Goethes Fortgepflanztes: Zur Unbegrifflichkeit der Morphologie (2012)

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Goethes Fortgepflanztes: Zur Unbegrifflichkeit der Morphologie Ansgar Mohnkern Goethe Yearbook, Volume 19, 2012, pp. 185-210 (Article) Published by North American Goethe Society DOI: 10.1353/gyr.2012.0006 For additional information about this article Access Provided by Staatsbibliothek zu Berlin - Preussischer Kulturbesitz at 07/20/12 7:43AM GMT http://muse.jhu.edu/journals/gyr/summary/v019/19.mohnkern.html

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Goethes Fortgepflanztes: Zur Unbegrifflichkeit der Morphologie

Ansgar Mohnkern

Goethe Yearbook, Volume 19, 2012, pp. 185-210 (Article)

Published by North American Goethe SocietyDOI: 10.1353/gyr.2012.0006

For additional information about this article

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http://muse.jhu.edu/journals/gyr/summary/v019/19.mohnkern.html

Goethe Yearbook XIX (2012)

ANSGAR MOHNKERN

Goethes Fortgepflanztes: Zur Unbegrifflichkeit der Morphologie

Das “Fortgepflanzte” der Morphologie: “Gespräche” und “organische Geschöpfe”

MIT DER VERÖFFENTLICHUNG SEINER HEFTE Zur Morphologie im Jahr 1817 legt Goethe eine Sammlung von Texten vor, die ähnlich den Wanderjahren

aus dem Gesamtwerk als ungewöhnlich offen und unfertig herausragt. Dabei berührt das Unfertige, das den Heften anhängt, aufs Innigste die his-torische Ungeschliffenheit einer morphologischen Disziplin am Beginn des 19. Jahrhunderts, die sich im Augenblick ihrer Entstehung zugleich über sich selbst zu verständigen sucht. In der Sammlung findet sich ein Stück, welches mit “Der Inhalt bevorwortet” überschrieben ist. In dem Bemühen, Anfänge der morphologischen Forschung zu beziffern, heißt es dort in bedeutsamer Unschärfe:

Mit andern Freunden unterhielt ich mich gleichfalls auf das lebhafteste über diese Gegenstände, die mich leidenschaftlich beschäftigten, und nicht ohne Einwirkung und wechselseitigen Nutzen blieben solche Gespräche. Ja es ist vielleicht nicht anmaßlich, wenn wir uns einbilden manches von daher Entsprungene, durch Tradition in der wissenschaftlichen Welt Fortgepflanzte trage nun Früchte deren wir uns erfreuen, ob man gleich nicht immer den Garten benamset, der die Pfropfreiser hergegeben. (FA 1.24:405)

Die “Gegenstände,” von denen hier die Rede ist, sind solche, die Goethe dem eigenem Bekunden nach bereits gemeinsam mit Herder im Verlauf von des-sen Niederschrift der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784/85) erörtert hatte, in welchen Herder in seinem Versuch, die Geschichte der Menschheit naturgeschichtlich zu begründen, den historischen Begriff des Menschen bereits in Korrespondenz sowohl zum Tier- als auch vor allem zum Pflanzenreich bestimmt hatte.1 Unmittelbar vor dem obigen Abschnitt heißt es dann auch schon bei Goethe im Hinblick auf solche “Gegenstände”:

Meine mühselige, qualvolle Nachforschung ward erleichtert, ja versüßt indem Herder die Ideen zur Geschichte der Menschheit aufzuzeichnen unternahm. Unser tägliches Gespräch beschäftigte sich mit den Uranfängen der Wasser-Erde, und der darauf von altersher sich entwicklenden organischen Geschöpfe. Der Uranfang und dessen unablässiges Fortbilden ward immer besprochen

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und unser wissenschaftlicher Besitz, durch wechselseitiges Mitteilen und Bekämpfen, täglich geläutert und bereichert. (FA 1.24:405)

Prägnanter sind also jene “Gegenstände” als “von altersher sich entwicklende organische Geschöpfe” bezeichnet. Sie sind Tiere und Pflanzen, die in ihrer Entstehung und Entfaltung in Relation zu “den Uranfängen der Wasser-Erde” stehen, worin dasjenige Thema anklingt, dem sich der gesamte Text unter-ordnet und das Goethe—neben Forschungen und Studien zur Farbenlehre, Geologie und Meteorologie—stets als bedeutendstes seiner naturwissen-schaftlichen Interessen galt: die Bezifferung von Ursprung und Entwicklung des lebendig Organischen im Felde der Morphologie.2

Nicht weniger als solche morphologischen “Gegenstände” hat aber auch die Sprache, die sich ihnen widmet, ihre Morphologie. Zwar steht sie im Dienste der Beschreibung von “Uranfängen” und “unablässigem Fortbilden” des Lebendigen, doch bezieht sie sich nicht allein auf jene “organischen Geschöpfe,” sondern ebenso auf die Gespräche selbst, von denen Goethe berichtet, dass sie sich mit jenen morphologischen Fragen beschäftigten. Gleich den Gegenständen der Gespräche—Ursprung und Entwicklung der “organischen Geschöpfe”—werden diese Gespräche selbst zu eben solchen Gegenständen, denen Ursprung und Entwicklung eignen, ja die gewissermaßen selbst “Geschöpfe” einer morphologischen Ordnung sind. Dabei stellen die morphologischen Gespräche einen entscheidenden Teil einer solchen “wissenschaftlichen Welt” dar, von der Goethe behauptet, dass sich in ihr das “Fortgepflanzte,” damit also dasjenige befinde, was sich im buchstäblichsten Sinne dem Prinzip eines fortentwickelnden pflanzlichen Werdens und Gedeihens verdankt.

Goethes Sprache des Wissens aber ist demnach aufs Engste mit einer Sprache der “sich entwickelnden organischen Geschöpfe” verflochten. Fortgepflanzt werden nicht nur Pflanzen und Tiere, sondern ebenso ein weit-estgehend unbestimmt Bleibendes, welches mit der Formel “manches von daher Entsprungene” bekleidet wird. Gemeint ist wohl die auf den Gesprächen sich gründende Erkenntnis, doch ist es bezeichnend, dass sie nicht als solche benannt werden, sondern dieses “von daher Entsprungene” in einer unbes-timmten Latenz zwischen morphologischen Gegenständen und Morphologie selbst gehalten wird. Einzig das Medium ihrer Fortpflanzung, beziffert als eine “Tradition in der wissenschaftlichen Welt,” wird benannt. In Goethes Rede vom Entspringen taucht aber hier ein unscheinbares Wortpaar auf, durch welches der elusive Ort markiert wird, auf welchen sich das Moment sol-chen Entspringens bezieht: “von daher.” In diesem Wortpaar enthalten ist wohl zunächst ein Verweis auf die Gespräche zwischen Goethe, Herder und “andern Freunden.” In der Struktur des Wortes “daher” ist aber zugleich eine Schwelle beziffert, an der sich ein Gegenstand des Entspringens (“manches”) als das “von daher Entsprungene” aus der Abwesenheit eines “da” in eine auf die Präsenz gerichtete Bewegung des Näherns verschiebt, welches in dem Partikel “her” aufschimmert.3 Das Überschreiten dieser Schwelle zwischen “da” und “her” geschieht dabei ebenso sprunghaft wie das Entspringen selbst, welches allerdings, da es sich immer nur vom Vergangenen herschreibt und nur in dem im Augenblick seiner Erscheinung bereits vorzeitig “Entsprungenen” sichtbar wird, eine zeitlich abständige, verspätete, nachzeitige Spur des eigentlichen,

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wiewohl abwesenden Ereignisses des ursprünglichen Entspringens selbst bil-det. Doch ist die Schwelle wie auch ihr Überschreiten eine im höchstem Maße kritische. Denn die Möglichkeit einer Transgression verspräche—wenngleich verspätet—auch, aus den buchstäblich an der etymologischen Substanz der Sprache überhaupt partizipierenden “Gesprächen” heraus in die Objektivität einer nicht-sprachlichen Welt, d.h. einer Welt der “organischen Geschöpfe” selbst vorzustoßen, in denen sich das Moment des Entspringens und Fortpflan-zens nicht bloß latent, sondern in unvermittelter Gegenwärtigkeit ereignet.

