‚Hauptstädte– Ein globales Phänomen einer (national-) staatlichen Idee - Washington, D.C. –...
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Universität Potsdam Historisches Institut Wintersemester 2014/15 Juniorprofessur Europäische Aufklärung Masterarbeit
Hauptstädte– Ein globales Phänomen einer (national-) staatlichen Idee
Washington, D.C. – Von der Planstadt der Frühen Neuzeit zum globalen Vorbild
Abschlussarbeit im Rahmen des Masterstudienganges Kulturelle Begegnunsgräume der Frühen Neuzeit
vorgelegt von Tobias Luksch; Matrikelnummer.: 738583 E-Mail: [email protected] Themensteller / Erstgutachter: Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D’Aprile Zweitgutachter: Prof. Dr. Ralf Pröve Berlin, im April 2015
Gliederung 1. Einleitung 1
2. Die Hauptstadt in ihrer historischen Entwicklung 10 2.1 Was ist eine Hauptstadt? 10
2.2 Die historische Entwicklung der Hauptstadt 14 2.2.1 Das ‚europäische’ Mittelalter 14
2.2.2 Die Hauptstadt in der Frühen Neuzeit 18
2.3. Eine Hauptstadttheorie (Die Hauptstadt in der ‚Moderne’) 22
3. Die politische Architektur 26 3.1. Die architektonische Semiotik nach Umberto Eco 26
3.2 Politische Architektur 31
4. Washington, D.C. 37 4.1. Der Plan für eine neue Hauptstadt 37
4.1.1. Die rechtlichen und legislativen Grundlagen 37
4.1.2. Die Bauplanung 43
4.2. Die Architektur Washington, D.Cs. am Beispiel -
The President’s House und The Capitol 48
4.3. Die Hauptstadtfrage 53
5. Fazit und Ausblick 58
6. Bibliographie 66
7. Anhang 73
1
1. Einleitung
"Wir könnten ihnen das bieten, was ihnen seit 50 Jahren verweigert wird:
Trinkwasser, Gesundheitsversorgung, saubere Luft und viel mehr."1
Es ließe sich aber auch eine neue Hauptstadt bauen. So plant es
zumindest der ägyptische Präsident Abdel-Fattah el-Sisi und versucht mit
Geldgebern aus den finanzstarken Golfstaaten ein nicht unübliches
Machtsymbol in das Niemandsland zu errichten. Dieses gigantische
Projekt, welches in lediglich sieben Jahren realisiert werden soll2, ist der
jüngste Planungsentwurf eines globalen Phänomens, welches seinen
Ursprung im Rahmen der Staatsplanung in den noch jungen Vereinigten
Staaten von Amerika mit der Gründung Washingtons, D.C. im
auslaufenden 18. Jahrhundert fand. Bei aller Aktualität der ägyptischen
Planungen lohnt sich ein Blick zurück in die frühe Geschichte der
Vereinigten Staaten von Amerika.
Kaum eine Nation versteht es auf vergleichbare Weise global, durch eine
kooperierende Interpretation von Selbstinszenierung und wirtschaftlich-
militärischer Macht ihre Deutungshoheit zu zelebrieren, wie die
Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Supermacht des 20. Jahrhunderts blickt auf eine verworrene
Gründungsgeschichte zurück sowie ein Wechselspiel von früher
Demokratiegeschichte und zahlreichen Rückfällen in eine schon
überwunden geglaubte Zeit.3
1 Die Reaktion des ägyptischen Wissenschaftler Khaled Fahmy zur geplanten neuen, noch namenslosen, Hauptstadt Ägyptens, zitiert nach: Christoph SYDOW, Ägyptens neue Hauptstadt: Sisis Luftschlösser, unter: Spiegel Online, < http://www.spiegel.de/politik/ausland/aegypten-sisis-plaene-fuer-eine-neue-hauptstadt-sind-riskant-a-1023870.html >, (19.3.2015). 2 Vgl. Paul-Anton KRÜGER, Ägyptens neue Hauptstadt - Flucht aus Kairo, unter: sueddeutsche.de, < http://www.sueddeutsche.de/politik/aegyptens-neue-hauptstadt-flucht-aus-kairo-1.2394108 >, (19.3.2015). 3 Da in der vorliegenden Arbeit nicht genügend Raum zur Verfügung stehen wird für eine ausführliche und allumschließende Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika zu porträtieren und dies bei Bedarf auch in zahlreichen Publikationen auf verschiedenerlei Weise schon geschehen ist, unter Unzähligen z.B. als Einstiegsheft: Manfred BERG, Geschichte der USA, München,
2
Dieser Staat oder besser Staatenbund soll im Folgenden in den Fokus
dieser Arbeit rücken. Es wird darüber zu urteilen sein, weshalb
ausgerechnet mein eigener eurozentrischer Blick den Kontinent wechselt
und inwiefern sich dies auf die zu entwickelnden Beobachtungen auswirkt.
Der eigentliche Schwerpunkt für die folgende Arbeit soll jedoch auf einem
globalen Phänomen - der Hauptstadt - liegen und damit auch gleich meine
erste These einleiten: Die Hauptstadt ist ein globales Phänomen
nationaler Ausprägung und wird in einem internationalen Diskurs
erschlossen.
Die Faszination für die Hauptstadt ist eine sehr aktuelle
Auseinandersetzung und mein Zugang hierzu ist in dem Diskurs innerhalb
der Europäischen Union begründet.4 Brüssel ist der Kristallisationspunkt
der Europäischen Union, offiziell und verfassungsmäßig aber nicht seine
Hauptstadt. 5 Das Vorhaben, Brüssel langfristig zur europäischen
Hauptstadt aufzubauen, ist von vielen Widerständen begleitet , besonders
wenn man die jahrzehntelangen, bürokratischen Kontroversen mit
Straßburg oder bedeutend kürzer mit Luxemburg (Stadt), um den Sitz des
Europäischen Parlaments, mitbedenkt. 6 Jeder Staat und insbesondere
jede Nation hat zum derzeitigen Augenblick eine Hauptstadt, wenn auch
Japan und die Schweiz diesem globalen Phänomen entgehen wollen,
indem sie bislang keine offizielle Deutung zugelassen haben, dass Tokio,
(Oldenbourg Grundriss der Geschichte. - München!: Oldenbourg, 1980-, Bd. 42), 2013.; So gibt es auch die (noch nicht abgeschlossenen) Lebenswerke, z.B.: Hermann WELLENREUTHER und ETC., Niedergang und Aufstieg Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts, Berlin u.a., Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart., 2000.; auf dem anglo-amerikanischen Markt findet man aber auch sich der Ereignisgeschichte entgegenstellende Werke, vor allem: Howard ZINN, A people’s history of the United States: 1492 - present, New York, 2003.) Auf Grund dieser Fülle an Material sei an dieser Stelle lediglich mit einer sybillinischen Phrase mein grundlegendes Deutungsmuster eines schwer zu überblickenden Zeitraumes schraffiert. 4 Vgl.: Daniel HABIT, Die Inszenierung Europas?!: Kulturhauptstädte zwischen EU-Europäisierung, Cultural Governance und lokalen Eigenlogiken / Daniel Habit, Münster, 2011., S. 262-268. 5 Verfassungsgemäß natürlich nur in dem Sinne, dass der ‚Vertrag von Lissabon’ (2007) äquivalent gedacht wird. 6 Vgl. Daniel HABIT, Die Inszenierung Europas?, Münster, 2011, S.263f.
3
bzw. Bern ihre jeweiligen Hauptstädte sind.7 Dadurch bilden sie ein gutes
Beispiel für die derzeitige Beschaffenheit der europäischen Union,
zumindest in der Frage einer verfassungsmäßigen Hauptstadt.
Ein noch besseres Beispiel offenbart sich jedoch am
Untersuchungsgegenstand dieser Ausarbeitung, der US-amerikanischen
Hauptstadt Washington, D.C. Wie bereits angedeutet, ist eine Hauptstadt
im Regelfall an einen (National-)Staat gebunden.8 Je nach Lesart ist aber
die Herausbildung des Staatssystems der Vereinigten Staaten von
Amerika im 18. Jahrhundert mit dem Bündnissystem der Europäischen
Union vergleichbar.9
In den letzten Jahren erschien eine ganze Reihe an Publikationen, die
sich an global-komparativen Stadtstudien versuchten. 10 Diese
thematisieren hingegen hauptsächlich die soziologischen Eigenheiten
einer Stadt, wie z.B. das Finanzzentrum oder die kulturellen Institutionen.
Durch die Konzentration auf diese Themen wird eine Stadt wie Frankfurt
am Main zu einer global city aufgebaut, basierend auf dem Finanzzentrum
und seinem Flughafen, trotz ihrer städtisch geringen Bedeutung im
Vergleich zu den Megacities11 dieser Welt.
Diese Studien haben aber wenig Einfluss auf das folgende Gedankenspiel
einer Hauptstadtanalyse, sondern sind vielmehr in Abgrenzung zu
verstehen.
7 Sehr übersichtlich wird die Geschichte der Bundesstadt Bern schraffiert, in: ANDRÉ HOLENSTEIN, Das Bundehaus als Nationaldenkmal der Bundesstadt Bern, Bern, Im Herzen der Macht?: Hauptstädte und ihre Funktion!: Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Frühjahrssemester 2012, Bern 2013. 8 Vgl.: Jens KIRSCH, Hauptstadt: zum Wesen und Wandel eines nationalen Symbols, Münster, (Geographie. - Wien!: LIT-Verl., 1989-, Bd. 18), 2005. 9 Vgl. Martin GROßE-HÜTTMANN, Bundesrepublik Deutschland - Der unitarische Republikanismus wird vielfältiger, in: Regional Governance in EU-Staaten, hrsg. von Jürgen DIERINGER/Roland STURM, Leverkusen und Berlin, 2010. 10 Besonders: Saskia SASSEN (Hrsg.), Global networks, linked cities, New York, NY [u.a.], 2002. 11 Einen Erklärungsansatz für den Begriff der Megacities liefert: Vgl. Jiawen YANG, Spatial Planning in Asia: Planning and Developing Megacities and Megaregions, in: Megaregions: Planning for Global Competitiveness, hrsg. von Catherine ROSS, Washington D.C., 2012.
4
Eine Hauptstadt für einen Staat herauszubilden, scheint ein
gemeinsames, globales Motiv zu sein. Dies macht es zwar noch nicht zu
einem globalen Phänomen, aber für den wissenschaftlichen Zweck erlaubt
es die Integration komparativen Erwägens in eine globale Perspektive
einer nationalen Eigenheit. Die Regeln und Ursachen einer Hauptstadt gilt
es in den Folgekapiteln zu markieren.
Zunächst möchte ich auf meinen zugrunde liegenden theoretischen
Rahmen zu sprechen kommen. Für diese Ausarbeitung habe ich mich
entschieden, einige Thesen des soziologischen ‚Evergreens’ aus den
1960er Jahren: ‚Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit’ von
Peter L. Berger und Thomas Luckmann 12 , aufzugreifen und auf die
Stadtgeschichts- und Hauptstadtforschung anzuwenden.
Die in diesem Werk und unzähligen folgenden Auflagen aufbereiteten,
theoretischen Grundlagen bieten mir einen Zugang zu
erkenntnistheoretischen und allgemeinen wissenssoziologischen Fragen,
welcher in anderer Weise nur schwerlich möglich wäre. Um die aktuellen
Entwicklungen nicht aus den Augen zu verlieren, möchte ich diese Theorie
auch immer in ihrer Ergänzung in einem Gesprächsband mit einem der
beiden Autoren, Thomas Luckmann, aus dem Jahr 2003 13 im Blick
behalten.
Um die Thematik rund um Hauptstädte an dieser Stelle aufzugreifen,
versuche ich zunächst Allgemeinplätze mit der einleitenden Theorie zu
verknüpfen - ein Vorhaben, welches ich in aller Ausführlichkeit in den
Folgekapiteln ergänzen werde.
Zunächst möchte ich ganz plakativ die Hauptstadt als ‚Wirklichkeit’
definieren. Es ist an dieser Stelle unumstößlich, dass es Hauptstädte gibt.
Man findet sie in topographischen Sammelwerken, bei den
Länderbeschreibungen im Internet, als Werbezusatz einer
12 Peter Ludwig BERGER und Thomas LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M, (Conditio humana), 1969. 13 H. WALTER SCHMITZ und TATJANA PAWLOWSKI (Hgg.), 30 Jahre „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“!: Gespräch mit Thomas Luckmann, Aachen, 2003.
5
Touristeninformation, als Beschreibungshilfe bei der Analyse von
Machtstrukturen 14 und natürlich in der Selbstauskunft der jeweiligen
Länder über ihr Herrschaftsgefüge. Wenn wir diesen Topos, diese große
Bandbreite an verschiedenen Realitäten und Wissenskonfigurationen nun
als Wirklichkeit bezeichnen, so ist sie „gesellschaftlich konstruiert“. 15
Dieses ‚Wissen’ wird nach Berger und Luckmann folgend definiert: „[...] als
die Gewißheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare
Eigenschaften haben.“16 Welches Wissen wir über Hauptstädte haben, ist
äußerst diffizil, aber Gegenstand des folgenden Kapitels.
Für die anschließenden Thesen ist die Erkenntnis: „daß offenbar
spezifische Konglomerate von ‚Wirklichkeit’ und ‚Wissen’ zu spezifischen
gesellschaftlichen Gebilden gehören“17, von besonderer Bedeutung. Die
Hauptstadt als gesellschaftliches Gebilde ist ein solches Konglomerat von
‚Wirklichkeit’ und ‚Wissen’.
Ausgehend von diesen angenommenen Erkenntnissen der letzten
wenigen Zeilen, ergibt sich folglich ein Fahrplan für die Bearbeitung der
Thematik, welchen ich mit einem Katalog an Fragen ergänzen möchte:
1. Welche Faktoren und Bedingungen kristallisieren sich in einer
Hauptstadt heraus?
2. Welche Hauptstadttypen zeichnen sich global ab?
3. Gibt es eine architektonische Dimension hinter einer Hauptstadt, die
unabhängig von stilistischen Elementen durch die Zeit Bestand hat/te?
Wie kann man diese beschreiben?
14 Hier sei ganz plakativ an die jüngste Debatte rund um die Bedeutung des Kalifats des sogenannten IS im Gebiet der international legitimierten Staaten Syrien und Irak erinnert. Der IS proklamiert seine eigene Hauptstadt Ar-Raqqa (türkisch: Rakka), während die hierzulande berichteten Medien diese vornehmlich noch als Hauptstadt in Anführungszeichen listen. Diese Problematik soll uns aber erst im Kapitel rund um die Definition einer Hauptstadt ausführlicher beschäftigen. 15 Siehe Peter Ludwig BERGER und Thomas LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M, (Conditio humana), 1969, S.1. 16 Siehe Ebd. 17 Siehe Ebd.,S.3.
6
4. Hat sich eine prototypische Hauptstadt etabliert, welche spätere
Hauptstadtgründungen oder –erweiterungen beeinflusst hat?
5. Welche Ursprünge hat die Hauptstadtplanung von Washington, D.C.?
Welchen Charakter gibt diese Planung dem jungen, demokratischen
Staatenbund an der Wende ins 19. Jahrhundert?
6. Welche Besonderheiten zeichnen sich bei der Hauptstadtplanung in
Washington, D.C., speziell im Vergleich zu den des 17. Jahrhunderts ab?
Es ist nicht möglich, all diese Forschungsfragen im folgenden Vorhaben in
ihrer Gänze zu beantworten. Trotz allem sollen sie meinen Standpunkt
aufzeigen und ebenfalls die Möglichkeiten eines solchen
Forschungsvorhabens in dem größeren Zusammenhang einer Promotion
skizzieren. In den folgenden Thesen versuche ich diese Fragen auf die
Möglichkeiten dieser Analyse hin zuzuspitzen und einzukreisen:
1. Die Hauptstadt ist ein globales Phänomen unterschiedlicher, (national-)
staatlicher Ausprägung.
2. Eine Hauptstadt wird in erster Linie durch ihre innere Struktur geformt,
aber durch ihre internationale Wirkung schließlich global wahrgenommen.
3. Der architektonische Aufbau einer Stadt geschieht regelmäßig nach
internationalen Mustern. Architektonisch ist die Hauptstadt eines Staates
mit internationalen Beziehungen kein national ausgestaltetes
Erkennungszeichen mehr.
4. Washington, D.C., folgt trotz der neuerlichen demokratischen Ordnung
dem architektonischen Weg einer Stadt mit markanter absolutistischer
Herkunft: Die Stadt Versailles.
Um nun ein umfassenderes Bild über die folgenden Kapitel zu zeichnen,
möchte ich an dieser Stelle die wichtigsten Inhalte vorstellen.
Das nächste Kapitel geht der Frage nach, wie eine Hauptstadt zu
definieren ist. Hierbei wird ein historischer Abriss von großer Bedeutung
sein. Die Möglichkeit, eine allgemeingültige Definition der ‚Hauptstadt’ zu
7
erschließen, ist schwierig, bis hin zu unmöglich 18 . Je nach
Forschungsschwerpunkt und zeitlich-historischer Perspektive lassen sich
unzählige Differenzen aufstellen. Steht in der Erforschung des
europäischen Mittelalters die Trennung zwischen Hauptort und Hauptstadt
im Vordergrund19, verändert sich dies in der Frühneuzeitforschung zur
Frage von Residenzstadt und Hauptstadt20. Spätestens durch die Vorliebe
der absolutistischen Herrscher ab dem 17. Jahrhundert, sich aus dem
urbanen Raum abzusetzen, entsteht eine ganz neue Dynamik. Die
Hauptstadt im 19. Jahrhundert wiederum steht ganz im Zeichen der
nationalen Bedeutungsaufladung. In einem Exkurs möchte ich ein Modell
vorstellen, welches die Hauptstädte global in drei Kategorien einteilt. Zum
einen die Planhauptstädte, wie die Beispielstadt dieser Arbeit,
Washington, D.C. Zum zweiten Städte, die auf eine solch lange
Hauptstadtgeschichte zurückblicken können, dass sie schon Hauptstadt
waren, vor dem Prozess der (National-)Staatsbildung im 18. und 19.
Jahrhundert, wie London, Paris oder Peking. Zuletzt gibt es noch eine
Kategorie an Hauptstädten, die schon entwickelte Städte waren, bevor
ihnen der Status der Hauptstadt im Rahmen der (National-)Staatsbildung
verliehen wurde, wie Berlin, Ankara oder Manila.
Das dritte Kapitel lässt die Architektur als Regulativ in diese Ausarbeitung
mit einfließen. Es wird der Frage nachzugehen sein, inwiefern
Hauptstadtarchitektur global vergleichbar sein kann, werden doch auf
Grund der anzunehmenden Unterschiede in der Baukultur verschiedene
stilistische Ausformungen anzufinden sein. Von weiterem Interesse ist die
Aussagekraft der Gestaltung des öffentlichen Raums. In meinem
Verständnis ist die politische Architektur ein Kondensat des öffentlichen
18 Dieser Schwierigkeit möchte ich jedoch mit einem eigenen Definitionsansatz begegnen. 19 Ein ganzes Kapitel zu dieser Thematik widmet: Vgl. Evamaria ENGEL und Forschungsschwerpunkt "Geschichte und Kultur OSTMITTELEUROPAS.", Metropolen im Wandel: Zentralität in Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Berlin, 1995, S.11–32. 20 Eine vorzügliche Unterscheidung der beiden Stadttypen trifft: Vgl. Mirko NOVÁK, Herrschaftsform und Stadtbaukunst: Programmatik im mesopotamischen Residenzstadtbau von Agade bis Surra man raʼā, Wiesbaden, 1999, S.58f.
