"Eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal" - Qualitative Befunde zur Semantik des Scheiterns...

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„Eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal“ – Qualitative Befunde zur Semantik des Scheiterns in der diskursiven Bearbeitung der globalen Finanzkrise Ronald Hartz „Eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal“ „Der freie Markt und seine Akteure, die Unterneh- mer ihrer Selbst, existieren nicht aus eigener Kraft; sie sind ein Effekt permanenter Mobilisierung.“ (Bröckling 2007, S. 54) 1. Einleitung Die sogenannte globale Finanzkrise (GFC) war zwischen 2008 und 2010 eines der herausragenden Themen in der massenmedialen Berichterstattung als auch der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Mit der Insolvenz von Lehman Brothers im September 2008 wurde die GFC zumindest zeitweilig als fundamentale Herausforderung für die gegenwärtige Verfasstheit und die zukünf- tige Gestaltung der globalen ökonomischen Ordnung aufgefasst (vgl. u. a. Gam- ble 2009; Crouch 2011; Morgan et al. 2011). Beispielhaft bezeichnet für Crouch (2011, i) „[t]he financial collapse at the turn of 2008-9 […] a major crisis for the set of economic ideas that have ruled the western world and many other parts of the world since the late 1970s.“ Die Superiorität des Marktmechanismus „in terms of efficiency, justice or freedom, or a combination of them“ (Patomäki 2009, S. 433) schien zur Disposition zu stehen. Im Hinblick auf die diskursive Infragestellung des Effizienz-, Wohlstands- und Freiheitsversprechens als „benefits of free mar - ket capitalism“ (Morgan et al. 2011, S. 147) formuliert Fairclough: „[N]ow that neo-liberal capitalism has come into what maybe a terminal crisis, the crisis is clearly in part a crisis of its discourse“ (Fairclough 2010a, S. 13). Folgt man zunächst dieser Diagnose, so verweist ein Ereignis wie die globale Finanzkrise auf die historische Kontingenz der ökonomischen Ordnung und lenkt zugleich den Blick auf die diskursive Bearbeitung von sozialen Ereignissen und gesellschaftlichen Zuständen als Krise. 1 In begriffsgeschichtlicher Hinsicht in- 1 Der Aufstieg des Keynesianismus und später des Neoliberalismus war in dieser Hinsicht Ausdruck und Ergebnis einer krisenhaften Situation des Ökonomischen und Politischen (Foucault 2006). In dieser Hinsicht weist die GFC Parallelen zum „Börsenkrach“ des Jahres 1929 und der „Great Depression“ (vgl. Lounsbury und Hirsch 2010, S. 3) auf, weist aber auch

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„EineArtvonständigemökonomischenTribunal“–QualitativeBefundezurSemantikdesScheiternsinderdiskursivenBearbeitungderglobalenFinanzkriseRonald Hartz

„EineArtvonständigemökonomischenTribunal“

„Der freie Markt und seine Akteure, die Unterneh-mer ihrer Selbst, existieren nicht aus eigener Kraft;

sie sind ein Effekt permanenter Mobilisierung.“ (Bröckling 2007, S. 54)

1. Einleitung

Die sogenannte globale Finanzkrise (GFC) war zwischen 2008 und 2010 eines der herausragenden Themen in der massenmedialen Berichterstattung als auch der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Mit der Insolvenz von Lehman Brothers im September 2008 wurde die GFC zumindest zeitweilig als fundamentale Herausforderung für die gegenwärtige Verfasstheit und die zukünf-tige Gestaltung der globalen ökonomischen Ordnung aufgefasst (vgl. u. a. Gam-ble 2009; Crouch 2011; Morgan et al. 2011). Beispielhaft bezeichnet für Crouch (2011, i) „[t]he financial collapse at the turn of 2008-9 […] a major crisis for the set of economic ideas that have ruled the western world and many other parts of the world since the late 1970s.“ Die Superiorität des Marktmechanismus „in terms of efficiency, justice or freedom, or a combination of them“ (Patomäki 2009, S. 433) schien zur Disposition zu stehen. Im Hinblick auf die diskursive Infragestellung des Effizienz-, Wohlstands- und Freiheitsversprechens als „benefits of free mar-ket capitalism“ (Morgan et al. 2011, S. 147) formuliert Fairclough: „[N]ow that neo-liberal capitalism has come into what maybe a terminal crisis, the crisis is clearly in part a crisis of its discourse“ (Fairclough 2010a, S. 13).

Folgt man zunächst dieser Diagnose, so verweist ein Ereignis wie die globale Finanzkrise auf die historische Kontingenz der ökonomischen Ordnung und lenkt zugleich den Blick auf die diskursive Bearbeitung von sozialen Ereignissen und gesellschaftlichen Zuständen als Krise.1 In begriffsgeschichtlicher Hinsicht in-

1 Der Aufstieg des Keynesianismus und später des Neoliberalismus war in dieser Hinsicht Ausdruck und Ergebnis einer krisenhaften Situation des Ökonomischen und Politischen (Foucault 2006). In dieser Hinsicht weist die GFC Parallelen zum „Börsenkrach“ des Jahres 1929 und der „Great Depression“ (vgl. Lounsbury und Hirsch 2010, S. 3) auf, weist aber auch

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diziert die Semantik der Krise eine Bezugnahme auf den Begriff des Scheiterns. Nach Koselleck (2010) ist die Krisendiagnose zunächst ein generelles Hinwei-sen auf „Unsicherheit, Leiden und Prüfung“ (ebd., S. 203) und verweist zugleich auf den Aspekt der Entscheidung (‚krino‘): „Erfolg oder Scheitern, Recht oder Unrecht, Leben oder Tod, schließlich Heil oder Verdammnis.“ (ebd., S. 204). Die Krise wird verstanden als Scheideweg, an dessen Ausgang entweder das Schei-tern oder die erfolgreiche Überwindung des Krisenzustandes steht. Im Kontext der ökonomischen Theorie erfährt die Krisensemantik eine positive Wendung und neue Dynamik, da das Eintreten von Krisen zugleich als Bedingung des (ökono-mischen) Fortschritts und des Produktivitätswachstums erscheint (ebd., S. 211f.). Bezogen auf die Semantik des Scheiterns hat diese begriffliche Verschiebung zur Konsequenz, dass das Scheitern von Marktakteuren die Bedingung für die Über-windung des Krisenzustandes darstellt.

Gleichwohl dominierte nach der Lehman Pleite zunächst jenes Moment der ‚Unsicherheit‘ und des ‚Leidens‘. So befand Alan Greenspan (damaliger Chair-man der amerikanischen Notenbank FED) bei einer Anhörung im amerikani-schen Kongress im Oktober 2008 selbstkritisch, dass sein bisheriges Verständ-nis von Ökonomie offenbar fehlerbehaftet war und dieser „flaw in the model […] how the world works“ ihn schockiert habe (PBS News Hour, 23. Oktober 2008). Diese Aussage Greenspans erscheint bereits jetzt als ein historisches Dokument. Zugespitzt lässt sich formulieren, dass die Auseinandersetzung mit der globalen Finanzkrise der Auseinandersetzung über die Euro- und Staatsschuldenkrise und der Rückgewinnung des ‚Vertrauens der Märkte‘ gewichen ist, oder, um es mit Morgan und Kollegen deutlicher zu sagen: „The blame game has shifted“ (Mor-gan et al. 2011, S. 148). So scheinen es nun (und wieder) die Staaten, die (über-höhten) staatlichen Ausgaben und diejenigen gesellschaftlichen Akteure zu sein, welche sich – wie im Falle Griechenlands – etwa gegen die Kürzung von Renten und Sozialleistungen wehren, welche im Fokus der Kritik stehen. Bei aller ge-botenen Vorsicht mag sich dann die GFC im Nachhinein möglicherweise nur als Ouvertüre zu einer mehr denn je behaupteten Superiorität des Marktes als Steu-erungs- und Veridiktionsmechanismus für sämtliche gesellschaftlichen Teilbe-reiche als auch für Staaten als Ganzes erweisen.