Als Dinge der Morphologie lassen sich für gewöhnlich die Dinge des Lebens bezeichnen, also Pflanzen und Tiere. Die kritische Verflechtung der Welt der morphologischen Dinge mit der Welt der Gespräche und damit der Sprache selbst klingt dabei bereits in der Attributierung der Unterhaltungen an, die Goethe mit dem Einschub der adverbialen Konstruktion “auf das lebhafteste” vornimmt, womit die Gespräche ihrerseits selbst in den Stand derjenigen Gegenstände einberufen werden, mit denen sie sich doch eigentlich als morphologische Gespräche allererst zu befassen anheben. Denn sofern in ihnen das Moment des Lebens aufschimmert, erscheinen sie im erweiterten Sinn als Gegenstände der morphologischen Welt selbst, also als Dinge einer Ordnung des Lebendigen. Somit haben sie, abgesehen von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit diese Gegenstände konkret zu bestim-men, einen Ursprung und eine Entwicklung und entsprechen darin dem von Goethe in dem Vorwort Zur Farbenlehre ausgesprochenen Grundsatz, “daß die Geschichte der Wissenschaft die Wissenschaft selbst sei” (FA 1.23:16). Jedoch lässt sich in dieser Verflochtenheit von (wissenschaftlicher) Sprache und Gegenstand rekursiv nicht mehr ein einziges Attribut, das auf die bloße Bestimmung der Gespräche abzielt, auf diese allein einschränken. Denn sofern von solchen Gesprächen die Rede ist, schließt ihre Bestimmung die Welt der Dinge, von denen sie handeln, also die Welt der Lebens mit ein. Das zeigt sich auch in dem von Goethe zweifach vorgebrachten Akut auf dem Prinzips der Wechselseitigkeit, welches, sofern es allein auf der Ebene der Unterhaltung gelesen wird, das Verhältnis unter den Teilnehmenden der Gespräche bestimmt, allerdings auch—eingedenk der kritischen Relation von Sprache und Dingen—diejenige Bewegung bezeichnet, von welcher die reziprok changierende Struktur des Verhältnisses von Gesprächen und “organischen Gegenständen” gekennzeichnet ist. Denn die Rede sowohl von “wechselseitigem Mitteilen und Bekämpfen” als auch von “wechselseitigem Nutzen” erscheint in einem gänzlich anderen Licht, sofern diese Reziprozität nicht allein im Hinblick auf die Beziehung der Gesprächsteilnehmer, sondern eben auch auf die verschlungene Beziehung von Sprachlichem auf der einen und “organischen Gegenständen” auf der anderen Seite verstanden wird. So nämlich wie der jeweilige “wissenschaftliche Besitz” Goethes und Herders im “täglichen Gespräch” als einem sich von Tag zu Tag wiederholenden Mit-Teilen buchstäblich gegenseitig aneinander partizipiert, so hat auch die Sprache teil an den Dingen selbst, von denen sie spricht. Sofern nämlich “der Uranfang und dessen unablässiges Fortbilden . . . immer besprochen” wurde, bleibt die Möglichkeit latent, den Einschub “durch wechselseitiges Mitteilen und Bekämpfen” nicht bloß auf die Beziehung zwischen Goethe, Herder und den anderen Freunden anzuwenden, sondern eben auch auf die

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Beziehung der Gegenstände und der diese bezeichnenden morphologischen Sprache. In dieser Hinsicht liest sich das “Fortgepflanzte,” welches in der Mitte von Goethes Versuch einer Begründung der Morphologie aufscheint, somit als ein doppeltes, nämlich als zugleich buchstäblich Pflanzliches wie auch als gepflanzt Sprachliches.4

“Wenn wir uns einbilden”—Einbildungskraft, Analogie, Metapher

Die Grundlage einer solchen zweifachen Auslegung des “Fortgepflanzten” als sowohl buchstäblich Pflanzliches als auch übertragen Sprachliches liegt in der Bedingung, die das Erscheinen jenes “Fortgepflanzten” ermöglicht. Diese Bedingung benennt Goethe durch einen kurzen Einschub, der jedoch im Lichte seiner Konsequenzen betrachtet ein entscheidender ist. Denn das aus der Latenz in die Anschauung dringende Prinzip der Wechselseitigkeit, welch-es dem Verhältnis von belebten Dingen und Sprache zu Grunde liegt, wird auf grammatischer Ebene gestützt durch das Einfügen einer Kondition. So schiebt Goethe nahe jener kritischen Schwelle zwischen “da” und “her” die bedeutsame Konditionalphrase “wenn wir uns einbilden” ein, durch welche das Folgende des Satzes bedingend bestimmt wird. Dabei zeitigt dieser zunächst unschein-bar anmutende Einschub nicht nur grammatisch, sondern ebenso semantisch eine weitreichende Wirkung. Ist nämlich die in diesem “wenn wir uns ein-bilden” benannte Bedingung unmittelbar an der Konstruktion der reziprok ver-flochteten Struktur des Verhältnisses von organischen Naturobjekten und bes-timmender Sprache beteiligt, so muss dieser Struktur ein Zustand zu Grunde liegen, in welchem vom Prinzip eines bloß Objektiv-Wirklichen abgerückt wird, um es in buchstäblichster Weise bildend zu einem bloß Möglichen, zu einem Gebilde, ja vielleicht sogar zu einem Bild selbst zu formen.5

Als prominentestes begriffliches Derivat des Wortes “einbilden” ist aber ohne jeden Zweifel die der philosophischen Tradition entlehnte Rede von der Instanz der Einbildungskraft zu nennen. Spätestens seit Kants kanonisch gewordener Bestimmung derselben in der zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft (1787) ist diese Einbildungskraft als “das Vermögen, einen Gegenstand ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen,”6 an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert in aller Munde.7 Auch Goethe, dessen Werther sie schon als “göttliches Geschenk” (FA 1.8:165) bezeich-net hatte, nimmt an dem konjunkturellen Aufschwung einer emphatischen Rede von derselben teil. Doch kommt es dabei zu einigen bemerkenswerten Eigentümlichkeiten. So wird das Wort “Einbildungskraft” in einem dem eng-lischen Meteorologen Luke Howard8 gewidmeten Gedicht mit dem Titel Howards Ehrengedächtniß (1821) von Goethe buchstäblich seziert und in seine Elementpartikel zerlegt.9 Im Gedicht nämlich heißt es:

Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft,Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft. . . . (FA 1.2:503)

In dieser Form trägt die Zerlegung des Begriffs eine geringe, wenngleich nicht unproblematische Abweichung vom landläufig gewordenen Wort

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“Einbildungskraft” in sich, da sie dessen Bedeutung in eben der Weise verschiebt wie eine “des eignen Bildens Kraft” das Unbestimmte zu einem Bestimmten verwandelt. Denn jenes unbestimmte “ein” im Begriff der Einbildungskraft wird geradezu einer förmlichen Aneignung, d.h. einer das Bilden in das Eigene hineinnehmenden Handlung unterzogen und damit ganz ähnlich bestimmt wie das Unbestimmte im freien Spiel der Wolken selbst. Auf dieses nämlich wird gemäß Goethe jene “des eignen Bildens Kraft” als konstruktives Vermögen angewendet, wenn sie nicht nur “am Wechsel der Gestalten sich erfreut” (FA 1.2:503), sondern geradezu die Bildung derselben allererst betreibt:

Da droht ein Leu, dort wogt ein Elefant, Kameles Hals, zum Drachen umgewandt, Ein Heer zieht an, doch triumphiert es nicht, Da es die Macht am steilen Felsen bricht; Der treuste Wolkenbote selbst zerstiebt

Eh’ er die Fern’ erreicht, wohin man liebt. (FA 1.2:503)

Wie in “Der Inhalt bevorwortet” schimmert also wiederum ein “da” auf, in welchem sich hier jedoch für einen Augenblick die Präsenz der Bilder zu verdichten scheint. Doch entlarvt sich diese Gegenwart der wolkigen Phantasiegebilde hier als uneindeutig, angezeigt von der Erwähnung jener auf eine Unbestimmtheit ausgerichtete “Fern’,” die zu erreichen dem Begehren des Betrachters womöglich nicht das Entlegenste, sondern vielmehr bloß das Nächstmögliche ist. Das zu entscheiden aber gibt der Text nicht her, weshalb das Projekt einer Verwandlung von Unbestimmtem in Bestimmtes, in welchem ein Abwesendes “ohne dessen Gegenwart” als gegenwärtig erschiene, in seiner bildlichen Augenblicklichkeit ebenso unabsehbar bleibt, wie das entspringende Überschreiten jener kritischen Schwelle zwischen “da” und “her” als dem ursprünglichen Ereignis dessen, was die Utopie des Gegenstands einer Morphologie bildet.