8
Diskurses um eine Repräsentation der Macht. Es wird an dieser Stelle
ebenfalls herauszufinden sein, inwiefern ein öffentlicher Diskurs begründet
bzw. geleitet werden kann, durch eine Ausgestaltung eines Bauwerkes.
Welchen Einfluss hat die Architektur auf die Öffentlichkeit? Im gleichen
Maße ist auch der Frage nachgehen, inwieweit die Politik Architektur
plant. Dies alles geschieht jedoch nicht im einem kunsthistorischen Abriss,
sondern Architektur soll stets funktional verstanden werden. Am Beispiel
des Neubaus des Berliner Stadtschlosses lassen sich diese Ansätze sehr
gut konkretisieren. Es ist an dieser Stelle von keinem Interesse, ob der
Architekturstil dieses Betonschlosses der Neorenaissance mit Einflüssen
von neogotischen Spielereien, mit Barockverzierungen und einem Hauch
von Rokoko nacheifert, sondern es steht lediglich die Frage im Raum,
weshalb die öffentliche Hand Gelder bereitstellt ein Monument des
königlichen Preußentums mit dem Anstrich von Originaltreue
wiederauferstehen zu lassen und nicht wie zum Beispiel bei der
Neuschöpfung des Berliner Reichstages Elemente einer ‚demokratischen’
Architekturform (begehbare Glaskuppel) implementiert werden. Welcher
Zeitgeist wird mit dieser Form der Architektur zum Ausdruck gebracht?
Welche Form von Macht wird repräsentiert? Diese Analyse der Funktion
von Architektur soll im Vordergrund stehen.
Im vierten Kapitel wird schließlich das Beispiel Washington, D.C. auf die
angesprochenen theoretischen Grundlagen hin analysiert. Zunächst soll
die Gründungsgeschichte dieser Stadt am Potomac River im Vordergrund
stehen. Hierbei gilt es an Hand von Kongressbeschlüssen,
Korrespondenzen, den gestalterischen und räumlichen Planungen des
Architekten Pierre Charles L’Enfant und den ersten Umsetzungen bis
1830 ein Panorama zu entwickeln, das die frühe Stadtgeschichte auf
mehreren Ebenen plastisch verbildlicht.
Im zweiten Teil dieses Kapitel gilt es dann die gewonnenen Erkenntnisse
zu verwenden, um der Frage nachzugehen, was Washington, D.C. zu
einer Hauptstadt macht. Diese Stadt wurde eigens zu dem Zweck
gegründet, diese Funktionen wahrzunehmen - aber welche Charakteristika
9
aus architektonischer und stadtplanerischer Sicht erzeugen schließlich
das Bild einer Hauptstadt?
Abschließend soll in einem Ausgangskapitel nicht nur das Fazit entwickelt
werden, sondern auch ein Ausblick auf die Möglichkeiten der
Hauptstadtforschung gegeben werden. Hierzu möchte ich Washington,
D.C. als Vorreiter in einer postkolonialen Entwicklung der
Hauptstadtgründungen einordnen. Die Referenzen an die US-
Amerikanische Kapitale, die spätere Planhauptstädte wie Ottawa,
Canberra, Islamabad oder Abuja in ihrer Gründungsgeschichte
beeinflussten, sollen aufgezeigt werden. Des Weiteren möchte ich in
einem Ausblick noch einmal vertiefend auf das Modell der drei
Hauptstadttypen eingehen, um die Erkenntnisse dieser Arbeit
einzuordnen.
10
2. Die Hauptstadt in ihrer historischen Entwicklung 2.1 Was ist eine Hauptstadt?
Eine Definition für das Phänomen Hauptstadt zu subsumieren ist kein
einfaches Unterfangen. Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass
sich keine eingängige und allgemein gültige Erklärung für die ‚Hauptstadt’
beschreiben lässt21.
Um ein Beispiel aufzuzeigen, wie die Definition einer ‚Hauptstadt’
aussehen kann, möchte ich mich einer bedeutenden komparatistischen,
globalen Untersuchung zu föderalen Hauptstädten bedienen22:
„As in most countries, federal capitals host the legislative, executive, judicial branches of the national government and are usually home to many national
institutions, such as national museums, the national library, art centers, and the national bank. Capital cities also host foreign embassies. Capital cities promote
national pride through ceremonies and commemorations, but they also experience more public-protest activity than other cities. Capital cities symbolize the actions of the national government and are often associated with the national
government policies, [...]. At the same time that capital cities take on special political, administrative and symbolic roles, they are also places where people live, use local services, and
engage in local political activity [...].23“
21 Es gibt aber durchaus Rechtstexte, jene Form eines textuellen Kompromisses, welche durchaus als Definition angesehen werden können. Das Grundgesetz in der Bundesrepublik Deutschland z.B. beschränkt sich in Artikel 22 I GG auf die kurze aber nicht unbedeutende Feststellung, dass „ [die] Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt [...] Aufgabe des Bundes [ist]“. Kraft Gesetzes ist somit die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland -Berlin- vorrangig für die Repräsentation des Gesamtstaates vorgesehen. Das Grundgesetz gibt keine weiteren Anforderungen vor. 22 Naomi E. SLACK und Rupak CHATTOPADHYAY (Hgg.), Finance and governance of capital cities in federal systems, Montreal [u.a.], (Thematic issues in federalism. - Montreal [u.a.]!: McGill-Queen’s Univ. Press, 2009-, Bd. 1), 2009. 23 Siehe Ebd., p. 3f. –„Wie in den meisten Ländern, beherbergen föderale Hauptstädte die legislativen, exekutiven und judikativen Einrichtungen der nationalen Regierung und beheimaten zumeist viele der nationalen Institutionen, wie die Nationalmuseen, die Nationalbibliothek, Kunstzentren und der Nationalbank. Hauptstädte beherbergen ebenso die Botschaften anderer Länder. Hauptstädte verbreitern Nationalstolz durch Zeremonien und Gedenkfeiern, sie erfahren aber auch eine größere Auswirkung an öffentlichen Protest als andere Städte. Hauptstädte symbolisieren die Handlungen der nationalen Regierung und werden oft mit der Politik der nationalen Regierung assoziiert, [...]. Im selben Moment, wie die Hauptstädte Träger verschiedener politischer, administrativer und symbolischer Rollen sind, fungieren sie auch als Ort in dem Menschen
11
Wenn wir nun die einzelnen Bestandteile der Hauptstadtdefinition von
Naomi Enid Slack und Rupak Chattopadhyay genauer betrachten, fallen
sogleich die sehr gegenwartsgerichteten Komponenten auf. Dies hängt in
erster Linie mit der Definition von Hauptstädten in einem staatlich-
politischen Kontext zusammen - dem föderal organisierten Nationalstaat -
welcher historisch gesehen ein sehr junges Phänomen ist. Hinzu kommt
die Uneinigkeit beim Begriffspaar des Föderalismus’ nach europäischem
Beispiel und dem federalism nach amerikanischer Prägung. Die
amerikanische Variante des federalism fordert einen starken
zentralorganisierten Nationalstaat, während die europäische Variante eher
von einem gewaltenteilenden System ausgeht.24
Die Hauptstadt wird von den beiden Autoren als Ort der Gewaltenteilung
angesehen. Dies lässt sich nicht auf alle Hauptstädte übertragen, nicht
einmal auf den speziellen Typus der Hauptstadt eines föderalen Staates.
Im deutschen System sitzt die Judikative in Karlsruhe, Teile der
Legislative noch in der alten Hauptstadt Bonn. Ganz ähnlich verhält es
sich in der Tschechischen Republik, wo die Judikative in Brno sitzt. Ein
anderes Beispiel aus der Europäischen Union, Estland, stellt einen
ähnlichen Fall dar, hier sitzt der Oberste Gerichtshof in Tartu. Besonders
deutlich wird dies aber in den Niederlanden. Amsterdam ist die offizielle
Hauptstadt, obwohl fast die gesamte Regierung (samt dem Königshof) in
Den Haag ansässig ist. Dieser kleine Exkurs zeigt nachdrücklich, dass
dies kein Punkt einer allgemeingültigen Definition sein kann.
Abseits der Regierungsinstitutionen sollen sich noch kulturelle und
wirtschaftliche Repräsentationen eines Staates in der Hauptstadt
wiederfinden.
leben, lokale Angebote nutzen und sich in der örtlichen Politik engagieren[...]“ (Übersetzung T.L.) 24 Vgl. HERTEL, WOLFRAM, Formen des Föderalismus. Die Beispiele der USA, Deutschlands und Europas, in: Europäischer Föderalismus: supranationaler, subnationaler und multiethnischer Föderalismus in Europa, hrsg. von Wolfgang VITZTHUM, Berlin (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht!: TSSV. - Berlin!: Duncker & Humblot, 1989-, Bd. 57), 2000, S.13ff.
12
Für die genannten Beispiele von Museen, Kunstzentren, Nationalbanken
und Nationalbibliotheken ließen sich mühelos eine Reihe von Ausnahmen
finden. Hier erweist sich abermals das deutsche Beispiel als prägnant: Die
Bundesbank sitzt in Frankfurt am Main und das Deutsche Museum in
München und Bonn. Jedoch spiegelt dies lediglich die historische
Entwicklung, der Kleinstaaterei des Heiligen Römischen Reiches und des
Deutschen Bundes wider. In dieser Zeit entwickelte sich kein
hauptstädtisches Zentrum für den Gesamtraum auf dem jetzigen
Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, die Hauptstadt dieser Zeit
(und selbst dies nicht eindeutig25) ist nun die Hauptstadt eines anderen
Staates, Wien in Österreich. Für die Großzahl der anderen Staaten
jedoch, lassen sich zumindest für die Gegenwart gesprochen diese
kulturellen und finanziellen Zentren in den jeweiligen Hauptstädten
wiederfinden. Dies jedoch nur, wenn die Hauptstadt zeitgleich die
Metropole eines Landes ist. So sind folglich keine der Planhauptstädte
dieser Welt kulturelles, noch wirtschaftliches Zentrum. Weder Washington,
D.C., noch Brasilia, nicht Abuja oder Islamabad sind im nationalen
Zusammenhang von großer Bedeutung in dieser Kategorie. Lediglich sind
verschiedene Institutionen, als schwache Ausweise der kulturellen
Bedeutung, in diesen Städten ansässig. Die wirtschaftliche und kulturelle
Bedeutung einer Hauptstadt hängt somit vor allem mit ihrer möglichen
Ausprägung als Metropole zusammen.
Im Folgenden verweisen die Autoren auf die Hauptstadt als Sitz der
ausländischen Botschaften. In seltenen Fällen, wie in Israel, sind auf
Grund der internationalen Nichtanerkennung der Hauptstadt Jerusalem,
als auch der prekären Sicherheitslage, die Botschaften in Tel Aviv
angesiedelt26. Grundsätzlich ist das Botschaftssystem, abgesehen von
25 In den Augen von: Vgl. Volker KRONENBERG, Patriotismus in Deutschland: Perspektiven für eine weltoffene Nation, Springer-Verlag, 2012, S.65ff, ist Wien niemals Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches gewesen. 26 Die langwierige Auseinandersetzung lässt sich gut an der amerikanischen Verfahrensweise über seine Botschaft in Israel nachvollziehen. Trotz einer bestehender Anordnung des Kongress verweigerten seit 1995 alle Präsidenten die Unterzeichnung der Anordnung und damit den Umzug der Botschaft von Tel
13
den sehr wenigen Ausnahmen, wichtiger Bestandteil einer Hauptstadt. Die
Internationalität in diesem Kontext ist somit global vergleichbar.
Ein weiterer Punkt, ebenfalls eine kulturhistorische Erscheinung, sind die
nationalen Gedenkfeiern und Zeremonien. Abseits von Gedenkfeiern an
den Orten ihres Geschehens, sind die Zeremonien der Macht und des
Gedenkens in dem Machtzentrum verankert. Um das Beispiel der
Niederlande mit ihrer seltenen Trennung von Hauptstadt und Metropole
und einem Regierungsort noch einmal zu bemühen: Die wichtigen
nationalen Zeremonien und die Gedenkfeiern, das historische
Vergewissern der Nationalität, finden in Amsterdam, der Hauptstadt, nicht
in den Den Haag, dem Regierungssitz statt.
Zusammenfassend lassen sich aus der vorangehenden Definition lediglich
zwei Kategorien für eine Hauptstadtdefinition der Gegenwart folgern:
1. Jede Hauptstadt ist international durch die Vertretungen anderer
Länder in Form von Botschaften.
2. Jede Hauptstadt ist ein (national-) staatliches Symbol.
Für die weitere Ausarbeitung ist es aber von Nöten, einen genaueren Blick
auf eine ganz spezielle Hauptstadt zu werfen, Washington, D.C. Um die
oben genannte Definition einer Hauptstadt zu erweitern und gleichzeitig
auch für die Beispielstadt zu historisieren, müssen mehrere Faktoren
bedacht werden:
Welche Zeit wird historisch verhandelt?
Welche politischen Rahmenbedingungen herrsch(t)en und welches
Staatssystem beruft sich auf die jeweilige Hauptstadt?
Welche internationalen Verflechtungen werden in der Hauptstadt
offenbar? Aviv nach Jerusalem zurück, Vgl. Text of S. 1322 (104th): Jerusalem Embassy Act of 1995 (Referred to House Committee version), unter: GovTrack.us, < https://www.govtrack.us/congress/bills/104/s1322/text >, (1.4.2015).
14
Welche (national-)staatliche Bedeutung besitzt die Hauptstadt?
Diese Fragen gilt es näher im vierten Kapitel dieser Arbeit zu verhandeln,
um die Geschichte der Hauptstadt Washington, D.C. näher zu bestimmen
und auch in die Metadiskussion um die Hauptstadt einzuordnen.
2.2 Die historische Entwicklung der Hauptstadt 2.2.1 Das ‚europäische’ Mittelalter
Beginnen möchte ich an dieser Stelle mit der Feststellung, dass der
Begriff „Hauptstadt“ im ‚Mittelalter’ eine andere Bedeutung hatte, als
diejenige, die wir in der Gegenwart (und dann auch nur in entsprechenden
sprachlichen Zusammenhängen) darunter verstehen27.
Um sich dieser großen Thematik, die an dieser Stelle nur in kleinen
Ansätzen besprochen werden kann, anzunähern, möchte ich einerseits
dem bekannten französischen Mediävisten Jacques Le Goff und
andererseits seinem deutschen Pendant im Bereich der
spätmittelalterlichen Städtewissenschaft, Hartmut Boockmann, folgen.
Während Le Goff europäisch arbeitet, immerhin möchte er ja die Geburt
Europas als zusammenhängendes Gebilde schon im Mittelalter erkennen,
beschränkt sich Boockmann auf die ‚deutschen’ Hauptstädte, was im
Mittelalter auf Grund der fehlenden Nationalstaatlichkeit ein
begriffstheoretisch wenig gelungener Ansatz ist28.
Jacques Le Goff verhandelt das Themengebiet der mittelalterlichen
Hauptstädte recht kurz und kommt schon nach wenigen Zeilen zu der
Annahme, dass „es im mittelalterlichen Europa keine Hauptstädte“29 gab.
27 Vgl. JACQUES LE GOFF, Die Geburt Europas im Mittelalter. L’ Europe est-elle née au Moyen Age? <dt.>, München, 2004, S.143. 28 Hartmut BOOCKMANN, Mittelalterliche deutsche Hauptstädte, in: Hauptstadt -Perspektiven eines deutschen Themas, hrsg. von Hans-Michael KÖRNER/Katharina WEIGAND, München, 1995. 29 Siehe JACQUES LE GOFF, Die Geburt Europas im Mittelalter. L’ Europe est-elle née au Moyen Age?, München, 2004, S.144.
15
Als wenige Ausnahmen führt er die christliche Hauptstadt Rom, die caput
mundi, auf. Paris war nur Hauptstadt im Duett mit Saint-Denis und auch
London war nicht Hauptstadt sondern lediglich die City of Westminster30.
Diese Feststellungen Le Goffs lassen uns nun mit lediglich drei
Hauptstädten im gesamten europäischen Raum zurück. Verglichen mit der
Anzahl an Staaten wäre es demnach ein sehr kleines Phänomen, das
scheinbar nur für die auch heute noch vorherrschenden Metropolen
Europas gegolten hat. Als einzige Definition der Hauptstadt lässt Le Goff
Städte gelten, „die zum Sitz einer übergeordneten politischen Gewalt
auserkoren waren“31.
Diesen Punkt des Herrschaftssitzes habe ich im obigen Abschnitt schon
als taugliches Element für eine Hauptstadt disqualifiziert. Lediglich das
politische Machtzentrum zu repräsentieren, kann nicht Ausweis für eine
Hauptstadt sein. Gerade für das Mittelalter, mit dem immer wieder
beschworenen „Abendländischen Schisma“, jener Zeit der Spaltung der
lateinischen Kirche, die das Papsttum schwächte und Rom als Zentrum
der Kirche einen Stoß versetzte, ist die Stellung der italienischen Stadt als
Hauptstadt der Christenheit in Frage zu stellen32. Auch das französische
Königtum gibt mit seinen häufigen Wechseln der Hauptstädte zwischen
Paris (und Saint-Denis) und Orléans keine klare Positionierung über die
Hauptstadtfrage des eigenen Territoriums33. Lediglich London zeigt sich
seit der Eroberung durch William the Conqueror als konstanter Ort einer
Hauptstadt, mit der bereits genannten Einschränkung, dass lediglich die
City of Westminster und nicht der gesamte Ballungsraum Hauptstadt
war34.
30 Vgl. Ebd., S. 143f. 31 Siehe Ebd., S. 143. 32 Einen kurzen Überblick über die (kirchen-) politischen Entwicklungen im Rahmen des sogenannten Abendländischen Schismas gibt folgendes Werk: Vgl. Anton GRABNER-HAIDER, Johann MAIER und Karl PRENNER, Kulturgeschichte des späten Mittelalters: von 1200 bis 1500 n. Chr., Göttingen [u.a.], 2012, S.29–39 und 59–66. 33 Vgl. JACQUES LE GOFF, Die Geburt Europas im Mittelalter. L’ Europe est-elle née au Moyen Age?, München, 2004, S.143. 34 Vgl. Ebd.
16
Wenn wir uns nun dem Beispiel aus dem Heiligen Römischen Reich
zuwenden, konstatiert auch Hartmut Boockmann wie Jacques Le Goff für
ganz Europa, dass es auch in diesem Reichsgebilde keine Hauptstadt
gab35. Wiederum spricht Boockmann aber gleich von Hauptstädten. Es
gab demnach nicht nur eine, sondern gleich mehrere Hauptstädte 36 .
Hierbei bedient sich Boockmann einer in der deutschen
Geschichtswissenschaft beliebten Phrase, der Gleichzeitigkeit von
Ungleichzeitigen, da er nicht nur von einem übergangshaften Wechsel der
Hauptstädte ausgeht37. Nur wie erklärt er sich, einerseits keine Hauptstadt
zu definieren und andererseits von einer Vielzahl auszugehen?
