"Von der Konstruktion der Stille zur Konstruktion der Intimität"

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Von der Konstruktion der Stille zur Konstruktion der Intimität Die Szenografie des House of the Future als Wohnlaboratorium in einer stillgelegten Welt Sabine von Fischer Wohnen findet in Nachbarschaften statt – oder auch nicht. Die Bau- akustik, die Materialtechnik und die Industrie haben im 20. Jahrhundert neue Techniken der Schallisolation eingeführt, die Stille versprechen. Zur gleichen Zeit wurde in den wissenschaftlichen Laboratorien die Idee des schalltoten Raums in den Horizont der Machbarkeit gerückt: Erst durch Schichten aus Filz, Watte und Baumwolle, später durch Keilkonstrukti- onen aus Glas- und Asbestfasern konnte (fast) alles Hörbare gedämmt werden. Für eine Kulturgeschichte der medialen Klänge ist die Idee eines akus- tisch nicht vorhandenen Raums relevant: Der physische Raum hat keine materielle Präsenz, sondern ist vielmehr ein Gefäß für eine beliebige Aus- stattung. In einer schallisolierten Wohnung verschwinden nicht nur die Nachbarn. Der von äußeren Reizen befreite Innenraum wird zum Spiel- feld für eine Bespielung mit elektrotechnischen Medien. Es ist die These dieses Aufsatzes, dass die wissenschaftliche Praxis kontrollier- und steuerbarer Lautsphären in physikalischen Laboratorien als kulturelle Praxis auch in den Entwurf von Wohn- und Innenräumen übernommen wurde. Die Technik der Isolation und die Technik der Über- tragung, beide in akustischen Laboratorien entwickelt, stellten die Archi- tektur im 20. Jahrhundert auf neue Grundlagen. Messbare und kont- rollierte Akustik gehörten nicht nur zu den technischen Möglichkeiten im Studiobau für Tontechnik und Radio, sondern flossen ebenso in die Architektur des Wohnens und Arbeitens ein. Diese Möglichkeiten eines frei wählbaren Wohnambientes waren zum Beispiel im März 1956 Teil des Narrativs einer Ausstellungsarchitektur in der Daily Mail Ideal Home Exhibition in London.

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Von der Konstruktion der Stille zur Konstruktion der Intimität Die Szenografie des House of the Future

als Wohnlaboratorium in einer stillgelegten Welt

Sabine von Fischer

Wohnen findet in Nachbarschaften statt – oder auch nicht. Die Bau-akustik, die Materialtechnik und die Industrie haben im 20. Jahrhundert neue Techniken der Schallisolation eingeführt, die Stille versprechen. Zur gleichen Zeit wurde in den wissenschaftlichen Laboratorien die Idee des schalltoten Raums in den Horizont der Machbarkeit gerückt: Erst durch Schichten aus Filz, Watte und Baumwolle, später durch Keilkonstrukti-onen aus Glas- und Asbestfasern konnte (fast) alles Hörbare gedämmt werden.

Für eine Kulturgeschichte der medialen Klänge ist die Idee eines akus-tisch nicht vorhandenen Raums relevant: Der physische Raum hat keine materielle Präsenz, sondern ist vielmehr ein Gefäß für eine beliebige Aus-stattung. In einer schallisolierten Wohnung verschwinden nicht nur die Nachbarn. Der von äußeren Reizen befreite Innenraum wird zum Spiel-feld für eine Bespielung mit elektrotechnischen Medien.

Es ist die These dieses Aufsatzes, dass die wissenschaftliche Praxis kontrollier- und steuerbarer Lautsphären in physikalischen Laboratorien als kulturelle Praxis auch in den Entwurf von Wohn- und Innenräumen übernommen wurde. Die Technik der Isolation und die Technik der Über-tragung, beide in akustischen Laboratorien entwickelt, stellten die Archi-tektur im 20. Jahrhundert auf neue Grundlagen.  Messbare und kont-rollierte Akustik gehörten nicht nur zu den technischen Möglichkeiten im Studiobau für Tontechnik und Radio, sondern flossen ebenso in die Architektur des Wohnens und Arbeitens ein. Diese Möglichkeiten eines frei wählbaren Wohnambientes waren zum Beispiel im März 1956 Teil des Narrativs einer Ausstellungsarchitektur in der Daily Mail Ideal Home Exhibition in London.

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DER ENT WURF VON ALISON UND PE TER SMITHSON, 1955/56

Ein architektonisches Beispiel für eine von der Außenwelt abgekoppelte Wohnung mit einer kontrollierten Atmosphäre des Innenraums ist das House of the Future, das Alison und Peter Smithson1 im Jahr 1955 für die Daily Mail Ideal Home Exhibition in London entwarfen (Abb. 1 und 2). Dort wurde das Musterhaus im März 1956 für 25 Tage aufgebaut, später noch einmal im Herbst des gleichen Jahres in Edinburgh.

Innerhalb dieser seit 1908 veranstalteten Wohnmesse der Zeitung Daily Mail war das von den britischen Architekten entworfene futuristi-sche Wohnszenario des House of the Future das erste der Ausblicke in eine mögliche Zukunft, wie sie in späteren Jahren wiederholt wurden. Das Projekt unterscheidet sich von den realisierten Bauten des berühmten Ar-chitektenpaares insofern, als es kein architektonisches Werk, sondern ein lebensgroßes, szenografisches Modell war.

Abb. 1: Modell des House of the Future für die Ideal Home Exhibition.

1 | Alison Smithson (1928–1993) und Peter Smithson (1923–2003) gründeten 1949 in South Kensington ihr gemeinsames Architekturbüro, nachdem sie den Wettbewerb für eine Schule in Huntstanton, Norfolk, gewonnen hatten.

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Abb. 2: Plan des House of the Future von Alison und Peter Smithson, Zeichnung vom 20. Dezember 1955.

Abb. 3: Aussenansicht mit Hauseingang (Mitte) und Ein- und Ausgängen für den Besucherrundgang (links).