Nun ist jedoch das Moment des Bildens keines, dem allein die Ordnung einer phantastischen Gestaltung der Wolken unterliegt. In einer wohl in den 1790er Jahren unter dem Titel Betrachtung einer Morphologie überhaupt entstandenen Schrift unternimmt Goethe einen seiner frühesten Versuche der Disziplin der Morphologie begrifflich habhaft zu werden. Programmatisch ist die Forderung:

Die Morphologie soll die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper enthalten. (FA 1.24:365)

Drei Kriterien also eignen diesem Entwurf gemäß dem morphologischen Projekt: Gestalt, Bildung, Umbildung. Doch lassen sich die beiden letzten, “Bildung und Umbildung,” nicht zwingend als gleichberechtigte lesen, sondern können ebenso plausibel als nachgeordnete Erläuterung des ersten Merkmals verstanden werden. So wäre Gestalt, morphé, in diesem Sinn latent als die Verknüpfung dieser beiden untergeordneten Elemente zu verstehen.10 Darin klänge genau dasjenige an, was Goethe später in “Der Inhalt bevor-wortet” mit der Verflechtung von “Uranfang und dessen Fortbilden” als dem Kern eines Projekts der Lehre von der morphé, d.h. der Morphologie selbst beziffern wird. Korrespondiert auf schematischer wie auch semantischer

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Ebene aber nun der Begriff der “Bildung”—wenn nicht real, so doch zumind-est ideell11—mit einem solchen Begriff des “Uranfangs,” so liegt in der Konditionalphrase “wenn wir uns einbilden” nichts anderes als die problem-atische Nachahmung jenes Augenblicks eines ersten, gewissermaßen uran-fänglichen Entspringens, welcher allerdings, in eben dem Moment, in dem er sich zuträgt, stets auch schon wieder ein vergangener ist, da er ja immer nur im “da,” also im unüberwindbaren Zustand der Abwesenheit, niemals aber in der vollkommenen Präsenz einer Gegenwärtigkeit zu verorten ist. Dem also, was sich nun auf diesem “wenn wir uns einbilden” gründet, ist auf gram-matischer Ebene bloß die Rede im Konjunktiv angemessen, da nur in ihm die Ungewissheit über den Status des Vorliegenden, vermeintlich Präsenten, tatsächlich jedoch allenfalls Latenten zu einer zumindest halbwegs angemes-senen Darstellung gelangen kann. Im Hinblick auf diese Ungewissheit erscheint dieses sich in dem Moment des Entspringens Gründende somit als ein Fortgepflanztes im doppelten Sinne: Es markiert nicht nur den Ausdruck eines Substrats, dessen Bestand in einer zukünftigen zeitlichen Folge gesichert erscheint, sondern auch ein solches, das im buchstäblichsten Sinne von dem Ort der unmittelbaren Gegenwärtigkeit an einen abwesenden Ort verwiesen, also “fort” gepflanzt wird. Damit verschiebt es sich—seiner Präsenz ganz ähnlich enteignet wie jene “Vergangenheit,” von der Merleau-Ponty einmal sagte, dass sie “niemals Gegenwart war”12—in eine buchstäblich andere Welt, eine Welt der Abwesenheit, des Nicht-Gegenwärtigen und allem Drängen des Betrachtens Unzugänglichen. Beziffert ein solches Fortgepflanztes aber nun zugleich sowohl das Sprachliche als auch auf wörtlicher Ebene genau dasjenige, was in der morphologischen Sprache denn eigentlich verhandelt wird (nämlich “Geschöpfe” als die Dinge der organischen Welt), so gilt sow-ohl von Sprache als auch von diesen Dingen, dass sie ihren Ort bloß jenseits einer unvermittelten und konkreten Gegenwärtigkeit haben. Genau dieses Herausfallen aus der Gegenwart lässt sich aber im Text begrifflich in jener Bewegung des “daher”-Entspringens identifizieren, welche ja in ihrem aller-wörtlichsten Sinne den Sprung markiert, der sich von dem eigentlichen Ort des Absprungs selbst längst schon wieder entfernt hat, da er sich ereignet. Von ihm bleibt immer nur ein Rest, also das grammatisch wie substantiell nachzeitig “Entsprungene” als ein Ansichtiges zurück.

Der Grund, auf dem sich dieses Entspringen nun aber ereignet, liegt wie bereits erwähnt in der Bedingung des Einbildens. Indes schreibt Goethe über das Vermögen eines solchen Einbildens, also die Einbildungskraft, in einem Brief an Karl Ludwig von Knebel am 21. Februar 1821:

Zur Anschauung gesellt sich die Einbildungskraft, diese ist zuerst nachbil-dend, die Gegenstände nur wiederholend. Sodann ist sie produktiv, indem sie das Angefaßte belebt, entwickelt, erweitert, verwandelt.Ferner können wir noch eine umsichtige Einbildungskraft annehmen, die sich bei’m Vortrag umherschaut, Gleiches und Ähnliches erfaßt, um das Ausgesprochene zu bewähren.Hier zeigt sich nun das Wünschenswerte der Analogie, die den Geist auf viele bezügliche Punkte versetzt, damit seine Tätigkeit alles das Zusammengehörige, das Zusammenstimmende wieder vereinige.

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Unmittelbar daraus erzeugen sich die Gleichnisse, welche desto mehr Wert haben, je mehr sie sich dem Gegenstande nähern, zu dessen Erleuchtung sie herbeigerufen worden. Die vortrefflichsten aber sind: welche den Gegenstand völlig decken und identisch mit ihm zu werden scheinen. (FA 2.9:152)13

Korrelierend mit der Anschauung als dem nach Kant sinnlichen Fundament aller Erkenntnis, wenngleich doch über diese auf einen nicht mehr allein durch einfache Erfahrung gegebenen Gegenstand hinwegweisend, untersc-heidet Goethe zwischen drei Arten der Einbildungskraft. Er bezeichnet sie gemäß ihrer Qualitäten als “nachbildend,” als “produktiv” und als “umsichtig.” Ganz offensichtlich besteht dabei eine innere Verwandtschaft zwischen den beiden ersten Arten der Einbildungskraft auf der einen Seite sowie Goethes Rede über das “Fortbilden” (beruhend auf Reproduzieren und Nachbildung) und den “Uranfang” (welcher ohne Zweifel als ein produktiver zu gelten hätte) auf der anderen Seite. Anstatt sich jedoch der kritischen Frage nach dem—gemäß der Goetheschen Morphologie womöglich verschlungenen—Verhältnis von nachbildender und produktiver Einbildungskraft zu widmen, weicht Goethe diesem Komplex nahezu kommentarlos aus, indem er rasch eine dritte Klasse, nämlich die “einer umsichtigen Einbildungskraft” einführt. Diese bildet jenseits einer nachbildenden und produktiven Einbildungskraft die Krone jenes Vermögens, Gegenstände ohne deren tatsächliche Präsenz vorzustellen. Schon der produktiven Einbildungskraft wohnt der in mor-phologischer Hinsicht kritische Augenblick der Belebung inne, da dieser den Moment des Ursprungs des Lebendigen bildet, auf dessen Suche sich bekan-ntermaßen auch das Projekt einer Morphologie befindet. Gemäß Goethes Brief trägt dieser original-anfängliche Augenblick aber—ganz wie in der Dialektik von “Bildung und Umbildung”—die Momente der Entwicklung und der Verwandlung in sich, wie sie auch einem jeden Versuch eines stets nach-zeitigen Nachbildens auf Grund der prinzipiellen Ge- und Verschiedenheit von Original und wiederholender Nachbildung eigen ist. Buchstäblich “fern-er” sowohl der Anschauung als auch solchem Bilden und Um- bzw. Fortbilden steht jedoch jene “umsichtige Einbildungskraft.” Hier weicht Goethes Charakterisierung derselben explizit auf ein Feld aus, welches seinerseits—wie die Verwicklung von den genannten “organischen Gegenständen” und den sie verhandelnden Gesprächen in “Der Inhalt bevorwortet” zeigt—von einem Projekt der Morphologie ebenso wenig zu trennen ist, wie die beiden ersten Formen der Einbildungskraft. Sie weicht nämlich aus auf das Feld der Sprache. Der Status dieser “umsichtigen Einbildungskraft” erscheint in diffusem Licht, gelingt es Goethe doch nur sich über diese unter der frag-ilen Bedingung einer Präsupposition zu verständigen, sofern “wir noch eine umsichtige Einbildungskraft annehmen” (Hervorhebung der Verf.) kön-nen. Als solch eine angenommene, dadurch aber noch keineswegs tatsäch-liche Form der Einbildungskraft verhält sie sich demnach zu sich selbst wie zu den Gegenständen der Einbildung: Sie ist selbst eingebildet ohne auf der Gewissheit einer “Anschauung” zu gründen.