Hartmut Boockmann versuchte die lange Diskussionstradition der
Mediävistik um Hauptorte vs. Hauptstadt einerseits zu vereinfachen und
andererseits zu verdrängen. Diese Besonderheit des Heiligen Römischen
Reiches, mit seinem Krönungsort Aachen, dem Ort der Königswahl
Frankfurt und Nürnberg als Ort des ersten Hoftages, motivierte schon viele
Historiker von einer Vielzahl von Hauptstädten zu sprechen.
Selbst verweigert Boockmann eine Aussage über seine Kriterien für eine
Hauptstadt38 , lässt aber in Form einer Quelle aus dem Umkreis des
Erzbischofs von Trier eine kleine Utopie einer mittelalterlichen Hauptstadt
entstehen39.
Der Schreiber entwickelt dabei folgende Merkmale für seine
Wunschhauptstadt des Heiligen Römischen Reiches:
1. Der Kaiser soll in einer wohlhabenden Stadt in der Mitte des
Reiches für längere Zeit residieren.
2. Ebenfalls sollen die Kurfürsten für längere Zeit am selben Ort
verweilen.
3. Ein ständiges Gericht soll in dieser Stadt etabliert werden.
35 Vgl. Hartmut BOOCKMANN, Hauptstadt, in: Hauptstadt -Perspektiven eines deutschen Themas, hrsg. von Hans-Michael KÖRNER/Katharina WEIGAND, München, 1995. 36 Vgl. Ebd., S. 31. 37 Vgl. Ebd., S. 30. 38 Vgl. Ebd., S. 31. 39 Vgl. Ebd., S. 31ff.
17
4. Eine Finanzbehörde soll errichtet werden.
Wenn man diese Kriterien nun mit dem obigen Zitat über die Merkmale
einer Hauptstadt in der Gegenwart vergleicht (Anm. 23), fallen deutliche
Überschneidungen auf. Die Hauptstadt wird als wirtschaftlich starkes
Zentrum, samt regulierender Behörde, angesehen, das die
Rechtsprechung und jegliche Gewalten für längere Zeit in sich vereinigt.
Nach diesem Katalog an Ausweisen einer Hauptstadt gemessen, würde
zu der Zeit der Quelle, im auslaufenden 15. Jahrhundert auch im
europäischen Vergleich nur London den Titel einer Hauptstadt verdienen.
Paris erarbeitet ihn sich zusehends, aber auf dem Gebiet des Heiligen
Römischen Reiches ist keine Stadt diesen Anforderungen gewachsen.
Es gibt zudem keine Hauptstädte im Plural, wie es Hartmut Boockmann
versucht zu deuten, sondern Hauptorte im Heiligen Römischen Reich, die
verschiedene politische Funktionen tragen. Würde man dieser Deutung
Boockmanns folgen, auch wenn sie für das Mittelalter gedacht ist, würde
es bedeuten, dass im heutigen Deutschland und in fast alle ‚modernen’
Staaten fast jede Stadt eine Hauptstadt wäre, da die Aufteilung der
verschiedenen Zuständigkeiten (und der moderne Bürokratiestaat hat
viele solcher Zuständigkeiten zu verteilen) über einen breiten Raum
verstreut sind.
18
2.2.2 Die Hauptstadt in der Frühen Neuzeit
Auch für den folgenden epochalen Abschnitt, der gemeinhin zwischen
1500 und 1800 angenommen wird 40 , zeigt es sich mit besonderer
Schwierigkeit, Hauptstädte zu eruieren. Da dieser Zeitabschnitt von
besonderer Wichtigkeit für Washington, D.C. ist, möchte ich die
Überlegungen aus dem vorangegangenen Teilkapitel noch ausweiten. In
der Wahl zwischen zwei Standardwerken von Leonardo Benevolo41 und
Herbert Knittler42 habe ich mich für letzteres entschieden, da dieses Werk
nicht nur aktueller ist, sondern auch die Gedanken Benevolos schon
einarbeitet.
Im folgenden möchte ich die wichtigsten Stadttypen dieser Epoche
vorstellen, um ein erstes Bild zu erlangen, inwiefern die Planhauptstadt
Washington, D.C. in diesem Gefüge von Stadttypen entsprechen kann.
Einen besonderen Fokus möchte ich trotzdem auf die Hauptstadt in der
Frühen Neuzeit legen.
Wichtige Grundlage für Washington, D.C. bilden die Idealstädte und
Festungssterne dieser Zeit. Darauf folgend gilt es den Unterschied
zwischen Residenzen und Hauptstädten herauszuarbeiten.
40 Die Debatte um diese künstliche Epochenbildung ist noch eine relativ junge Entwicklung, gemeinhin wird die Zeit zwischen 1500 und 1800 als nicht starre Zeitgrenze angenommen. Einen einführenden Überblick über die Beweggründe dieser Zeitmarkierung liefert neben unzählig anderen, u.a. : Vgl. ANETTE VÖLKER-RASOR [HRSG, Frühe Neuzeit, 2. Aufl., München, 2006, S.15f. Für diese Ausarbeitung, deren Zentrum die Gründung der Stadt Washington, D.C. steht bedarf es aber einer Dehnung des Zeitrahmens bis ungefähr 1830. Die Entwicklung der Stadt, deren Anfang direkt an der Epochengrenze liegt, ist nach meiner Einschätzung aber noch so stark mit dieser Epoche verbunden, dass ich die Anfänge der US-amerikanischen Hauptstadt noch dieser Epoche zuordnen würde. 41 LEONARDO BENEVOLO, Die Geschichte der Stadt. Storia della città <dt.>, 7. Aufl., Frankfurt u.a., 1993. 42 Herbert KNITTLER, Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit: Institutionen, Strukturen, Entwicklungen, Wien, (Querschnitte!: Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts-, und Kulturgeschichte. - Innsbruck!: Studien-Verl, 1999-, Bd. 4), 2000.
19
Beginnend mit den Planstädten lässt sich für sie eine
Entwicklungstendenz ab dem auslaufenden 15. Jahrhundert, aus dem
italienischen Raum zur Zeit der Renaissance, feststellen. Was
gegenwärtig in einer Zeit von Bauamtsvorschriften undenkbar erscheint
und spätestens durch die Haussmann’schen Begradigungen Paris’ zur
vorbildhaften Norm im europäischen Raum geworden zu sein scheint, ist
ein häufiges Städtewachstum im organischen, ungeplanten Rahmen.43
Die Idealstadtplanung wurde am Ende des 15. Jahrhunderts „zum
Gegenstand der Diskussion zwischen Künstlern, Architekten und
potentiellen Auftraggebern“44.
Jedoch führte dieser Austausch zwischen den Eliten aus Kunst und
Wirtschaft nicht zu einem beständigen Modell der Stadtplanung, da
„die Theoretiker [...] die Stadt nicht als Zufalls- oder Entwicklungsergebnis, sondern als
Gesamtwerk, das bestimmte Funktionen zu erfüllen und diesen entsprechend eine Ganze erfassende Ordnung aufzuweisen hatte [, sahen].“45
Diese schwierige Vereinbarkeit der städtebaulichen Planung zwischen
dem theoretischen Anspruch und der praktischen Bewohn- und
Benutzbarkeit einer Stadt wird uns im Folgenden noch ausführlicher
beschäftigen müssen46.
Ein weiterer Aspekt der Stadtplanung sind die Festungsstädte, welche
verstärkt ab dem 17. Jahrhundert errichtet wurden. Hierbei handelte es 43 Hierzu bedarf es nur einen Blick in die sogenannten ‚Schwellenländer’ dieser Welt und deren Umgang mit der Urbanisierungswelle in den jeweiligen Megacities, wie Mexiko City, São Paulo oder Manila. 44 Siehe Herbert KNITTLER, Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit, Wien, (Querschnitte!: Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts-, und Kulturgeschichte. - Innsbruck!: Studien-Verl, 1999-, Bd. 4), 2000, S.57. 45 Siehe Ebd., S. 58. 46 Wir können diese Schwierigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Gegenwart speziell in den großen städtebaulichen Projekten nachvollziehen. Sei es der hochgradige Verlust an Einwohnern in den sozialistischen Stadtplanungen am Rande einer Metropole (Berlin- Marzahn) oder die infrastrukturelle Unterversorgung und der Niedergang der französischen Banlieues. Beide Bauprojekte waren ihrer jeweiligen Entstehungszeit ein komfortabler Wohnraum, der durch den Abbruch der Versorgung und Weiterentwicklung aber seinem Niedergang geweiht war.
20
sich zumeist um Erweiterungen von bestehenden Städten oder um
gänzliche Neugründungen. Viele dieser Städte sind zweckgebundene
Gründungen. Vor allem das französische Königtum bediente sich dieser
Art des Städtebaus, um seine Grenzen mit wehrfähigen Städten
befestige47. Einen besonderen ‚Boom’ erlebte diese Form des Städtebaus
auch unter dem dänischen König Christian IV. zu Beginn des 17.
Jahrhunderts, welcher zahlreiche Städte, die jeweils seinen Namen
trugen, gründete48. Im ähnlichen Maße investierte auch die schwedische
Krone in diese Form der Städteplanung, um seine Ostseegrenzen zu
stärken49.
Eines haben aber all diese Stadtgründungen, bzw. Stadtausbauten
gemein: Sie waren wenig bis gar nicht erfolgreich. Die engen
Abgrenzungen des verteidigenden Festungsbaus und das damit
verhinderte Wachstum ließen die Städte in ihren Mauern veröden.
Im anschließenden Abschnitt möchte ich das für diese Ausarbeitung
bedeutsamste Städtegespann herausarbeiten: Die Trennung zwischen
Residenz und Hauptstadt. Seit der Zeit des ewigen Beispiels, des
Schlosses und der Stadt Versailles, dem Auszug des französischen
Königshofes in das Pariser Umland, folgten diesem Vorbild viele
Königshäuser im europäischen Raum. Eine neue Form der Residenzstadt
war geboren, eine Form, die nicht den Hof in einer Stadt etablierte,
sondern eine Stadt im Umkreis des Hofes schuf50.
Eine Residenz zu definieren ist folglich kein schwieriges Unterfangen, zum
einen muss dieser Ort der Sitz des Regenten sein, zum anderen müssen
47 Vgl. Herbert KNITTLER, Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit, Wien, (Querschnitte!: Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts-, und Kulturgeschichte. - Innsbruck!: Studien-Verl, 1999-, Bd. 4), 2000, S.60ff. 48 Vgl. Ebd., S. 61f. 49 Vgl. Ebd., S. 62. 50 Vgl. Ebd., S. 65. – Knittler formuliert die Frühgeschichte der Residenz noch etwas deutlicher: „Ansätze der Residenzbildung reichen bis ins Mittelalter zurück und werden dort fassbar, wo der König oder Fürst seine Reiseherrschaft zugunsten einzelner bevorzugter Aufenthaltsorte aufgab.“
21
„die Residenzbauten eine das gesamte Baugefüge beherrschend Stellung
erlangt [haben]“.51
Interessant wird es erst, wenn wir den Kriterienkatalog für eine Hauptstadt
bei Herbert Knittler näher betrachten:
1. Eine „durch Bevölkerungsagglomeration und Multifunktionalität
bezeichnete Staats- oder Landesmitte“52
2. Die „Konzentration zentraler politischer Behörden wie Regierung,
Parlament, höchster Gerichts- und Verwaltungsstellen“53
3. „Keine Überlagerung der Residenzbauten im gesamten
Stadtgefüge“54
Knittler führt schließlich auch eine Reihe von Beispielen an, die nach
seinen Kriterien zur Hauptstadt (in Europa) gereift waren. So sieht er
Paris, London, Edinburgh, Kopenhagen, Stockholm und Lissabon als
Hauptstädte an.55 Andere Städte sieht er im Laufe der Frühen Neuzeit zur
Hauptstadt aufsteigen - Den Haag, Madrid oder Warschau.56
All jene Städte sind mit Ausnahme von Den Haag (trotz allem noch der
Regierungssitz der Niederlande) auch in der Gegenwart noch die
Hauptstädte eines (National-) Staates.
Für die Frühe Neuzeit scheint somit ein anderer Kriterienkatalog zu gelten,
als derjenige, den ich für die Gegenwart und das Mittelalter
herausgearbeitet habe. Diese Städte standen in voller Dominanz ihrer
jeweiligen absolutistischen Herrscher (was für den gesamten Zeitraum der
Frühen Neuzeit freilich schwer zu behaupten ist) und formten das
Machtzentrum des jeweiligen zentralisierten Staatengebildes57. Somit ist
51 Siehe Ebd., S. 67. 52 Siehe Ebd., S. 66. 53 Siehe Ebd. 54 Siehe Ebd., S. 67. 55 Vgl. Ebd., S. 66. – Den Haag als Hauptstadt zu bezeichnen bleibt mir schleierhaft. Wie auch in der Gegenwart war Den Haag zwar seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der Regierungssitz, aber kein städtisches Zentrum. 56 Vgl. Ebd. 57 Vgl. Ebd., S. 66f.
22
die Verschiebung des Machtgefüges im ‚Zeitalter des Absolutismus’
entscheidend für die Herausbildung von Hauptstädten, im Gegensatz zu
Residenzstädten. Gleichwohl sind die Grenzen zwischen diesen beiden
Stadttypen fließend.
Von besonderer Bedeutung wird es sein, diese Ergebnisse der
Untersuchung der frühneuzeitlichen Hauptstadt auf Washington, D.C. zu
übertragen. Es wird zu fragen sein, ob Washington, D.C. diesen
aufgestellten Merkmalen überhaupt genügt oder ob der Gründung der
Stadt am Potomac River auch ein neuer Hauptstadttypus nachgeht.
2.3. Eine Hauptstadttheorie (Die Hauptstadt in der
‚Moderne’)
Wie im einleitenden Kapitel schon angekündigt, möchte ich nun meine
Theorie zur globalen Beschaffenheit einer Hauptstadt anreißen, um
nachvollziehbar zu machen, inwiefern Washington, D.C. zumindest nach
der gegenwärtigen Betrachtung ein neuer Hauptstadttypus ist.
Hierzu möchte ich drei Typen von Hauptstädten vorstellen, die global
gesehen, jegliche Hauptstädte subsumieren können. Diese Theorie
möchte ich in Auseinandersetzung mit dem Essay von Peter Hall in einem
der wichtigsten Sammelbände58 zu dieser Thematik beschreiben. Peter
Hall stellt in diesem Werk sieben Hauptstadttypen vor. Noch einige Jahre
zuvor konnte der selbe Autor lediglich sechs Typen von Hauptstädten
auszumachen 59 . Nicht zuletzt hieran, wenn ein und derselbe Autor
58 Peter HALL, Seven Types of Capital City, in: Planning twentieth century capital cities, hrsg. von David Laird Ashton GORDON, London [u.a.], Planning, history and environment series, London u.a., 2006. 59 Peter HALL, The Changing Role of Capital Cities: Six Types of Capital City, in: Capital Cities: Perspectives International/Les Capitales!: Internationales Perspectives, hrsg. von John TAYLOR/Jean G. LENGELLE/Caroline ANDREW, Montreal, 1993, S. 69–84.
23
verschiedene Häufigkeiten von Hauptstädten aufzeigen möchte, zeigt
sich, wie mäandernd eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik sein
kann.
Trotz all dem möchte ich nun die sieben Hauptstadttypen nach Peter
Hall60 vorstellen und im Anschluss darlegen, weshalb ich diese Zahl auf
lediglich drei reduzieren möchte:
1. Multifunktionshauptstädte: Diese vereinigen die meisten nationalen
Funktionen in sich (Regierung, Auslandsvertretungen etc.) (z.B.
London, Paris, Stockholm, Madrid und Tokio)
2. Globale Hauptstädte: Spezialfälle der ersten Kategorie, diese
Städte erfüllen außerdem noch supra-nationale Aufgaben in
Wirtschaft oder Politik (z.B. London und Tokio)
3. Politische Hauptstädte: Hauptstädte, die als Regierungssitze
gegründet wurden, aber kaum wirtschaftliche Funktionen erfüllen
(z.B. Washington, D.C., Ottawa, Canberra und Brasília)
4. Frühere Hauptstädte: Städte, die ihre Rolle als Regierungssitz
verloren haben, aber noch eine historische Funktion erfüllen (z.B.
St. Petersburg, Philadelphia und Rio de Janeiro)
5. Ehemals imperiale Hauptstädte: Städte, die ihre Hauptstadtfunktion
in einem Imperium verloren haben, aber noch ein wirtschaftliche
Rolle in diesem ehemaligen Konstrukt spielen (z.B. London,
Lissabon, Madrid und Wien)
6. Provinzhauptstädte: Ehemalige Hauptstädte, die aber noch eine
Bedeutung für ihr umliegendes Territorium darstellen (z.B. Turin,
Mailand, Stuttgart, München, Toronto, Sydney, Melbourne)
7. „Super Capitals“: Zentren internationaler Organisationen (z.B.
Brüssel, Rom und New York)
60 Vgl. Ebd., S. 8f. – Alle folgenden Darstellungen beziehen sich als Übersetzungen und/ oder Deutungen auf die genannten Seiten und die dort zu findenden Ausführungen zu den sieben Typen von Hauptstädten.
24
An Hand der starken Ausdifferenzierung in Peter Halls Auflistung von
möglichen Hauptstadttypen, wird rasch deutlich, welche Perspektive er
eingenommen hat. Sein Blick schweift zum einen über die heutige
Situation der Städte und zum anderen hin zu deren ehemals historischen
Bedeutung. Dies markiert den deutlichsten Unterschied zu der von mir
vorgeschlagenen Betrachtungsweise, welche die heutige Situation der
Hauptstädte in den Blick nimmt und deren historische Entwicklung
einbezieht und nicht exklusiviert. Die Perspektive Peter Halls ist für die
Geschichtswissenschaft nur schwierig anzuwenden, da sich seine
Sichtweise nicht historisieren lässt. Dies ist weniger verwunderlich, wenn
man bedenkt, dass der Brite Sir Peter Geoffrey Hall einer der
renommiertesten Urbanisten unserer Zeit ist. Seine Kategorisierung der
Hauptstadttypen ist in die Zukunft gerichtet, ein Punkt den Historiker zwar
in ihrem Weltbild immer mitbedenken, selten aber praktische Bedeutung
zukommen lassen. Die starke Ausdifferenzierung des Urbanisten sehe ich
aus zwei Gründen für nicht notwendig. Zum einen lassen sich auch die
drei Typen (Hauptstadttypen nach Hall 4-6) ehemaliger Hauptstädte in das
folgende Schema übernehmen, für den jeweiligen historischen Zeitpunkt.
Zum anderen ist es mein Anliegen mit der Reduktion der Möglichkeiten
der Hauptstadttypen, die Globalität des Phänomens der Hauptstadt
stärker zu betonen.
Somit komme ich zu der Schlussfolgerung, dass es global gesehen
lediglich drei Typen von Hauptstädten gibt:
1. Die Planhauptstadt: Ganz ähnlich wie die Beschreibung von Peter
Halls drittem Punkt der ‚politischen Hauptstädte’, sind diese Städte
aus der Neuschaffung des Regierungssitzes heraus entstanden.
Außer Betracht möchte ich aber ihre heutige Genese lassen. Dieser
Hauptstadttypus zeigt sich vor allem im post-kolonialen Diskurs.
(Beispiele sind neben Washington, D.C., Brasília, Islamabad,
Canberra oder Abuja)
25
2. Die gewachsene Hauptstadt: Städte wie Paris, Bagdad, Peking,
Warschau, Lissabon, Madrid oder Wien, die schon als Hauptstädte
vor dem Nationsbildungsprozess des 18. und 19. Jahrhundert
beschrieben werden können und diesen Status auch behielten.