Die dem Haus vorangegangene städtebauliche Vision war die einer ver-dichteten Struktur aus gereihten, eingeschossigen Häusern, die sich nur zur Zufahrtsstrasse mit der elektronisch gesteuerten, amöbenförmigen Eingangstür öffneten (Abb. 3). Belichtung und Belüftung geschahen über einen innen liegenden Hof. In der Ausstellung ermöglichte diese archi-tektonische Disposition einen spektakulären Parcours: Die Besucher der Wohnausstellung betraten eine geschlossene Box, in der sie auf zwei Ebe-nen um das vollständig nach innen gerichtete Wohnhaus gehen konnten. Nach außen war die Sicht durch den Ausstellungskubus verschlossen, nach innen aber gab es große Öffnungen, wie auch Einblicke durch das offene Dach. Die Rückseiten der Schränke waren verglast und wurden so zu Schaukästen für die Objekte des fiktiven Bewohnerpaars Anne und

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Peter. Die Blickrichtung der Besucher wiederholte die räumliche Ausrich-tung des Hauses nach innen: Die Zuschauerplattform berührte das Haus aber nicht,2 sie legte vielmehr eine weitere Schutzschicht darum.

Das Szenario des Hauses projizierte Alison Smithson, die für den Ent-wurf und die Pläne der Innenräume verantwortlich zeichnete, in eine 25 Jahre entfernte Zukunft, also für 1981. Nach außen komplett abgeschottet, war das Haus räumlich introvertiert, gleichzeitig aber durch Kommuni-kationstechnologie mit der Außenwelt vernetzt. Die kinderlosen Modell-bewohner Anne und Peter interagierten mit der Außenwelt einzig über audio-visuelle Schnittstellen, die über Mikrofone, Lautsprecher und elek-trische Leitungen Informationen ins Innere des Hauses brachten. An der Außenwand war auf der linken Seite der an einen Höhleneingang erin-nernden, amorph geformten und elektronisch angesteuerten Eingangstür über dem Briefkasten eine Gegensprechanlage, ein Produkt der Sturdy Telephones Ltd.3 in die Wand eingebaut.

Hinter der Garderobe im Entrée befand sich das erste »control panel« (Abb. 3), das in der Zeichnung für die mittlere Ebene des Hauses vom 20. Dezember 1955 folgendermaßen beschriftet ist (Abb. 4):

control panel 1:telephonedimmers to living rm (to work)[…] T.V. control (to simulate working)[…] door broadcast receiver unit. (to work when desired) [etc.]4

Die wiederholte Verwendung des Wortes »control« in der Beschriftung dieses Plans charakterisiert die Utopie dieses Hauses, das gleichzeitig eine unheimliche Vision ist, in bezeichnender Weise: Allein in der Konso-le für das Telefon, dem Control Panel 1, erscheint es sechs Mal, in den wei-teren Konsolen noch drei Mal im Zusammenhang mit der Eingangstüre, zwei Mal für das Badezimmer und je einmal für Schlafraum und Küche. Licht, Ton und Möbelpositionen sollten aus Distanz angesteuert werden. Was wirklich kontrolliert wurde, bleibt allerdings vage: Einige der Schalter funktionierten, vor allem jene für das Licht, andere waren Simulationen. Die Lautsprecher innerhalb des Hauses waren alle Simulationen. Ihre Funktion war einzig, als Attrappen anzukündigen, dass die Umgebung eines Wohnhauses in 25 Jahren vollständig vernetzt und steuerbar sein könnte.

2 | »Structure detached from wall of house« (Schnitt)/»platform must be deta-ched from house walls« (Plan), so die Annotationen auf der Zeichnung 5525 für das House of the Future (CCA Archives DR1995:0033).3 | Banham: »Things to come?«, S. 55 (Herstellerverzeichnis).4 | Annotationen auf der Zeichnung 5509 für das House of the Future (Collec-tion Centre Canadien d‘Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal: DR1995:0018).

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Abb. 4: Detail der Kommunikationsanlage, Zeichnung vom 20. Dezember 1955.

Im House of the Future war die Trennung zwischen gebrauchsfertiger Han-delsware und fiktiver Erfindung mit Absicht nicht eindeutig. Hier gab es Kochgeräte der Zukunft, wie ein Schnellofen mit hochfrequenten Wellen, Titaniumpfannen mit eingebauten Heizelementen oder Esswaren, die dank Gammabestrahlung ohne Kühlung aufbewahrt würden. Der Kritiker Reyner Banham stellte dem futuristischen Charakter der Inszenierung in seiner Rezension entgegen, dass die Zukunft uns nicht nur bald einholen würde, sondern bereits begonnen habe: Die ausgestellten Backöfen seien in Nordamerika bereits Standardware.5

Das im zentralen Control Panel platzierte und beworbene Tella-Loud Loudspeaking Telephone war ein Produkt der Winston Electronics Ltd6 und – wie auch die Gegensprechanlage und das elektrostatische Staubsam-melgerät – eine Vorgabe der Sponsoren.7 Im Tella-Loud Loudspeaking Telephone war ein Lautsprecher eingebaut, der mit Lautsprecherattrappen im restlichen Haus noch überhöht wurde. Das Telefon war ein auf dem Markt erhältliches Produkt; die futuristische Komponente des Telefons war einzig seine Anrufbeantworterfunktion: Sie war für die britischen Konsumenten von 1956 noch Zukunftsmusik. Utopisch war ein Anrufbe-antworter im Jahr 1956 allerdings nicht mehr: In England waren bereits Geräte erhältlich, die automatische Antworten abspielten. Die Einfüh-rung von angekoppelten Geräten zur Nachrichtenaufzeichnung, deren Erfindung auf das Jahr 1900 datiert wird, verzögerte sich vor allem durch langwierige Zulassungsverfahren der Telefongesellschaften. Dies geschah nicht zuletzt in Folge von Diskussionen um die Privatsphäre. Die Technik des Mitschneidens von Gesprächen und Nachrichten hatte vor allem in der Spionagetechnik Verwendung gefunden und wurde für private Haus-

5 | Banham: »Things to come?«, S. 27.6 | Ebd., S. 55 (Herstellerverzeichnis).7 | Van der Heuvel/Risselada: »House of the Future«.