Als ein solches Vermögen der aktiven Bildung greift die umsich-tige Einbildungskraft auch in das Wesen der Sprache selbst ein, indem sie sich “bei’m Vortrag umherschaut, Gleiches und Ähnliches erfaßt, um das

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Ausgesprochene zu bewähren.” Was Goethe hier mit dem eigentümlichen Wort “bewähren” belegt, lässt sich nur angemessen mit Blick auf die weitere Bewegung bewerten, welche die Einbildungskraft vollzieht, wenn sie sich auf den sprachlichen “Vortrag” bezieht. Denn es schimmert das Ziel jener ihr inhärenten Bewegung dort auf, wo von “Gleichnissen” die Rede ist, “welche desto mehr Wert haben, je mehr sie sich dem Gegenstande nähern.” Am Ende ihrer Bewegung steht damit also wiederum die Welt der Dinge oder, wollte man sie auf eine Sprache der Morphologie beziehen, die Welt der “organischen Geschöpfe.” Das “Ausgesprochene,” streng genommen also das Resultat der Sprache selbst, bewährt sich demnach, insofern sich diese Sprache solchen Gegenständen nähert, ja vermittels der “Gleichnisse” sogar an diese vielleicht heranreicht.

Somit ist der von Goethe skizzierten Bewegung einer solchen Einbildungskraft—darin ganz ähnlich dem Projekt einer Morphologie—eine Struktur immanent, in welcher zunächst einmal Sprache und Dinge zuein-ander in Relation stehen, derweil jedoch das Sprachliche den Ausgangspunkt dieser Bewegung bildet. Allerdings stellt deren Verhältnis für Goethe kein unmittelbares dar, sondern bloß eines, welches unter der Bedingung der Vermittlung steht. Denn zwischen sprachlichem “Vortrag” und “Gegenstande” steht das bedeutsame, sie zugleich verbindende wie aber auch das Moment der Unmittelbarkeit in ihrer Verbindung verstellende Feld einer “Analogie, die den Geist auf viele bezügliche Punkte versetzt, damit seine Tätigkeit alles das Zusammengehörige, das Zusammenstimmende wieder vereinige.” Die Vermittlung ist kein vollendeter synthetischer Prozess, sondern bloß ein rela-tiver, was sie zugleich wiederum mit dem Projekt der Morphologie selbst ver-schränkt, in dem die Dinge als längst Entsprungene sich ihrerseits immer bloß relativ zueinander verhalten. Es ist dabei die Analogie, die den “Geist”—als den-jenigen Ort, an welchem die Einbildungskraft ihren Sitz einnimmt—buchstä-blich einen Bezug zwischen diesen beiden Polen der Bewegung herstellen lässt, da sie in diesem das latente Vermögen einer Ermöglichung von Verknüpfungen und Relationen ganz im Allgemeinen bestimmt, indem er sich nämlich “auf viele bezügliche Punkte” und damit auch jene beiden Pole der inneren Bewegung der Einbildungskraft, Sprache und Dinge, allererst in Relation zueinander “ver-setzt.”14 Solche Analogie aber konkretisiert sich in der Form von “Gleichnissen,” womit die Ebene der bloßen Wörtlichkeit verlassen, jedoch die zwischen Wort und Ding, Sprache und Gegenstand vermittelnden, also im eigentlichen Sinn übertragenen Rede aufgespannt wird. Die Struktur der Vermittlung ist damit also als explizit figürliche bestimmt. In den Gleichnissen selbst schimmert dabei bloß für einen Augenblick das Moment einer Unmittelbarkeit auf, sofern es sich um solche handelt, “welche den Gegenstand völlig decken und identisch mit ihm zu werden scheinen.” Dabei stehen sie im Dienste einer “Erleuchtung,” also einer vollkommenen quasi-theosophischen Erkenntnis des Gegenstandes, in welchem—so scheint der Text zu suggerieren—genau in dem Moment die Bewegung der “umsichtigen Einbildungskraft” gelingen würde, da die “unmit-telbar” erzeugten Gleichnisse mit den Gegenständen, nach denen sie greifen, zusammenfielen, also “identisch” würden.

Diese Identität aber wäre wohl als eine von Sprache und Dingen, von Wort und Objekt zu bezeichnen und genau darin liegt wohl auch der

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Grund des Misslingens einer solchen Identitätsstiftung. Nicht nämlich sind “Gleichnisse” und “Gegenstand” identisch, sondern bloß scheinen sie iden-tisch zu werden. Ein Zweifel am Gelingen einer Identität bleibt darum unüberwindbar, zumal er seinen Grund in der Rede von den Gleichnissen fin-det, “welche den Gegenstand völlig decken.” Solches “decken” nämlich meint hier in keiner Form ein synthetisierendes Verschmelzen, sondern markiert vielmehr ein Sich-über-den-Gegenstand-Legen des Sprachlichen, der Worte, der “Gespräche” in Form der “Gleichnisse” selbst. Anstatt zu erleuchten, über- bzw. verdecken, ja verdunkeln diese Gleichnisse den Gegenstand, des-sen “Anschauung” sie versprechen, ohne ihr Versprechen jedoch je einzu-holen. Daraus ergibt sich jene Ununterscheidbarkeit von Sprachlichem und Dinglichem, das ja auch dem Morphologischen anhaftet. Hierin liegt aber auch der Grund, warum Einbildungskraft von dem Vermögen der Anschauung so scharf zu unterscheiden ist. Denn eine Erkenntnis generierende Erleuchtung, zu der die Gleichnisse “herbeigerufen worden,” findet nicht dort statt, wo der Gegenstand verborgen, sondern einzig, wo er freigelegt wird. Von einer sol-chen Freilegung aber fehlt jede Spur, womit es bloß bei der Geste des Rufens bleibt, ohne dass ihre Utopie, die Identität von Sprache und Dingen, aus dem—zwar ein Nähern, jedoch Nie-Ankommen bezeichnenden—“her” in die Unmittelbarkeit der Präsenz zu bringen wäre. Genau dieses “her,” auf welch-es sich das Rufen bezieht, weist indes auf das Projekt einer Morphologie, welches sich seinerseits ja an einer kritischen Schwelle zwischen “her” und “da” bricht. Was in der Bestimmung einer “umsichtigen Einbildungskraft” als die Deckung von Gleichnis und Gegenstand bezeichnet wird, steht in eben jenem Spannungsfeld, an dem auch die latente Ununterscheidbarkeit von “Gesprächen” und “organischen Gegenständen” teilhat, sofern in dieser die scheinhafte, jedoch nicht tatsächlich erreichte Identität ebenso auflebt, wie es auch in dem Verhältnis von Gleichnis und Gegenstand der Fall ist.

Das aber hat seinen Grund. Denn im Kern solcher Gleichnisse, die in der Funktionsweise der umsichtigen Einbildungskraft eine zentrale Rolle spielen, steht das Prinzip der Analogie. “Gleiches und Ähnliches” erfassend steht diese Analogie nämlich auch an der Nahtstelle von “Gesprächen” und “organischen Gegenständen,” welche Goethes Versuch, eine Morphologie zu begründen, bestimmt. So ist sie genau dort präsent, wo die Rede vom Fortgepflanzten ansetzt, die von der in der kritischen Formel “wenn wir uns einbilden” ansässigen Einbildungskraft erzeugt wird. Dieses Fortgepflanzte nämlich, in welchem sich die Welten von Sprache und Gegenstand gemäß der Definition der umsichtigen Einbildungskraft förmlich “decken,” kann aber dies nur leisten, weil es sprachlich in einer Form erscheint, in der das Prinzip der Ähnlichkeit bzw. der Analogie das Begründende dieser Erscheinung darstellt, nämlich in der Form der Metapher. So hatte von dieser ja schon Aristoteles behauptet, dass sie

die Übertragung eines Wortes [ist], das (eigentlich) der Name für etwas anderes [onómatos allotríou epiphorá] ist, entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine (andere) Art oder gemäß einer Analogie [è katà tò análogon].15

Über eine solche Analogie heißt es ferner:

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Von einer analogen (Verwendungsweise) [análogía] spreche ich, wenn sich das Zweite zum Ersten genauso wie das Vierte zum Dritten verhält. Man wird nämlich anstelle des Zweiten das Vierte oder anstelle des Vierten das Zweite nennen. Und manchmal setzt man hinzu, worauf der Ausdruck, der stellvertre-tend verwendet wird, bezogen ist.16