3. Die gewordene Hauptstadt: Dies ist eine Gruppe von bereits
etablierten Städten, bevor sie den Status der Hauptstadt (im sich
unterscheidenden nationalen Kontext) erhielten. Diese Städte
mussten an ihre neue Funktion angepasst werden. (z.B. Berlin,
Ankara, Astana, Tunis, Helsinki und Manila)
Dieses Modell lässt sich nun auch entsprechend historisieren. Einerseits
lässt sich jede aktuelle Hauptstadt in einem der drei Punkte wiederfinden,
andererseits lassen sich auch mögliche Übergänge (Berlin ab 1871 oder
Ankara ab 1923) historisch analysieren. Auch auf politische Entwicklungen
kann man reagieren 61 (was interessanterweise bei dem Werk des
Zukunftsforschers Peter Hall mit der starren Anordnung seiner Kriterien
nicht möglich ist).
61 Wenn wir an dieser Stelle noch einmal auf Ar-Raqqa zurück kommen, wäre es für Peter Hall unmöglich diese Hauptstadt einzuordnen (im übrigen auch für alle anderen zitierten Kriterienkataloge). Unabhängig von der internationalen Anerkennung des Staates der IS, wurde Ar-Raqqa als einer der ersten Akte zu Beginn des Krieges zur Hauptstadt des unzusammenhängenden Staatsgebildes ernannt. Dieser Status wurde auch nicht geändert, als die bedeutend größere Stadt Mossul eingenommen wurde. Ar-Raqqa wurde zum Symbol, als die erste Großstadt, die vom IS erobert wurde und bleibt ein Symbol für das System des IS als gewordene Hauptstadt.
26
3. Die politische Architektur 3.1. Die architektonische Semiotik nach Umberto Eco
Wie im einleitenden Kapitel bereits erwähnt, fehlt es der oben
geschilderten Theorie zu einer Hauptstadt an einem globalen
Verbindungsstück. Um diesem nun gerecht zu werden, möchte ich im
Folgenden zwei verschiedene Ansätze vorstellen. Zum einen handelt es
sich um die sogenannte politische Architektur, zum anderen um eine
Spezialisierung der Semiotiktheorie des italienischen
Literaturwissenschaftlers Umberto Eco.
Diese Theorie Umberto Ecos hat in der kulturwissenschaftlichen
Zeichentheorie einen besonderen Platz eingenommen. Ich möchte mich
nun selbstredend nicht in die lange Liste der Interpretationsversuche seit
den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhundert einordnen, diese gibt
es schon in Überfülle62.
Vielmehr möchte ich mich auf die architektursemiotischen Kapitel seines
Hauptwerkes ‚Einführung in die Semiotik’63 begrenzen.
Die Grundlage seiner Zeichentheorie möchte ich an dieser Stelle als
vorausgesetzt ansehen und nur noch einmal betonen, dass „eine der
Hypothesen der Semiotik [ist], daß unter jedem Kommunikationsprozess
diese Regeln - oder Codes - existieren und daß diese auf irgendeiner
kulturellen Übereinkunft beruhen“64. Ich habe aus der Grundtheorie der
Semiotik bewusst diese Stelle herausgesucht, um mit Nachdruck die
Gemeinsamkeit der Annahmen von Peter L. Berger und Thomas
62 Um nur einige unter Unzähligen zu nennen: Grit FRÖHLICH, Umberto Eco: Philosophie - Ästhetik - Semiotik, München, 2009; Susanne WEHDE, Typographische Kultur: eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen, (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. - Berlin!: De Gruyter, 1981-, Bd. 69), 2000; Dorothee KIMMICH (Hrsg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart, (Reclams Universal-Bibliothek. - Stuttgart!: Reclam, 1867-, Bd. 9414), 1997. 63 Umberto ECO, Einführung in die Semiotik, München, (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste!: Texte und Abhandlungen. - Paderborn!: Fink, 1963-, Bd. 32), 1972. 64 Siehe Ebd., S. 20.
27
Luckmann im Verständnis der gesellschaftlichen Aneignung von Wissen
und dem Umgang mit bereits vorhandenen Wissensbeständen zu
untermauern. Die Theorie Ecos ist, bevor ich sie nun ausführlicher
darlege, als eine Spezialisierung der globalen Vergleichbarkeit von
Hauptstädten zu verstehen. Die Architektur von Hauptstädten ist stilistisch
mitunter schwierig zu vergleichen, bedenkt man die verschiedenen
kulturellen Hintergründe. Funktional lässt sich die Architektur als
aussagekräftiges Arrangement einer kulturellen Idee jedoch als
Zeichensystem analysieren, deren Handwerk ich nun beschreiben
möchte65.
Zu Beginn möchte ich mich Ecos Definition von Architektur anschließen:
„Es soll klargestellt werden, daß von nun an der Ausdruck „Architektur“ als
Bezeichnung sowohl für Phänomene der Architektur im eigentlichen Sinn
wie für die des Design und Städtebaus verwandt wird.“66
Dieser gedehnte Architekturbegriff ermöglicht es, Architektur nicht nur als
gestalterisches Element wahrzunehmen, sondern ebenso den Verweis auf
die gesellschaftlichen Strukturen und Handlungsprozesse angemessen zu
deuten67.
Wenn wir uns nun schon einmal den Möglichkeiten der Deutung des
Aufbaus einer Hauptstadt widmen, gibt folgendes Zitat eine bestimmende
Deutungsrichtung vor:
„Alle Genialität eines Architekten oder Designers macht eine neue Form noch nicht funktional (und gibt einer neuen Funktion noch keine Form) , wenn sie sich
nicht auf vorhandene Codifizierungsprozesse stützt.“68
65 Vgl. Ebd., S. 293. - Um Eco an dieser Stelle aber noch expliziter zu Wort kommen zu lassen: „Warum stellt die Architektur eine Herausforderung für die Semiotik dar? Weil die Objekte der Architektur scheinbar nichts mitteilen (oder zumindestens nicht für die Kommunikation gedacht sind) sondern funktionieren.“ (S. 293f.) 66 Siehe Ebd. 67 Vgl. Ebd., S. 296ff. - Eco versucht die Weitung eines Zeichens hin zu seiner mitgedachten Funktionalität am Beispiel eines fiktiven Steinzeitmenschen und dessen Deutung einer Höhle zu erarbeiten. In dieser klaren Vereinfachung wird die in diesem Falle natürliche Beschaffenheit einer Höhle, nicht anders werden auch Bauprojekte wahrgenommen, sofern man sie nicht selbst entworfen hat, mit ihrer Schutzfunktion vor Unwettern in Verbindung zu setzen. 68 Siehe Ebd., S. 308.
28
Dieses Grundmuster einer jeden kunstgeschichtlichen Deutung, dass ein
neues Design lediglich ältere, bestehende Muster aufnehmen kann, um
weiterhin als solches erkannt zu werden, setzt nun auch Eco fort.
Für die Hauptstadt gesprochen, wenn wir sie nach Berger und Luckmann
als ein gesellschaftlichen tradiertes Wissen verstehen möchten, bedeutet
dies nun, dass die Architektur, die global in ihr zu finden ist, auf bereits
bestehende Muster zurückgreifen muss, um die bereits vorhandenen
‚Codifizierungsprozesse’ an den neuen ‚Wissensbestand’ einer individuell
staatlichen Hauptstadt anzupassen.
Für Washington, D.C. bedeutet dies nun, dass die Stadtplaner ihre
Entscheidungen nur in einem gewissen Aktionsradius fällen konnten, der
zur Voraussetzung hatte, auf bereits bestehende ‚Codifizierungsprozesse’
zurück zu greifen, mochte man den zur Hauptstadt erkorenen Ort auch als
solchen erkennbar machen69.
Für die allgemeine Entwicklung einer Hauptstadt, wozu oben bereits
ausführlich verschiedenste Modelle zur Genese angeführt wurden,
bedeutet dies nicht weniger, als dass jegliche Hauptstädte einem
gewissen Muster folgen, da der Rezipient sonst nicht mehr in der Lage
wäre, die Stadt als solche architektonisch und planerisch als Hauptstadt
zu erkennen.
Somit ist die Historizität einer Hauptstadt auf der einen Seite und die
globale Vergleichbarkeit auf der anderen Seite theoretisch begründet. Den
beiden Theorien von Berger und Luckmann sowie von Umberto Eco
folgend ist eine Hauptstadt demzufolge gesellschaftlich konstruiertes
Wissen, welches auch in seiner architektonischen Beschaffenheit
funktional und nicht nur in ihrer allgemeinen, verwaltenden Funktionen zu
begründen ist.70
69 Vgl. James D KORNWOLF und Georgiana Wallis KORNWOLF, Architecture and town planning in colonial North America, Baltimore, 2002, S.1245f. 70 Wie es vor allem Peter HALL, Seven Types of Capital City, in: Planning twentieth century capital cities, hrsg. von David Laird Ashton GORDON, London [u.a.], Planning, history and environment series, 2006. zu begründen versucht, sondern genauso die historischen Deutungen von Herbert KNITTLER, Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit, Wien, (Querschnitte!: Einführungstexte
29
Abschließend möchte ich nun Umberto Ecos Vorstellung von
‚architektonischen Codes’ näher beleuchten, um so die
Untersuchungsmöglichkeiten von einer Hauptstadtarchitektur
aufzuzeigen.71
Auf Grund der Schwierigkeit, Architektur klar einem bestimmten
Deutungssystem zuzuordnen, versucht Umberto Eco zwei verschiedene
Systeme und deren Auswirkungen aufzuzeigen72.
Zuerst sind es ‚syntaktische Codes’, die es näher zu betrachten gilt. Eco
versteht darunter all jene Dinge, die keinen Hinweis auf die Funktion
innerhalb eines Bauwerkes bilden, sondern aus statischen Gründen von
Nöten sind73. Dies bezeichnet er als „strukturale Logik“74. Hierunter fallen
insbesondere die tragenden Elemente, wie die Decken, Balken, Pfeiler
usw.75
Diesem Konzept stellt er die „semantischen Codes“ gegenüber, welche
sich in den zwei Unterkategorien, der „Artikulation architektonischer
Elemente“ und der „Artikulation in typologische Gattungen“ ausdrücken.76
Erstere zeichnet sich durch die „Denotation von (symbolischen)
Funktionen“ und möglichen Raumprogrammen aus. Hier lassen sich
Dachformen, Terassenaufbauten, Säulen, aber auch das Esszimmer, der
Gemeinschaftsraum, der Tanzsaal usw. einordnen.77
zur Sozial-, Wirtschafts-, und Kulturgeschichte. - Innsbruck!: Studien-Verl, 1999-, Bd. 4), 2000. nahe legen. Auch die in Anmerkung 22 zitierte Bestandsaufnahme einer Hauptstadt durch Naomi E. SLACK und Rupak CHATTOPADHYAY (Hgg.), Finance and governance of capital cities in federal systems, Montreal [u.a.], (Thematic issues in federalism. - Montreal [u.a.]!: McGill-Queen’s Univ. Press, 2009-, Bd. 1), 2009. bietet keinerlei Anlaufpunkt für die eine architekturtheoretische Auseinandersetzung mit der Hauptstadt. Dieser Punkt ist es jedoch, der Hauptstädte zu Hauptstädten werden lässt. Es sind die Bauwerke in ihrer jeweiligen Architektur, mit ihren jeweiligen Funktionen, die über den Status der Stadt entscheiden. 71 Vgl. Umberto ECO, Einführung in die Semiotik, München, (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste!: Texte und Abhandlungen. - Paderborn!: Fink, 1963-, Bd. 32), 1972, S.325–332. 72 Vgl. Ebd., S. 325–331. 73 Vgl. Ebd., S. 329. 74 Siehe Ebd. 75 Vgl. Ebd. 76 Vgl. Ebd. 77 Vgl. Ebd.
30
Die typologischen Gattungen teilen sich in soziale und räumliche Typen
ein.78 Erstere deuten auf die Nutzungsbestimmung der Architektur hin,
sprich auf die Funktionen, welche das Bauwerk erfüllen soll.79 So zeigen
sich selbstredend Unterschiede zwischen Krankenhäusern, Wohnblöcken,
Bahnhöfen, Villen oder Schlössern. Kompliziert wird es erst, wenn ein
ursprünglicher Bau, eine Folgenutzung erhält, wie z.B. der ehemalige
Pariser Bahnhof, der nun zum Musée d’Orsay umfunktioniert wurde. Bei
Gebäudeumnutzungen dieser Art ist aber folglich immer vom eigentlichen
Funktionsgedanken auszugehen. Die räumlichen Typen spezifizieren die
soziale Gattung. Hier wird katalogisiert, welche Form Einzug in die
Architektur erhält sowie die Art und Weise der stilistischen Prägung, in
Verbundenheit mit ihrer Funktion. So verweisen verschiedene Grundrisse
(Rundbau, Kreuzbau oder offene Formen) auf eine Architekturtradition,
welche Auskunft über die Funktion des Bauwerkes geben kann.80
Falls man sich nun fragt, inwiefern die Theorie von den
‚Codifizierungsprozessen’ der Architektur nützlich für die globale
Komparatistik von Hauptstädten sein kann, sei an dieser Stelle an die
Funktion der Architektur als Kondensat von gesellschaftlichem Wissen
erinnert. Umberto Eco formuliert es zum Abschluss seiner
Auseinandersetzung noch einmal unmissverständlich:
„[D]ie Architektur [ist] auch keine Möglichkeit, Geschichte und Gesellschaft zu verändern, sondern ein System von Regeln, um der Gesellschaft das zu geben, was diese der Architektur vorschreibt. Die Architektur ist also ein Dienst, wie Stadtreinigung, Wasserversorgung, Eisenbahn- und Tramverkehr Dienste sind; das heißt: Dienste, die mit immer raffinierteren technischen Leistungen eine vorgegebene Nachfrage befriedigen müssen.“81
Diese Loslösung der Architektur vom Kunstbegriff hin zu einem auf die
Funktionalität ausgerichteten Dienstleistungsbegriff, ermöglicht es nun
erst, auch Hauptstädte global miteinander zu vergleichen.
78 Vgl. Ebd. 79 Vgl. Ebd. 80 Vgl. Ebd., S. 329f. 81 Siehe Ebd., S. 330.
31
Nun stellt die künstlerische Verspieltheit eines „mittelalterlichen“ Angkor
Wat im Vergleich zur nüchternen Bauweise des Berliner
Regierungsviertels kein Hindernis in der Vergleichbarkeit mehr dar.
Losgelöst von der hinduistisch und buddhistischen Verzierung der
Tempelbauten, bilden beide schließlich nur das Regierungszentrum auf
funktionaler Ebene.
3.2 Politische Architektur
Für den nun folgenden Abschnitt zur politischen Architektur möchte ich
zwei verschiedene Wissensgebiete vergleichen. Zum einen die
kunsthistorische Auseinandersetzung mit politischer Architektur82 und zum
anderen den architektursoziologischen Zugang83.
Die zuletzt genannte Studie versucht einen Zugang zur politischen
Architektur auf Basis des Wechselspiels von Staatsmacht und deren
Bedürfnis nach Repräsentanz zu erzeugen. Ich möchte auch an dieser
Stelle, in Form der von Walter Gottschall formulierten Thesen, einen
ersten Eindruck über die Möglichkeiten der Untersuchung der politischen
Architektur zu vermitteln: „Politische Architektur stellt den baulichen
Ausdruck jener Kräftekonstellationen in einer Gesellschaft dar, welche die
politische Herrschaftsordnung zentral bestimmen [...].“84
Um jene noch sehr allgemeine Definition direkt auf die Thematik der
Hauptstädte zu beziehen, lässt sich übernehmen, dass die Architektur in
einer Hauptstadt demnach der Ausdruck der ‚Kräftekonstellationen’ in
einem Land ist. Auf Grund der Fokussierung auf eine ganz bestimmte
82 Auf der Basis von: Martin WARNKE, Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute: Repräsentation u. Gemeinschaft, Köln, (DuMont-Taschenbücher!; 143), 1984. 83 Der Studie von Walter GOTTSCHALL, Politische Architektur: begriffliche Bausteine zur soziologischen Analyse der Architektur des Staates, Bern [u.a.], ([Europäische Hochschulschriften / 37] Europäische Hochschulschriften. - Bern!: Lang, 1981-, Bd. 5), 1987 folgend. 84 Siehe Ebd., S. 46.
32
Stadt, eben die Hauptstadt dieser Gesellschaft und ihrer individuellen
Herrschaftsordnung, ist eine Kristallisation dieses Ausdrucks in baulicher
Form umso mehr zu vermuten.85
Diese Grundannahmen Gottschalls stellen im Rahmen dieser
Ausarbeitung keine besondere Neuerung dar. Von hohem Interesse ist
jedoch sein Angebot an verschiedenen Untersuchungsmöglichkeiten, der
politischen Architektur näher zu kommen. Zum einen die Strukturanalyse,
welche ein typisches Element der soziologischen Untersuchung darstellt.
Hierbei werden insbesondere die politischen Gegebenheiten und die Art
der Bauwerke untersucht. 86 Darauf folgt die kultursoziologische
Untersuchung, wie auch schon bei Umberto Eco, mit den Mitteln der
Semiotik und der Soziologie der politischen Institutionen.87 Anschließend
wird die Deutung der subjektiven Ebene und der Verhaltensebene
aufgezeigt. Im weitesten Sinne lässt sich dies als die
Rezeptionsgeschichte der einzelnen Ergebnisse in den beiden
vorangegangenen Analysen betrachten. Es soll untersucht werden,
inwiefern einerseits der Adressant seine Botschaften zu vermitteln
versucht und wie der Empfänger andererseits auf die „politische
Architektur“ reagiert(e).88
Die Leistung dieser Theorie Walter Gottschalls zur „Politischen
Architektur“ besteht darin, dass er die Ebene der semiotischen
Betrachtung mit den politischen und staatlichen Auswirkungen in
Verbindung setzt. Die Deutungsmuster Umberto Ecos werden, und
insbesondere für ein politisches Phänomen wie die Hauptstadt,
dahingehend erweitert, dass auch die Herrschaftsanalyse mit in Betracht
gezogen wird. Gerade der wirkungsrezeptionistische dritte Teil der
Analyse, die subjektive Deutung, ermöglicht es, meine im vorhergehenden 85 Gottschall intensiviert diese Annahme noch einmal, wenn er schreibt „ Politische Architektur moderner Gesellschaften manifestiert sich vor allem in der Architektur des Staates“ (Siehe Ebd.) 86 Vgl. Walter GOTTSCHALL, Politische Architektur, Bern [u.a.], ([Europäische Hochschulschriften / 37] Europäische Hochschulschriften. - Bern!: Lang, 1981-, Bd. 5), 1987, S.46–67. 87 Vgl. Ebd., S. 69–115. 88 Vgl. Ebd., S. 109–116.
33
Kapitel dargestellte Definition einer Hauptstadt besser einzuordnen. Auf
Grund der Rezeptionsgeschichte wird es nun möglich, sowohl die
Internationalisierung einer Hauptstadt erkennbar zu machen, als auch
dem Phänomen des (national-)staatlichen Symbols nachzuspüren. Beide
sind stark deutungsabhängig und bedürfen sowohl der Ausstrahlung von
politischer Wirkmacht, als auch der entsprechenden Rezeption des
gewünschten Empfängers. Wenn wir nun noch einmal auf Ecos
Darstellung der Architektur als eine Dienstleistung nach den Wünschen
und Vorstellung der Gesellschaft (s. Anm. 81) zurückblicken, lässt sich
diese Trennung zwischen Sender und Empfänger der politischen
Botschaft und ihrer Ausprägung in der „politischen Architektur“ nicht mehr
zweifelsfrei bestätigen.