Die folgende Studie stellt vor diesem Hintergrund einen Versuch dar der ver-muteten „Rekonvaleszenz“ (Parr 2009) der marktwirtschaftlichen Ordnung bzw., in anderer Diktion, den „strange non-death of neoliberalism“ (Crouch 2011) hin-sichtlich der dabei ins Spiel gebrachten diskursiven Ressourcen ein Stück weit auf

untersuchenswerte Bezüge zu früheren ökonomischen Krisen wie der ‚Tulpenmanie‘ 1634-37 oder den „South Sea Bubble“ von 1720 auf (Mackay 1995; Stäheli 2007, S. 154-172).

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die Spur zu kommen. Welche diskursiven Elemente lassen sich auffinden, die die Krise letztlich als einen weiteren Beweis für die ‚Wahrheit‘ und die Superiorität marktlicher Regulation konstruieren und deren Akzeptabilität absichern helfen?2 Im Sinne Foucaults (2007, S. 11) richtet sich der Blick auf jene Elemente, deren Aufgabe es ist „die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein un-berechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materia-lität zu umgehen.“ Im Anschluss an Koselleck soll dabei der Fokus insbesondere auf den diskursiven Einsatz der Semantik des Scheiterns gelegt werden. Wenn im ökonomischen Krisenverständnis Scheitern eine enge semantische Kopplung mit der Idee des Fortschritts und der ökonomischen Prosperität eingeht, dann lässt sich folgern, dass der diskursive Einsatz der Semantik des Scheiterns eine wich-tige diskursive Ressource zur Sicherung der Akzeptabilität marktlicher Regula-tion darstellt. Inwiefern Scheitern als semantische Figur in der diskursiven Bear-beitung der GFC aktiviert wird und welche argumentativen Auffächerungen im Rekurs auf Scheitern sichtbar werden, soll deshalb in exemplarischer Form un-tersucht werden. Der Aussage von Junge und Lechner (2004, S. 7), dass der Be-griff des Scheiterns Konjunktur habe, wäre, zumindest bezogen auf die folgende Analyse, dann dahingehend zu differenzieren, dass es erstens Konjunkturen des Begriffes gibt und diese zweitens mit dem strategischen Einsatz der Scheiterns-semantik im Zusammenhang stehen.3

Dies vorangestellt, schließt der Beitrag konzeptionell an die Studien zur Gouvernementalität (vgl. u. a. Bröckling et al. 2011; Dean 2010) an und rekurriert hierbei insbesondere auf die Ausführungen Foucaults zur Funktion des Marktes als „Ort der Wahrheit“ (Foucault 2006, S. 52) bzw. der ‚Veridiktion‘ im Zusam-menhang der Foucaultschen Rekonstruktion (neo-)liberaler Gouvernementalität (Foucault 2006; Lemke 1997). Dieser konzeptionelle Anschluss eröffnet weitere

2 Damit kann und soll nicht behauptet werden, dass die noch andauernde soziale Dynamik im Gefolge der GFC unentrinnbar in die neoliberale (Re-)Normalisierung einmündet. In diesem Sinne formulieren auch Bröckling und Krasmann (2010, S. 34): „Ob die gegenwärtige Finanzkrise schließlich einen Bruch in der politischen Rationalität wie in den Strategien des Regierens markieren wird, ob die Dogmen neoliberalen Regierens tatsächlich so nachhaltig erschüttert sind, wie es im Moment bisweilen den Anschein hat, oder ob ein anderes neolibe-rales Regime, das an die Stelle des fröhlichen Marktoptimismus die finster-ernste Semantik des Ausnahmezustands setzt und die Rettung der Märkte durch den Staat als Generalbürgen auf die Fahnen schreibt, das ist allenfalls in Umrissen absehbar.“

3 Die Aussage von Junge und Lechner datiert aus dem Jahr 2004 und reflektiert insofern auch eine erst jüngst vergangene ökonomische Krise – das Platzen der „New-Economy Blase“: „Und doch, plötzlich, wie aus dem nichts, wurde Scheitern wieder zum Thema. Mit dem Niedergang der New-Economy, dem Konkurrenzdruck, der der Prozess der Globalisierung mit einem Mal auch in der Bundesrepublik bis in die „Mittelklasse“ hinein entfaltete, erhob sich das Haupt des Scheiterns in den Medien und der alltäglichen Wahrnehmung“ (Junge und Lechner 2004, S. 7).

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Ansatzpunkte für die Untersuchung der Auffächerung der Scheiternssemantik. In der Foucaultschen Lesart der neoliberalen Programmatik erscheint der Markt als „eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal“ (Foucault 2006, S. 342) in zweifacher, miteinander verschränkter Form. Erstens zeigen die Preisbildungen auf dem Markt und deren lang- oder kurzfristige Volatilität, welche als krisen-haft (Baisse, Blasen, Zusammenbrüche), stabil oder als Aufschwung (Erholung, Hausse, Run) gelesen werden können, nicht einfach den Zustand des Marktes an, sondern enthüllen „die Wahrheit im Hinblick auf die Regierungspraxis“ (ebd., S. 56). Die ‚Signale‘ des Marktes besitzen die Funktion „das Handeln der Regierung in streng ökonomischen und marktbezogenen Begriffen zu beurteilen“ (ebd., S. 342). Der Liberalismus wird dabei immer vom Verdacht genährt, das „stets zu-viel regiert [wird]“ (ebd., S. 437). Die Interpretation der Entwicklung des Mark-tes dient dann dazu, hierfür die entsprechenden Indizien zu liefern: „Nichts be-weist, daß die Marktwirtschaft Mängel hat, […] da man alles, was man ihr als Mangel und als Wirkung ihrer Mangelhaftigkeit unterstellt, dem Staat zuschrei-ben muß“ (ebd., S. 167). So verstanden wäre die Behauptung des Scheiterns der marktlichen Ordnung absurd. Scheitern kann hier allein der Staat. Bezogen auf das Verhalten individueller und kollektiver Akteure erscheint der Markt in einer zweiten Hinsicht als ‚Test‘ und Ort der ‚Veridiktion‘. Die neoliberale Program-matik zielt auf die Selbstverantwortung der Individuen und klagt diese ein. Zu-gleich ist der Einzelne aufgerufen, sich die Folgen des eigenen Handelns selbst zuzurechnen. Entscheidend ist, dass die propagierte Selbstbestimmung als ein „Regieren über Freiheit“ in die Einforderung eines „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) mündet. Diese Form der Individualisierung und Selbsttechno-logie erlaubt es, die Signale der Märkte auch als Urteil über den Erfolg oder das Scheitern von Marktakteuren zu lesen. In dieser Rekonstruktion der neolibera-len Programmatik zeigt sich die gleichzeitige „Individualisierung und Totalisie-rung der modernen Machtstrukturen“ (Foucault 1982, S. 280), welche hier ih-ren spezifischen Ausdruck in der Funktion des Marktes als Tribunal gegenüber dem Staat, der Gesellschaft und den Individuen findet. Die diskursive Produk-tion jener Funktion verweist damit zugleich auf die mit dem Diskurs verbun-denen Machteffekte und deren Verschränkung: Kritik des Regierungshandelns und Einforderung „für den Markt [zu] regieren“ (Foucault 2006, S. 174) sowie individualisierende Anrufung des ‚verantwortlichen‘ Subjekts in der gemeinsa-men Fluchtlinie einer „Gestaltung der Gesellschaft nach dem Modell des Unter-nehmens“ (ebd., S. 226).

