftauchen. Mit anderen Worten, bis die Problematik der Bevöl-kerung aufkam, konnte die Regierungskunst nur vom Modell der Fami-lie, von der als Lenkung der Familie verstandenen Ökonomie her, gedacht werden. Dagegen tritt ab dem Augenblick, in dem die Bevölkerung als etwas auftaucht, das sich absolut nicht auf die Familie reduzieren lässt, die Familie folglich gegenüber der Bevölkerung in den Hintergrund; sie tritt innerhalb der Bevölkerung als Element auf. Sie ist also kein Modell mehr; sie ist ein Segment, ein schlechthin privilegiertes Segment, weil man, so-bald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, der De-mografie, der Kinderzahl oder des Konsums etwas erreichen will, über die Familie vorgehen muss. Damit aber wird die Familie als Modell zum In-strument, sie dient als privilegiertes Instrument für die Regierung der Be-völkerungen und nicht als chimärisches Modell für die gute Regierung. Diese Verschiebung der Familie von der Ebene des Modells zur Ebene der Instrumentalisierung ist absolut fundamental. Seit der Mitte des 18. Jahr-hunderts taucht die Familie in dieser Instrumentalisierung im Verhältnis zur Bevölkerung auf, in Kampagnen gegen die hohe Sterblichkeit sowie den Kampagnen, die sich um die Eheschließung, um Pocken- und andere Schutzimpfungen drehen. Indem die Bevölkerung das Modell der Familie eliminiert, macht sie die Aufhebung der Blockierung der Regierungskunst möglich.“ Foucault, Gouvernementalität (wie Anm. 34), S. 167 f.

54 Vgl. dazu Harm Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten. Das au-ßenpolitische Machtproblem in der ‚politischen Wissenschaft‘ und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert, Berlin 1986.

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von Ein- und Ausfuhrbeziehungen, als Lenkung von Geld- und Warenströmen. Erst hinsichtlich eines Außen, das die territoriale Integrität sichtbar machte, konnte sich der Staat auf sich selbst und seine politisch-ökonomische Existenzweise beziehen.55 In dieser dritten Differenzbestimmung waren die zwei ersten gewis-sermaßen aufgehoben. Die Interdependenzen von Menschen und Dingen, Individuen und Reichtümern fügten sich vor dem Hintergrund des europäischen Staatensystems zur Einheit einer territorialen „Bevölkerung“. Mit „Bevölkerung“ war zum einen die reine Quantität bezeichnet, denn die „Beförderung der Volckreichheit“ zählte zu den wichtigsten Aspekten der „Macht und Stärke eines Staats“, „gleichwie im Gegentheil die Schwäche durch den Mangel der Einwohner verursacht wird“.56 Zum ande-ren aber war darin eine umfassende qualitative Bestimmung des-sen, was die Kameralwissenschaften als Gegenstand staatlicher Regulierung definierten, möglich: „Das innerliche Wesen eines Staats begreift in sich die Menge der Einwohner, derselben christ-liches, tugendhafftes Leben und Wandel, Gesundheit, Politesse, Nahrung und Reichthum; das eusserliche aber bestehet in guter Ordnung der Personen und Sachen, wie auch Zierlichkeit des Landes“.57 Im Begriff der Bevölkerung ließ sich die Positivität ei-nes staatlichen Wesens jenseits normativer Festlegungen erfassen; Gewerbe, Landwirtschaft und Handel, Naturgeschichte und Rechtswissenschaft, Techniken und Geldverkehr, Medizin und Sittenwesen – all das wurde mit dem Begriff der „Bevölkerung“ als empirisches Feld einer Ökonomie der Macht adressiert, einer Macht also, deren oberstes Ziel es war, „in den verschiedenen Verhältnissen nicht nur eine negative und beschränkende, son-dern vor allem eine positive und stimulierende Rolle“ zu über-nehmen: „Der Staat ist nicht allein auf eine Schutzfunktion, auf die Herstellung inneren und äußeren Friedens beschränkt. Es ge-hört vielmehr zu seiner kameralistischen Definition, dass er in al-len Verhältnissen gegenwärtig ist und sich in allen Verhältnissen kapitalisiert, dass er alle Geschäfte und Angelegenheiten der Men-schen im ‚Auge‘ und zugleich in beständiger ‚Bewegung‘ hält“.58