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halte bis in die 1960er Jahre hinein von weiten Kreisen als unpassend empfunden. In den USA waren Anrufbeantworter bereits ab 1949 erlaubt, sie wurden aber vorerst nur wenig benutzt.8

Das Tella-Loud Loudspeaking Telephone im House of the Future, zwischen Eingangsraum und Wohnzimmer an die Wand montiert, war von überall her sichtbar und erreichbar. Als Teil des Control Panel 1 strahlte es über mehrere im Haus verteilte Lautsprecher in den gesamten Innenraum aus und war ein zentraler Teil der medialen Infrastruktur des Hauses, wie Walter Benjamin die Vergangenheit der Telefonapparate 1938 beschrieben hatte: »den dunklen Korridor im Rücken lassend, [hielt] der Apparat den königlichen Einzug in die gelichteten und helleren, nun von einem jünge-ren Geschlecht bewohnten Räume«.9

Die imaginierten medialen Installationen und Zukunftstechnologien des House of the Future kombinierten die Utopie des automatisierten und vernetzten Haushalts mit der Dystopie totaler Überwachung und Künst-lichkeit. Der Ausdruck von Geborgenheit innerhalb des Hauses mit seiner uteralen Form, in dem Liegemöbel und Lautsprecher die Bewohner mit bestmöglichem Komfort bedienen, erinnert an McLuhans Ur-Raum: Im guten Glauben an eine Befreiung durch die Technisierung des Haushalts strömt die Information durch das Haus. Die Vision, dass die Modellbe-wohner des House of the Future dank ihres Beantworters nicht mehr zum Telefon eilen müssen, sondern Anrufe und aufgezeichnete Nachrichten im ganzen Haus über Lautsprecher mithören könnten, löst den privaten Raum der Hörermuschel des Telefons auf.

Der totalen Übertragung der Telefongespräche über Lautsprecher im ganzen Haus stand die sorgfältige Schallisolation des Hauses gegenüber: Die Trennwände zu den dreiseitig angebauten Nachbarhäusern wurden in der Vorschau als »schalldicht« angepriesen.10 Isolierte Bauweisen, wie sie in extremer Form in den akustischen Laboratorien entwickelt wurden, werden zur Vision für den Alltag, in dem es keine Außenwelt mehr gibt. Im Innern garantieren Trennfugen zwischen den einzelnen Elementen des Hauses, dass auch innerhalb der Wohnräume durch die eigenen Akti-vitäten des Bewohnerpaars Anne und Peter nicht zuviel Lärm aufkam, wie in der Vorschau auf die Wohnausstellung weiter beschrieben war.

ISOL ATION

Schalldämmungen, reflexionsarme Oberflächen und Beschallungstech-nik veränderten im Laufe des 20. Jahrhunderts die akustischen Eigen-schaften und damit auch den Höreindruck von Innenräumen wesentlich: Entkoppelt von der äußeren Umwelt wurden Lautsphären möglich, in

8 | Morton: »Recording History«; Morton: Sound Recording, S. 127.9 | Benjamin: »Das Telefon«, S.18. 10 | O. V.: »Forward to Back-to-Back Housing«, S. 236.

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deren isolierter Umgebung sich die Grenzen zwischen persönlicher Emp-findung und technischer Steuerung auflösten.

Die Raumakustik ist, gemessen an anderen Disziplinen, eine junge Wissenschaft. Generell wird ihre Einführung mit 1895 oder 1900 datiert, als Wallace C. Sabine den Nachhall als akustischen Parameter entdeckte.11 Damit wurde eine maßgebliche Charakteristik der auditiven Raumerfah-rung messbar gemacht. Das Laboratorium, welches Sabine im Keller der Harvard University einrichtete, ist das früheste und wohl bekannteste Bei-spiel eines akustischen Laboratoriums. Mit einer Installation aus einem Chronographen, einer Batterie und einer Luftpumpe, auf die er ein Ventil und eine Orgelpfeife montierte, maß er die Abnahme der Schallenergie unter verschiedenen Bedingungen und entdeckte, dass poröse und wei-che Oberflächen mehr Schallenergie absorbierten als nackte Wände. Das heute als »äquivalente Absorptionsfläche« bezeichnete Maß notierte Sabi-ne als »open-window unit«, weil der Schall dort, wo er absorbiert wurde, wie durch ein offenes Fenster verschwand.12

Sabine erkannte ebenfalls, dass seine eigene Kleidung die Schallener-gie dämpfte. In Wien bestätigte der Physiker Gustav Jäger diese Beobach-tung, wobei er auf Sabines Publikation Bezug nahm.13 Dass die körperli-che Anwesenheit der forschenden Physiker in den frühen Laboratorien Einfluss auf die akustische Messung nahm, konfrontierte diese mit der Schwierigkeit, wissenschaftliche Objektivität zu erreichen: Einerseits war ihre Präsenz im Messraum für die Experimente notwendig, gleichzei-tig beeinflusste sie das Resultat. Sowohl von Wallace C. Sabine als auch später vom Bauphysiker Vivian L. Chrisler (der ab den 1920er Jahren am National Bureau of Standards in Washington D.C. akustische Messungen durchführte), ist überliefert, dass sie sich in eine Kiste setzten, aus der nur ihr Kopf herausragte, um den Einfluss ihres Körpers und ihrer Kleidung auf das Verhalten des Schalls zu minimieren.

Im Laboratorium wurde das Modell des Raums als Schallkörper, des-sen resonante Eigenschaften getestet wurden, schon wenige Jahrzehnte nach Sabines ersten raumakustischen Versuchen mit dem Modell des gedämpften Raums ersetzt. Die akustischen Versuchsräume der Nach-kriegszeit wurden reflexionsarm gebaut, damit darin elektroakustische Geräte getestet werden konnten. Nicht mehr der physische Raum sollte hörbar sein, sondern die übertragenen Signale aus Kopfhörern und Laut-sprechern. Die technische Herausforderung dieser Ära war dann, mittels dieser Geräte dreidimensionale Sinneswahrnehmungen zu erzeugen.

11 | Thompson: The Soundscape of Modernity, S. 59-114.12 | Sabine: »Architectural Acoustics II«, S. 22.13 | Jäger: Zur Theorie des Nachhalls, S. 3.