Das Einnehmen einer diskursiven Analyseperspektive auf die GFC ist schließlich in einer weiteren analytischen Hinsicht von genereller Bedeutung,

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da somit ökonomische Prozesse und Ereignisse als auch die damit verschränk-ten organisationalen Aktivitäten in Bezug auf ihre kulturelle Einbettung und se-miotische Bearbeitung befragt werden können (vgl. grundsätzlich Jessop 2004; Amin und Thrift 2004; Fairclough 2006). Beispielhaft befindet sich für Arnoldi (2009, S. 71) die Finanzbranche „seit jeher im Spannungsfeld juristischer, religi-öser und moralischer Diskurse“ mit dem Effekt, „dass ein und dieselbe ökono-mische Aktivität in unterschiedlichen Kulturen und Epochen völlig unterschied-lich bewertet wird“. Die folgende Analyse und die hier vorgestellten qualitativen Befunde zur Semantik des Scheiterns im Kontext der GFC verstehen sich damit zugleich als ein allgemeiner Beitrag für ein Verständnis der grundlegenden kul-turellen Einbettung ökonomischer Aktivitäten und damit auch als Ergänzung einer sich insbesondere im Kontext der Arbeiten zur GFC auf die Analyse von u. a. Finanzprodukten, Risikomanagement, finanztechnischen Modellierungen und institutionellen Regulierungen fokussierenden Forschung (vgl. u. a. Arnold 2009; Arnoldi 2009; Crotty 2009; McNally 2009; sowie die Beiträge in Louns-bury und Hirsch 2010).

2. KorpusundAnalytik

Die Materialgrundlage für die folgende Analyse ist der Diskurs über die Finanz-krise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Juli 2007 bis Ende 2009. Die FAZ kann im Sinne ihrer Selbstpositionierung, aber auch hinsichtlich ihrer ex-ternen Wahrnehmung, als ein liberales Leitmedium der Bundesrepublik Deutsch-land verstanden werden, welches sowohl Bedeutung für Journalisten als auch für politische und ökonomische Eliten besitzt (Weischenberg et al. 2006). Neben der landesweiten Zirkulation und dem Einfluss auf gesellschaftliche Eliten spielen Leitmedien eine bedeutsame Rolle hinsichtlich des Agenda-Setting als auch der Rahmung und Bearbeitung von gesellschaftsrelevanten Themen (Wilke 1999). Sie sind typischerweise gekennzeichnet durch ein ‚genre-mixing‘ von Information und Meinung und einer ausgeprägten ‚weltanschaulichen‘ Positionierung, welche im Fall der FAZ – bei allen semantischen ‚Streubreiten‘ – durch eine Einschrei-bung und Ausrichtung an liberalen als auch konservativen Wertorientierungen gekennzeichnet ist. Im Sinne der eingangs skizzierten Problemstellung erweist sich die FAZ sowohl in ihrer Bedeutung als Leitmedium als auch in ihrer inhalt-lichen Ausrichtung als ein geeignetes Medium für die Analyse.

In einem ersten Schritt wurde ein Korpus zum Schlüsselwort „Finanzkrise“ zwischen Juli 2007 (dem erstmaligen Auftauchen des Stichwortes) und Dezember 2009 erstellt. Im genannten Zeitraum wurden 10.829 Artikel erfasst, hinsichtlich

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ihres Erscheinens geordnet und schließlich einer Bearbeitung durch QDA-Software (NVivo) zugänglich gemacht. Um die diskursive Repräsentation der Finanzmärk-te vor dem Auftauchen des Schlüsselwortes „Finanzkrise“ einer Rekonstruktion zuzuführen, wurden weitere 200 Artikel, erschienen zwischen Januar und Juni 2007, in das zu analysierende Korpus aufgenommen.4 Die Abbildung 1 zeigt die quantitative Dichte der Thematisierung bzw. Problematisierung der „Finanzkri-se“ in der FAZ zwischen Juli 2007 und Dezember 2009.

In einem zweiten analytischen Schritt erfolgte, unter Rückgriffen auf die ‚Werkzeugkiste‘ der kritischen Diskursanalyse (Jäger 2009; Fairclough 2003, 2010b) und auf konzeptionelle Überlegungen von Jürgen Link und Kollegen zu Normalismus und Denormalisierung (Link 1978, 2009; Parr 2009) eine chronolo-gische und iterative Lektüre der Artikel mit dem Ziel einer Erfassung der grund-sätzlichen Transformationen und Verschiebungen des Diskurses. Diese Rekonst-ruktion fokussierte auf Diskursfragmente und -stränge (Jäger 2009), Bildlichkeit ((Kollektiv-)Symbole und Metaphorik, vgl. Link 1978, 2009) und i. S. der von Fairclough und Kollegen vorgeschlagenen analytischen Trennungen diskursiver Aktivitäten auf Modi der Repräsentation von Märkten und Akteuren (discourse i. e. S.) und der damit in Verbindung stehenden Genre und Identitäten (Fairclough 2003). Die Identifikation wesentlicher diskursiver Ereignisse und Verschiebun-gen führte dabei zu einer Rekonstruktion von vier unterscheidbaren Phasen der diskursiven Bearbeitung der Krise (vgl. Hartz 2012).

Im Sinne der hier verfolgten Zielstellung wurde der in dieser Hinsicht rekon-struierte Diskurs in einem weiteren Schritt hinsichtlich des Einsatzes der Seman-tik des Scheiterns einer qualitativen Analyse unterzogen. Diese Analyse führt zunächst zur folgenden Darstellung einer Reihe von qualitativen Befunden und orientiert sich dabei an der (Nicht-)Konzeptualisierung dieser Triade vor dem (diskursiven) Erscheinen der Krise (Januar 2007 – Juli 2007), der im massen-medialen Verständnis eigentlichen „Finanzkrise“ (August 2007 – August 2009) und der Phase der Re-Normalisierung bzw. des konstatierten Endes der Krise ab dem Frühherbst 2009. Die folgende Darstellung von diskursiven Elementen und Verschiebungen ist dabei nicht als Versuch einer kompletten Rekonstruk-tion des „Diskurses über die Finanzkrise“, im Sinne einer Repräsentation der Krise in der FAZ, zu verstehen. Vor dem Hintergrund der skizzierten Überle-gungen zum Zusammenhang der neoliberalen Programmatik und des Marktes als Ort der Veridiktion liegt der Fokus auf der Herausarbeitung jener diskursi-

4 Für diesen Zeitraum erwies sich ein klar definierter Suchstring als schwierig. Mit dem Stichwort „Finanzmärkte“ erschienen zwischen Januar und Juni 2007 1.373 Artikel. Aus diesem Korpus wurden stichprobenartig Artikel ausgewählt und ergänzt um die Gesamtheit der Artikel, welche die Stichworte „Subprime“ (75 Treffer) und CDO (12 Treffer) enthielten.

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ven Elemente, welche jenes ‚Wahrsprechen‘ des Marktes vor, während und nach der Krise sprachlich inszenieren.5

3. AusgewähltequalitativeBefunde

RisikenundChancenalsFunktionslogikdesMarktes (Januar2007–Juli2007)

Das erste Halbjahr 2007 ist hinsichtlich der Repräsentation der Finanzmärkte zunächst von einer ‚technischen‘ und vordergründig neutralen Beschreibung des Marktgeschehens geprägt. Die insbesondere im März (Probleme bei der Hypo-thekenbank „New Century“) und im Juni (Probleme bei zwei Fonds der Invest-mentbank Bear Stearns) thematisierten Probleme am amerikanischen Immobi-lienmarkt bzw. im Subprime-Markt verbriefter Hypotheken werden i. S. eines ‚Marktdatums‘ hinsichtlich Ihres Risikos für den gesamten Finanzsektor als auch zugleich hinsichtlich der Chancen für Investoren betrachtet. In dieser Hinsicht wird nicht von einem „Scheitern“ einzelner Marktsegmente oder von Finanzpro-dukten gesprochen, sondern von Risiken und Chancen eines sich in Bewegung befindenden Marktes. Die Marktteilnehmer orientieren sich zugleich an den ‚Si-gnalen‘ des Marktes, verfolgen entsprechende Strategien und agieren insofern ra-tional. Der Erfolg des einen Marktakteurs ist abhängig von der korrekten Inter-pretation der ‚Signale‘ und kann durchaus mit Verlusten anderer Marktakteure korrelieren, ohne hierbei den Begriff des Scheiterns aktivieren zu müssen – viel-mehr gibt es Gewinner und Verlierer des Marktgeschehens:

„Die Turbulenzen an den Finanzmärkten, die in dieser Woche weltweit zu scharfen Kursrück-gängen an den Aktienmärkten geführt hatten, haben nicht nur Verlierer produziert. An der Wall Street profitierte ein Chefhändler der Deutschen Bank mit seiner Wette gegen einen Index für verbriefte Hypotheken von Schuldnern niedriger Bonität, sogenannte „Subprime-Hypothe-ken“. Der ABX-Index, der den Wert dieser Anleihen reflektiert, war am Dienstag um über 7 Prozent eingebrochen. Greg Lippmann, der Chefhändler für Asset-Backed Securities bei der Deutschen Bank in New York, soll in den vergangenen Monaten mit der Wette gegen den ABX-Index Papiergewinne von rund 250 Millionen Dollar gemacht haben.“ (o. V., 2. März 2007)

Die Volatilität der Märkte stellt sich als Normalität dar, Abwärtsbewegungen er-scheinen als erwartbare ‚Korrekturen‘ und ‚Bereinigungen‘, welche zugleich die Chance auf zukünftige Gewinne eröffnen:

5 Die Transformation des Diskurses entlang unterschiedlicher diskursiver Ereignisse und die Bedeutung der Kollektivsymbolik im Krisendiskurs finden sich an anderer Stelle dargelegt (Hartz 2012).

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„Auch diesmal gab es an der Wall Street erste Anzeichen, dass die gefallenen Kurse schon wieder als Chance für einen günstigen Einstieg verstanden werden.“ (Kuls, 19. März 2007)

„Selbst wenn sich die Abwärtsbewegung jetzt noch etwas fortsetzt, mag es letztlich gerade einmal zu der lange erwarteten Korrektur von 10 Prozent kommen. Dies wäre aber immer noch kein Grund, den Haussetrend abzublasen.“ (Schulz, 19. März 2007)

Flankiert wird diese Sichtweise eines grundsätzlichen Funktionierens der Märkte als Veridiktionsmechanismus hinsichtlich des Gelingens von Investments und des Agierens der Marktakteure durch charttechnische Analysen der Marktentwicklung:

„Aus technischer Sicht ist es laut Marktteilnehmern ein gutes Zeichen, dass der Dax den Wi-derstand bei 6.550 Punkten wieder überwunden hat. Nach oben gilt nun der Bereich um 6.600 Punkte vor dem Verfall als ansteuerbar. Ein gutes Zeichen sei auch, dass die Unterstützung bei knapp 6.440 Punkten am Mittwoch dem Druck Stand gehalten habe, heißt es am Markt.“ (o. V., 15. März 2007)

Hinsichtlich der Beschreibung strukturierter Finanzprodukte, der Praktik der Leerverkäufe oder der Verbriefung von Kreditrisiken – welche ex-post in den Fokus der Kritik gerieten (vgl. auch Magnin in diesem Band) – dominiert eine technisch-neutrale Repräsentation, welche zudem die Gestaltung und Eröffnung neuer Investmentfelder und Anlagestrategien positiv herausstellt. Hinsichtlich der Praxis der Leerverkäufe heißt es beispielhaft:

„130/30-Fonds erlauben zum einen Über- oder Untergewichtungen einzelner Aktien gegen-über ihrem Vergleichsindex, denn in ihnen können über Derivate einzelne Aktien auch leer-verkauft werden. Mit dieser Maßnahme kann das Fondsmanagement auch auf fallende Kur-se setzen.“ (Roll, 16. Mai 2007)

Ausgehend von der wachsenden Bedeutung der Verbriefung von Risiken als Fi-nanzinstrument – welches auf den Hypothekenmarkt zu diesem Zeitpunkt gängi-ge Praxis war – werden für weitere Marktsegmente analoge Finanzierungskonst-ruktionen angedacht. Beispielhaft finden sich Überlegungen zu einer Verbriefung des „Risikos der Langlebigkeit“ von Versicherungsnehmern im Bereich der Le-bensversicherungen:

„Geplant ist […] die Entwicklung von Finanzinstrumenten, mit denen sich eine Pensionskasse zum Beispiel gegen das Risiko absichern kann, dass ein bestimmter Prozentsatz dieser „Ko-hort“ im aktuellen Alter von 60 bis 65 Jahren älter als 85 Jahre wird. […] Diese Instrumente könnten im Detail flexibel ausgestaltet werden […]. Denkbar sei eine Konstruktion in Ana-logie zu einem Zins-Swap: Dabei würde ein Unternehmen von seinem Geschäftspartner eine Ausgleichszahlung erhalten, wenn beispielsweise ein bestimmter Prozentsatz der Kohorte äl-ter als 85 Jahre werden sollte.“ (o. V., 8. Juni 2007)

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Zusammenfassend zeigt sich – trotz des Aufkommens der ‚Subprime-Problema-tik‘ und warnender Stimmen (so spricht man, bezogen auf den Immobilienmarkt, etwa von heraufziehenden „Gewitterwolken“ und tickenden „Zeitbomben“) – im Diskurs ein grundsätzliches Vertrauen in die Funktionsfähigkeit und positive Ent-wicklung der Finanzmärkte. Markterfolg basiert auf der richtigen Interpretation der Marktsignale – eine Semantik des Scheiterns findet sich lediglich implizit in dem Verweis auf die Verlierer des Marktgeschehens als Kehrseite des Erfolges anderer Akteure. Getrieben aber wird das Marktgeschehen, trotz aller ‚Turbulen-zen‘, von einer positiven Antizipation der Zukunft:

„‚Die Aussichten für die weltweite Konjunktur sind weiterhin stark. Das positive Marktumfeld und die Zuversicht der Investoren treibt das Niveau der Aktivitäten weiter‘, sagte Goldman-Vorstandschef Lloyd Blankfein in einer Pressemitteilung.“ (o. V., 15. Juni 2007)

ScheiternundErfolginderProblematisierungderKrise (August2007–August2009)

Die Bekanntgabe massiver Verluste von Hedge-Fonds der Investmentbank Bear Stearns im Juli 2007 und die damit zusammenhängende Diagnose eines Über-greifens der ‚Subprime-Krise‘ auf den globalen Markt markieren Ende Juli zwei wesentliche diskursive Ereignisse und bringen den Begriff der „globalen Finanz-krise“ ins diskursive Spiel. Das Ereignis der Krise verändert sowohl quantitativ als auch qualitativ die diskursive Repräsentation der Märkte. In Abkehr von einer technisch-neutralen Repräsentation der Märkte lassen sich eine Reihe von analy-tisch unterscheidbaren und zugleich widersprüchlichen Problematisierungen der Krise identifizieren, welche sowohl den Blick auf die Marktakteure als auch das staatliche Agieren richten und zugleich die Scheiternssemantik in unterschiedli-cher Weise zum Einsatz bringen.