55 Vgl. zu dieser Dialektik als kameralwissenschaftliches Bestimmungsmerk-mal des Territoriums auch Sandl, Ökonomie des Raumes (wie Anm. 1), S. 166 ff., sowie ders., Die Stadt (wie Anm. 34), S. 375 ff.

56 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 136.57 Ebd., S. 134.58 Vogl, Kalkül und Leidenschaft (wie Anm. 1), S. 73.

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Die Kameralwissenschaften Dithmars waren also, zusammen-fassend gesagt, von Differenzen her konzipiert, und die differenz-theoretische Begründung des kameralwissenschaftlichen Gegen-standsbereiches perspektivierte die Gebiete des Wissens und des politischen Handelns gleichermaßen – unter dem Gesichtspunkt der Relationen und Austauschbeziehungen, der Übergänge, Transitionen und Verschiebungen. Die konkreten, empirisch vorhandenen Bedingungen wurden so gefasst, dass sie im Hin-blick auf die ökonomischen Ereignisse, die sie ermöglichten, be-trachtet, reformuliert und systematisiert werden konnten. Men-schen und Dinge rückten dabei perspektivisch zusammen –

„[…] die Menschen in ihren Beziehungen, ihren Ver-bindungen und ihren Verwicklungen mit […] den Reich-tümern, Bodenschätzen und Nahrungsmitteln, natürlich auch dem Territorium innerhalb seiner Grenzen, mit seinen Eigenheiten, seinem Klima, seiner Trockenheit und seiner Fruchtbarkeit; die Menschen in ihren Beziehungen zu jenen anderen Dingen wie den Sitten und Gebräuchen, den Handlungs- und Denkweisen und schließlich die Menschen in ihren Beziehungen zu jenen nochmals anderen Dingen, den potentiellen Unfällen oder Unglücken wie Hungersnot, Epidemien und Tod.“ 59

Die Steuerung von Ereignissen und Beziehungen zwischen Men-schen und Dingen im Sinne der Optimierung sozialen Potentials und der Steigerung staatlicher Macht war das Ziel und der Ge-genstand der Kameralwissenschaften.

3. Die Ökonomie des kameralwissenschaftlichen Wissens

Die Kameralwissenschaften behandelten somit einen Gegen-stand, der keiner linearen Entwicklungslogik folgte. Keine Ur-sache, kein absolutes Zentrum ließ sich innerhalb des Feldes ei-ner Ökonomie der Macht markieren. Vielmehr ging es um die Entstehung eines emergenten Spiels der Menschen, Kräfte und Vermögen. Dithmars Entwurf der Kameralwissenschaften rekur-rierte konsequenterweise nicht mehr auf bloße Beherrschung zur Steuerung ökonomischen, sozialen und individuellen Verhaltens. Die Grundsätze, die er aufstellte, kreisten um selbststeuernde

59 Foucault, Gouvernementalität (wie Anm. 34), S. 158.

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Dynamiken und indirekte Interventionen, und sie beinhalteten deshalb konsequenterweise die Frage nach der Funktion und adä-quaten Form des politisch-ökonomischen Wissens selbst.