Die kunsthistorische Perspektive lässt selbstredend nicht die
ikonographische Betrachtung und die Formanalyse außen vor, hat aber im
Rahmen der Betrachtung von „politischer Architektur“ ihr Handwerk
verfeinert, indem sie die funktionale Ebene einbezieht. Im gleichen Sinne,
wie die geschichtswissenschaftliche Perspektive, die es trotz
verschiedenster Ansätze nie geschafft hat (seien es Hayden Whites
Negation von der Trennung zwischen Quellen und Forschungsliteratur89,
das kurze Aufbäumen von konstruktivistischen Tendenzen 90 oder die
Abkehr von nationalgebundenen Forschungsinteressen91), ihre Herkunft
und Fortführung der hermeneutischen Grundlagen aus dem 19.
Jahrhundert abzulegen, so ist auch die Kunstgeschichte an das öffentliche
Interesse gebunden. Für beide Disziplinen gilt weiterhin, dass der
öffentliche Diskurs möglichst einfache Ergebnisse übermitteln muss, es 89 Hayden V. WHITE, Metahistory: die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main, 1991. 90 Von besonderer Scharfsinnigkeit: Hans-Jürgen GOERTZ, Unsichere Geschichte: zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart, Reclam, (Reclams Universal-Bibliothek. - Stuttgart!: Reclam, 1867-, Bd. 17035), 2001, S.83–103. 91 Unter vielen, z.B.: Margrit PERNAU, Transnationale Geschichte, Göttingen [u.a.], (UTB. - [Wechselnde Verlagsorte und Verleger], 1971-, Bd. 3535), 2011; Jürgen OSTERHAMMEL und Niels P. PETERSSON, Geschichte der Globalisierung: Dimensionen, Prozesse, Epochen, München, (Beck’sche Reihe!: BsR. - München!: Beck, 1987-, Bd. 2320), 2003.
34
werden Kausalketten verlangt, welche möglichst nah an den
beweistragenden „Originalquellen“ argumentiert werden müssen. So
überrascht es auch nicht, dass der im Folgenden vorzustellende Beitrag
aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts dort folgenlos
geblieben ist, wo er nach radikaleren Schnitten suchte. Dies lässt sich
nicht zuletzt am Herausgeber Martin Warnke selbst festmachen. In all den
Jahren seit der Veröffentlichung 198492 hat er bisher eine fortführende
Recherche zur „Politischen Architektur“ vermissen lassen, lediglich 2004
trat er abermals als Herausgeber für den Sammelband „Politische Kunst“93
in Erscheinung. Diese Kollektion von Essays verfolgt aber einen
vollkommen anderen Auftrag, untersucht sie doch im weitesten Sinne
noch die Kulturgeschichte von Gegenständen, Gesten oder Riten.
Trotz dieser Entwicklung, die wie beschrieben, nicht ungewöhnlich für die
Entwicklung der Geisteswissenschaften selbst ist, möchte ich der frühen
Herausgeberschaft Warnkes die nötige Aufmerksamkeit zukommen
lassen. Ganz zu Beginn formuliert Warnke hier den Auftrag des Bandes,
wie folgt: „Die in diesem Band zusammengestellten Aufsätze sollen einige
Aspekte des politischen Bedeutungsumfanges, in dem die Architektur
wirksam werden kann, belegen.“94 Leider bietet auch dieser Band, wie
schon einführend dargelegt, keine systematischen Erschließungen zur
Thematik der Hauptstädte. Die Möglichkeit, sich dieser zu nähern, bietet
jedoch der architekturtheoretische Zugang des Werkes. Insbesondere
jene Ausführungen, die laut Warnke „eine Architektur zu einem politischen
Faktor werden lassen“ 95 . Zum Beispiel ließe sich die wirtschaftliche
Bedeutung des Bauwesens anführen96. Diese Funktion lässt sich durch
die Geschichte verfolgen und zeigt sich nicht zuletzt im Bereich der
Hauptstädte besonders in jenen Städten, die zu diesem Zwecke errichtet 92 Martin WARNKE, Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute, Köln, (DuMont-Taschenbücher!; 143), 1984. 93 Martin WARNKE (Hrsg.), Politische Kunst: Gebärden und Gebaren, Berlin, (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, Bd. 3), 2004. 94 Siehe Martin WARNKE, Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute, Köln, (DuMont-Taschenbücher!; 143), 1984, S.12. 95 Siehe Ebd. 96 Vgl. Ebd., S. 12f.
35
wurden oder in jenen Städten, die zu Hauptstädten umfunktioniert wurden.
Die Kosten des oben genannten Baus der neuen ägyptischen Hauptstadt
soll schätzungsweise 45 Milliarden Dollar betragen97, der bisherige Umbau
des Berliner Regierungsviertels wurde im Hauptstadtbeschluss von 1991
auf zwanzig Milliarden Mark beschränkt.98 Weiter wird der Architektur eine
Schutzfunktion, bzw. Sicherheitsaufgaben zugeordnet. 99 Dies gilt wohl
weniger in der gegenwärtigen Zeit, da weder der Burgenbau, noch
Gräben, Wälle oder Stadtmauern eine unbedingte Rolle spielen. Die
Schutzfunktionen finden heutzutage indirekt Ausdruck, z.B. durch
Kameratechnik im öffentlichen Raum, die Einrichtungen von
Justizvollzuganstalten oder ganz aktuell der Bau des Hauptsitzes des
Bundesnachrichtendienstes im Zentrum Berlins. Diese Bauten bieten
keinen gesellschaftlichen Schutz aus sich selbst heraus, sondern auf
Grund ihrer Funktion. Im globalen Verhältnis, z.B. in Israel und seiner
Hauptstadt Jerusalem, die sowohl über eine ausgefeilte
Sicherheitsarchitektur, als auch über gegenwärtige Stadtmauern verfügt,
finden sich jedoch forthin eine Reihe von Beispielen für dezidierte
Sicherheitsarchitektur. Des Weiteren kann Architektur zur politischen
Demonstration und zur Darstellung der Machtverhältnisse benutzt
werden.100 Der Hauptunterschied zur den oben genannten Darstellungen
von Umberto Eco und Walter Gottschall zeigt sich darin, dass der
Kunsthistoriker Warnke weiterhin die Architektur bzw. die Kunst in seinem
Verständnis als Sprachrohr für spätere gesellschaftliche Entwicklungen
ansieht und nicht als Kondensat dieser Entwicklung. Er stellt die These
auf: „Immer liefern die architektonischen Metaphern Bilder für den Zustand
politischer und sozialer Stabilität“ 101 und sieht in der Sprache einen
97 Vgl. O.A., Kairo: Ägypten will neue Hauptstadt bauen, unter: Die Zeit, < http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-03/kairo-aegypten-neue-hauptstadt >, (18.3.2015). 98 Diese Regelung findet sich im Berlin/BonnG vom 20. Juni 1991. 99 Vgl. Martin WARNKE, Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute, Köln, (DuMont-Taschenbücher!; 143), 1984, S.13f. 100 Vgl. Ebd., S. 14f. 101 Siehe Ebd., S. 16.
36
gängigen Rückgriff auf bauliche Metaphern. 102 Man muss der
Kunstgeschichte zugute halten, dass sie ihr Arbeitsgebiet verteidigt wissen
möchte und zudem liefert sie besonders für die architektonischen
Detailuntersuchungen Erkenntnisse von immenser Bedeutung, die
unabdingbar sind, um eine entwicklungsgeschichtliche Einordnung
verschiedener architektonischer Phänomene zu deuten. Leider bietet der
kunstgeschichtliche Ansatz nur eine bedingte Möglichkeit des
komparatistischen Zugangs, da die funktionale Ebene nach Warnke
niemals von ihrer Form getrennt werden sollte. 103 Dieser Hang zur
Ästhetik verhindert letztlich eine Vergleichbarkeit, da die Individualität der
Leistung für die Kunstwissenschaft stets im Vordergrund zu stehen
scheint.
102 Vgl. Ebd., S. S. 16. 103 Vgl. Ebd., S. 11.
37
4. Washington, D.C. 4.1. Der Plan für eine neue Hauptstadt 4.1.1. Die rechtlichen und legislativen Grundlagen
Im folgenden Kapitel gilt es nun am konkreten Beispiel zu argumentieren.
Ich habe in den vorhergehenden Abschnitten zahlreiche Möglichkeiten der
Bearbeitung vorgestellt, um den Phänomen der Hauptstadt näher zu
kommen. An dieser Stelle möchte ich eine allerletzte Kategorie
hinzufügen, eine Kategorie die so einleuchtend wie einfach ist: Eine
Hauptstadt ist auch dann eine Hauptstadt, wenn sie schlichtweg als solche
von der herrschenden Elite eines Landes bezeichnet wird.
Am Beispiel der burmesischen (bzw. myanmarischen) Hauptstadt
Naypyidaw, dem jüngsten Musterbeispiel einer Planhauptstadt, lässt sich
(noch) keiner der zuvor genannten Kriterienkataloge anwenden.
Naypyidaw ist weder ein internationales Zentrum104, noch kann sie dem
nationalen Symbol Yangon den Rang ablaufen. Jedoch ist der Baubeginn
der Planhauptstadt des südostasiatischen Staates kaum ein Jahrzehnt
Geschichte. Wenn wir diesen Zeitabstand nun auf Washington, D.C.
übertragen, bedurfte es ebenfalls ein Jahrzehnt, zwischen der
Entscheidung, die Hauptstadt am Potomac River anzusiedeln und der
Ernennung zur Hauptstadt. Zu diesem Zeitpunkt, genau im Jahre 1800,
war Washington, D.C. noch keine Hauptstadt, gemessen an den vorherig
aufgestellten Katalogen, wie Naypyidaw heute.
Die Geschichte der Hauptstadt Washington, D.C. lässt sich in zwei
gleichberechtigte Teile gliedern. Zum einen die geostrategischen und
machtpolitischen Bestrebungen des noch jungen Staates, die in diesem
Unterkapitel aufgearbeitet werden sollen, zum anderen die
bauplanerischen Bestimmungen um den planenden Architekten Pierre-
Charles L’Enfant und den ausführenden Architekten Andrew Ellicott. 104 Vgl. THE NEW YORK TIMES, Built to Order: Myanmar’s New Capital Isolates and Insulates Junta, unter: The New York Times, < http://www.nytimes.com/2008/06/24/world/asia/24myanmar-sub.html >, (1.4.2015).
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Von besonderer Bedeutung ist der sogenannte Residence Act aus dem
Jahr 1790. Er definiert noch genauer, was die Verfassung der Vereinigten
Staaten von Amerika in Artikel 1 Absatz 8 vorgibt:
„The Congress Shall have Power [...] to exercise exclusive Legislation in all Cases whatsoever, over such District (not exceeding ten Miles square) as may, by Cession of particular States, and the Acceptance of Congress, become the
Seat of the Government of the United States, and to exercise like Authority over all Places purchased by the Consent of the Legislature of the State in which the Same shall be, for the Erection of Forts, Magazines, Arsenals, dock-Yards, and
other needful Buildings [...]“105
Diese konstitutionelle Vorgabe gibt einerseits die Größe eines 10 Meilen
großen Quadrates für die Stadtfläche der zu gründenden Hauptstadt vor.
Des Weiteren unterliegt dieser Distrikt der direkten Kontrolle des
Kongresses. Der zu gründende Distrikt soll ebenso der Sitz der Regierung
sein. Die Liste der Gebäude, die im Auftrag des Kongresses errichtet
werden dürfen, dienen vor allem der Versorgung und der militärischen
Kontrolle des Territoriums. Dies ist an dieser Stelle noch wenig
verwunderlich, da das Zitat in eine Reihe von Vorgaben für die
Machtbefugnisse des Kongresses eingebettet ist. Es zeigt sich aber auch,
dass dem District of Columbia, wie er später heißen soll, eine klare
Funktion zugeordnet wird - dem Kongress der Vereinigten Staaten von
Amerika als Regierungsort und ‚Machtzentrale’ zu dienen. Ich möchte an
dieser Stelle noch einmal auf die Diskussion verweisen, die bereits rund
um die Hauptstadtkriterien in der Frühen Neuzeit von Herbert Knittler
vorgestellt wurden. Seine Definition einer frühneuzeitlichen Hauptstadt
(und genau an deren definitionsgemäßen Wendepunkt befindet sich die
105 Zitiert nach: David P. CURRIE, The Constitution of the United States: A Primer for the People, New York, 2000, S.106. (Alle weiteren Zitate, sofern nicht anders angegeben aus der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika beziehen sich auf diese Ausgabe) - Der Kongress soll die Macht besitzen in jeglichen Fällen die exklusive Gesetzgebung über einen solchen Distrikt (zehn Meilen im Quadrat nicht übertreffend), der durch Loslösung von bestimmten Staaten und durch die Anerkennung des Kongress, der Regierungssitz der Vereinigten Staaten von Amerika werden soll und besitzt die Autorität über all jene Gebiete, die durch die Zustimmung der Gesetzgebung des Staates, in welchen der selbige liegen soll, zu verfügen, um Forts, Magazine, Arsenale, Häfen und andere notwendige Gebäude zu errichten. (Übersetzung, T.L.)
39
Gründung Washington, D.Cs.) widerspricht dieser Annahme. 106 Von
Interesse ist ebenfalls, dass im gesamten Text der amerikanischen
Verfassung von einer ‚capital city’, also Hauptstadt, keine Rede ist.
Vielmehr wird die Bezeichnung ‚District’, die sich bis heute auch im
Stadtnamen erhalten hat, verwendet. Streng an der Originalquelle
orientiert, bedeutet es somit, dass die amerikanische Verfassung keine
Gründung einer Hauptstadt, sondern lediglich eines autonomen
Verwaltungsdistriktes vorgibt.
Wenige Zeit später verabschiedete der Kongress den Act for establishing
the temporary and permanent seat of the Government of the United States
oder verkürzt auch Residence Act genannt, um der Frage nach dem
neuen Sitz der Regierung mehr Nachdruck zu verleihen:
„Be it enacted by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled, That a district of territory, not exceeding ten miles square, to be located as hereafter directed on the river Potomack, at some place between the mouths of the Eastern-Branch and Connogochegue be, and the same is hereby accepted for the permanent seat of the government of the
United States: [...] And be it further enacted, That the President of the United States be authorized to appoint [...] three commissioners, who [...] survey, and by proper metes and
bounds, define and limit a district of territory, under the limitations above-mentioned; and the district so defined, limited and located, shall be deemed the
district accepted by this act, for the permanent seat of the government of the United States. [...]
And be it enacted, That [...] all offices attached to the seat of the government of the United States [...] shall remain at the city of Philadelphia, in the state of
Pennsylvania; [...] And be it enacted, That on the said first Monday in December, in the year one
thousand eight hundred, the seat of the government of the United States, shall, by virtue of this act, be transferred to the district and place aforesaid [...]107
106 Vgl. Anmerkungen 55 bis 57. 107 Siehe Act of July 16, 1790 (D.C. Residency Act), 1 STAT 130, which established the District of Columbia as the seat of government., 07/16/1790 - 07/16/1790, Department of State, Enrolled Acts and Resolutions of Congress, compiled 1789 - 2011. - Es sei verordnet vom Senat und dem Abgeordnetenhaus der Vereinigten Staaten von Amerika, dass ein Distrikt auf dem Gebiet, zehn Meilen nicht übersteigend, hiernach gelegen am Fluss Potomac, an einem Ort zwischen den Mündungen des Eastern Branch und Connogochegue, und der gleiche hierbei als permanenter Sitzung der Regierung der Vereinigten Staaten angesehen wird [...] Es sei ebenso verordnet, dass der Präsident der Vereinigten Staaten autorisiert wird, drei Kommisare ernennen kann, die unter angemessenen Maß und Ziel ein Gebiet nach den genannten Kriterien erkundschaften und definieren; der so erschlossene Distrikt soll der von diesem
40
Der sogenannte Residence Act stellt zahlreiche Anordnungen auf,
inwiefern die Suche nach dem geeigneten Ort vom Kongress abgesteckt
wird. Gleich zu Beginn wird auf die verfassungsgemäße Beschränkung
der Größe der Hauptstadt verwiesen, die forthin bei zehn Meilen im
Quadrat liegt. Der Ort wird noch etwas ungenau abgesteckt, er befindet
sich aber am Fluss Potomac, wobei das Gebiet einer Länge von über
achtzig Meilen entspricht. 108 Darüber hinaus wird die Rolle des
Präsidenten beschrieben, der Kommissare bestimmte, den geeigneten Ort
für die Ansiedlung auszuwählen. Von besonderem Interesse ist die
Regelung, dass zunächst übergangsweise Philadelphia, PA die
Hauptstadt wird und schon im Jahr 1800 der Umzug in den neu zu
gründenden Regierungssitz erfolgen soll.
Präsident George Washington bedurfte auch nur eines Jahres, den
geeigneten Ort auszumachen, was vor allem damit zusammenhing, dass
dieser in gewissem Maße bereits feststand.109
Die Ergebnisse, die in einem sogenannten Amendement (ein
Abänderungsantrag von Gesetzen) am 3. März 1791 veröffentlicht
wurden, geben einen ersten Aufschluss über die zukünftige Lage des
Regierungsdistriktes:
„An act for establishing the temporary and permanent seat of the Government of the United States, as requires that the whole of the district of territory, not exceeding ten miles square, to be located on the river Potomac, [...], shall be located above the mouth of the Eastern Branch, [...], and above the mouth of Hunting creek, [...], and also the town of Alexandria [...]. That nothing herein
contained shall authorize the erection of the public buildings otherwise than on
Akt anerkannte Distrikt für den dauerhaften Sitz der Regierung der Vereinigten Staaten sein. Ebenso wird angeordnet, dass alle Ämter, die der Regierung der Vereinigten Staaten angeschlossen sind, verbleiben in Philadelphia, im Staat Pennsylvania. Ebenso wird angeordnet, dass am ersten Montag im Dezember, des Jahres eintausend achthundert der Sitz der Regierung der Vereinigten Staaten, bei der Kraft dieses Gesetzes, zu dem vorher beschriebenen Distrikt und Ort umziehen. (Übersetzung, T.L.) 108 Vgl. John William REPS, The Making of Urban America: A History of City Planning in the United States, New Jersey, 1965, S.241. 109 Vgl. Ebd.
41
the Maryland side of the river Potomac[...].“110
Zunächst lässt sicher erneut feststellen, dass auch in dieser Verordnung,
wie schon in der Verfassung und dem Residence Act nicht von einer
Hauptstadt die Rede ist, sondern lediglich von einem Distrikt gesprochen
wird. Es wird mehrfach betont, dass es sich um den Sitz der Regierung
handelt. Dieser Regierungssitz soll sogar eine Stadt namens Alexandria
(ebenfalls die Siedlung Georgetown) beinhalten, welche heutzutage
außerhalb im (Süd-) Westen Washingtons liegt. Eine eigenständige Stadt,
eine Hauptstadt also, wird in den Anordnungen nicht festgesetzt. Die
Beschreibung der Lage wird an Hand der Flussläufe abgesteckt, der
Hunting Creek, eine Bucht im Süden von Alexandria bildet auch
heutzutage noch die Stadtgrenze.