Eine erste herauszuhebende Interpretation der Krise sieht deren Auftreten als einen weiteren Beweis und Beleg für das Funktionieren des Marktes als Vehi-kel des gesellschaftlichen Fortschritts und des Wettbewerbes als Selektions- und Veridiktionsmechanismus an. Diese Form der ‚Normalisierung‘ der Krise und der Legitimation des Marktgeschehens entfaltet sich entlang einer Reihe von Ar-gumenten oder Topoi, welche in verschiedener Weise auf einen Zusammenhang von Scheitern und Erfolg Bezug nehmen. So lässt sich die Krise erstens als Zei-chen und Konsequenz von Fehlentscheidungen und -kalkulationen der Marktak-teure in der Vergangenheit interpretieren. Diese wird damit zum Ausdruck des Scheiterns von Investmentstrategien und der falschen Interpretation von Markt-

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signalen. Die Krise ist somit ein notwendiger und insofern begrüßenswerter Mo-dus der forcierten Aktivierung marktlicher Selektion:

„Durch die Krise wird sich nach Ansicht von Beobachtern die Spreu vom Weizen trennen – die erfolgreichsten Fonds erhalten weiterhin Geld, für die nur mäßig guten wird es schwie-rig.“ (Schäfer, 12. November 2007)

Zweitens wird die globale Finanzkrise nicht als ein singuläres Ereignis interpre-tiert. Krisen gehören zum Wirtschaftssystem dazu, sie sind nachgerade die ‚Mo-toren‘ des gesellschaftlichen Fortschritts. Die spekulative Übertreibung und das hierbei mögliche Scheitern werden ex post und ex ante als funktional für das ge-nerelle Marktgeschehen angesehen:

„Auch Blasen wird es weiterhin geben, sie sind Teil von Schumpeters „schöpferischer Zer-störung“, mit der sich das kapitalistische Wirtschaftssystem ständig erneuert.“ (Busse, 26. April 2009)

„Auch Spekulationskrisen gehören zum Entdeckungsverfahren der Marktwirtschaft, ebenso wie das Scheitern eines Unternehmers möglich ist.“ (Steltzner, 20. September 2008)

Diese Interpretation des Marktgeschehens wird drittens durch den Verweis auf die Motivlagen der Marktakteure gestützt. In einer gleichsam anthropologischen und interdiskursiven, den Bereich des Ökonomischen überschreitenden Wendung werden das Motiv des Risikos und des Wagnisses, der Überschreitung der Gren-zen des Machbaren und ein grundlegender Optimismus der Akteure als anthro-pologische Dispositionen dargestellt. Der Wille zur Transzendenz, welcher dann auch die Gefahr des Scheiterns in sich trägt, sei der menschlichen Natur einge-schrieben und ist demzufolge ein grundsätzliches Movens menschlichen Han-delns – sei dies in der Wissenschaft, im Sport oder eben in der Ökonomie. Dieser Wille ist zugleich der Garant des Fortschritts und des Wohlstands und findet im Wettbewerb seinen adäquaten Ausdruck:

„Wüssten alle Existenzgründer und Investoren, wie hoch das Risiko zu scheitern ist, wür-den sie gar nichts wagen. Und die Menschheit wäre arm geblieben.“ (Hank, 16. August 2009)

„Denn für die Wirtschaft gilt, wie für die Forschung oder den Sport, dass Menschen immer wie-der – und unter Inkaufnahme erheblicher Risiken für sich und andere – alle Kraft daransetzen, die Grenzen des Machbaren neu auszuloten. Dieser Wille erst ermöglicht enorme Fortschrit-te, er birgt aber stets auch die Gefahr gewaltiger Rückschläge.“ (Göbel, 24. Dezember 2008)

Mit dieser anthropologischen und interdiskursiven Wendung wird zugleich die Vorstellung des Marktes als Richter, vor welchem in letzter Instanz alle gleich sind, aktiviert. In der Krise und im Scheitern der Akteure zeige sich ein univer-selles Menschsein an, welches gesellschaftliche Statusunterschiede und Stratifi-

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kationen als Fassaden erscheinen lässt. Das Urteil des Marktes erweist sich als demokratisierende Richtinstanz, welche auch vor den vermeintlich Privilegier-ten nicht halt macht:

„Mancher Finanzjongleur an der Wall Street dürfte sich fühlen wie der Mann in der Tommy-Hilfiger-Werbung: Der sitzt in einem Holzboot auf See, im Hintergrund sind verschneite Ber-ge zu sehen. Seine Hände sind rot gefroren, die Haare zersaust. In seinem grauen Dreiteiler wirkt er wie ein in Seenot geratener Investmentbanker, der Millionendeals abschließen kann, aber in freier Natur vollkommen verloren ist. Die unfreiwillige Botschaft der Hochglanzan-zeige: Ein Mann im Anzug ist nicht mehr unbesiegbar. Er kann untergehen, sang- und klang-los, während sich sein Jackett aus 100 Prozent reiner Schurwolle vollsaugt wie ein gewöhnli-cher Putzlappen.“ (Schipp, 12. Oktober 2008)

Neben der Interpretation der Krise als Bestätigung der Funktionsfähigkeit der Märkte und Konsequenz menschlicher Handlungsmotive findet sich jedoch eine zweite, vordergründig gegenläufige diskursive Bearbeitung der Krise. In dieser Lesart ist die globale Finanzkrise Ausdruck von Verwerfungen und Verzerrun-gen i. S. eines problematischen Verhaltens der Marktteilnehmer. Der oben posi-tiv konnotierte Willen und der Optimismus werden nun negativ gewendet. So war es die Gier nach Rendite, welche blind für die Risiken des eigenen Handelns und die Gefahr des Scheiterns machte (vgl. zur Gier als ‚Entlastungsfigur‘ für die Marktakteure Magnin in diesem Band). Der Wunsch ein „großes Rad zu drehen“ und das damit verbundene „Spielerverhalten“ erscheinen hier als Ausdruck eines irrationalen und emotionsgetriebenen Verhaltens:

„Man könnte es auch Dummheit nennen. Professionelle Anleger – vom Hedge-Fonds bis zur Versicherung – haben begierig Spezialanleihen gekauft, die auf wackelige Immobilienkredi-te aus Amerika gebaut sind. Die Papiere bestachen durch hohe Renditen, und die Investoren griffen begierig zu.“ (Hoffmann, 29. Juli 2007)

Die Diagnose einer bei den Marktakteuren vor der Krise vorhandenen und nun offenbar werdenden Ausblendung möglichen Scheiterns wird zugleich in einen Zusammenhang mit dem Versagen bzw. Fehlverhalten‘ provozierenden organi-sationalen bzw. institutionellen Anreizstrukturen gebracht. In den Fokus geraten nun die bisher gängigen Vergütungspraktiken und der Ausschluss von Haftungs-risiken für die Marktakteure:

„Aus dem Prinzip ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ hätten die Banken ‚Zuckerbrot und Zuckerbrot‘ gemacht, wird in der Branche bemerkt. Ist die Bank erfolgreich, erhalten die Mitarbeiter ext-rem hohe Boni. Ist die Bank verlustreich, erhalten die Beschäftigten ebenso viel Geld.“ (o. V., 12. Februar 2008)

312 Ronald Hartz

„Ein Gehalt, das sich nur am kurzfristigen Erfolg orientiert, setzt falsche Anreize. Denn Ent-scheidung und Verantwortung fallen zeitlich nicht zusammen. Von kurzfristigen Erfolgen profitieren die Bankmanager sofort auch persönlich, für Misserfolge in der Zukunft hinge-gen müssen sie nicht einstehen. Das verleitet zu sehr riskanten Geschäften.“ (Siedenbiedel, 7. Dezember 2008)

In einem weiteren, Dysfunktionalitäten des Marktgeschehens als Krisenursache ansehenden Diskursstrang werden kriseninduzierende und –verstärkende ‚Markt-manipulationen‘ und das Streuen von Gerüchten als systematische Verzerrungen der Selektionsfunktion des Wettbewerbes angesehen. Dies führe gerade zu unge-rechtfertigtem Erfolg, aber auch zu ungerechtfertigtem Scheitern, welches mit der ‚realen‘ Lage des betroffenen Marktakteurs nicht in Einklang steht:

„Wenn eine Institution im Markt scheitern sollte, sollte es auf Basis einer Bewertung objektiver Informationen geschehen und nicht auf Basis absichtlicher Erzeugung falscher Informationen und illegaler, ungedeckter Leerverkäufe“ (Cox, Börsenaufsicht SEC, zitiert in o. V., 23. Juli 2008)