Eine “Übertragung” ist im figürlichen Sinne aber auch bei jener Verschiebung am Werk, die sich an der Intervention des “wenn wir uns einbilden” ereignet. Denn dort verhält sich die Sprache über die Begründung der Morphologie nicht mehr in einer ihr eigenen Terminologie, indem sie etwa von den “Gesprächen” und den ihr anhängenden primär sprachlichen Ereignissen spricht, sondern sie reicht, wenn in ihr vom Fortgepflanzten die Rede ist, in die Sprache der Dinge hinüber, wodurch sie zugleich von dieser Sprache nicht mehr zu unterscheiden ist. Das ist der Ursprung ihres Dilemmas, wie es aber auch den Grund jener fruchtbaren Versatilität nicht nur des Pflanzlichen, sondern zugleich von Goethes Sprache überhaupt bildet. Als Vermischung in Abständigkeit wäre womöglich das Verhältnis von Sprachlichem und Gegenständlichem zu beziffern, womit es zugleich das Wesen der meta-phorischen Sprache kennzeichnete, welche sich zwar gemäß Goethe auf dem Grunde der Einbildungskraft der Funktionsweise jener “Gleichnisse” bedient, die mit dem Gegenstand “identisch . . . zu werden scheinen,” ohne es dabei jedoch tatsächlich zu sein. Im Schein nämlich sind Analogie und Gleichnis nicht nur die Garanten von Identität, sondern vielmehr von der Ungewissheit darüber bestimmt, dass über den Status solcher vermeintlicher Identität selbst keine Auskunft gegeben zu werden vermag. Denn, so bemerkt Manfred Frank, es “vermag die metaphorische Analogie den rigiden Begriff der Identität nicht zu ersetzen.”17 Am Ende solcher Einbildungskraft steht also die Unentscheidbarkeit hinsichtlich der Frage: Was ist Gespräch und was organischer Gegenstand? Die Antwort mag wohl, gegenständlich wie meta-phorisch zugleich, lauten: Sie sind beide das Fortgepflanzte.

Die Idee der Metapher

Eine solche Bewegung wie die der umsichtigen Einbildungskraft, welche durch das Medium der Analogie hindurch in die Nähe des Gegenstandes und damit der objektiven Welt selbst zu führen verspricht, vollendet sich in “Der Inhalt bevorwortet” also nur im vermeintlich vollkommenen Übertritt in die objektive Welt der “organischen Geschöpfe.” Bevor sich Goethe dabei allerd-ings den Gesprächen zuwendet, aus denen diese Welt buchstäblich entspringt, bringt er das gesamte morphologische Projekt in einen Zusammenhang mit dem Versuch, nicht allein zu einer Angemessenheit der Sprache über Anfang und Entwicklung dieser “organischen Geschöpfe” zu gelangen, sondern zuletzt darin das Auffinden eines Nicht-Anschaulichen, eines reinen Begriffs, einer Idee zu bewerkstelligen. Über die Beweggründe nämlich, die ihn das Feld der Morphologie betreten ließen, bemerkt Goethe:

Ältere und neuere Überbleibsel versammelte ich um mich her, und auf Reisen spähte ich sorgfältig in Museen und Kabinetten nach solchen Geschöpfen, deren Bildung im Ganzen oder Einzelnen mir belehrend sein könnte.

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Hiebei fühlte ich bald die Notwendigkeit einen Typus aufzustellen, an welchem alle Säugetiere nach Übereinstimmung und Verschiedenheit zu prüfen wären, und wie ich früher die Urpflanze aufgesucht, so trachtete ich nunmehr das Urtier zu finden, das heißt denn doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Tiers. (FA 1.24:404)

Dass sich das Ziel einer Morphologie als Auffinden einer dem Begriff entsprechenden Idee formuliert, ist von entscheidendem Charakter, markiert Goethe doch darin in der Formulierung dieser Problemstellung—gemessen an der Frage nach seiner Erfüllbarkeit—implizit einen Verweis auf die Grenzen seines Projekts. Will nämlich Morphologie eine solche (einem Begriff adä-quate) Idee aufsuchen und vor allem in einer morphologischen Sprache zur Anschauung bringen, so bleibt ihr Anspruch—unabhängig davon, wovon sie eine Idee im Konkreten bildet—in eben der Weise unerfüllbar, wie es schon Kant gemäß den Grundlagen seiner kritischen Philosophie in dem berühmt gewordenen §59 seiner Kritik der Urteilskraft für jedweden Versuch einer Veranschaulichung von Vernunftbegriffen dargelegt hat. Dort nämlich heißt es:

Verlangt man gar, daß die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d.i. der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben dargetan werde, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann.18

Ohne den Begriff der Metapher je zu nennen, gelangt Kant über die Instanz der sogenannten Hypotypose19 zu dem Begriff des Symbols, unter welchem eine Anschauung verstanden wird, die sich nicht einer unmittelbaren, sondern allein einer “indirekten Darstellung”20 eines Gegenstandes zu bedienen ver-mag, ohne dabei des Dargestellte, in diesem Fall des Vernunftbegriff (d.h. der Idee), tatsächlich in der sinnlichen Anschauung je zu vergegenwärtigen. Kant schreibt:

Alle Anschauungen, die man Begriffen a priori unterlegt, sind also entweder Schemate oder Symbole, wovon die erstern direkte, die zweiten indirekte Darstellungen des Begriffs enthalten. Die erstern tun dieses demonstrativ, die zweiten vermittelst einer Analogie (zu welcher man sich auch empirischer Anschauungen bedient), in welcher die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft ver-richtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem erstere nur das Symbol ist, anzuwenden.21

Es ist früh bemerkt worden, dass Kants Bestimmung des Symbols mit den Versuchen in Verbindung zu bringen ist, dem Wesen der Metapher habhaft zu werden.22 Denn Wörter können—ganz im Sinne der Funktionsweise der Metapher—in diesem Sinne

Ausdrücke für Begriffe nicht vermittelst einer direkten Anschauung [sein], sondern nur nach einer Analogie mit derselben, d.i. der Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann.23

196 Ansgar Mohnkern

Erkennt man in dieser Rede von “der Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff” aber das—wenngleich entfernte—Echo von Aristoteles’ Rede von der Metapher als einer onómatos allotríou epiphorá, also einer “Übertragung eines Wortes, das (eigentlich) der Name für etwas anderes ist” oder auch, so formuliert Manfred Frank in seinem Aufsatz über die Metapher, einer “Übertragung eines anderswoher genommenen Namens,”24 so hat das nicht nur für Kants Verständnis einer Idee im Hinblick auf deren unmögliche Veranschaubarkeit weitreichende Folgen, sondern in gleicher Weise für das morphologische Projekt Goethes, das sich ja eben gerade dadurch bestimmt, dass es einer solchen Idee habhaft zu werden anstrebt. Alle Versuche eine Idee zu ver-anschaulichen münden also in der Sprache Kants in symbolische, in der Sprache Aristoteles’ aber schlichtweg in metaphorische Rede. In die-ser Hinsicht löst sich auch jener Begriff Goethes von einer umsichtigen Einbildungskraft auf, wird diese doch nur insofern der Gegenstände ansich-tig, als sie ihrer umsichtig ist, also nicht tatsächlich an die Dinge selbst her-anreicht, sondern—eingedenk der unmöglichen Veranschaubarkeit—bloß in aller Buchstäblichkeit um sie herum sieht, “umherschaut.” Das Projekt der Anschauung wird in diesem Sinne zu einem der Umschauung, und gleich ob man solche symbolisch oder metaphorisch nennt: Bei Kant, Aristoteles und Goethe leuchtet in ihrer Mitte das Prinzip der Analogie auf, an der sich die jeweilige figürliche Form der Sprache—gleich ob Symbol, Metapher oder eben auch Gleichnis genannt—als Form der Darstellung bricht.