Diese schon sehr genauen Beschreibungen des zukünftigen
Regierungsdistriktes ist einer Geschichte voller Kompromisse,
Tauschhandel und diplomatischer Hürden geschuldet.111 Diese möchte ich
jedoch nur anreißen, insofern sie Aufschluss über die Hauptstadtfrage
geben.
Ganz zu Beginn stand die Frage nach einer ‚federal city’ im Allgemeinen,
diese sollte aber weder im Norden liegen, daran hatten die südlichen
Staaten des Bundes kein Interesse, noch umgekehrt. In den 1780er
110 Zusatz zum An Act for Establishing the Temporary and Permanent Seat of the Government of the United States, zitiert nach: Franklin K. Van ZANDT, Boundaries of the United States and the several States: with miscellaneous geographic information concerning areas, altitudes, and geographic centers, Washington D.C., 1976, S.90. - Eine Verordnung zur Errichtung des temporären und dauerhaften Regierungssitzes der Vereinigten Staaten, die vorgibt, dass das gesamte Territorium des Distrikts, die zehn Meilen im Quadrat nicht überschreitend, am Fluss Potomac angesiedelt sein soll, [...] angesiedelt sein soll oberhalb der Mündung des Eastern Branch, [...] und oberhalb der Mündung des Hunting Creek, [...] und ebenso die Stadt Alexandria [...]. Nichts hierin enthaltenes soll die Errichtung von öffentlichen Gebäuden abseits der Marylander Seite des Flusses Potomac berechtigen [...]. (Übersetzung, T.L.) 111 Vgl. Frederick Albert GUTHEIM und Antoinette Josephine LEE, Worthy of the nation: Washington, DC, from L’Enfant to the National Capital Planning Commission, 2. Aufl., Baltimore, Md., 2006, S.8–35.
42
Jahren kursierten deshalb erste Pläne, zwei Hauptstädte zu installieren.112
Dieser Plan wurde rasch verworfen, da über die jeweiligen Befugnisse der
beiden theoretischen Hauptstädte keine Einigung zu erzielen war. Letztlich
waren es rein finanzielle Gründe, die den Ausschlag für eine Hauptstadt in
den damaligen Südstaaten gaben. Diese versprachen den Nordstaaten
den Erlass von Schulden aus den Unabhängigkeitskriegen und sicherten
sich damit die Nähe der Regierung.
William Maclay gibt uns in seinem Tagebuch Auskunft über das Ende der
Verhandlungen und den gefundenen Kompromiss der verschiedenen
Parteien:
„Mr. Morris however called me aside, and told me that he had a Communication from Mr. Jefferson of a disposition of having the temporary Residence 15 years in
Philad[elphia] and the Permanent Residence at George Town on the Potowmack.“113
Wie im Zusatz des Residence Acts bereits zu lesen, hatte Philadelphia
diese Rolle lediglich zehn Jahre inne, doch die Regierung um George
Washington und Thomas Jefferson plante mit Nachdruck an der
Verwirklichung von Washington, D.C. (selbstredend zu diesem Zeitpunkt
noch nicht der Name des geplanten Regierungssitzes)114. Der von William
Maclay in seinem Tagebuch genannte Thomas Jefferson beantwortet in
einer Notiz vom 29. November 1790 Opinions on proceedings to be had
under the Residence Act auch jene Frage, die schon im gesamten
112 Vgl. John William REPS, The Making of Urban America, New Jersey, 1965, S.241. 113 Siehe WILLIAM MACLAY, Diary: William Maclay Papers, Washington D.C., Manuscript Division, Library of Congress (081.02.00) [Digital ID # us0081_02], 1789. - Mr. Morris nahm mich jedoch zur Seite und sagte mir, dass er eine Mitteilung von Mr. Jeffeson über eine Anordnung der übergangsweisen Residenz für 15 Jahre in Philadelphia und der permanenten Residenz in Georgetown am Potomac erhalten habe. (Übersetzung, T.L.) 114 Dies änderte sich jedoch schon sehr zügig, spätestens mit der Planung der Stadt Washington selbst, wie in diesen Zeilen der drei Kommissionare an Pierre-Charles L’Enfant nachzuvollziehen ist: „We have agreed that the Federal District shall be called ‘The Territory of Columbia,’ and the Federal City the ‘City of Washington.’ The title of the map will therefore be, ‘A Map of the City of Washington in the Territory of Columbia.’“ Siehe William TINDALL, Naming the Seat of Government of the United States: A Legislative Paradox, in: Records of the Columbia Historical Society, Washington, D.C., 23 (1920), S. 13f.
43
Abschnitt keine eindeutige Klärung zuließ - ob der ‚federal district’ auch
eine ‚federal city’ beherbergen soll. Weder die Verfassung, noch der
Residence Act und sein Zusatz geben darüber Aufschluss, doch Thomas
Jefferson mutmaßte: „no doubt it is the wish, and perhaps expectation [...]
that [...] it will be laid out in lots and streets.“115 Somit zeigt sich, dass die
Planungsabsicht einer Stadt sehr wahrscheinlich immanent war, jedoch zu
keinem Punkt in den verfassungsgemäßen Plänen direkt vorgeschrieben
wurde. Inwiefern sich nun wirklich eine Hauptstadt entwickelte und
angedacht war, wird in einem gesondertem Kapitel zu verhandeln sein.
4.1.2. Die Bauplanung
Die Planung von Washington, D.C. ist mit einer Person eng verwoben:
Pierre Charles L’Enfant. Und das obwohl er an der eigentlichen
Bauaufsicht und Detailplanung überhaupt nicht mehr beteiligt war, worauf
noch näher einzugehen sein wird.
Dieser Abschnitt soll die vorangegangen Ausführungen dahingehend
ergänzen, inwieweit die wenigen Jahre der Bauplanung das Konzept einer
Hauptstadt bzw. eines Hauptstadtdistriktes vorantrieben, welchen
möglichen Ursprung diese besitzen und inwiefern die Entwürfe,
vorbereitend für den folgenden Abschnitt, in eine Tradition von
Hauptstädten eingeordnet werden können.
Für einen Stadtplaner und Architekten gibt es wohl kaum eine reizendere
Vorstellung, als eine große (ungefähr 259km2) Fläche frei bespielen zu
können. Das Gebiet östlich des Potomac ist jedoch lediglich für die
öffentlichen Gebäude und demnach für eine Stadtplanung vorgesehen.
115 Zitiert nach: Jefferson THOMAS, The Works of Thomas Jefferson Volume 6, 1904, S.157. - Es ist keine Frage der Wunsch und vielleicht sogar die Erwartung, dass es mit Parzellen und Straßen angelegt wird. (Übersetzung, T.L.)
44
Dies kann man an den ersten Planungen L’Enfants gut nachvollziehen
(Vgl. Anlage 1116).
Zum einen erkennt man die Anpassung an die natürlichen Begrenzungen
und den trichterförmigen Aufbau der Grundform der Stadt. Im Westen bis
Süden des Potomac und im Süden bis Osten der Eastern Branch. Im
Nordwesten zeigt sich die Abgrenzung zur bereits bestehenden Siedlung
Georgetown. Auch die von Jefferson visierte, für eine Stadtplanung
logische, Einteilung in Straßen und Parzellen für Bauflächen, ist unschwer
zu erkennen. Es zeigt sich zudem eine grundlegende Orientierung im
Gegnsazu zum Stil New Yorks bzw. auch des vorhergehenden
Regierungssitzes Philadelphia, nicht dem schachbrettmusterartigen
Aufbau des Wegesystems nachzugehen, sondern ein von Plätzen und
diagonalen Straßenzügen bestimmtes System der Anordnung zu
verfolgen. Man kann an dieser Stelle schnell L’Enfant auf seine
europäische Herkunft hin durchleuchten und entsprechende Vorbilder
herausfiltern.117 Zahlreiche weitere Studien setzen sich intensiv mit den
möglichen Vorbildern Washington D.Cs. auseinander und bezeugen dabei
vielfältige Favoriten. 118 Von besonderem Interesse scheint aber die
Analogie mit dem Stadtaufbau rund um das barocke Schloss Ludwig XIV. 116 L’ENFANT, PIERRE CHARLES, Plan of the city intended for the permanent seat of the government of t[he] United States!: projected agreeable to the direction of the President of the United States, in pursuance of an act of Congress, passed on the sixteenth day of July, MDCCXC, „establishing the permanent seat on the bank of the Potowmac“, Library of Congress Geography and Map Division Washington, D.C. 20540-4650 USA dcu, G3850 1791 .L41 1991. 117 Gutheim und Lee versuchen seine architektonischen Wurzeln z.B. bei Pére Marc-Antoine Laugier (Essai sur l’archtecture) and Pierre Patte (Monuments) jeweils in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu suchen. Trotz der jeweilig möglich vorbildhaften Aussagen der beiden Architekten und ihrer Vorstellungen der städtischen Raumaufteilung in wichtigen Plätzen die von weiden Avenues verbunden sind oder Plätzen, von denen die Straßen radieren. Auf Grund der schlechten Erkenntnislage über L’Enfant lassen sie diese Verknüpfung aber lediglich als Möglichkeit im Raum, nicht als evidenten Beweis: Vgl. Frederick Albert GUTHEIM und Antoinette Josephine LEE, Worthy of the nation, 2. Aufl., Baltimore, Md., 2006, S.14. 118 So zum Beispiel mit dem Vorbild Versailles und Paris in, Vgl. Stanley ELKINS und Eric MCKITRICK, The Age of Federalism: The Early American Republic, 1788-1800, London, 1995, S.171; Vgl. Scott W. BERG, Grand Avenues: The Story of Pierre Charles L’Enfant, the French Visionary Who Designed Washington, New York, 2009, S.109–113.
45
in Versailles zu sein. Der bedeutendste Ausweis absolutistischer
Architektur soll demnach seine Wiederkehr in dem noch jungen
demokratischen Staat gefunden haben. Zum einen wird wiederholend die
französische Herkunft L’Enfants angeführt. 119 Zum anderen die
städtebauliche Logik, die im Aufbau wiederzufinden ist. So ist es an dieser
Stelle sehr mühsam zu argumentieren, ob oder ob nicht die Stadt
Versailles Vorbild für den Aufbau Washingtons war, steht Versailles doch
ebenfalls in einer europäischen Tradition. Zugleich wird ebenfalls ein
Aufgreifen von Planungen für die Hauptstadt des britischen Königreiches -
London - formuliert.120
Da es die noch erhaltenen Unterlagen über Pierre Charles L’Enfant nicht
mehr ermöglichen, die Ursprünge zu erkennen, muss ich mich der
folgenden Meinung von William T. Partridge, Architekt des National
Capital Park in Washington, D.C. beugen:
„L’Enfant did not need to be endebted to Versailles or London plans; his alone was original and unique. His diagonal avenues with radial streets were simply
coincidential with these other city plans.“121
An dieser Stelle möchte ich jedoch an die einleitende Theorie von Berger
und Luckmann, sowie die Ausführungen Umberto Ecos erinnern. Auch
wenn es nicht mehr nachprüfbar oder in irgendeiner Weise erkennbar ist,
welche Stadtgrundrisse Pate für Washington standen, so lässt sich mit
einer gewissen Sicherheit annehmen, dass L’Enfant Vorlagen hatte. Sei
es Versailles, London oder italienische Städte, die Wahrscheinlichkeit,
dass seine Arbeit originell und einzigartig ist, bleibt im Bereich der
Architektur und damit auch der Stadtarchitektur ausgeschlossen,
119 Vgl. Stanley ELKINS und Eric MCKITRICK, The Age of Federalism, London, 1995, S.171. 120 Vgl. Marjorie Warvelle HARBAUGH, The first forty years of Washington DC architecture, Raleigh, 2013, S.73ff. 121 Zitiert nach: Ebd., p. 75. - L’Enfant war den Plänen von Versailles oder London nicht verpflichtet; seiner allein war original und einzigartig. Seine diagonalen Alleen mit strahlenförmigen Straßen waren einfach zufällig übereinstimmend mit den anderen Stadtplänen. (Überstzung, T.L.)
46
zumindest sofern man den Argumentationen des italienischen
Sprachwissenschaftlers und der beiden amerikanischen Soziologen folgt.
Eine Reihe von Vorbildern werden zumindest von Thomas Jefferson
suggeriert, soll er doch in einem Brief an George Washington die folgende
Liste von Stadtplänen an L’Enfant übermittelt haben: Frankfurt [am Main],
Karlsruhe, Paris, Orléans, Mailand, Amsterdam und ein weiteres Dutzend
Städte.122 In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert, das weitere
Dutzend Städte zu wissen, da Frankfurt, Paris, Orléans und Amsterdam
als mittelalterlich gewachsene Städte als direkte Vorbilder entfallen. Auch
das Amsterdamer Grachtensystem zeichnet sich beispielsweise durch
seine halbrunden Formen aus und lässt auf diese Weise eine
Weiterdeutung auf die linearen Avenues Washington nicht zu. Karlsruhe
wiederum besitzt ein gewisses Potential, da es ebenfalls eine Planstadt
mit Residenzfunktion ist. Der sogenannte ‚Karlsruher Fächer’, eine
stilisierte stadtplanerische Umwandlung des Sonnensymbols, mit dem
Schlossbau im Zentrum dieses Bildes, folgt aber ebenfalls einem anderen
Ideal. Ein interessantes Beispiel zumindest für die Positionierung von
Presidents House und Capitol, lässt sich in Mailand beobachten, durch die
ähnliche Anlage des Castello Sforcesco und des Duomo, beide mit einem
spätmittelalterlichen Hintergrund. Diese beiden Monumente, der Dom und
das Stadtschloss der Sforza Familie, werden heutzutage durch die Via
Dante miteinander verbunden, ganz ähnlich, wie auch die beiden
wichtigen Washingtoner Regierungsbauten durch die Pennsylvania
Avenue. Jedoch sind die Anlagen der Straßen auch in Mailand ganz
ähnlich wie in Paris, Wien und anderen europäischen Großstädten in der
Mitte des 19. Jahrhunderts großflächig verändert worden, um einerseits
dem Sicherheitsstreben der Regierenden vor Aufständen und dem
Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung vor Großbränden Genüge zu
leisten. Dieser Entwicklung wurde, unwissentlich, in Washington, D.C.
schon vorgegriffen. Nicht gänzlich von der Hand zu weisen, sind die
122 Vgl. John William REPS, The Making of Urban America, New Jersey, 1965, S.267.
47
genannten Ähnlichkeiten zur Anlage von Versailles und den Plänen für
London nach dem großen Brand. Mindestens stilistisch lassen sich durch
die breiten Alleen und deren Auffangen in mehren Plätzen Vergleiche
aufstellen.123 Ein weiteres wichtiges und bislang ungenanntes Beispiel für
städtebauliche Veränderungen in Europa ist Rom. Mit großzügigen
Befügnissen von Papst Sixtus V. ausgestattet, gestaltete Domenico
Fontana die zentralen Kirchenplätze, jeweils mit Obelisken und einer
Neuanordnung der zuführenden Straßen, zu den Zentren der römischen
Stadt.124 Rom als Vorbild möchte ich einen eigenständigen Abschnitt im
Anschluss widmen, da es für die Bauwerke des Capitols und des
President’s House von plausiblerer Vorbildwirkung ist.
Weniger umständlich ist es, dem zweiten Architekten Washington, D.Cs.
nachzuspüren, der nach dem Zerwürfnis von George Washington und
Pierre Charles L’Enfant die Bauplanung fortsetzen durfte - Andrew
Ellicott. 125 Dieser nutzte die bereits entworfenen, jedoch nicht
veröffentlichten Planungen (der Grund des Zerwürfnisses war wie so oft
ein finanzieller - bei der Versteigerung der Parzellen wollte L’Enfant keinen
exakten Plan vorlegen126) und vervollständigte diese durch eine exakte
Aufstellungen der Parzellen mit marginalen Änderungen im Gesamtgefüge
(Vgl. hierzu Anlage 2127).
123 Vgl. Scott W. BERG, Grand Avenues, New York, 2009, S.108–113. 124 Vgl. Ebd., S. 108f. 125 Vgl. John William REPS, The Making of Urban America, New Jersey, 1965, S.253–256. 126 Vgl. Stanley ELKINS und Eric MCKITRICK, The Age of Federalism, London, 1995, S.176f. 127 ANDREW ELLICOTT, Plan of the city of Washington in the territory of Columbia!: ceded by the states of Virginia and Maryland to the United States of America, and by them established as the seat of their government after the year MDCCC, Library of Congress Geography and Map Division Washington, D.C. 20540-4650 USA dcu, G3850 1792 .E4.
48
4.2. Die Architektur Washington, D.Cs. am Beispiel -
The President’s House und The Capitol
Wie oben bereits erwähnt, möchte ich einen ganzen Abschnitt zwei
prägenden Gebäuden der Planhauptstadt Washington, D.C. widmen.
Bereits in den frühesten Entwürfen von Pierre Charles L’Enfant sind sie
die einzigen Bauwerke, die sich auch schon bis in die frühe
Planungsphase zurückverfolgen lassen - President’s House und
Capitol.128 Beide Gebäude vereint eine klare Funktionszuschreibung. Wie
der Name schon direkt bekannt gibt, ist das President’s House bis zum
heutigen Tage Sitz und Arbeitsplatz des Präsidenten der Vereinigten
Staaten, wenn es auch mittlerweile The White House genannt wird. Das
Capitol beherbergt wiederum die beiden legislativen Organe der
amerikanischen Verfassung - The House of Senat und The House of
Representatives. Im frühen 19. Jahrhundert war hier ebenfalls die dritte
Gewalt des Staates angesiedelt - The Surpreme Court. Somit lässt sich
der gesamte Regierungssitz der Vereinigten Staaten zu dieser Zeit auf
lediglich zwei Gebäude beschränken.
Das Capitol blickt auf eine lange, durch Kriegszerstörung und häufige
Umbauten gezeichnete Geschichte zurück. Um dieses zentrale Bauwerk
der Washingtoner Architektur angemessen zu betrachten, muss ich den
Zeitraum der Arbeit, die sich bisher lediglich knapp um die
Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert beschränkte, in die Mitte des
selbigen dehnen. Die ungefähr dem heutigen Bild entsprechende Form
erhielt das Capitol abschließend erst im Jahre 1863. 128 Vgl. Anlage 2: L’ENFANT, PIERRE CHARLES, Plan of the city intended for the permanent seat of the government of t[he] United States!: projected agreeable to the direction of the President of the United States, in pursuance of an act of Congress, passed on the sixteenth day of July, MDCCXC, „establishing the permanent seat on the bank of the Potowmac“, Library of Congress Geography and Map Division Washington, D.C. 20540-4650 USA dcu, G3850 1791 .L41 1991.