Verweist diese Interpretationsrichtung auf Dysfunktionalitäten des Marktes und spricht diesem aufgrund der geschilderten institutionellen Praktiken und subjekti-ven Verhaltensdispositionen gerade die Funktion als Verifikationsinstanz ab, wird zugleich die Krise als eine Form der „Reinigung“ angesehen, welche den dann unverfälschten und reinen Selektionsmechanismus und damit auch die Möglich-keit eines im Sinne der Marktlogik gerechtfertigten Scheiterns einzelner Marktak-teure wieder zur Geltung verhilft. In dieser Lesart führt die globale Finanzkrise zu einer Re-Normalisierung des Marktgeschehens und beweist (wieder einmal) die „Lernfähigkeit“ und das langfristige Funktionieren der Märkte. Die vorder-gründig widersprüchlichen bzw. paradoxen Interpretationen der Krise münden somit in beiden Fällen und in letzter Instanz in einer Affirmation des Marktes als Veridiktionsmechanismus. Bezogen auf den diskursiven Einsatz der Scheiterns-semantik meint dies, dass die Krise entweder ein Ausdruck des Scheiterns von Marktakteuren als notwendiger ‚Preis‘ des ‚Entdeckungsverfahrens‘ und des ge-sellschaftlichen Fortschritts ist und eine ‚reinigende‘ Funktion besitzt oder dass diese als Konsequenz einer Ausblendung möglichen Scheiterns bei den Marktak-teuren erscheint und zugleich der Möglichkeit des Scheiterns wieder zur Geltung verhelfen kann. Auch in dieser Hinsicht lässt sich von einer ‚reinigenden‘ Funktion der Krise durch die Beseitigung von ‚Verzerrungen‘ und ‚Fehlanreizen‘ sprechen.

Ein weiterer bedeutsamer Aspekt der diskursiven Bearbeitung der Krise stellt die Problematisierung des (wirtschafts-)politischen bzw. staatlichen Eingreifens in die Märkte im Kontext der Krise dar. Auch hier lassen sich widersprüchliche Linien der Argumentation identifizieren. So finden sich unterschiedliche Stim-men, welche vor dem Hintergrund der Funktionsfähigkeit des marktlichen Se-

313„Eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal“

lektionsmechanismus sowohl die Notwendigkeit des Eingreifens des Staates als auch dessen Zurückhaltung propagieren. In der erstgenannten Hinsicht wird auf Grund der systemischen Risiken der Krise eine vorübergehende Aussetzung des Marktmechanismus gefordert. Ein Scheitern von weiteren, als systemrelevant an-gesehenen Finanzinstituten nach der bereits erfolgten Lehman Pleite würde letzt-lich eine Kettenreaktion auslösen und das Funktionieren des Marktes als Ganzes gefährden. Die Finanzkrise markiert in diesem Sinne einen Ausnahmezustand und ein erforderliches Abweichen von der in ‚normalen Zeiten‘ vorgesehenen Möglichkeit des Scheiterns. Die Krise ist keiner rein marktlichen ‚Lösung‘, etwa durch weitere Insolvenzen, mehr zugänglich:

„Im Prinzip gehört im marktwirtschaftlichen System die Möglichkeit des Scheiterns einzelner Marktteilnehmer dazu. Aber es wurde unterschätzt, welches systemische Risiko Lehman ver-körperte. Der 15. September, als Lehman zusammenbrach, markierte eine Zäsur in der derzei-tigen Krise.“ (Stark, EZB-Chefökonom, zitiert in Fehr et al., 9. November 2008)

„‚Zu groß, um zu scheitern‘ – was vor der laufenden Finanzkrise nur ein Denkmodell war, hat mit der Rettungsaktion vom Wochenende konkrete Formen angenommen. Der Schaden, den ein Zusammenbruch der beiden Hypothekenfinanzierer mit sich gebracht hätte, wird größer eingeschätzt als die Kosten der Rettung.“ (Uttich, 11. September 2008)

In entgegengesetzter Hinsicht wird ausgeführt, dass gerade das staatliche Ein-greifen schon den Keim zur nächsten Krise in sich trage. In dieser Hinsicht sei auch die aktuelle Krise kein ‚Ausnahmezustand‘, sondern selbst schon das Resul-tat einer Verzerrung des Marktes durch staatliche Regulation. Die nun geforderte Aussetzung marktlicher Selektion führe wiederum zu den als krisenursächlich angesehenen ‚moral hazard‘. Die Gewissheit, dass der Staat im Notfall eingreifen wird, und die Erwartung der Marktakteure, nicht Scheitern zu können, setze sys-tematisch die marktliche Logik außer Kraft. Anders formuliert bestehe hingegen gerade in der Krise die Möglichkeit, den Marktmechanismus und den Mechanis-mus von verdientem Scheitern oder Erfolg in seiner Reinheit wieder zur Geltung zu verhelfen – wenn die Politik die entsprechenden Lehren zieht:

„Politiker und Bürokraten – insbesondere die Zentralbanker – werden mit dem Versuch, nie-manden scheitern zu lassen, genau das Gegenteil erreichen. […] Das Risiko besteht darin, dass zu viele „Versager“ am Leben gehalten werden.“ (Corrigan, Diapason Commidities, zitiert in Leisinger, 28. November 2008)

„Geht es gut, verdienen sie klotzig. Scheitern sie, springt der Staat ein. Und alle sitzen in der Wiederholungsfalle. Denn die Krise erweist sich als direkte Folge jener Politik, die jetzt zur ihrer Lösung herangezogen wird. Selbst wenn die Rettungsmaßnahmen die Rezession abfe-dern, begründen sie doch jetzt schon die Entstehung der nächsten Blase.“ (Hank, 1. März 2009)

314 Ronald Hartz

Die Widersprüchlichkeit hinsichtlich der diskursiven Bearbeitung und Beurteilung des staatlichen Eingreifens lässt sich, analog der unterschiedlichen Ursachenbe-schreibungen der Krise, interpretativ wiederum in einer Figur zusammenziehen, welche den Markt als Veridiktionsmechanismus in letzter Instanz bestätigt. In der ersten Lesart findet sich die Beschreibung eines ‚Ausnahmezustands‘, welcher mit der ‚im Prinzip‘ Geltung beanspruchenden Möglichkeit des Scheiterns in Kon-flikt gerät. Eine marktkonforme Lösung ist auf Grund der schieren Größe der in den Blick geratenen Akteure nicht möglich. Dies spricht jedoch nicht gegen den Marktmechanismus, welcher in ‚normalen Zeiten‘ seine Wirksamkeit entfaltet. In der zweiten Interpretation konnte der Selektionsmechanismus noch gar nicht rea-lisiert werden, da staatliches Eingreifen hier systematische Verzerrungen erzeug-te. In der Krise liegt somit die Chance für eine Restitution der Marktlogik, welche ihre Funktionsfähigkeit ja noch gar nicht unter Beweis stellen konnte. Bezogen auf den Einsatz der Scheiternssemantik ist dann festzuhalten, dass die Möglich-keit des Scheiterns in der ersten Lesart zur Normalität des Marktgeschehens ge-hört und deren Suspendierung lediglich einen vorübergehenden ‚Ausnahmezu-stand‘ darstellt. In der zweiten Lesart ist es die Krise selbst, welche (endlich) die Möglichkeit des Scheiterns von ‚Versagern‘, im Sinne einer sich bietenden Chan-ce zur Verwirklichung marktlicher Selektion, eröffnet.