Dithmar wählte mit Bedacht keine deduktive, sondern eine enzyklopädische Darstellungsform, denn diese gestattete ihm, die Frage nach dem Zusammenhang, nach der Struktur, der Organi-sation und der Pragmatik des Wissens in der Ordnung seiner (Re-) Produktion selbst reflexiv zu machen. Die enzyklopädische Wissensordnung beinhaltete dieses selbstreflexive Moment inso-fern, als sie gleichzeitig als Aufschreibe- wie als Produktionssys-tem des Wissens fungierte. Nicht Offenlegung und Speicherung, sondern Herstellung war die dem kameralwissenschaftlichen Wissen adäquate Form. Dieses „operative Paradigma der [enzyk-lopädischen] Wissensbildung“ entsprach damit zum einen der „ ‚epistemischen‘ Form der Gegenstände des Wissens“.60 Zum anderen beinhaltete es in der Kombinatorik der Paragraphen und Grundbegriffe die grundsätzliche Erweiterbarkeit der Wissensbe-stände; sie ließen sich im Bedarfsfall ergänzen und rekombinie-ren. In der enzyklopädischen Ordnung wurde somit der Emer-genz des Gegenstandes dadurch Rechnung getragen, dass er in die Emergenz des Wissens übersetzt wurde.61 Das kameralwissen-schaftliche Wissen war stets eines, das in der Entstehung begriffen war, denn es war von der permanenten Produktion von Ereignis-sen und Austauschprozessen nicht zu trennen.62

60 Jürgen Mittelstraß, Das Ganze und seine Teile. Enzyklopädien, das Alphabet des Denkens und die Einheit des Wissens, in: Waltraud Wiethölter /Frauke Berndt /Stephan Kammer (Hg.), Vom Weltbuch bis zum World Wide Web. Enzyklopädische Literaturen, Heidelberg 2005, S. 53–68, hier S. 59.

61 Dazu auch Vogl, Kalkül und Leidenschaft (wie Anm. 1), S. 67: „Wo sich der Staat auf sich selbst und seine Existenzweise bezieht, ist also zugleich der Raum eines umfassenden Wissens definiert, eines Wissens, das theoretisch und praktisch, intensiv und extensiv zugleich angelegt ist und eine wech-selseitige Verstärkung von enzyklopädischen Kenntnissen und politischer Macht impliziert.“

62 Zur Geschichte der ökonomischen Enzyklopädie im 18. Jahrhundert nach Dithmar vgl. Rainer S. Elkar, Altes Handwerk und ökonomische Enzy-klopädie. Zum Spannungsverhältnis zwischen handwerklicher Arbeit und „nützlicher“ Aufklärung, in: Franz M. Eybl /Wolfgang Harms /Hans-Henrik Krummacher /Werner Welzig (Hg.), Enzyklopädien der Frühen Neuzeit, Tübingen 1995, S. 215–231. Zur Selbstreflexivität der enzyklopädischen Wissensordnung vgl. auch Wolfgang Albrecht, Aufklärerische Selbstrefle-xion in deutschen Enzyklopädien und Lexika zur Zeit der Spätaufklärung, in: ebd., S. 232–254.

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Damit zusammen hing eine zentrale Frage für die Kameralwis-senschaften: Wie ließen sich Ereignisse, Übergänge und Trans-aktionen überhaupt beobachten? Es bedurfte der Informationen zur Einwohnerzahl, zu Mortalitätsraten und Geburtenzahlen, zu Zuwanderung und Abwanderung. Die Zahl und Qualität der Güter musste erhoben werden, Im- und Exporte relationiert, Preise und Güter in Bezug zu einander gesetzt werden. Es be-stand also Bedarf an Daten und Informationen, die jeweils den augenblicklichen Zustand des Landes sichtbar machten, im Mo-dus ihrer mehrmaligen Erhebung Vergleichsmöglichkeiten boten und damit die Wirksamkeit der eingeleiteten Maßnahmen über-prüfbar machten. Immer wieder beschäftigte sich Dithmar mit solchen Fragen der Datenerhebung. Er forderte zunächst einmal eine statistische „Staatsbeschreibung“, sprich „General- und Spe-cial-Karten [...] mit geographischen, politischen und historischen Beschreibungen, Tabellen und Consignationen der Unterthanen und ihrer Gewerbe“.63 Diese Informationen sollten dann als Kon-trollwissen gegenüber allen weiteren Informationen dienen, die in regelmäßigen Erhebungen die Veränderung in der „Ordnung der Persohnen“ erfasste. Dithmar forderte, „derselben Anzahl, Eintheilung in Provintzien, Kreise, verschiedenen Stand, Bedie-nungen und Vermögen, welche zu wißen die Unterthanen nach ihrem Namen, Alter, Condition, Gewerben und Vermögen in accurate Tabellen und Listen zu verzeichnen“.64 Die Kameral-wissenschaften bedurften also einer permanenten Beobachtung und Kontrolle wechselnder Verhältnisse. Mithilfe von Tabel-len, Listen, Statistiken und Diagrammen musste Veränderung fass- und handhabbar, Ereignisse beobachtbar und damit kontrol-lier- und reproduzierbar gemacht werden.65 Die Ordnung in der