49
Für die Vision dieser Hauptstadt ist es einleitend von Interesse, die
originalen Vorstellungen, welche eng mit der Gründung der Stadt
verknüpft sind, nachzuvollziehen. Nicht nur nicht untypisch für die Zeit,
sondern für Bauvorhaben im Allgemeinen zeichnet sich zumeist eine
Beziehung zwischen einem Mäzen und Bauherrn und einem willigen
kreativen Geist für die planerische Umsetzung des Projektes ab, bzw. ist
dies die bevorzugteste Darstellungsweise für historische Konfigurationen
in der Architektur. Diese Rollen übernehmen für die frühe Baugeschichte
des Kongresshauses Thomas Jefferson als Visionär und politischer
Weichensteller und Präsident und Benjamin Latrobe als gefragter Künstler
und stilgebende Ikone der noch jungen amerikanischen
Architekturgeschichte. 129 Dies repräsentiert jedoch leider nur einen
minimalen Ausschnitt der wechselvollen Baugeschichte. Erster Architekt
des Capitols war William B. Thornton, dessen Entwurf und Bau (siehe
Anlage 3130) lediglich wenige Jahre aktuell bliebt. Ab 1804 bis zum Krieg
und der teilweisen Zerstörung des Capitols 1814 sowie für die folgenden
Aufbauarbeiten übernahm Benjamin Latrobe die Leitung (siehe Anlage
4131), aber auch er hielt sich nur bis 1819, als schließlich Charles Bulfinch
übernahm.132 Die auch heute noch bekannte Kuppel wurde jedoch erst
1851 nach der Planung von Thomas U. Walter aufgesetzt. Über ein
129 Diesen Eindruck erhält man zumindest, wenn man die amerikanische Literatur zu dieser Thematik verfolgt, so z.B. Vgl. William C. ALLEN, History of the United States Capitol: A Chronicle of Design, Construction, and Politics, Washington D.C., 2001, S.49–97; Vgl. Ralph G. GIORDANO, The Architectural Ideology of Thomas Jefferson, 2012, S.138–145. 130 William THORNTON, [U.S. Capitol, Washington, D.C. East elevation, low dome] ADE - UNIT 2470, no. 4, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., 1793. 131 Benjamin Henry LATROBE, [United States Capitol, Washington, D.C. Perspective from the northeast], London!: Published at R. Ackermann’s Repository of Arts, 101 Strand, 1825, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., 1806. 132 Die wechselvolle Geschichte rund um die Architekten des Kapitols, die noch viele weitere Architekten, als oben beschrieben verschliss, wird z.B. hier dargestellt: Vgl. James M. GOODE, Washington sculpture: a cultural history of outdoor sculpture in the nation’s capital, Baltimore, Md., 2008, S.21f.
50
Jahrhundert später, 1958, wurde die Front des Ostflügels um zehn Meter
vorgeschoben.133
Der ausschlaggebende Grund, warum ich mich mit dem Capitol
beschäftige, ist jedoch die starke Rezeption Roms, die speziell bei diesem
Gebäude und dem umliegenden Capitol Hill (bei Beginn der Planung noch
Jenkins Hill), schon allein in der Namensgebung eine starke Referenz
aufweist.134 Der Baustil, welcher sich mit jedem Architekten änderte, was
die Deutung besonders erschwert, wird im allgemeinen als ‚Greek Style’
formuliert - das Markenzeichen von Benjamin Latrobe.135 Dem gegenüber
steht die ‚Romrezeption’ der sogenannten Gründerväter der Vereinigten
Staaten von Amerika, zu denen Thomas Jefferson gehört.136 Für jene
waren die Vereinigten Staaten von Amerika das neue Römische
Imperium.137
Jedoch genügt es an dieser Stelle, an der Vermutung einer antiken
Rezeption, ob nun griechisch oder römisch, für die Architektur
festzuhalten. Das Bauwerk selbst verändert seine Ausprägung und
Rezeption je nach den betrachtenden Rezipienten. Die Gemengelage, die
der Planung des Baus, samt den Erkenntnissen und Verformungen, die
wir bis heute daran weiterhin beobachten können, anhängt, lässt eine
zweifelsfreie kunsthistorische Deutung nicht zu, obgleich diese in vielen
Fällen forciert wurde. 138 Das Capitol eines der Wahrzeichen der
politischen Hauptstadt Washington, D.Cs. verweist in erster Linie durch
seine Funktion als Zentrum der Legislative (und für kurze Zeit der
Judikative) auf eine Tradition beim Bau von Regierungssitzen bzw.
Residenzen. Obgleich die Auskünfte über die architektonische
133 Vgl. Ebd., S. 21. 134 Vgl. Axel GAMPP, Rom zwischen Tivoli und Washington. Die Visualisierung des antiken Rom in der Frühen Neuzeit., in: Das antike Rom und sein Bild, hrsg. von Hans-Ulrich CAIN/Annette HAUG/Yadegar ASISI, Berlin 2011, S. 237-245. 135 Vgl. Ebd., S. 241f. 136 Vgl. Carl J. RICHARD, The Founders and the Classics: Greece, Rome, and the American Enlightenment, 1995, S.12–39. 137 Vgl. Carl J. RICHARD, Greeks & Romans Bearing Gifts: How the Ancients Inspired the Founding Fathers, Plymouth, 2009, S.97–129. 138 Um nur einen zu nennen, dieser dafür mit Nachdruck: Vgl. James LANTOS, U. S. Capitol (Pictorial America), Carlisle, 2010, S.4.
51
Ausgestaltung einen wahren Korpus an Deutungen erschlossen haben139,
sind sie für diese Ausarbeitung nur von geringem Interesse. Die möglichen
römischen Vorlagen, wie das Pantheon, für die heutige Kuppelanlage,
sind erst mit der Zeit erschlossen und spiegeln einen anderen
rezeptionshistorischen Hintergrund. 140 Die Diskussion, ob Versailles,
London oder Rom Vorbilder für die Planungen waren, kann am Bau des
Kongresshauses nicht beantwortet werden. Vielmehr lassen sich
Aussagen über den Zeitgeist treffen, welche Botschaften transportiert
werden sollen - lediglich hierauf kommt es im Rahmen dieser
Hauptstadtdebatte an. Das Projekt Disctrict of Columbia bedurfte
einerseits einer Einordnung in bestehende Systeme, andererseits eine
architektonische Abgrenzung vom europäischen Kontinent um die
ehemals koloniale Stellung als nun eigenständige Macht abzuschütteln.
Hierfür fehlten dem jungen Staatenbund jedoch die ausgezeichneten
Architekten141, was sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ändern
sollte, mit Hochhausbauten als Markenzeichen amerikanischer
Innenstädte, nur eben nicht in Washington, D.C., da es hier eine
besondere Restriktion für die Bauhöhe gab.
Das weitere Bauwerk von monumentaler Bedeutung für Washington, D.C.
ist das President’s House oder wie heute eher üblich The White House.
Die architektonische Geschichte des Weißen Hauses ist von einer
angenehmen Schlichtheit. Es war das einzige Regierungsbauwerk, das
beim Umzug im Dezember 1800 schon vollkommen fertiggestellt war.142
Von ebensolcher Einfachheit zeigt sich auch das architektonische Vorbild,
139 Vgl. James M. GOODE, Washington sculpture, Baltimore, Md., 2008, S.21f. 140 Obgleich der häufig zitierte Thomas Jefferson schon 1781 eine Vorbildfunktion des Patheon für das Kapitol propagiert haben soll, so zumindest: Vgl. Peter S. ONUF, Nicholas P. COLE und Richard Guy WILSON (Hgg.), Thomas Jefferson’s Classical Architecture: An American Agenda, in: Thomas Jefferson, the Classical World, and Early America, hrsg. von Peter S. ONUF/Nicholas P. COLE/Richard Guy WILSON, University of Virginia Press, 2011, S. 99–128, hier S. 112f. 141 Vgl. Frederick Albert GUTHEIM und Antoinette Josephine LEE, Worthy of the nation, 2. Aufl., Baltimore, Md., Johns Hopkins Univ. Press, 2006, S. 22f. 142 Vgl. Ebd., S. 42f.
52
das Leinster House in Dublin/ Irland, welches mittlerweile Sitz des
Kongress’ der irischen Republik ist, zur Entstehungs- und Planungszeit
des President’s Houses jedoch den Herrschaftssitz der gleichnamigen
Adelsfamilie darstellte. 143 Der leitende Architekt, James Hoban, war
irischer Herkunft, was die Assoziation des Ursprungs dieser Idee
nahelegt.144 Eine antike Rezeption ist an dieser Stelle höchstens auf
Grund der Farbwahl herzustellen, wobei ‚weiß’ als Farbe des Anstriches
aber auch nicht weiter ungewöhnlich war. Dem Widersprechend sind auch
die von Präsident George Washington erwünschten Blumen- und
Eichelmuster.145
Jedoch lässt sich abermals eine funktionale Ebene abstrahieren, das
Vorbild war genau wie das zu schaffende Haus des Präsidenten ein
repräsentativer Ort der Machtdarstellung (das mit Abstand größte
Gebäude in einem weiten Umkreis).
Die Architektur Washington D.Cs. ist wie oben bereits angedeutet für sich
selbst genommen in den Anfangsjahren nach der Stadtgründung kein
Ausweis an nationaler Besonderheit. Sie bedient auf funktionaler Ebene
vielmehr die nötigen Bedürfnisse an Repräsentation. Hierfür ist es
irrelevant, welche stilistischen Vorbilder aufgegriffen wurden, da diese mit
Ausnahme des White House auch nicht eindeutig bestimmbar sind. Es hat
sich somit auch in der Praxis gezeigt, dass die kunsthistorische Sichtweise
für eine komparatistische Darstellung von Architektur ungeeignet ist.
Würde man dem Pfad der Kunstgeschichte an dieser Stelle folgen, würde
man die Vereinigten Staaten von Amerika in dieser Phase zu einem
ausschließlichen Rezeptionisten antiker Ideen herabwürdigen. Diese
erfüllen jedoch lediglich einen Mittel zum Zweck - Repräsentation.
143 Vgl. Ebd. 144 Vgl. Ebd., S. 42f. 145 Vgl. Ebd., S. 42.
53
4.3. Die Hauptstadtfrage
In diesem zusammenfassenden Abschnitt möchte ich nun den einleitend-
theoretischen Teil in Bezug zur Hauptstadtfrage um Washington, D.C.
stellen. Hierzu werde ich im gleichen Rahmen noch einmal drei der
Entwürfe, darunter meinen eigenen, auf ihre Funktionalität hin überprüfen,
um anschließend Washington, D.C. in das von mir bereits angesprochene
globale Hauptstadtmodell als prägendes Beispiel für eine Planhauptstadt
einzuordnen.
Für Washington, D.C. und für die meisten folgenden Planhauptstädte der
globalen Geschichte gilt es die Frage zu beantworten, ob sie vielleicht
nicht Hauptstadt, sondern lediglich Residenzstadt sind? Hiermit ist es
besonders interessant, noch einmal das Modell von Herbert Knittler146 für
die Hauptstadtfrage in der Frühen Neuzeit zu befragen. Sofern mir selbst
Epochengrenzen auch als nichtig erscheinen, so besitzen sie auf Grund
ihres Kategorisierungsanspruches einen eigenen Wert und erleichtern bei
aller Abstraktion die Vergleichbarkeit. Die Frühe Neuzeit wird besonders
mit dem Bau von Residenzen verbunden, der Adel bewegte sich aus der
Stadt, um zumeist am heutigen Stadtrand seine eigene Idee von
Herrlichkeit zu präsentieren.
Knittler nennt drei verschiedene Faktoren, die eine Stadt in der Frühen
Neuzeit zur Hauptstadt werden lassen147. Zunächst sei die Hauptstadt
eine ‚Bevölkerungsagglomeration’ und ‚multifunktionale Staats- und
Landesmitte’148. Dies ist Washington, D.C. nicht und war es auch zu
keinem Zeitpunkt. Jedoch findet sich zumindest der Plan für eine solche
Stadt in dieser Zeit. Der erste Planer Pierre Charles L’Enfant träumte von
einer Kapitale mit einer Millionen Einwohnern149, was bei einer ungefähren
146 Siehe die Anmerkung 45. 147 Siehe die Anmerkungen 55-57. 148 Siehe Anmerkung 55. 149 Vgl. Scott W. BERG, Grand Avenues, New York, 2009, S.112.
54
Bevölkerungszahl von fünf Millionen zu dieser Zeit, das herausragende
Zentrum des Landes bedeutet hätte. Washington, D.C. nahm diese
Entwicklung jedoch nie ein, die Stadt gab sogar nach weniger als fünfzig
Jahren ihre Gebiete auf der linken Seite des Potomac vollständig zurück,
weshalb selbst die vormalige Größe von einhundert Quadratmeilen nicht
mehr von Bestand ist. 150 Dieses Kriterium erfüllt Washington, D.C.
demnach lediglich in der Planungsphase, jedoch nie in Realität.
Weiter wichtig für Knittler war die Konzentration politischer Behörden in
der Stadt. 151 Diesem Kriterium, ich hatte mich oben kurz mit den
auffälligsten Bauwerken hierzu auseinandergesetzt, entspricht die Stadt
vollkommen. In rapider Geschwindigkeit siedeln nach und nach alle
Institute der amerikanischen Regierung in die noch unfertige Planstadt.
Knittler gibt jedoch eine Einschränkung vor, welche die beiden bisherigen
Ausführungen miteinander verknüpft. An dieser Stelle wird es besonders
schwierig eine Antwort zu finden. Knittler fordert für eine Hauptstadt, dass
„keine Überlagerung der Residenzbauten im gesamten Stadtgefüge“ 152
vorherrschen soll. Diesem Unterscheidungszeichen, das besonders auf
den Unterschied zwischen Hauptstadt und Residenzstadt anspielt,
entspricht Washington, D.C. in keiner Weise. Es sei nur an die Auflagen
der amerikanischen Verfassung erinnert, welche das Territorium für den
Regierungssitz nicht nur mit besonderen Rechten auszeichnet und
gleichzeitig mit starken Restriktionen für den privaten Bereich
einhergeht.153 Der spätere District of Columbia ist hiernach gänzlich dem
Kongress unterstellt, der auch gleichzeitig Herr über die Bautätigkeiten
und die allgemeine Stadtentwicklung bleibt. Gleichzeitig dominieren die
Bauten rund um die Pennsylvania Avenue, Capitol und Presidents House,
150 Vgl. Paul FINKELMAN, Donald R. KENNON und A. Glenn CROTHER (Hgg.), The 1846 Retrocession of Alexandria, in: In the Shadow of Freedom: The Politics of Slavery in the National Capital, hrsg. von Paul FINKELMAN/Donald R. KENNON/A. Glenn CROTHER, Ohio University Press, 2011. 151 Siehe Anmerkung 56. 152 Siehe Anmerkung 57. 153 Siehe Anmerkung 109.
55
samt der zu späterer Zeit hinzugefügten Monumente das Stadtbild in
besonderer Weise.
Somit ist zu schlussfolgern, dass Washington, D.C. nach Herbert Knittler
keine Hauptstadt darstellt, obgleich es sich durch höchste herrschaftliche
und bundesstaatliche Legitimation so bezeichnen darf. Es stellt sich also
die Frage, ob Washington, D.C. ein neuartiges Phänomen begründet,
einen neuen Typus der Hauptstadt repräsentiert oder ob es sich einfach
nicht in die europäische Definition einer frühneuzeitlichen Hauptstadt
einpassen lässt? Dies wird sich durch einen Blick auf die weiteren Modelle
klären lassen.
Im Modell von Slack und Chattopadhyay154 wird ein langer Katalog von
Hauptstadtsmerkmalen zusammengestellt. Diese sind, am Beispiel für
Washington, D.C. sehr richtig, für ‚federal capitals’, also Hauptstädten in
einem föderalen System, wie dem der Vereinigten Staaten von Amerika,
vorgesehen, nur leider nicht historisiert. Dies verkompliziert die
Einordnung in die verschieden Kategorien. Washington, D.C. war zwar
von Anfang an der Sitz der Regierung, womit der erste Punkt erfüllt ist, bis
die geforderten nationalen Institute, wie Nationalmuseen,
Nationalbibliotheken oder die Nationalbank Einzug in die Stadt erhielten,
verging noch weit über ein Jahrhundert.155 Schon zu Beginn wurde die
Internationalisierung der Hauptstadt vorangetrieben, Botschaften zählten
zu den ersten Gebäuden der neu gegründeten Hauptstadt. 156 Des
Weiteren formulieren die beiden Wissenschaftler die Maßgabe, dass der
Nationalstolz durch Zeremonien und Gedenktage in der Hauptstadt
geprägt wird. Dies trifft in den USA jedoch nur beschränkt zu, für die hier
verhandelte Zeitspanne überhaupt nicht. Die meisten Feierlichkeiten sind
gleichzeitig an vielen Städten des Landes und nicht auf die Hauptstadt 154 Siehe die ausführliche Darstellung in Anmerkung 24. 155 Das Smithsonian, das Nationalmuseum wurde erst 1846 angelegt, die Nationalbank, Federal Reserve, erst 1913, die Nationalbibliotek, die Library of Congress, entstand jedoch schon ganz zu Beginn um 1800. 156 Strenggenommen müsste man von Legationen, also Gesandtschaften um 1800 sprechen. Die erste vollumfängliche Botschaft eröffnete 1871 ihren Sitz in Washington, D.C., Vgl. Kent E. CALDER, Asia in Washington: Exploring the Penumbra of Transnational Power, Washington D.C., 2014, S.30ff.
56
beschränkt. Dies trifft auch auf die weiteren Kategorien zu. Diese sind, da
es sich um eine Arbeit von Urbanisten handelt, wie schon angesprochen,
in keiner Weise historisiert und in vielen Fällen auch nicht historisierbar.
Dieses Modell nähert sich Washington, D.C. als Hauptstadt zwar eher an
als die frühneuzeitliche Hauptstadtdeutung, kann es aber in seiner
historischen Entstehung und der nationalen Besonderheit nicht
entsprechend würdigen. Die Betrachtung der Hauptstädte allein aus der
Gegenwart wird keiner Hauptstadt gerecht und speziell die große Zahl an
Variablen, lässt viele unbeachtet. So auch bei Washington, D.C, welches
selbst in einer streng gegenwärtigen Betrachtung den beiden
nordamerikanischen Urbanisten nicht vollständig gerecht werden würde,
obwohl es heutzutage ein Musterbeispiel für eine Hauptstadt ist, die nach
über zweihundert Jahren Planung den vielfältigen Aufgaben einer solchen
Stadt wie kaum eine andere Genüge leistet. Durch die Sonderregelung
der Verfassung genießt Washington, D.C. auch heute noch einen
Sonderstatus, dem die Metropolen dieser Welt, die noch eine viel größere
Anzahl von Aufgaben neben der Hauptstadtfunktion erfüllen müssen, nicht
immer im gleichen Maße gerecht werden können.
Aus diesem Grund möchte ich zum Abschluss noch einmal mein eigens
formuliertes, konzentrierteres Programm für eine Hauptstadt aus dem
zweiten Kapitel anwenden. In diesem Kapitel erweiterte ich einleitend das
Modell um eine förmliche Belanglosigkeit, die aber zur Historisierung einer
Hauptstadt von großer Bedeutung ist - die Benennung und die
entsprechende Anerkennung einer Elite, welche eine Hauptstadt schon zu
einer solchen machen können. Hinzu kommt die Internationalisierung der
Hauptstadt, welcher auch bei Neugründungen rasch nachgegangen
wird. 157 Das letzte Merkmal ist die Bedeutung einer Hauptstadt als
nationales Symbol. Eine Hauptstadt zu bestimmen, ist entweder ein
bedeutender politischer Akt, oder wie in den Fällen von Peking, London 157 Für diesen Punkt lassen sich zweifelsohne Ausnahmen finden, wie das noch sehr junge Naypyidaw, Haupstadt von Myanmar oder schon genannte Sondersituationen, wie in Amsterdam oder Jerusalem, die auf Grund der Sicherheitslage, oder politischen Struktur lediglich über Konsulate verfügen, hierfür aber umso größere Bedeutung als nationales Symbol besitzen.