NachderKrise(August2009bisEnde2009)

Ab August 2009 mehren sich die Stimmen, welche eine Überwindung und ein Abflauen der globalen Finanzkrise konstatieren. Die dargestellte diskursive Auf-fächerung der Bearbeitung der Krise unter besonderer Berücksichtigung der Scheiternssemantik weicht allmählich wieder einer Erfolgssemantik und der Be-schreibung eines sich normalisierenden Marktgeschehens. Diese Repräsentation der Märkte funktioniert dabei nicht mehr im Modus der Problematisierung, son-dern nimmt den Ton eines nun wieder versöhnlich gestimmten Beobachters an:

„Wer hätte das gedacht nach all den bösen Erfahrungen? Die Wirtschaft kommt wieder in Schwung. Die Industrie erhält Aufträge. Die Exporte ziehen an. Die Optimisten übertreiben es schon wieder. Und das ist auch gut so.“ (Hank, 16. August 2009)

Die Reflexion möglicher, als problematisch angesehenen Verhaltensdispositionen der Marktteilnehmer oder dysfunktionaler Anreizstrukturen weicht einer weitge-hend positiven Darstellung der marktlichen Entwicklung, welche sich gerade in der Diskussion der Renaissance der zuvor kritisierten Vergütungspraktiken aus-drückt. Das Ausmaß der Vergütungen erweist sich nun wieder als Gradmesser und Nachweis der Funktionsfähigkeit der Märkte und ihrer Geltung als Veridik-

315„Eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal“

tionsmechanismus. Der Vorwurf der „Gier“ weicht der faszinierten und boule-vardesken Beschreibung des exotischen Alltags einer wirtschaftlichen Elite. In dieser Hinsicht tritt auch die semantische Ausdifferenzierung von Scheitern und Erfolg wieder in den Hintergrund:

„Bald beginnt für Banker wieder die aufregendste Zeit des Jahres: In einigen Wochen stehen die „letter days“ an […]. Eines zeichnet sich jetzt schon ab: Auf den Fluren dürften danach viele erfreute Gesichter zu sehen sein. Die Gewinne der Unternehmen sprudeln wieder, die Boni auch.“ (Löhr, 2. November 2009)

„Die Bonussaison an der Wall Street wirft ihre Schatten voraus. In Erwartung hoher Sonder-zahlungen beginnen Wertpapierhändler und Investmentbanker bereits vor dem Jahresende viel Geld für extravagante Konsumartikel auszugeben. Die Spanne reicht von Schweizer Armband-uhren für 200000 Dollar über Bilder in zweistelligem Millionenwert bis hin zu Ferienhäu-sern in der Karibik, die 15000 Dollar Miete in der Woche kosten.“ (o. V., 5. Dezember 2009)

4. Diskussion

Wie die dargestellten Befunde anzeigen, findet sich in ‚normalen‘, nicht krisen-getriebenen Zeiten die Dominanz einer Erfolgssemantik, in welcher das ‚Schei-tern‘ einzelner Akteure in eher sporadischer Form zwar als zum Marktgesche-hen zugehörig thematisiert wird, dieses jedoch zugleich konstitutive Moment eines generellen Wachstums- und Fortschrittsnarrativs ist. Dieses Verständnis von Scheitern wird dabei nicht mit einer emphatischen Qualität versehen. Kehrt man zu der Foucaultschen These des Marktes als den „Ort der Veridiktion“ zu-rück, zeigt sich zunächst, dass das Funktionieren des Marktes als Mechanismus der Selektion und Richtinstanz über erfolgte Investments und Geschäftsstrate-gien als gegeben unterstellt wird bzw. das Funktionieren oder Nicht-Funktionie-ren des Marktes selbst nicht thematisiert wird. Vorfindbar ist ein grundsätzliches Vertrauen in die Logik des Marktes, dessen Volatilität zu diesem Zeitpunkt i. S. der ‚efficient market hypothesis‘ (Vogl 2011, S. 21ff.) ein Zeichen seines Funktio-nierens darstellt. Der Markt bietet Chancen, welche der rationale Akteur anhand der Marktsignale zu interpretieren und zu nutzen hat. Der Homo oeconomicus als „der Mensch, der die Wirklichkeit akzeptiert“ (Foucault 2006, S. 370) ist hier als Akteurskonstruktion in Kraft und jene Wirklichkeit ist die eines funktionie-renden Marktes. Akteure aber, welche an dieser Wirklichkeit durch falsche Inter-pretation der Signale, durch Zögern oder Unaufmerksamkeit scheitern, müssen sich dieses Versagen auch selbst zuschreiben lassen. In einer weiteren Hinsicht lässt sich jedoch nur bedingt von einer Beschreibung der Märkte als „ökonomi-schem Tribunal“ im Foucaultschen Sinne sprechen. So erfolgt erstens keine Re-

316 Ronald Hartz

ferenz auf den Staat oder auf Regierungspraktiken. Zweitens wird das Marktge-schehen nicht unter Verwendung einer „Grammatik der Härte“ dargestellt. Das dominante Wachstums- und Fortschrittsnarrativ erweist sich eher als Einladung zum Mitmachen bzw. als Inklusionsanreiz – es locken hohe Gewinnchancen und Boni. Es lässt sich somit postulieren, dass der Diskurs über die Finanzmärkte in ‚normalen‘ Zeiten aufgrund der ‚Anrufung‘ und Einforderung eines rational agie-renden Akteurs (Erfolg gelingt durch das korrekte Lesen der ‚Signale‘) als auch über die Bereitstellung des Reizes der Spekulation (‚Chancen nutzen‘) stabilisie-rend im Sinne einer Akzeptanz des Marktgeschehens wirkt. Der ‚Verlierer‘ auf dem Markt war entweder unfähig die Signale ‚zu lesen‘ oder ist Exemplar eines bedauerlicherweise gescheiterten Willens zum Risiko und zur Tat. Ein Scheitern in diesen beiden Hinsichten zeigt das Funktionieren der Märkte an.

In der diagnostizierten Krise gewinnt die Scheiternssemantik ein erheb-lich stärkeres Gewicht im untersuchten Diskurs. Diese wird in ihrer geschilder-ten Ausfächerung Teil einer Problematisierung bzw. Problembeschreibung des Geschehens. Die Krise erscheint dabei zunächst als das herausragende, zeitlich verdichtete Moment, in welchem die Unterscheidung und die Unterscheidbarkeit von Scheitern und Erfolg ihren sichtbaren Ausdruck findet – die ‚Spreu‘ wird vom ‚Weizen‘ getrennt, das Marktgeschehen wird zum „ökonomischen Tribu-nal“. Fand sich in ‚normalen‘ Zeiten der anhand von Marktinformationen ratio-nal agierende homo oeconomicus als dominante Akteurskonstruktion, so findet sich in der Beschreibung der Krise einerseits ein Heroismus des Scheiterns (‚wer nicht wagt, der nicht gewinnt‘). Die Ökonomie im Allgemeinen und die Finanz-märkte im Besonderen werden zum Schauplatz des Willens zur Überschreitung, zur Schöpfung und zum Erfolg (v)erklärt (vgl. zu diesem ‚Drift ins Imaginäre‘ auch Hessinger in diesem Band). Dieser Wille ist zugleich der Garant für den ge-sellschaftlichen Fortschritt. In dieser Verschränkung einer existenzialistisch an-mutenden Beschreibung der Marktakteure als ‚Einzelnen‘ und der Konsequenzen des Erfolges oder des Scheiterns für ‚Alle‘ (‚die Menschheit wäre arm geblie-ben‘) gewinnt die Krisensemantik eine dramatische Qualität.6 Angerufen wird nun die Figur eines unternehmerischen Handelns, welcher dort einsetzt „wo der Rahmen bloßer Kosten-Nutzen-Kalküle überschritten [wird]“ (Bröckling 2007, S. 111). Die Marktakteure erscheinen in der Krise als jene (nun tragischen) Hel-den der Moderne, zu welchen Schumpeter den Unternehmer stilisierte (ebd., S. 116). Es lässt sich postulieren, dass diese heroische Rahmung des Scheiterns im Kontext der Krise als diskursive Ressource zur Behauptung der Superiorität des