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R ÄUME OHNE EIGENSCHAF TEN

In den Innenräumen mit still gelegten Schallreflexionen wurde das au-ditive Ambiente mittels technischer Installationen auswechselbar. In den akustischen Laboratorien der 1940er Jahre entstanden Räume »ohne Ei-genschaften«: Diese Räume waren bestmöglich reflexionsarm, sogenannt »schalltot« ausgebildet, um die Resonanz des Raumes zu eliminieren. »Ohne Eigenschaften«, wie Robert Musil den Begriff in seinen Romanen von 1921 und 1930 prägte, steht hier auch für die Standardisierung, die vor Menschen wie vor Räumen nicht Halt machte. Im Zuge der allgemeinen Objektivierung wurde die Akustik mechanischen Modellen und zuneh-mend einer totalen Kontrolle unterworfen. Nicht mehr der Nachhall des Raumes war von Interesse, vielmehr sollten für Experimente der Signal- und Nachrichtentechnik störungsfreie Umgebungen geschaffen werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfügte fast jedes akustische Forschungsin-stitut über einen solchen störungsfreien Raum.

Auf der Suche nach einer totalen Messbarkeit der elektroakustischen Schallimpulse war der spezifische, physische Raum des Laboratoriums zum Störfaktor geworden, der ausgeschaltet werden sollte. Die akusti-schen Laboratorien mit Wänden aus Beton oder Backstein hatten aus-gedient. Zunehmend wurde versucht, reflexionsarme Laboratorien zu bauen. Ein frühes Beispiel eines akustischen Versuchsraums, in dem die Schallreflexionen im hörbaren Bereich fast vollständig absorbiert wurden, ist 1936 als Teil der Bell Laboratories dokumentiert.14 Die Wände waren mit zehn Schichten Musselin- und sechs Schichten Flanellstoff ausgelegt, worin der Schall weitgehend gedämpft wurde. In den tiefen Frequenzbe-reichen (das heißt, bei größeren Wellenlängen) allerdings reichten diese Stoffschichten nicht aus, um die Schallenergie zu absorbieren.

In der Folge wurden Wandkonstruktionen mit größerer Tiefe und mehr Absorbermasse entwickelt. 1940 publizierten Physiker des Instituts für Schwingungsforschung der Technischen Hochschule Berlin das erste La-boratorium mit Absorberkeilen von einem Meter Gesamthöhe an allen Raumoberflächen, ähnlich wie sie bis heute gebaut werden. Der Einbau der 32.000 mit Steinwolle gefüllten Pyramiden in einen Raum von 16 x 11 x 9 Metern beschäftigte elf Arbeiter während viereinhalb Monaten. Das Ziel war, dass die vervielfachte Oberfläche und ihre absorbierende Hinter-legung möglichst jede Reflexion im Raum schluckten.

14 | Bedell: »Some Data on a Room Designed for Free Field Measurements«.

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Abb. 5: Anechoisches Laboratorium der Harvard University, 1943.

Abb. 6: Leo L. Beraneks Definition des Worts »anechoisch«, 1945.

Abb. 7: Anechoisches Laboratorium der Chalmers University, ca. 1974.

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Der amerikanische Akustiker Leo L. Beranek bezeichnete diese Keile in einem Report von 1945 als »Stalagmiten« und »Stalaktiten«.15 Unter sei-ner Leitung wurde 1943 innerhalb eines Programms des U.S.-amerikani-schen National Defense Research Committee des Office of Scientific Research and Development ein noch größeres akustisches Laboratorium gebaut. Es war Teil des Cruft Laboratory an der Harvard University (Abb. 5). 1945 prägte Beranek das Wort »anechoisch«, das die Brücke vom griechischen »Echo« zur Elektroakustik schlägt (Abb. 6).16

Die Wände des 15 x 11 x 11 Meter großen, elektroakustischen Laborato-riums (EAL) der Harvard University, in dem vor allem Lautsprecher getes-tet wurden, waren mit fast eineinhalb Meter tiefen Keilen gefüllt, die auf Korkzement und Fiberglasplatten montiert waren und kaum Nachhall im hörbaren Bereich zuließen.17 Die Versuchsanordnung erwies sich als so nützlich für elektroakustische Tests, dass weltweit Laboratorien mit der-selben oder mit ähnlichen Konstruktionen gebaut wurden (Abb. 7).

DIE WAHRNEHMUNG DRINGT INS L ABOR ATORIUM EIN

Die bisher nie dagewesene Qualität von Innenräumen ganz ohne Nach-hall, wie sie in reflexionsarmen Laboratorien existierte, lieferte auch au-ßerhalb der technisch-physikalischen Disziplin neue Impulse. Ein be-rühmtes Musikstück aus diesem Kontext ist die Komposition 4’ 33” von John Cage aus dem Jahr 1952, die dieser explizit auf sein Erlebnis des Besuchs im anechoischen Raum der Harvard University zurückführt. Cage transponierte die Erfahrung der Abwesenheit der Töne in die Kon-zertsituation:: Während des vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden dauernden Stücks öffnet der Pianist die Abdeckung der Klaviertastatur, wartet und schließt sie dann wieder. Das Publikum, in seiner Erwartungs-haltung aufs Höchste aufmerksam, kommt während dieser Zeit, in der es Klaviermusik erhofft, nicht darum herum, für die Geräusche der Umge-bung hellhörig zu werden. Die zufälligen Geräusche des Publikums wur-den zum Inhalt der Komposition. Dies geschah alles in einer Zeit, in der nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in der Kunst – in Auflehnung gegen die sich verbreitende Konsumfreude einer konservativ geprägten Gesellschaft – die Begriffe neu geprägt wurden.

Geschrieben hatte John Cage das Stück 4’ 33” im Sommer 1952 am Black Mountain College. Die Entstehungsgeschichte der Komposition ver-merkt ebenfalls die Leinwände von Robert Rauschenberg, welche dieser dort weiß bemalte. Cage adaptierte »die Komplexität einer leeren Oberflä-

15 | Beranek u. a.: »The Design and Construction of Anechoic Sound Chambers«, S. 4. Zur Entstehungsgeschichte des EAL/PAL siehe Beranek: Riding the Waves, S. 49-51.16 | Ebd., S. 3. 17 | Ebd., S. 7-10.