Goethes Sprache aber ist zuletzt die der Morphologie, und als solche ver-handelt sie bekanntermaßen die Ergründung von “Uranfängen.” Wie im Fall des Moments des Entspringens selbst ist das Verhältnis des Morphologen und damit auch seiner verfügbaren Sprache zu ihnen—gleich ob der Genese einer “Urpflanze” oder eines “Urtiers” zugewandt—im vollen Sinne des Wortes umsi-chtig und damit den Dingen selbst gegenüber unansichtig. Darum erscheint es auch stets in einer Sprache der Nachzeitigkeit als immer schon bereits “Entsprungenes” oder längst Fortgepflanztes. So überschneidet es sich auch mit dem Charakter metaphorischer Sprache, die ihrerseits als “Nothbehelf”25 das eigentliche Dilemma morphologischer Sprache, ja von Sprache selbst als Dilemma der Darstellung und des Zur-Sprache-Bringens im Medium tropis-chen Sprechens gegenüber der Abwesenheit und einem damit verbundenen Mangel an Anschaubarkeit des Dargestellten bestimmt. Denn es ist nicht nur das Moment der Nachzeitigkeit, das den Morphologen einer nicht bloß scheinhaf-ten, sondern tatsächlichen Identität von Gegenstand und Sprache depriviert. Gegenstand und Sprache nämlich werden zugleich ununterscheidbar in eben dem Sinne, als die Metapher selbst der Rede vom Fortgepflanzten buchstä-blich eingepflanzt ist, also immer zugleich beide, Sprache und Gegenstand, zu bedeuten vermag. Denn so sehr es in jenem Fortgepflanzten die Morphologie selbst zu sein scheint, die am Ende einer Bewegung von Sprache zu Ding steht, so sehr nährt sie sich doch bereits in dem kritischen Augenblick ihrer gleichsam uranfänglichen Begründung sprachlich an eben den Dingen, von denen gesagt werden kann, dass eine Sprache über sie doch eigentlich erst als Resultat am Ende einer abgeschlossenen Morphologie ihrerseits zu finden wäre. Wie nämlich lässt sich überhaupt über das Fortgepflanzte sprechen,

Goethe Yearbook 197

wenn das Prinzip der Fortpflanzung einer Darstellung durch eine noch unbe-gründete Sprache der Morphologie doch allererst harrt?

Solche Dilemmatik zeitigt weitreichende Folgen. Denn was die angege-bene Passage aus “Der Inhalt bevorwortet” abschließt, ist eine Sprache, die nicht bloß an einer Abbildung des organischen Lebens, sondern intim gar an solchen Gegenständen partizipiert, deren “Uranfang” und “Fortbilden” selbst zu bestimmen doch seinerseits erst den unerfüllten Auftrag einer Morphologie darstellt. Denn, so heißt es bedeutend, jenes

Fortgepflanzte trage nun Früchte deren wir uns erfreuen, ob man gleich nicht immer den Garten benamset, der die Pfropfreiser hergegeben. (FA 1.24:405)

Jenseits jenes Entspringens “von daher” gleitet Goethes Sprache also kon-sequent und auf allen Ebenen in eine solche hinüber, in welcher dingliche nicht mehr von metaphorischer Sprache zu scheiden ist. Doch ist auf der rein gegenständlichen Ebene nichts aus der Welt des Sprachlichen und der Gespräche mehr anzutreffen. Alles, wovon die Rede ist, ist im Vergangenen bereits fortgepflanzt. Und dies ist der Fall im (vermeintlich) eigentlichen Sinne des Wortes, erscheinen hier doch an dieser Stelle die Platzhalter der organischen Welt selbst: “Früchte,” “Garten,” “Pfropfreiser.” Solch begriffliches Instrumentarium, das der organischen Welt entnommen wurde, steht aller-dings nicht für die reine, unangetastete, originäre Natur im Zustand einer anfänglichen Ursprünglichkeit ein. Denn alle Elemente, derer sich Goethes Sprache bedient, sind bereits “Entsprungenes” und somit längst Verformtes, Verstelltes. Nicht ein erster, gleichsam noumenaler Samen, sondern bloß die letzten sichtbaren Früchte desselben finden in der Sprache ihren Niederschlag als Phänomen. Denn nicht allein Früchte, sondern auch Garten und Pfropfreiser sind—gleichsam wie ihre sprachliche Repräsentation—im Korsett einer kulturellen Hegung gezeugt, in der sich auf der Schwelle zwischen Entspringen und Entsprungenem der Makel der Unechtheit ange-siedelt hat, welcher seinen reinsten Ausdruck in einer Struktur der Rede findet, die nicht mehr eindeutig als figürlich oder buchstäblich markiert zu werden vermag, sondern in der beide Ebenen der Figürlichkeit und Buchstäblichkeit zugleich als ununterscheidbare erscheinen. In der Morphologie nämlich ist jede Metapher, die sich der natürlichen pflanzlichen Welt bedient, nicht von der Sache selbst zu trennen, weil gerade diese Welt auch den Gegenstand dieser Morphologie bildet.

Sprache und Dinge erscheinen auch deshalb ununterscheidbar in ein und demselben Moment, weil ihre Ununterscheidbarkeit—als Signum einer schei-nbaren, jedoch in keiner Form tatsächlichen Identität—das Ergebnis jener Analogie ist, durch welche auch eine jede metaphorische Rede strukturiert ist. Entspricht dabei das Ding, von der die Rede ist, den “Uranfängen” selbst, so hat Goethe einen weiteren Namen für die Sprache, in der sich das von Vermischung in Abständigkeit gekennzeichnete Dickicht von Dingen und Sprache buchstäblich verdichtet, da er für dieses den Begriff der Dichtung bereithält, von welcher Herder—darin ihr metaphorisches Wesen einfan-gend—sagte, dass sie ein “Gepräge der Analogie”26 sei. In einer Notiz aus dem Jahr 1826 vermerkt Goethe über das Verhältnis zwischen ersten Anfängen und Dichtung denn auch:

198 Ansgar Mohnkern

Wenn man von Uranfängen spricht, so sollte man uranfänglich reden, d. h. dich-terisch; denn was unsrer tagtäglichen Sprache anheimfällt: Erfahrung, Verstand, Urtheil, alles reicht nicht hin (WA 2.13:314).

Da sie zu solchen “Uranfängen” nicht hinreicht, drängt Sprache aus der Welt von “Erfahrung, Verstand, Urtheil,” also aus den Grenzen einer Welt mögli-cher Erkenntnis, welche in kantischer Sprache immer an das Moment der Anschauung rückgebunden ist,27 in jene andere Welt der dichterischen Vermitteltheit, welche auf den Prinzipien der Analogie und der Ähnlichkeit errichtet ist. Deren Sprache ist in dem Maße metaphorisch wie es auch für die Sprache der Morphologie der Fall ist. Denn diese gründet sich auch, da sie sich im Moment ihrer Begründung durch Goethe implizit über sich selbst verständigt, auf die Funktionsweise der Metapher, wenn sie nicht von einem explizit Sprachlichen, nicht von Worten und Wissenschaft spricht, sondern von nichts anderem als eben jenen “Früchten,” “Garten” und “Pfropfreisern.” So schreibt Nietzsche—solcher Verlegenheit eingedenk—deshalb auch einmal über das Verhältnis zwischen natürlichen Dingen und menschlicher Sprache:

Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten gar nicht entsprechen.28

Das vermeintliche Aufscheinen jener organischen Dinge in der Sprache, wie es sich in Goethes morphologischem Text ereignet, steht also niemals für das Noumenale der Dinge selbst ein, denn

das “Ding an sich” (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe.29

In einer solchen Sprache der Metapher bleibt aber nur eine undurchdring-liche Dialektik von Verflechtung und Abständigkeit von Sprachlichem und Dinglichem zurück. Deren Manifestation ist eben jener undurchdringliche Schein der Doppeldeutigkeit zwischen Dingen und Sprache, der sowohl die “Gespräche” wie auch den “Vortrag” durchdringt, welche als metapho-risch verfasste Formen der Sprache “den Gegenstand völlig decken und identisch mit ihm zu werden scheinen,” jedoch ohne identisch mit ihm zu sein. Denn im nicht Identität, sondern bloße Ähnlichkeit hervorbringenden “Gleichsetzen des Nicht-Gleichen,”30 also in einer Operation, wie sie auch durch das Vermögen der Analogie geleistet wird, bleibt das innerste Wesen als das noumenale “an sich” der Gegenstände—sei es der “Früchte,” des “Gartens” oder der “Pfropfreiser”—von der Darstellung in Sprache unberührt und entspricht darin dem Sinn jener berühmten Formulierung aus der “Schlußbemerkung über Sprache und Terminologie” der Farbenlehre, in welcher es im Eingedenken an die Unmöglichkeit nicht bloß einer Deckung, sondern einer Identität von Dingen und Sprache, heißt:

Man bedenkt niemals genug, daß eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine ausdrücke. (FA 1.23:244)