63 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 285.64 Ebd., S. 220.65 Zur Geschichte der Staatsbeschreibung und Statistik im 18. Jahrhundert,

die in Deutschland eng mit der Entwicklung der Kameralwissenschaften zusammenhängt, vgl. Ferdinand Felsing, Die Statistik als Methode der poli-tischen Ökonomie im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1930; Mohammed Rassem /Justin Stagl (Hg.), Statistik als Staatsbeschreibung in der Neu-zeit, Paderborn 1980. Zum europäischen Kontext und dem paradigmati-schen Gehalt einer „quantitativen Konstruktion des Sozialen“ vgl. Harald Katzmair, Ordnungen des Zählens. Zur quantitativen Konstruktion des Sozialen (1550–1870), in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswis-senschaften 11 (2000), S. 34–76. Mit Ausblick auf die weitere Entwicklung und den Zusammenhang von Statistik und Staatsbildung Daniel Schmidt, Statistik und Staatlichkeit, Wiesbaden 2005.

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Veränderung, die der Kameralwissenschaftler zu seinem Gegen-stand machte, korrespondierte also mit einer Veränderung der Beobachtung, ihren Techniken und Medien. Hierin steckt etwas, was die Kameralwissenschaften als Wissen im 18. Jahrhundert be-sonders qualifiziert. Sie erschöpften sich nicht in der Organisation und Systematisierung von Beobachtungen, sondern etablierten, um sich als Wissenschaft zu konstituieren, eine Beobachtung zweiter Ordnung. Sie beobachteten immer auch, was und wie sie beobachteten, denn nur so konnten sie Daten erzeugen, die sich im Hinblick auf die intendierte Produktion von Ereignissen und die Herstellung von Beziehungen verwerten ließen.66

Sie mussten schließlich auch in Rechnung stellen, dass die Pro-duktion ökonomischer Beziehungen selbst von Beobachtungsver-hältnissen dritter abhängig war. Denn der Austausch von Gütern, die Zirkulation von Geld und Waren und damit die Produktion eines ökonomischen Ganzen hing wesentlich davon ab, wie die Beteiligten selbst Daten generierten, welche Informationen sie besaßen und wie sie damit umgingen. „Publicität“ – „Öffentlich-keit“ – war ein zentrales kameralwissenschaftliches Schlagwort. Polizeiverordnungen mussten „publicirt und an die Rath-Häuser, Thore, Kirch-Thüren und in Krügen affigirt“ bzw. „von den Küs-tern und Schulmeistern vorgelesen“ werden.67 Ein gut eingerichte-tes Intelligenzwesen war ein weiterer Pfeiler einer ökonomischen Öffentlichkeit. So sollten beispielsweise durch „Intelligentz-Zet-tel [...] die an einem Orte vorhandene oder verlangte Waaren und Sachen bekannt gemacht werden“.68 Die Zirkulation von Geld und Waren war ohne jene der Informationen nicht denkbar.69

66 Zur „Beobachtung zweiter Ordnung“ allgemein vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1997, S. 92 ff.; aus-führlich zu den Kameralwissenschaften Vogl, Kalkül und Leidenschaft (wie Anm. 1), S. 76 ff.