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che, auf der es kein Gemälde braucht, weil eine leere Fläche bereits Bilder und Ereignisse in sich trägt«18 für die Musik:

It was at Harvard [...] that I went into an anechoic chamber not expecting in that silent room to hear two sounds: one high, my nervous system in operation, one low, my blood in circulation. The reason I did not expect to hear those two sounds was that they were set into vibration without any intention on my part.That expe-rience gave my life direction, the exploration of nonintention.19

Er beschrieb in seinen Texten wiederholt, wie sein Besuch im anechoi-schen Raum sein Werk beeinflusste. Entgegen der erklärten Absicht der Naturwissenschaften, welche die subjektive Wahrnehmung zur Gegen-spielerin wissenschaftlicher Objektivität erklärt haben, suspendierte John Cage bei seinem Besuch im anechoischen Laboratorium seine Erwar-tungshaltung. Seine persönliche Wahrnehmung wurde in der isolierten Umgebung des Laboratoriums ins Zentrum gerückt und für die Geräu-sche der eigenen Gehirn- und Blutströme geschärft, in einem Raum zu-tiefst persönlicher und privater Intimität.

Cage hat dieses Erlebnis wiederholt thematisiert, und es wurde schon oft zitiert. In der Musikgeschichte wurde die Episode der Erfahrung von Nicht-Absicht (»nonintention«) als zündender Moment der künstlerischen Inszenierung des Zufalls wahrgenommen.20 Die Medientheorie stell-te anhand des besonderen Orts von Cages Erlebnis Bezüge zur psycho-akustischen Wissenschaft fest, wozu hier ergänzt werden kann, dass Leo Beranek, der Entwerfer und Leiter des anechoischen Raums der Cruft Laboratories, für den Besuch kontaktiert wurde21 und es nahe liegt, dass John Cage nicht das kleinere psychoakustische Laboratorium (PAL) im Untergeschoss der Memorial Hall, sondern das hier beschriebene, große elektroakustische Laboratorium (EAL) besuchte.22

So prägend Cage für die Musik- und Kulturgeschichte auch gewesen sein mag, die technischen Wissenschaften haben seinem Besuch kaum Bedeutung zugemessen: Beranek war beim Besuch auch nicht persönlich anwesend. Es handelte sich hier also nicht um eine Wechselwirkung, viel-mehr ermöglichte die Bautechnik der akustischen Laboratorien neuartige Erfahrungen. Während die Ergebnisse der Versuche für die Nachrichten-technik wie auch für die Produktentwicklungen der Bauindustrie effektiv waren, gründet die kulturgeschichtliche Relevanz dieses Raummodells hier in einem Interesse an der auditiven Medienkultur der 1950er Jahre.

18 | Harris: Interview mit John Cage vom 25. Mai 1972.19 | Cage: I-VI , S. 1.20 | Dazu siehe Sanio: »Das Rauschen: Paradoxien eines hintergründigen Phänomens«.21 | Korrespondenz der Autorin mit Leo Beranek, 18.10.2010.22 | Schmidgen: »Silence in the Laboratory«.

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Die nachrichtentechnischen Entwicklungen zur Mitte des 20. Jahr-hunderts legten auf der gesellschaftlichen Ebene verschiedentlich neue Wahrnehmungen frei: Wenige Jahre nach Cages persönlichem Erlebnis im anechoischen Laboratorium beschrieben Edmund Carpenter und Mar-shall McLuhan, wie die Unendlichkeit des auditiven (Ur-)Raums mittels Telekommunikation und Radio neu geschaffen würde:

Telephone, gramophone, and RADIO are the mechanization of postliterate acou-stic space. Radio returns us to the dark of the mind, to the invasions from Mars and Orson Welles; it mechanizes the well of loneliness that is acoustic space; the human heart-throb put on a PA system provides a well of loneliness in which anyone can drown.23

Die Einsamkeit, die McLuhan hier anspricht, meint nicht die Isolation eines anechoischen Laboratoriums, vielmehr entspringt diese Idee der Weite der kanadischen Eis- und Schneefelder.24 Der Acoustic Space, wie Carpenter und McLuhan den Begriff in ihrem gleichnamigen Aufsatz in der Anthologie »Explorations in Communication« geprägt haben, stand im Zeichen eines Aufbruchs in eine medial vernetzte Welt, die gleichzei-tig den Menschen wieder näher zu sich selbst bringen würde. Carpenter und McLuhans Acoustic Space war ein offener Raum: sie beschworen sei-ne Grenzenlosigkeit und seine Unschärfe, dass er allumfassend und eng an die Emotionen gebunden sei.25 Was in diesem Text von 1960 beschrie-ben ist, ist nicht der physische Raum des akustischen Labors, sondern das Netz der Telekommunikation, das alle auseinander gebrochenen und abgekoppelten Räume wieder zu einem Ur-Raum zu vereinen vermag.

McLuhans Begriff des Acoustic Space wurde zum Vorläufer und zur Referenz der Soundscape-Konzepte der späteren 1960er Jahre.26 Den Begriff Soundscape prägten vor allem der Komponist R. Murray Schafer, welcher bei McLuhan Vorlesungen besucht hatte, wie auch der Stadtpla-ner Michael Southworth.27 Cages intensive Hörerfahrung wurde aus der geschlossenen Umgebung des anechoischen Laboratoriums in die Städte

23 | McLuhan: »Five Sovereign Fingers Taxed the Breath«, S. 208.24 | Zum Landschaftsbegrif f des kanadischen Nordens siehe Ponte: »Journey to the North of Quebec«.25 | Carpenter/McLuhan: »Acoustic Space«. Der Aufsatz war eine Weiterbearbei-tung des 1955 in Explorations publizier ten Beitrags des Psychologen D. Carlton Williams (Williams: »Acoustic Space«), in welchem dieser den Begrif f »auditory space« benutzte. Siehe auch Rae: »McLuhan’s Unconscious«.26 | Schulz: »Soundscape«; von Fischer: »Versuche, die Musik der Welt zu er fassen«.27 | Schafer: The new soundscape; Southworth: »The sonic environment of ci-ties«. Michael Southworth studier te bei Kevin Lynch, welcher 1960 The Image of the City veröffentlicht hatte, ein in der Stadtplanung wie in der Umweltpsy-chologie einflussreiches Buch. Die Veröffentlichung von 1969 basier te auf einer