57
oder Paris eine historische Entwicklung solchen Alters, dass die
Bedeutung einen hohen Grad an Normalität erreicht hat, sodass eine
Änderung dieses Status gesellschaftlich und politisch undenkbar wäre.
Hier kommt die Architektur als vergleichendes Moment hinzu. Die
Funktionalität von Regierungsgebäuden, die benötigte Breite der Straße
für z.B. eine Militärparade, der strukturelle Aufbau einer Stadt für die
Anlage von Botschaften oder allgemeinen Verwaltungsbauten ist global
gesehen vergleichbar. Die Vergleichbarkeit setzt sich dabei auch über die
architektonischen und kulturell eigenständigen Formalien hinweg. Wie mit
dem theoretischen Unterbau der Semiotik von Umberto Eco bereits
erschlossen und mit den wissenssoziologischen Annahmen von Berger
und Luckmann vertieft, gilt auch für Washington, D.C., wie für jede andere
Hauptstadt, dass sie sich auf Bestehendes zurückbesinnen musste. Es
war mir nicht möglich, eindeutig zu bestimmen, ob die architektonischen
Ursprünge der amerikanischen Hauptstadt in Rom, Versailles, London
oder gar Paris 158 liegen. Dies spielt letztendlich für das weitere
Hauptstadtvorhaben, welches ich im Ausblick skizzieren möchte, keine
bedeutende Rolle. Es ist schließlich auch für Washington, D.C. im
Speziellen uninteressant, scheinen sich die Stadtplaner doch durch die
verschiedensten Reminiszenzen auf unterschiedlichste Baustile auf keine
eindeutige Zuweisung festlegen zu wollen. Ein irisches Adelshaus stand
Pate für das White House, das römische Pantheon, eine Kirche aus dem
3. Jahrhundert, für das Capitol, griechische und römische Tempelbauten
für verschiedenste Verwaltungsbauten, ägyptische Obelisken für das
Washington Monument, das älteste Gebäude des Smithsonian (der
Nationalmuseumskomplex) ist im normannischen Stil des englischen
Mittelalters gehalten, die National Cathedral ist im gotischen Mischstil
erbaut. Es zeigt sich somit abermals, dass eine kunsthistorische Deutung
158 Für diese Variante spricht sich sogar ein ganzer Sammelband aus. Dessen Ansätze sind leider ebenso überzeugend, wie die schon zitierten Darstellungen über Rom oder London: Vgl. Cynthia R. FIELD, Isabelle GOURNAY und Thomas P. SOMMA, Paris on the Potomac: The French Influence on the Architecture and Art of Washington, Washington, D.C., 2013.
58
wenig sinnvoll erscheint, um den Phänomen Hauptstadt näherzukommen.
Die Hauptstadt ist Funktionsträger und so auch ihre Architektur funktional.
Jedoch gibt es auch für das Kriterium des nationalen Symbols
Ausnahmen, wenn man hierbei lediglich die historische Aufladung in den
Blick nimmt. Es sind politisch fragwürdige Entscheidungen, wie die
Gründung Abujas, die Bestimmung Bonns als Hauptstadt der
Bundesrepublik Deutschland oder eben Naypyidaw als Beschluss der
Militärregierung und bisherige Fehlplanung, die einer national
aufgeladenen Geschichte entgegenstehen. Jedoch ist es die jeweilige
funktionale Architektur auch dieser Städte, die nationale Bestimmungen
aufnimmt und diese dann in den internationalen Diskurs einbettet. Mit der
Annahme, dass Architektur einerseits immer zweckgebunden und
andererseits einen bestimmten Diskurs folgen muss, wird sie auf der einen
Seite globalisiert und ist auf der anderen Seite an eine national(-staatliche)
Bestimmung gebunden.
Washington, D.C. erfüllt seit seiner Gründung alle drei Kategorien.
Lediglich die oben beschriebene kurze Phase zwischen 1787 und 1791,
als in den offiziellen Darstellungen keine Klarheit bestand, ob die Planung
des Hauptstadtterritoriums überhaupt eine Stadt beinhalten soll, lässt sich
hier ausgrenzen, in dieser Zeit waren jedoch auch New York City bzw.
Philadelphia die Hauptstädte der Vereinigten Staaten von Amerika.
Washington, D.C. ist demnach von jeher, seit der Einsetzung um 1800,
eine Hauptstadt, also auch in der Frühen Neuzeit.
59
5. Fazit und Ausblick
Dieses abschließende Kapitel soll nicht nur als Zusammenfassung dienen,
sondern den Blick auch nach vorn richten und noch einmal vertiefender
auf die Möglichkeiten der Hauptstadtforschung blicken. Zugleich möchte
ich Washington, D.C. als ein prägendes Beispiel für die komparative
Forschung zu Planhauptstädten vorstellen.
Zu Beginn gilt es jedoch die Ergebnisse zusammen zutragen, die sich aus
der Analyse der vorhergehenden Seiten ergeben haben. Hierzu möchte
ich die Fragestellungen des einleitenden Kapitels rekapitulieren und wenn
möglich zusammenfassend beantworten.
1. Welche Faktoren und Bedingungen kristallisieren sich in einer
Hauptstadt heraus?
Es hat sich abgezeichnet, dass nicht allzu viele Faktoren für die Definition
einer Hauptstadt von Bedeutung sind. Einerseits zeigte sich, dass mit den
Typisierungen der Urbanisten keine Geschichtswissenschaft zu betreiben
ist, da diese nicht entsprechend zu historisieren sind und sich nicht für
eine historische Analyse bewährt haben. Ich selbst habe den Begriff des
(national-) staatlichen Symbols eingeführt, welcher schon eine bestimmte
Zeitebene umfasst, da der Nationenbegriff ein Produkt des 18.
Jahrhunderts ist.159 Ich möchte den Begriff der Nation an dieser Stelle
aber als Ergänzung zum Forschungsbegriff ‚Staat’ verstanden wissen, der
nicht deckungsgleich mit der historischen Anwendung ist. Demnach ist
auch jene Form von Staatlichkeit, eine Nation im Sinne dieser Ausführung,
die ein großes Maß an Zentralisierung (nicht zuletzt ist die
Hauptstadtgründung ein Ausweis hierfür) erlebt hat. Auch der antike
römische Staat besaß zunächst eine Hauptstadt, caput mundi, in Rom,
später mit Konstantinopel dann sogar eine zweite Hauptstadt. Der
159 Vgl. E. J. HOBSBAWM, Nations and Nationalism Since 1780: Programme, Myth, Reality, London, 2012, S.46–80.
60
Vielvölkerstaat mit seinem Zentrum auf der Appenninischen Halbinsel
würde z.B. allen Klassifizierungen als Nationalstaat widersprechen,
weshalb der Nationenbegriff lediglich als verstärkende Ergänzung zu
verstehen ist, welcher den großzügigen Definitionsmöglichkeiten des
Staatsbegriffes eine weitere Einordnung und Richtung vorgeben soll.
Neben der Symbolhaftigkeit einer Hauptstadt zeigte sich besonders die
Internationalität als bedeutendes Merkmal einer Hauptstadt, die
heutzutage ritualisiert durch Botschaftsbauten und deren besonderen
Gesetzesstatus rund um den Globus Ausdruck findet. Aber auch in der
Geschichte waren Konsulate nicht nur gang und gäbe, sondern gehörten
ebenfalls zu gesonderten Bestandteilen einer Haupt- und Residenzstadt.
Ebenfalls von großer Bedeutung ist die Zuwendung von einer Elite eine
Stadt zu einer Hauptstadt zu bestimmen. Am historischen Beispiel
Washington, D.C. habe ich gezeigt, dass diese Stadt schon Hauptstadt
war, bevor sie die weiteren Kriterien der Urbanisten erfüllt hat. Diese
Erklärung, welche die Bearbeitung vielleicht etwas ‚vereinfacht’, ist aber
für eine historische Denkweise unerlässlich, da gerade
Hauptstadtgründungen oder Umwidmungen von Städten in Hauptstädte
selbstredend nicht in kürzester Zeit geschehen können.
2. Welche Hauptstadttypen zeichnen sich global ab?
Nach meiner Auffassung, und diese steht in einem gewissen Kontrast zur
Forschungsmeinung, welche jedoch zum größten Teil nicht historisch
arbeitet, gibt es lediglich drei Typen von Hauptstädten. Die
Planhauptstadt, welche mit der historischen Variante der Residenzstadt
verwandt ist, sich aber durch das Symbolhafte unterscheidet, ist ein
Typus, welcher ausführlich am Beispiel von Washington, D.C. in dieser
Arbeit betrachtet wurde. Hinzu kommen die historisch gewachsenen
Hauptstädte, die diese Funktion auf Grund eines langjährig umgebenden,
gleichbleibenden Staatstypus behalten haben und sukzessive weiter an
ihre Funktionen angepasst wurden. In der letzten Gruppe sind jene Städte,
61
die auf Grund von politischen Entscheidungen zu einer Hauptstadt
geworden sind und zuvor nur geringe staatliche politische Funktionen
besaßen. Hier ist neben z.B. Ankara auch die wiederholte Hauptstadt
Berlin zu nennen, die eine wechselvolle Geschichte besitzt.
3. Gibt es eine architektonische Dimension hinter einer Hauptstadt, die
unabhängig von stilistischen Elementen durch die Zeit Bestand hat/te?
Wie kann man diese beschreiben?
Es gibt sehr wohl eine architektonische Dimension hinter einer Hauptstadt.
Die Architektur ist sogar das tragende Element für den Aufbau einer
Hauptstadt. Diese Dimension liegt vor allem in der Funktionsweise der
jeweiligen Bauten, die sich global vergleichen lassen. Beschreiben lässt
sie sich mit Hilfe der semiotischen Theorie von Umberto Eco und den
wissenssoziologischen Ansätzen von Berger und Luckmann. Die beiden
Ansätze in Kombination erzeugen die Möglichkeit des Vergleiches, da sie
einerseits von der Funktionalität der Architektur ausgehen (Eco) und
gleichzeitig von der gesellschaftlichen Bestimmung eines Wissenskorpus
(Berger und Luckmann).
4. Hat sich eine prototypische Hauptstadt etabliert, welche spätere
Hauptstadtgründungen oder –erweiterungen beeinflusst hat?
Es hat sich gezeigt, dass die typische Hauptstadt nicht existiert. Am
Beispiel von Washington, D.C. habe ich versucht die Vorbilder für dieses
Konstrukt zu identifizieren. Die Beantwortung war aber schließlich nicht
möglich, da sich schon früh abzeichnete, dass die Referenzen nie deutlich
bestimmt wurden, sondern lediglich zu deuten sind. In Verbundenheit mit
den oben genannten Theorien, zeigte sich jedoch auch, dass eine direkte
Vorbildwirkung nicht notwendig ist, da der Rezipient der Bauwerke
Washington, D.Cs. ausschließlich für die Deutung der Bauten
verantwortlich ist. Sein gesellschaftlich konstruiertes Wissen trifft auf die
62
Möglichkeiten einer Architektur im semiotischen Sinne, die letztlich nur der
Funktion der Bauten folgen kann.
5. Welche Ursprünge hat die Hauptstadtplanung von Washington, D.C.?
Welchen Charakter gibt diese Planung dem jungen, demokratischen
Staatenbund an der Wende ins 19. Jahrhundert?
Wie soeben angedeutet, gibt es keine eindeutigen Ursprünge der
Hauptstadtplanung im Disctrict of Columbia, die deutbaren Referenzen
beziehen sich jedoch sämtlich auf einen europäischen Ursprung, was
nicht weiter verwunderlich ist. Für den noch jungen Staatenbund
bedeutete jedoch die Gründung einer neuen Hauptstadt letztendlich die
Loslösung aus seiner kolonialen Vergangenheit. Dieses Schema liegt
auch allen folgenden Planhauptstädten zu Grund. Es war ein wichtiges
Anliegen, dass sogar Verfassungsrang besaß 160 , und besonderer
Dringlichkeit unterlag.
6. Welche Besonderheiten zeichnen sich bei der Hauptstadtplanung in
Washington, D.C. , speziell im Vergleich zu den Residenzstadtgründungen
des 17. Jahrhunderts ab?
Die Trennung von einer Residenzstadt ist nur im Kontext aufzulösen. An
Hand der Darstellungen Herbert Knittlers für die Hauptstadt in der Frühen
Neuzeit161 würde sich Washington, D.C. nicht als Hauptstadt qualifizieren,
zu ähnlich ist die Gründung am Potomac im Vergleich mit den
europäischen Residenzstädten, wie das immer wieder angeführte
Versailles oder Potsdam, in Teilen auch Den Haag. Die Trennung ist im
Fall Washington, D.Cs. von besonderer Schwierigkeit. Jedoch konnte ich
aufzeigen, dass zumindest in der Planung die Hauptstadt der Vereinigten
Staaten von Amerika auch eine Hauptstadt und keine Residenzstadt, wie
Versailles oder Potsdam werden sollte. Letztere standen immer im 160 Siehe Anmerkung 106 161 Siehe Anmerkungen 52-54
63
Schatten der De-Urbanisierung der herrschenden Elite, blieben aber stets
in der Einflusszone der größeren Städte Paris, Berlin und Amsterdam. Sie
dienten lediglich als Herrschaftszentrum und nicht als wirtschaftliches oder
kulturelles Zentrum.
Nach diesen Darstellungen zeigt sich insbesondere meine vierte These
aus dem Einleitungskapitel, dass sich Washington, D.C. als
demokratische Folgenentwicklung des absolutistischen Versailles
ansehen lassen muss, als fälschliche Annahme. Die ersten drei Thesen
bestätigten sich jedoch, soweit es dieser Rahmen zugelassen hat.
Washington, D.C. steht jedoch ganz am Beginn einer anderen
Entwicklung, jener der post-kolonialen Planhauptstadt. Ich möchte nun
einige Städte vorstellen, die unter dem direkten Einfluss des US-
amerikanischen Vorbildes standen.
Zunächst der kontinentale Nachbar, Kanada, dessen Hauptstadt Ottawa
einen Kompromiss zwischen dem französischsprachigen und
englischsprachigen Teil darstellen sollte, ganz ähnlich dem Ausgleich
zwischen den Süd- und Nordstaaten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Ottawa ist jedoch als Grenzfall zu betrachten, da schon am selben Ort
eine kleine Siedlung bestand, bevor die Hauptstadt an diesen Teil des
Staates verlegt wurde.162
Große Ähnlichkeit zeigt jedoch die Anlegung der Hauptstadt Canberra in
Australien, die einen Kompromiss zwischen den Zentren Melbourne und
Sydney schaffen sollte. Die Gründung Canberras zu Beginn des 20.
Jahrhunderts steht ganz in der Tradition Washingtons.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Brasilia, zum Teil ein
künstlerisches Produkt, und als solches, auch zum nationalen Symbol.
Brasilia erschuf einen weiterentwickelten Typus der Hauptstadt, die
162 Vgl. Udo SAUTTER, Geschichte Kanadas, München, 2000, S.63f.
64
vorranging der Regierbarkeit des riesigen Landes dienen sollte, jedoch
auch noch die Grundideen Washington, D.Cs. verkörperte.
Bedeutend stärker von Brasilia beeinflusst zeigen sich dann die jüngsten
Planhauptstädte. Islamabad, Abuja und Naypyidaw forcier(t)en vor allem
das Machtkalkül eines Herrschaftssystems und zeigen sich aber trotzdem
in einer Tradition der post-kolonialen Hauptstadtgründungen.
Abschließend soll nun noch eine Möglichkeit der komparativen
Hauptstadtforschung dargeboten werden, um einen Ausblick zu
ermöglichen, inwiefern diese Thematik noch weiter vertieft und auf einen
breiteren Sockel gestellt werden kann.
Für eine genauere Betrachtung ist die Thematik der Hauptstadt soweit zu
globalisieren, dass sich drei verschiedene Typen von Hauptstädten, zum
Beispiel an Hand einer Betrachtung von abermals Washington, D.C., als
Beispiel für eine Planhauptstadt, von Berlin als jüngstes Beispiel einer
Hauptstadtwerdung und London als Beispiel einer gewachsenen
Hauptstadt, herauskristallisieren.
Der denkbare Untersuchungszeitraum wäre für Washington, D.C. ganz
ähnlich, wie in der vorliegenden Arbeit, seit dem Planungsbeginn im
auslaufenden 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, zur
Fertigstellung des Capitols anzusetzen. Als Zeitraum für Berlin würde sich
die Gegenwart und jüngste Zeitgeschichte, seit dem Beginn der
Hauptstadtdebatte am Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts bis
heute, empfehlen. Die Untersuchung zu London würde sich auf die Mitte
des 17. Jahrhunderts beschränken, nach dem Großen Brand 1666 und
um die Wiederaufbaupläne von Sir Christopher Wren.
Die Archetypen dieser Städte, könnte dann auf das unterliegende Schema
übertragen werden und so Auskunft über die Genese des Phänomens
Hauptstadt geben.
Im Ganzen soll so eine neue Theorie zur Hauptstadt entstehen, die auch
historisch zu bearbeiten ist und sich nicht ausschließlich auf die
65
Gegenwart beschränken. Gleichzeitig müssen die Prozesse aufgezeigt
werden, die hinter einer Hauptstadt stecken.
Es bietet sich an, die oben genannten Fragestellungen noch einmal einer
genaueren Betrachtung zu unterziehen, um abschließender Auskunft
geben zu können.
Die Thematik ‚Hauptstadt’ war bisher ein vernachlässigtes
Untersuchungsfeld der Geschichtswissenschaft und wurde vollkommen
den benachbarten Disziplinen überlassen, wenn es sich nicht um dezidiert
historische Problemfelder handelte.
Meine Theorie zur Genese der Hauptstadt, soll der
Geschichtswissenschaft die Deutungshoheit zurückgeben und sie aus
dem Status der mangelhaft ausgeführten Hilfswissenschaft in der
Urbanistik herauslösen und gleichzeitig auch im Allgemeinen für Themen
öffnen, die auch in der Gegenwart von hoher Relevanz sind.
66
6. Bibliographie
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73
7. Anhang
Anlage 1
Quelle: L’ENFANT, PIERRE CHARLES, Plan of the city intended for the permanent seat of the government of t[he] United States!: projected agreeable to the direction of the President of the United States, in pursuance of an act of Congress, passed on the sixteenth day of July, MDCCXC, „establishing the permanent seat on the bank of the Potowmac“, Library of Congress Geography and Map Division Washington, D.C. 20540-4650 USA dcu, G3850 1791 .L41 1991.
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Anlage 2
Quelle: ANDREW ELLICOTT, Plan of the city of Washington in the territory of Columbia!: ceded by the states of Virginia and Maryland to the United States of America, and by them established as the seat of their government after the year MDCCC, Library of Congress Geography and Map Division Washington, D.C. 20540-4650 USA dcu, G3850 1792 E4.
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Anlage 3
Quelle: THORNTON, William, [U.S. Capitol, Washington, D.C. East elevation, low dome] ADE - UNIT 2470, no. 4, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., 1793.
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Anlage 4
Quelle: LATROBE, Benjamin Henry, [United States Capitol, Washington, D.C. Perspective from the northeast], London!: Published at R. Ackermann’s Repository of Arts, 101 Strand, 1825, Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C., 1806.
Eidesstattliche Erklärung
Ich erkläre an Eides statt, dass ich die beiliegende Seminar-/Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Seminar-/Diplomarbeit hat keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegen.
Ort, Datum Unterschrift