67 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 223.68 Ebd., S. 209.69 Das preußische Intelligenzwesen wurde auf Anordnung Friedrich

Wilhelms I. durch von Ludewig, dem Halleschen Universitätskanzler, be-gründet. Es stand, wie auch anderswo im Reich, im Dienste des schnelleren und besseren Austausches von Informationen, wie er von Dithmar gefordert wurde. Vgl. dazu v. a. Thomas Kempf, Aufklärung als Disziplinierung. Stu-dien zum Diskurs des Wissens in Intelligenzblättern und gelehrten Beilagen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, München 1991; Gerhardt Petrat, „Wir ersuchen unsre Landsleute, …“. Das Medium „Intelligenzblatt“ als

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Was den Kameralisten deshalb auszeichnete, waren nicht nur bestimmte Fähigkeiten oder ein bestimmtes Wissen. Es war auch sein Vermögen, unterschiedliche Wissensfelder zu korrelieren und neue Wissensbestände zu erschließen, also gewissermaßen Wissen auf Wissen zu beziehen und dadurch zum Katalysator ei-ner Zirkulation des Wissens zu werden. Dithmar gründete nicht zufällig die erste periodisch erscheinende kameralwissenschaftli-che Zeitschrift, die Oeconomischen Fama (1729–1733), in welchen tagespolitische Ereignisse aufgegriffen und unter kameralwissen-schaftlichen Gesichtspunkten diskutiert wurden.70 Wenngleich den Oeconomischen Fama keine lange Lebensdauer beschieden war, so verdeutlichen sie doch, dass das Selbstverständnis der Ka-meralwissenschaften mit einem bestimmten Produktions- und Distributionsmodus von Wissen konvergierte. In der Spätaufklä-rung wird dafür der Begriff der „Ideenzirkulation“ auftauchen.71

Initiator regionaler Wirtschaftspolitik im 18. Jahrhundert, in: Horst Kreye /Mudithe Smiltena (Hg.), Medientexte. Textlinguistische und sprachhisto-rische Aspekte, Bremen 1994, S. 152–182; ders., Geschichte des Intelli-genzwesens, in: Joachim-Felix Leonhard u.a. (Hg.), Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsfor-men, Berlin 1999, S. 923–931; Lothar Schilling, Policey und Druckme-dien im 18. Jahrhundert. Das Intelligenzblatt als Medium policeylicher Kommunikation, in: Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Ge-sellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 413–452.

70 Vgl. dazu ausführlich Hansjürgen Koschwitz, Die Anfänge der periodi-schen Wirtschaftspublizistik im Zeitalter des Kameralismus, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 11 (1970/71), S. 858–873. Koschwitz sieht die Bedeutung der Oeconomischen Fama vor allem unter dem Aspekt der Ini-tialzündung für die periodische Wirtschaftspublizistik der Spätaufklärung: „Die Zeitschrift Dithmars war die Initiatorin, auf deren Vorbild andere Wirtschaftspublizisten aufbauen konnten. Ihrem Beispiel folgend, bilde-ten sich ähnliche Organe heraus. Mit der ‚Oeconomischen Fama‘ wurde die Zeitschrift allmählich ein wirksames Mittel, um das Ansehen der Öko-nomie-, Polizei- und Kameralwissenschaften jener Epoche zu heben und den Fortschritt dieser Wissenschaften zu fördern.“ (Ebd., S. 861). Wesent-lich negativer, nämlich als „unwissenschaftlich und geistlos“, beurteilte Roscher die Dithmarsche Zeitschrift. Vgl. Roscher, National-Oekonomik (wie Anm. 6), S. 432.

71 Im Laufe des späteren 18. Jahrhunderts entwickelte sich ein disziplinüber-greifendes „makroökonomisches“ Zirkulationsmodell, das Naturbeobach-tungen ebenso wie ökonomische Erfahrungen oder eben Fragen der geistes-geschichtlichen Entwicklung zu systematisieren gestattete. Vgl. dazu Joseph Vogl, Ökonomie und Zirkulation um 1800, in: Weimarer Beiträge. Zeit-schrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 43,1 (1997), S. 69–79; ders., Poetologie des Wissens (wie Anm. 14), S. 18 ff.