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und die Landschaft hinausgetragen – doch ebenso wie das Laboratorium waren auch diese Räume nie still. Parallel zu dieser bewussten Begriffs-bildung hatten sich die Raumkonzepte der Architektur verändert und er-weitert: Das House of the Future, das 1956 an der Daily Mail Ideal Home Exhibition gezeigt wurde, veranschaulichte die Möglichkeit eines still ge-legten Raums im Extrem. Abgeschottet von der Außenwelt, veranschau-lichte die Inszenierung einer zukünftigen Wohnwelt die Möglichkeit von Stille, Kontrolle und Intimität.

INTIMITÄT IN DER STILLE

Im schallgedämmten House of the Future bildeten gedämpfte Schritte, Ge-spräche des Bewohnerpaars wie ein Fernseher und mehrere Lautsprecher die Klangkulisse. Mit der Außenwelt, so das Narrativ des Hauses, war es nur durch audio-visuelle Installationen verbunden. Die Telefon- und Laut-sprecherinstallationen wie auch der Fernseher übertrugen Informationen von außen, sie unterstützten aber auch das Ambiente der futuristischen Intimität von Anne und Peters Innenwelt. In der Ausstellungssituation konnte das Publikum nicht nur ungehindert hineinschauen, das Haus wurde durch ein Lautsprechersystem auf der Zuschauerplattform weiter entprivatisiert: Anne und Peters Erläuterungen wurden vom Haus auf den zweigeschossigen Zuschauerumgang übertragen. Wie in einer Fern-sehsendung erklärte das Modellbewohnerpaar über Mikrophone, wie ihr Tagesablauf aussieht und wie ihre supermodernen Geräte funktionieren.

Abb. 8: Ideal Home Exhibition, London 1956: Anne erläutert das House of the Future über ein Mikrophon.

Seminararbeit am MIT von 1965 in einer, in welcher er Kevin Lynchs Begrif f des Cityscape auf die klangliche Dimension übertragen hatte.

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Abb. 9: Ideal Home Exhibition, London 1956: Ausschnitt der Küche mit der Telefonbeantworteranlage im Hintergrund (elliptische Markierung durch die Autorin).

Abb. 10: Ideal Home Exhibition, London 1956: Anne und Peter in ihrem steuerbaren Wohnzimmer mit Lautsprecherattrappe (elliptische Markierung durch die Autorin).

Was die Besucherinnen und Besucher sahen, waren ein Telefon, Mikro-phone und Lautsprecher, welche die Möglichkeit der Kommunikation demonstrierten. Ob über die Lautsprecher auch andere Geräusche als diese Erläuterungen hörbar waren, bleibt ungewiss. Der Unterwasser-Farbfilm, der gemäß dem Wunsch der Smithsons auf dem TV-Gerät lief, ist bestens ohne Tonspur denkbar, und auch die weiteren Geräte waren Teil einer temporären Szenographie. In der Schnittzeichnung scheint es, als wäre die Indikation »Mike-Speaker« nachträglich, mit einem anderen Schreibwerkzeug, aufgebracht worden, und überhaupt sind die Anmerkungen für die Tontechnik im Vergleich zu den detaillierten

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Angaben zum Licht, die mit einer genauen Beschreibung der Leuchtmittel versehen waren, spärlich.28 Auf den Fotografien der Ausstellungsdoku-mentation sucht man vergeblich nach einer Nahaufnahme der installier-ten Telefone und Gegensprechanlagen, sie tauchen höchstens im Hinter-grund auf (Abb. 9, 10). Die Geräte sind weder besonders auffällig noch modern gestaltet – es ist die Fiktion ihrer Auswirkungen auf das tägliche Leben, das sie spektakulär macht.

Zu hören waren kaum die Geräusche der Apparate und Kommunika-tionstechnologien, sondern vor allem die Erläuterungen der Schauspieler, welche Anne und Peter verkörperten. Die Töne fanden in den Köpfen der Zuschauer statt, die als Voyeure das Haus, das eigentlich eine Bühne war, beobachteten. Das Telefon und das Intercom waren optisch inszenierte Apparaturen in einem tonlos entworfenen Raum.

Wie das ganze Haus waren auch die Geräusche eine Simulation: Auf der riesigen Wohnmesse der Daily Mail Ideal Home Exhibition im März 1956 nahm das House of the Future einen Sonderstatus ein. Es setzte nicht in der Hauptsache auf die Demonstration käuflicher Waren, sondern auf theatralisch inszenierte Narration. Rückblickend beschrieb Peter Smith-son das Haus als eine Persiflage auf die Scheinwelt der Werbung. Es befin-de sich, wie die Produkteanzeigen, in einem Niemandsland, und weiter:

in a dustless, neighbourless, even childless, vacuum, where all that can be seen from the windows (if there are any) are spring trees and white clouds, not really declaring themselves as they really are29

Das House of the Future von 1956 war eine Simulation nicht nur eines kinderlosen Haushalts im Jahr 1981. Ebenso vermittelten die installierten und simulierten Geräte und die vermeintliche Schallisolation – die es von der Außenwelt abschnitt, während große Wandausschnitte, riesige Guck-löcher sozusagen, das Haus für das Publikum aufrissen – die Vision einer multimedialen Vernetzung, welche die extreme Ausgestaltung der Privat-sphäre im House of the Future erst möglich machte.