Goethe Yearbook 199

Sind also überhaupt Gegenstände, so sind sie—gleich ob organische oder unorganische—bloß in jenem das Moment ihrer Gebrochenheit in der Erscheinung einfangenden “Widerscheine” darstellbar. Ihnen wächst darin aber ein Sprachliches, das bestimmt wird als ein “Symbolisches,” d.h.—erweit-ert um den spezifisch tropischen Gehalt desselben—als ein Metaphorisches selbst an. Sofern Dinge also als zu erkennende Dinge überhaupt vorliegen, erscheinen sie immer unter dem Mantel des Symbols, und das heißt vom Standpunkt unmöglicher Erkenntnis aus betrachtet zuletzt auch: Sie erschein-en in ihrer Unvergegenwärtigbarkeit eingedenk des doppelten Gehalts jener Rede vom Fortgepflanzten im Wesen dessen, was den Status solcher Unvergegenwärtigbarkeit und bloßer Mittelbarkeit der Dinge in der Sprache wie keine andere figürliche Redeweise entschieden in sich trägt, nämlich im Wesen der Metapher.31

Pfropfreiser: Die Metapher der Metapher

Ein Sinnbild solch doppelter, d.h. dinglicher und sprachlicher, buchstäbli-cher und figürlicher Sprache zugleich ist aber eingelassen in die Metaphorik morphologischer Rede selbst. Am Ende der Bewegung von “Gesprächen” zu “organischen Geschöpfen” steht nämlich richtungsweisend und ebenso emblematisch wie am Anfang der Wahlverwandtschaften die Verwendung der Metapher der “Propfreiser,” in welcher sich deren Struktur gewissermaßen als Akt der Pfropfung selbst in ihrer konkretesten Form verdichtet. Denn wie eine Metapher das dem Gegenstand eigentlich angestammte Wort ersetzt, so werden “Pfropfreiser” fern des Ortes ihres tatsächlichen Ursprungs auf fremde Stämme aufgebracht, mit welchen sie zusammen eine neue Einheit bilden, die ihrerseits jedoch in sich stets in der verbleibenden Narbe ein Mal der Trennung, der Separation, des Schnitts zwischen tragendem Stamm und getragenem Reis mit sich führen. Auf die Bedeutungslogik der Metapher angewandt verhalten sich beide Teile zueinander wie das Gemeinte und das solches Gemeinte Repräsentierende oder—will man es in der wohl geläu-figsten Terminologie über die Metapher bezeichnen—wie das Eigentliche und das Uneigentliche. Dabei pfropft sich jener mit Aristoteles “anderswo-her genommene Name” auf einen verdrängten wie die Propfreiser über das, worauf sie sich in ihrer zweiten Existenz gründen. Der Stumpf liefert das dem Blick größtenteils entzogene Fundament samt der Wurzel, doch bildet das Reis wie die Metaphern selbst je das eigentlich Sichtbare eines falschen, unechten Gewächses. Beide tragen ganz wie die Sprache der Morphologie “Früchte” als ein “Entsprungenes” der ihrerseits von ihren Ursprüngen längst entfernten, weil entsprungenen Reisern. Doch ist die Metapher selbst nur dann vollständig zu nennen, wenn sie beide Elemente, sowohl das Stammwort als auch das dieses ersetzende, akkommodiert.

In §64 der Kritik der Urteilskraft findet sich bei Kant unweit der Rede vom Symbol folgende eigentümliche Bemerkung über das Wesen der Pfropfreiser:

Das Auge an einem Baumblatt, dem Zweige eines andern eingeimpft, bringt an einem fremdartigen Stocke ein Gewächs von seiner eignen Art hervor, und

200 Ansgar Mohnkern

eben so das Propfreis auf einem andern Stamme. Daher kann man auch an demselben Baume jeden Zweig oder Blatt als bloß auf diesem gepfropft oder okuliert, mithin als einen für sich selbst bestehenden Baum, der sich nur an einen andern anhängt und parasitisch nährt, ansehen.32

Ein jedes Reis also bildet mit Kant selbst eine geschlossene Einheit eines gepfropften Gewächses. Der Analogie zwischen Reis und Metapher folgend, bedeutet dies für die Metapher, dass in jedem “anderswoher genommenen Namen” als dem bloß Uneigentlichen selbst eine Einschließung einer voll-ständigen aus Eigentlichem und Uneigentlichem bestehenden Metapher immanent ist. In einer jeden Metapher solcher Art befände sich erneut ein Uneigentliches, das seinerseits beide Teile mit einschlösse. Die Figur der Einschließung also scheint darin unabschließbar, und unabsehbar bleibt, wo sich ein letzter Grund, also ein Ursprung oder schlicht der Ort des eigentli-chen Entspringens befindet.

Doch bedingen je beide Elemente der Pfropfung einander: “Stamm” und “Propfreis,” Ding und Name. So gilt von beiden Elementen eines durch Pfropfung okulierten “Gewächses,” das “die Erhaltung des einen von der Erhaltung des andern wechselweise abhängt.”33 Indes ist die Rede von sol-cher reziproken Wechselseitigkeit auch in Goethes Versuch anwesend, eine Morphologie zu begründen, indem doch jene anfänglichen Gespräche als an dem Wesen der Sprache selbst teilhabende latent in einem Verhältnis zu den “organischen Geschöpfen” stehen, welches aber, da die morpholo-gische Sprache selbst noch eine unbegründete ist, immer bloß in dem Maße unvollständig bleibt wie die Figur der unabschließbaren Einschließung von Eigentlichem und Uneigentlichem im je Uneigentlichen. Ununterscheidbar auch erscheint darum für Kant an einem gepfropften Gewächs die kritische Naht zwischen diesen beiden und allen weiteren Schnittstellen, ja Schwellen der dieser Naht anhängenden Zweige, sofern “man auch an demselben Baume jeden Zweig oder Blatt als bloß auf diesem gepfropft oder okuliert . . . anse-hen” kann. Denn im Lichte der Erkenntnis betrachtet, dass “Pfropfreiser” auch als Metaphern, ja wohl als Metaphern der Metapher selbst erscheinen mögen, lässt sich mit Hilfe einer der ihnen selbst inhärenten Struktur der “Analogie” folgender Schluss ziehen: Ist ein “Name” einmal von “anderswoher genom-men,” also Rede einmal metaphorisch, streift sie dieses Charakteristikum nie mehr ab, sondern verbleibt gerade im Bezug auf sich selbst immer nur meta-phorisch. Sie bleibt in ihrem Schein auf Gegenstände bezogen, doch lässt sich nichts mehr in ihr bloß wörtlich nehmen. Jeder vermeintlich eigentliche Name ist zugleich ein fremder Name, und jedes Wort, das seinen Gegenstand mit sich zu führen scheint (wie etwa “Früchte,” “Garten,” “Pfropfreiser”), steht immer auch zugleich für ein anderes, ein fremdes ein. In der Sprache der Morphologie ist jede Form der Bildung also immer schon die Umbildung ihrer selbst. Denn ansichtig wird man einem jeden “organischen Geschöpfe” erst, indem man sich ihm ganz im Stile jener Einbildungskraft umsichtig, also auf Umwegen des Sehens und der Anschauung nähert. Darum auch ist die Begründung der Morphologie nicht nur die Begründung einer Wissenschaft von Lebewesen, sondern die Begründung einer Wissenschaft der Sprache über diese Lebewesen—einer Sprache allerdings, die wie ein gepfropftes

Goethe Yearbook 201

Reis nicht mehr mit ihrem ursprünglichen Stamm als einem stets es selbst bleibenden Ding verwachsen ist, sondern welche metaphorisch funktioniert und demnach dieses Ding grundsätzlich beliebig vertauschen kann, ja sich selbst zu diesem Ding zu machen vermag. “Organische Geschöpfe” sind dem-nach nie nur das, worüber die Morphologie die Sprache legt, sondern vielme-hr sie sind, in metaphorischer Weise, auch diese morphologische Sprache selbst. Sie sind demnach beides: Geschöpfe und Metapher.