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Die Zeitschriften, so formulierte es später Joachim Heinrich Campe unter Rückgriff auf die ökonomische Umlaufmetapho-rik, „sind die Münze, wo die harten Thaler und Goldstücke aus den Schatzkammern der Wissenschaften, welche nie oder selten in die Hand der Armen kamen, zu Groschen und Dreiern geprägt werden, um als solche durchs ganze Land zu roulieren und zuletzt gar in den Hut des Bettlers zu fallen“.72 Sie kommen aber, so muss man ergänzen, auch zur Wissenschaft wieder zurück und vermeh-ren deren Reichtum. Zur Zirkulation auch der Ideen gehörte die Geschlossenheit des Kreislaufs.73 Nicht so sehr im Ziel als viel-mehr in der Bewegung selbst manifestierte sich damit das Wis-senschaftliche als kameralwissenschaftliche Erkenntnisform.74

In diesem Modell der Zirkulation des Wissens fand die Uni-versität nun selbst ihren kameralwissenschaftlichen Ort. Sie war ein reflexiver Ort des Wissens, ein Relais innerhalb dessen, was die Kameralistik als Wissen und als Praxis einer Ökonomie der Macht entstehen ließ. Die Kameralisten rekurrierten auf die Uni-versität nämlich als Teil des Spiels der Kräfte, das sie beschrieben – „Gleichwie auch die Universitäten nicht nur zu Erlernung allerlei Wissenschaften nöthig sondern auch einem Staat sehr zuträglich sind“, wie es Dithmar ausdrückte.75 So gesehen bestand die Bedeu-tung der Universität vor allem darin, einen Überfluss herzustellen,

72 Joachim Heinrich Campe, Beantwortung dieses Einwurfs, in: Braun-schweigisches Journal 1 (1788), S. 19–44, hier S. 32. Vgl. zur Zirkulati-onsmetaphorik in der Spätaufklärung auch Harald Schmidt, Ein Groschen im Hut des Bettlers. Die ‚Zirkulation‘ und Thesaurierung publizistischen Wissens in der spätaufklärerischen Mediendebatte und bei den deutschen Spätphilanthropen, in: ders./Marcus Sandl (Hg.), Gedächtnis und Zirkula-tion. Der Diskurs des Kreislaufs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göt-tingen 2002, S. 145–166.

73 Vgl. Harald Schmidt, Art. ‚Ideenzirkulation‘, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart 1998, S. 227.

74 Dazu auch Marcus Sandl, Zirkulationsbegriff, kameralwissenschaftliche Wissensordnung und das disziplinengeschichtliche Gedächtnis der ökono-mischen Wissenschaften, in: ders. /Harald Schmidt, Gedächtnis und Zir-kulation. Der Diskurs des Kreislaufs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2002, S. 65–81.

75 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 150.

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der eine Zirkulation in Gang setzte.76 Wie Waren und Geld muss-ten auch die Wissensgüter zirkulieren, sich dem Kreislauf von Überfluss und Mangel unterwerfen, um produktiv zu werden.

Dieser Kreislauf benötigte die Universität als Katalysator, tran-szendierte sie, sobald er hergestellt war, jedoch auch, bettete sie ein in einen größeren räumlichen Zusammenhang, in ein Bezie-hungsnetz kameralwissenschaftlicher Orte. Das umfasste ebenso wie die Universität die Stube „eines geschickten Ambtmann“ auf dem Land und die Verwaltung einer „florissanten Stadt“,77 setzte sich fort im „Oeconomischen Policei- und Cameral-Wesen an-derer Staaten“, ja aller „Lande des teutschen Reichs“ und kulmi-nierte schließlich in einem europäischen Zusammenhang, zu dem Dithmar die „Niederlanden, Engeland, Franckreich, Italien und andere fremde Lande“ zählte78. Die Orte der Produktion und Distribution kameralwissenschaftlichen Wissens waren also viel-fältig, ja im Grunde ebenso grenzenlos wie die Ökonomie der Macht selbst. Die Universität fügte sich in dieses Beziehungsnetz als ein Ort unter anderen ein.79