Im Werk von Alison und Peter Smithson stellt das House of the Fu-ture eine Ausnahme, sogar eine Anomalie dar. Während die 1954 fertig gestellte Huntstanton School wie auch die folgenden Bauten (die bekann-testen darunter sind das Econmist Building und die Wohnsiedlung Ro-bin Hood Gardens) auf eine direkte, rohe Materialität setzten, waren die Oberflächen dieser Ausstellungsarchitektur geschliffen und lackiert. Eine bemalte Holzkonstruktion gaukelte vor, aus modernstem Kunststoff zu sein.30 Plastik war das Material, dessen Eigenschaften beliebig steuerbar sein sollten: nicht nur als freie Formen der Raumbegrenzungen und des

28 | Schnitt QQ, Zeichnung 5521 (Collection Centre Canadien d‘Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal, DR1995:0030).29 | Smithson/Smithson: Changing the Ar t of Inhabitation, S. 115.30 | Colomina: »Unbreathed Air«, S. 31.

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Mobiliars, sondern in seiner gesamten bauphysikalischen Performance, inklusive der Akustik. Diese Eigenschaften wurden hier in den Dienst der Konstruktion einer häuslichen Intimität gestellt, die außerhalb der tonlo-sen Laboratorien einen Ort der Identität schaffen sollten.

Innerhalb des introvertierten, schallgedämmten Privathauses wur-den mit Licht und Ton Raumatmosphären eingeführt, welche durch eine Vielzahl von Schaltern abgeblendet oder intensiviert werden konnten. Die Stimmungen des Hauses waren wählbar. Sogar eine künstliche Sonne war über dem begrünten Hof in der Ausstellung aufgehängt. Diese Ver-mischung von Sonnenlicht und Bepflanzung mit medialen Installationen kreierte eine synthetische Landschaft, welche die räumliche Isolation des Hauses vergessen machen und stattdessen mittels einer medialen Wun-derwelt der häuslichen Intimität auf die Sprünge helfen sollte.

Ohne mediale Installationen, so versprach die bauakustische Isolation des House of the Future in der Wohnausstellung, wäre eine völlige Stille möglich. Diese wiederum war aber nicht das Ziel, sondern nur die Voraus-setzung für die Intimität des Hauses. Ohne Kinder und ohne Nachbarn, so projizierte das Szenario, erlaube diese Wohnlandschaft grenzenlos individualistische Entfaltung. Diese mitunter erotisch aufgeladene Stim-mung im Haus wurde gesteuert von verschiedensten Control Panels, die in der Einfachheit der Ausstellungsarchitektur noch spielerisch wirken. Intimität meint hier aber auch Entblößung: Die Bedrohlichkeit der Kont-rollfunktionen für Licht und Ton wurden bereits zur Zeit der Ausstellung wahrgenommen, als zum Beispiel Kritiker der Ausstellung das Jahr der inszenierten Zukunft in Anspielung auf George Orwells 1949 erschienen Roman von 1981 in 1984 abwandelten.31

Im März 2008 wurden in einer Befragung im Vorfeld der Daily Mail Ideal Home Exhibition vom März 2008 viele der Vorhersagen, die Alison und Peter Smithson 1956 im House of the Future inszeniert hatten, als falsch bewertet. Unter den Geräten aber, mit welchen die Architekten die Zukunft korrekt eingeschätzt hatten, landeten auf den ersten drei Plätzen die Fernsteuerung für den Fernseher, der Mikrowellenofen und die Ge-gensprechanlage an der Haustür.32

Das House of the Future wurde hier als Fallbeispiel herangezogen, um das Raummodell eines nicht resonanten, erst durch elektronische Über-tragung zum Klingen gebrachten Raums zu beschreiben. Als temporäre Ausstellungsarchitektur war es eine Hülle für eine fiktive Lautsphäre. Sie wurde den Zuschauern vermittelt, ohne unmittelbar erfahrbar zu sein. Wie auch in der Baupraxis für Auditorien, Konzertsäle und Filmtheatern wurden hier auch in einem privaten Wohnhaus die inneren Räume kom-munikationstechnisch zur mediatisierten und entgrenzten Welt adaptiert.

Gerade in ihrer Übersteigerung hilft diese Vision, das Kulturverständ-nis und die räumlichen Konzeptionen der 1950er Jahre zu paraphrasieren:

31 | O. V.: »Homes Past, Present and Future«. 32 | Hale: »Folding Front Doors and Blow-dry Showers«.

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Auf dem buchstäblich »stillgelegten« Hintergrund wurde das ›Environ-ment‹ als steuerbare intime Umgebung denkbar – eine totale Umwelt, die, vollständig von der Außenwelt abgekoppelt und umgeben von Apparatu-ren, den Raum ästhetisch entgrenzt und gleichzeitig Intimität herstellt.

In den akustischen Versuchsräumen seit des Zweiten Weltkriegs gab es im hörbaren Bereich kaum mehr Schallreflexionen. Mit der Verbrei-tung der Nachrichtentechnik und Telekommunikation waren reflexions-freie Laboratorien gefragt, wo die Geräte in isolierten Umgebungen ge-testet werden konnten. Diese anechoischen Laboratorien waren Räume »ohne Eigenschaften«, welche, von der Außenwelt abgeschnitten, in akus-tischer Hinsicht einen hindernisfreien, offenen Raum simulierten.

Diese akustisch still gelegten, schalltoten Konstruktionen waren nicht nur Laboratoriumsarchitekturen, sondern auch Raumkonzepte. Ein Raum, in dem der Nachhall eliminiert ist, bietet der elektronischen Schall-übertragung einen idealen Hintergrund: Wie auf einer weißen Leinwand lassen sich Klänge aus Lautsprechern ohne Interferenzen platzieren. Ca-ges Pulsieren des eigenen Blutes, das er im anechoischen Laboratorium hörte, regte ihn – wie Rauschenbergs weiße Leinwände – an, auf die Stim-mung der Zeit mit einer Komposition aus Hintergrundgeräuschen zu re-agieren. Parallel dazu demonstrierten Carpenter und McLuhan mit ihrem Begriff des Acoustic Space die mögliche Überlagerung mediatisierter Kom-munikation und Landschaft: Im Äther entdeckten sie die Gleichzeitigkeit entgrenzter und intimer Räume. Eine solche, ambivalente Gleichzeitig-keit ist es, welche die räumliche Konzeption des House of the Future ge-prägt hatte.

Dank

Diese Fallstudie entstand während eines Forschungsaufenthalts in Kana-da im Sommer 2010. Vielen Dank an das Canadian Center for Architecture (CCA) in Montréal und das Departement für Architektur der ETH Zürich.