6 Vgl. für derartige Heldenerzählungen in der Boomphase der New Economy auch Hartz und Steger 2010.

317„Eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal“

Marktes und dessen gesellschaftlicher Akzeptanz fungiert. Im Sinne subjekti-vierender Effekte verweist diese Figur auf das populäre Element des Ökonomi-schen. Der Wille zur Überschreitung, das Eingehen hoher Risiken und die perma-nente Gefahr des Scheiterns (und zugleich die Hoffnung auf den großen Erfolg) üben eine ‚eigentümliche Anziehungskraft‘ (Stäheli 2007, S. 17) und einen woh-ligen Schauer (ebd., S. 9) beim interessierten Publikum aus. Es ist das Moment des ‚Thrills‘ und der ‚Spekulation‘, welches seine semantische Aktivierung im Zusammenhang mit einer Semantik des Scheiterns und Erfolges in der Krise er-fährt. So wird dem Akteur in einem individualisierenden Sinn eine herausragen-de Bedeutung für die Gestaltung und Entwicklung des ökonomischen und ge-sellschaftlichen Fortschritts attribuiert. Der ökonomische Diskurs steht dann für das Versprechen, dass es ‚auf den Einzelnen‘ ankommt und dass das Scheitern und die Zerstörung der Preis für das Schöpferische und Überschreitende ist. Es ist dieses liberale Freiheitsversprechen und die Vorstellung, dass vor dem Markt als Richter letztlich alle gleich sind, welches jenseits aller sozialen Schichtung und politischen Beteiligung die Attraktivität des Marktes auszeichnet (Stäheli 2007, S. 17-20). Nur in scheinbar widersprüchlicher Hinsicht wird in einer zwei-ten Lesart das Verhalten der Marktakteure als dumm, blind für Risiken und ge-trieben durch Gier gekennzeichnet. Angerufen und eingefordert wird das nüch-terne Kalkül, welches dem Heroismus notwendig zur Seite stehen muss. Erst die Verschränkung von Findigkeit und Innovation mit Besonnenheit und Umsicht zeichnet das unternehmerische Selbst in Gänze aus (Bröckling 2007, S. 122ff.). Wer diesen Anforderungen nicht genügt, dies zeigt die Krise, muss scheitern. Auch hier fungiert der Markt als „Ort der Veridiktion“. Bezogen auf die Rede von „Blasen“, „Gier“, „Herdenverhalten“ und „euphorischen Eskalationen“ gilt, dass die Krise eine „Reinigungsfunktion“ besitzt, welche ‚Blasen platzen‘ und die Gier und Euphorie dämpfen. Der Markt richtet in letzter Instanz über Über-treibungen und Irrationalitäten.

In einer zweiten Hinsicht wird zugleich die Kontingenz des Marktgesche-hens hervorgehoben. Der Markt erscheint „als unübersichtliche, endlose Abfol-ge sich auftuender und wieder schließender Lücken“ (ebd., S. 107), die Krise ist ein Ausdruck und eine Konsequenz dieser Unübersichtlichkeit. Diese postulierte Undurchschaubarkeit und (damit) Unkontrollierbarkeit erweist sich einerseits als notwendig um den individualisierten, heroischen Marktakteur ins Spiel zu brin-gen (Foucault 2006, S. 382-387). Sie ist andererseits im Sinne einer Aufrechter-haltung der Superioritätsbehauptung des Marktes notwendig, da diese zugleich jede Idee eines ökonomischen Souveräns – etwa des Staates oder der Regierung – verneint und nicht nur die Unmöglichkeit, sondern die Nutzlosigkeit einer Steue-

318 Ronald Hartz

rung des Wirtschaftsgeschehens behauptet (ebd., S. 387). Vor diesem Hintergrund entfaltet sich im Diskurs in der Auseinandersetzung mit staatlichen Aktivitäten ein sichtbarer Widerspruch, welchen man als ‚double bind‘ von ‚Staatsphobie‘ und ‚Interventionismus‘ bezeichnen kann. Die Skepsis gegenüber einem Staat, wel-cher in das Marktgeschehen eingreift, Verzerrungen herbeiführt und den Markt als Ort der Veridiktion, als Mechanismus der Unterscheidung von Scheitern oder Erfolg außer Kraft setzt, steht einer Anrufung des Staates gegenüber, welcher ein-greifen soll, damit der Marktmechanismus (wieder) seine Funktionalität und Se-lektionsfunktion erlangen kann. Dieser Widerspruch wird jedoch im Sinne einer Sequenzialisierung aufgelöst: entweder ist der Marktmechanismus durch eine be-reits vorhandene Verzerrung des Marktgeschehens noch-nicht zur Entfaltung ge-kommen oder er kann nicht-mehr zur Entfaltung kommen, da die Märkte sich in einem Ausnahmezustand befinden. In beiden Fällen rückt der Staat in den Blick-punkt, welchem Versagen in der Vergangenheit oder – bei Nichteingreifen – im Falle der aktuellen Krise unterstellt werden kann. Jedes Marktversagen – ver-standen als Suspendierung der Möglichkeit des Scheiterns – verweist in letzter Instanz auf ein Versagen des Staates, dem Marktmechanismus zur Geltung zu verhelfen. Beide Argumentationslinien behaupten die Superiorität des Marktes, welcher auch in der Krise die Wahrheit über den Staat ausspricht.

Kehrt man zum Ausgangspunkt dieses Beitrages und zur Frage nach den diskursiven Ressourcen der postulierten „Rekonvaleszenz“ der neoliberalen Pro-grammatik zurück, werden zumindest in Umrissen Bedingungen der Akzepta-bilität des Marktmechanismus sichtbar, welche in einem Zusammenhang mit dem geschilderten diskursiven Einsatz der Scheiternssemantik stehen. So domi-niert in ‚normalen‘ Zeiten ein Fortschrittsnarrativ, verbunden mit der Einladung zum ‚Mitmachen‘ und zur Teilhabe an Wachstum und Wohlstand. Dabei gilt es als Marktakteur aufmerksam zu sein, die ‚Signale‘ des Marktes zu lesen und die Lücken und sich auftuenden Chancen zu nutzen. In der Beschreibung der Kri-se wird ein Heroismus aktiviert, dessen Attraktivität sich aus dem Angebot zur Überschreitung und des Thrills der Spekulation und des Scheiterns speist. Zu-gleich wird an die Tugenden des umsichtigen und rationalen unternehmerischen Handelns appelliert. Damit finden sich in ‚normalen‘ und in Krisen-Zeiten at-traktive Identitätsangebote, deren Zusammenhang und deren subjektive Anzie-hungskraft im Verständnis des Marktes als Richter und ‚unsichtbare Hand‘, vor welchem jeder Marktakteur sich bewähren kann und muss, begründet ist. Hier-mit korrespondiert sowohl die im Diskurs sichtbar gewordene ‚Staatsphobie‘, als Angst vor der Zerstörung der geschilderten Anziehungskraft als auch die Ein-forderung von Interventionen, welche gerade den Markt als „Ort der Veridikti-

319„Eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal“

on“ sicherstellen soll. Auch für Foucault macht dieses „Regieren über Freiheit“ die Attraktivität des (Neo-)Liberalismus aus und markiert zugleich die Schwie-rigkeiten eines Denkens in Alternativen.7 Für Ulrich Bröckling erscheint es dann folgerichtig die ‚Fluchtlinien‘ aus dem unternehmerischen Selbst nicht außerhalb der Anrufungen, sondern in den Lücken zu suchen – Ironie, Depression und die ‚glücklichen Arbeitslosen‘ als Modi der Nichtwahl, des Nichtergreifens von Chan-cen etc. und des zeitweiligen Entzuges vom Markt als Ort der Veridiktion. Eine diskursiv orientierte Annäherung an das Phänomen des Scheiterns sollte – zu-mindest bei der Betrachtung der Ökonomie – dann im Blick behalten, inwiefern die Semantik des Scheiterns und des Erfolges nicht selbst Teil eines hegemoni-alen Diskurses ist und den Glauben an die Superiorität des Marktes als gesell-schaftlichen Steuerungsmechanismus und Richtinstanz individuellen Bemühens reproduzieren hilft.

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7 Angesprochen ist damit das von Foucault (2006, S. 133-137) diagnostizierte Fehlen einer „autonome[n] Gouvernementalität des Sozialismus“ (ebd., S. 135). Was diesem fehle, sei eine ‚intrinsische Regierungsrationalität‘. Im Sinne dieses Beitrages lässt sich postulieren, dass der Markt und die damit assoziierten und angerufenen Subjekte jene intrinsische Qualität des Liberalismus als Form gesellschaftlicher Rationalität bereitstellen.

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