76 Eine entsprechende Selbstbeobachtung der Universität unter kamera-listischen Vorzeichen setzte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-derts tatsächlich immer stärker durch. Vgl. Rudolf Stichweh, Universität und Öffentlichkeit. Zur Semantik des Öffentlichen in der frühneuzeitli-chen Universitätsgeschichte, in: Hans-Wolf Jäger (Hg.), Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 103–116; ders., Politik und Erzie-hung in der Selbstbeschreibung preußischer Universitäten (1750–1800), in: Reinhard Brandt/Werner Euler (Hg.), Studien zur Entwicklung preu-ßischer Universitäten, Wiesbaden 1999, S. 21–36.

77 Dithmar, Einleitung (wie Anm. 21), S. 9 f.78 Ebd., S. 11.79 Johann Heinrich Gottlob von Justi erklärte später sogar, dass er es zwar

„vor jeden großen und mittelmäßigen Staat in gewisser Maaße“ für not-wendig halte, „selbst Universitäten in seinem Lande zu haben“, allerdings nur „so lange [...] unsere ietzige Art oder Mode zu studiren fordauret“. Grundsätzlich könnten „die Wissenschaften in großer Vollkommenheit blühen [...], ohne daß man Universitäten nöthig hat“. Ja im Grunde sei-en sie ein Hindernis für die wünschenswerte Zirkulation des Wissens und die Pluralität der Wissensorte. Dies blieb allerdings auch innerhalb der Ka-meralwissenschaften eine Einzelmeinung und war möglicherweise bio-graphisch begründet (s. u.). Vgl. Johann Heinrich Gottlob von Justi, Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten oder ausführliche Vorstellung der gesamten Polizeiwissenschaft, 2 Bde., Königsberg 1761 (Ndr. Aalen 1965), hier Bd. 2, S. 74 f.

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Die Systematisierung und Verwissenschaftlichung des poli-tisch-ökonomischen Wissens benötigte die Einrichtung entspre-chender Lehrstühle, so lässt sich zusammenfassend sagen. Gerade die Gründung einer universitären Kameralistik an der Viadrina hatte eine herausragende katalysatorische Wirkung auf diesen Prozess. Diese Wirkung bestand aber weniger in der konkreten Bedeutung, die die Universität als Institution, als Behausung für die Kameralwissenschaften haben sollte. Alle großen folgenden Systementwürfe der Kameralwissenschaften, wie die von Johann Heinrich Gottlob von Justi oder von Joseph von Sonnenfels, sind nicht innerhalb der Universität entstanden, stammen nicht von Professoren für Kameralwissenschaften. Weit wichtiger als die Institution Universität war, dass mit der Gründung der universi-tären Kameralwissenschaften der gegenstandskonstitutive Aspekt der Wissensproduktion und -distribution selbst reflexiv, die Ökonomie der Macht mit einer Ökonomie des Wissens verbun-den wurde. Frankfurt an der Oder hatte für die Entstehung und Entwicklung der Kameralwissenschaften im 18. Jahrhundert also eine herausragende Bedeutung – weniger als konkreter, als viel-mehr als reflexiver Ort, an dem sich die verschiedensten poli-tisch-theoretischen und ökonomischen Traditionslinien brachen und zu einer neuen systematischen Einheit einer politisch-öko-nomischen Wissenschaft formierten. Als reflexiver Ort schrieb sich die Universität Frankfurt an der Oder so gesehen in alle fol-genden kameralwissenschaftlichen Systementwürfe ein – unab-hängig davon, dass die Institutionalisierung der Kameralwissen-schaften an der Viadrina selbst letztlich scheiterte.

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