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ABBILDUNGEN

Abb.  1: Modell des House of the Future für die Ideal Home Exhibition. Quelle: The Architects’ Journal, 1956.

Abb.  2: Plan des House of the Future von Alison und Peter Smithson, Zeichnung vom 20. Dezember 1955. Quelle: Collection Centre Cana-dien d’Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal.

Abb. 3: Aussenansicht mit Hauseingang (Mitte) und Ein- und Ausgängen für den Besucherrundgang (links). Quelle: Collection Centre Cana-dien d’Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal.

Abb. 4: Detail der Kommunikationsanlage, Zeichnung vom 20. Dezem-ber 1955. Quelle: Collection Centre Canadien d’Architecture/Canadian Centre for Architecture, Montréal.

Abb. 5: Anechoisches Laboratorium der Harvard University, 1943. Aus: Be-ranek u. a.: »The Design and Construction of Anechoic Sound Cham-bers«, S. 7.

Abb. 6: Leo L. Beraneks Definition des Worts »anechoisch«, 1945. Aus: Be-ranek u. a.: »The Design and Construction of Anechoic Sound Cham-bers«, S. 1.

Abb.  7: Anechoisches Laboratorium der Chalmers University, ca. 1974. Aus: www.ta.chalmers.se, 1.9.2010.

Abb. 8: Ideal Home Exhibition, London 1956: Anne erläutert das House of the Future über ein Mikrophon. Aus: Archiv des CCA, Montréal. Bild-rechte: Smithson Family Archives.

Abb. 9, 10: Ideal Home Exhibition, London 1956: Ausschnitt der Küche mit der Telefonbeantworteranlage im Hintergrund/Anne und Peter in ihrem steuerbaren Wohnzimmer mit Lautsprecherattrappe. Quelle: Collection Centre Canadien d’Architecture/Canadian Centre for Archi-tecture, Montréal. Bildrechte: Smithson Family Archives.

Axel Volmar, Jens Schröter (Hg.)

Auditive MedienkulturenTechniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung

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Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, BielefeldLektorat: Anja Griesbach, Jan Wagener, Janis PowileitSatz: Anja Griesbach, Jan WagenerDruck: Majuskel Medienproduktion GmbH, WetzlarISBN 978-3-8376-1686-6

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Inhalt

Axel Volmar/Jens Schröter: Einleitung: Auditive Medienkulturen | 9

Friedrich Kittler: Bei Tanzmusik kommt es einem in die Beine | 35

I. Auditive Kulturen als Gegenstand der Geistes- und Kulturwissenschaften

ZUR MEDIALITÄT UND HISTORIZITÄT DES AUDITIVEN

Daniel Gethmann: »Musick of Scraping Trenchers«. Medienexperimente zur Frequenzbestimmung von Galileo Galilei, Robert Hooke, Felix Savart und die Medialisierung des Klangs | 45

Rolf Großmann: Die Materialität des Klangs und die Medienpraxis der Musikkultur. Ein verspäteter Gegenstand der Musikwissenschaft? | 61

Rebecca Wolf: Spieltechnik der Musik. Beispiele einer organologischen Kulturgeschichte | 79

Cornelia Epping-Jäger: Von der anthropologischen zur medialen Stimme | 99

Jochen Venus: Klangkristalle. Zur Semiotik artifizieller Hörbarkeit | 115

Daniel Morat: Zur Historizität des Hörens. Ansätze für eine Geschichte auditiver Kulturen | 131

›KLANG‹ ALS PROBLEM IN DER MUSIKWISSENSCHAFT

Hansjakob Ziemer: Klang der Gesellschaft. Zur Soziologisierung des Klangs im Konzert, 1900–1930 | 145

Marcus S. Kleiner: Die Taubheit des Diskurses. Zur Gehörlosigkeit der Soziologie im Feld der Musikanalyse | 165

Sebastian Klotz: Klang als epistemische Ressource und als operativer Prozess | 189

SOUND STUDIES ALS ERWEITERUNG DER MUSIKWISSENSCHAFT?

Bettina Schlüter: Musikwissenschaft als Sound Studies. Fachhistorische Perspektiven und wissenschaftstheoretische Implikationen | 207

Sabine Sanio: Sound Studies – auf dem Weg zu einer Theorie auditiver Kultur. Ästhetische Praxis zwischen Kunst und Wissenschaft | 227

II. Fallbeispiele: Auditive Medienkulturen in Geschichte und Gegenwart

KULTUREN DER KLANGGESTALTUNG

Sabine von Fischer: Von der Konstruktion der Stille zur Konstruktion der Intimität. Die Szenografie des House of the Future als Wohnlaboratorium in einer stillgelegten Welt | 249

Volkmar Kramarz: Die Entwicklung der Recording Culture am Beispiel der Beatles in den Abbey Road Studios | 269

Jan Philip Müller: Schleifen knüpfen, Klangobjekte identifizieren. Auditive Techniken in Pierre Schaeffers Musique Concrète und Walter Murchs Sound Design von THX 1138 | 287

Golo Föllmer: Theoretisch-methodische Annäherungen an die Ästhetik des Radios. Qualitative Merkmale von Wellenidentitäten | 321

KLANGORTE UND HÖRRÄUME

Bettina Wodianka: Intermediale Spielräume im Hörspiel der Gegenwart. Zwischen Dokumentation und Fiktion, Originalton und Manipulation, akustischer Kunst und Radiophonie, Theater und Installation | 339

Gregor Schwering: Zwei Hörräume ›gleichschwebender Aufmerksamkeit‹. Psychoanalyse und Ambient | 359

Steffen Lepa: Emotionale Musikrezeption in unterschiedlichen Alltagskontexten. Eine wahrnehmungsökologische Perspektive auf die Rolle der beteiligten Medientechnologien | 373

Judith Willkomm: Die Technik gibt den Ton an. Zur auditiven Medienkultur der Bioakustik | 393

Thomas Wilke: Studio 54 in Münster, Exzesse in Westfalen? Über die Polyvalenz des Raumes im Medium ›Diskothek‹ | 419

Abstracts in English | 441

Autoreninnen und Autoren | 451