Gemäß der Angaben der Herausgeber der Weimarer Ausgabe vermerkte Goethe handschriftlich in seiner Ausgabe der Kritik der Urteilskraft am Rande: “Gleichgültigkeit des Pflanzenwuchs” (WA 2.11:381) Es läge nahe, dieser Bemerkung schlichtweg den Hinweis auf das vielbeschworene Prinzip der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens unterzuschieben. Doch was hier im Begriff der “Gleichgültigkeit” erscheint, ist nicht die des Zeichens im Allgemeinen, sondern erscheint—betrachtet im Lichte des Gesagten—vielmehr als das, was wörtlich als gleiche Gültigkeit zweier Elemente oder Sätze begriffen werden kann. Und genau darin weist es zurück auf das Problem der Morphologie selbst. Denn ist in dieser von “Propfreisern” die Rede, so steht deren Name für beide Seiten dieses Wortes ein. Es deutet auf den Gegenstand der organischen Natur und auf das, worauf es metaphorisch verweist, nämlich die ihrerseits metapho-rische Sprache der Morphologie selbst. Ununterscheidbar von einem vielleicht gemeinten konkreten Ding schimmert also unter der Metapher, gemäß Goethes Sprache von Gleichnis und Analogie immer auch die Metapher selbst hervor, mit der sie sich als Gegenstand deckt und “identisch zu sein scheint.” Und ist Morphologie einmal ins Feld der Metapher geraten, so trifft es sie wie jenes Kantische “Gewächs.” Denn sofern jede gepfropfte Okulierung von einer sol-chen mit natürlichem Wuchs nicht zu unterscheiden ist, jede Okulierung aber metaphorisch für das Funktionieren der Metapher selbst einzustehen vermag, so lässt sich die Metapher nicht mehr scheiden von den Metaphern, die sie hervorbringt. Allesamt sind sie nichts als metaphorische Repräsentationen der Metapher selbst, womit—in Ricœurs Begriff einer “métaphore vive”34 das buch-stäblich lebendige Echo findend—das Projekt einer Morphologie als der Lehre von der Entstehung und der Einwicklung des Lebens einmündet in die Lehre von der Metapher selbst, als deren Sinnbild wie (metaphorischer) Wegweiser zugleich die Rede von “Pfropfreisern” einsteht.35

Jenseits der Metapher: (Nicht) Name

Nicht zu vergessen: der Name. Schon Aristoteles’ Versuch die Metapher zu bestimmen, kreist um das Moment der Namensgebung, enthält er doch jene Wendung von der “Übertragung eines anderswoher genommenen Namens” (onómatos allotríou èpiphorà). So liegt im Zentrum dieser Definition die Rede von einem ónoma und damit die Frage nach dem benennenden Namen. Von solchem nun behauptete Walter Benjamin—darin eine Art des theologischen Echos zu Goethes morphologischer Ausgangsfragestellung nach “Uranfängen” bildend—in seinem frühen Aufsatz “Über Sprache über-haupt und über die Sprache des Menschen,” dass er in einer Beziehung zu dem Akt der Schöpfung als der mythischen Variante des Anfangens stehe. Bei Benjamin nämlich heißt es über diese Beziehung:

202 Ansgar Mohnkern

In diesem “Es werde” und in dem “Er nannte” am Anfang und Ende der Akte erscheint jedesmal die tiefe deutliche Beziehung des Schöpfungsaktes auf die Sprache. Mit der schaffenden Allmacht der Sprache setzt er ein und am Schluß einverleibt sich gleichsam die Sprache das Geschaffene, sie benennt es. Sie ist also das Schaffende, und das Vollendende, sie ist Wort und Name. In Gott ist der Name schöpferisch, weil er Wort ist, Und Gottes Wort ist erkennend, weil es Name ist. “Und er sah, daß es gut war,” das ist: er hatte es erkannt durch den Namen. Das absolute Verhältnis des Namens zur Erkenntnis besteht allein in Gott, nur dort ist der Name, weil er im inneren mit dem schaffenden Wort identisch ist, das reine Medium der Erkenntnis. Das heißt: Gott machte die Dinge in ihrem Namen erkennbar. Der Mensch aber benennt sie maßen der Erkenntnis.36

Dem eigentlichen, im Optativ des “Es werde” ansässigen Akt der Schöpfung folgt also mit Benjamin der einer deiktischen Benennung, wodurch sich die Sprache selbst zu dem Geschaffenen in der Weise verhält, dass dieses Geschaffene in diese Sprache geradezu “einverleibt,” also von der Welt des Sprachlichen selbst verschlungen wird. Nach Benjamin schließt auch das Moment der göttlichen Erkenntnis dieses Geschaffenen sein Aufgehobensein in einer Besonderheit des Sprachlichen, nämlich im Namen mit ein. Dies aber gerade scheidet Gott vom Menschen, dem der Name nicht “Medium der Erkenntnis” zu sein vermag, sofern sich dessen Benennung immer erst maßen jener Erkenntnis bricht, die im Gegenteil zur göttlichen beim Menschen keine absolute, sondern—darüber informierte am eindringlichsten Kant—immer bloß eine begrenzte ist. “Das absolute Verhältnis des Namens zur Erkenntnis” bleibt also ein bloß göttliches, sodass es nur dem schaffenden Gott gelingt “die Dinge in ihrem Namen erkennbar” zu machen, also ihre Erkenntnis und damit zugleich auch ihre vollkommene Vergegenwärtigung im Namen selbst zu erringen. Als einmaliges Zeichen stehen solche göttlichen Namen darin für ein entfernt Ursprüngliches ein, an dem die Anschauung als Garant der menschlichen Erkenntnis versagt. Es ist Wittgenstein, der darum im Eingedenken an die Unmöglichkeit solche Namen weiter zu zer-legen und durch andere Zeichen zu definieren—d.h. sie adäquat ersetzbar zu machen—programmatisch festhält: “Der Name ist durch keine Definition weiter zu zergliedern: Er ist ein Urzeichen.”37 Als ein solches Urzeichen ist darum ein (im Sinne Benjamins: göttlicher) Name jeweils einmalig und damit das mit diesem Benannte—gemessen am schöpferischen Gehalt des poe-itischen Signums “Ur-”—dem menschlichen Apparat der Erkenntnis verbor-gen. Denn die Vergegenwärtigung eines solchen göttlich Benannten vermag der Mensch nicht, da sich der bloß menschliche Name auch von jener göt-tlichen Erkenntnis scheidet, also, sofern nun eben alle Erkenntnis eine der Anschauung zugängliche Vergegenwärtigung voraussetzt, Gegenstände und Dinge in diesem Namen nicht gegenwärtig werden. Vielmehr bleiben diese Dinge dem vom Menschen gegebenen Namen gegenüber unerkannte, also abwesende. Somit aber wären entgegen den göttlichen die menschlichen Namen stets in Aristoteles’ Sprache notwendigerweise “von anderswoher genommen,” also nicht von den Dingen und schon gar nicht von deren Erkenntnis. Will man jenes Wort “Namen” ähnlich Wittgenstein allein für einen ursprünglichen Gebrauch von Zeichen verwenden, d.h. für einen Gebrauch,

Goethe Yearbook 203

den—weil er das Ding vollkommen begreift und erkennt—Benjamin göt-tlich nennt, so bleibt für den menschlichen Gebrauch allein noch die Idee der Metapher als die von einem in diesem Sinne Namen zweiter Ordnung. Denn es ist der Metapher zutiefst eigen, sich, anstatt unmittelbar das Ding zu erkennen, von eben diesem grundsätzlich zu entfernen, indem sie nämlich niemals auf das Ding selbst, sondern eben bloß vermittels der Analogie auf einen anderen (nicht-göttlichen) Namen gepfropft wird. Darin aber bleibt jede vollkommene Erkenntnis des Dings versagt, ist es doch—anders als im Falle der Einverleibung des zu Erkennenden durch den göttlichen Namen—der Sprache des menschlichen Namens bloß äußerlich. Denn Namen zweiter Ordnung, Metaphern, reichen nur an die Dinge heran, da sie sich mit ihnen zu decken scheinen, es aber niemals tatsächlich tun.

“Anderswoher genommen” bzw. gegeben sind nun wiederum bei Goethe aber innerhalb der morphologischen Ordnung von Sprache und Dingen nicht die Namen im unmittelbaren Sinne, sondern zunächst einmal bloß jene Pfropfreiser. Ihr Ursprung—und damit der kritischste Moment ihrer Geschichte—bleibt bar jeder Zugänglichkeit durch die Anschauung und damit in der Sprache Benjamins radikal unerkannt. Doch kommt genau in diesem Dilemma der versagenden Erkenntnis derjenige Akt ins Spiel, welch-er gemäß Benjamin das Versprechen mit sich führt eben dieses Dilemma zu überwinden, nämlich der Akt der namentlichen Benennung. Noch einmal deshalb die kritische Stelle aus Goethes “Der Inhalt bevorwortet”:

Ja es ist vielleicht nicht anmaßlich, wenn wir uns einbilden manches von daher Entsprungene, durch Tradition in der wissenschaftlichen Welt Fortgepflanzte trage nun Früchte deren wir uns erfreuen, ob man gleich nicht immer den Garten benamset, der die Pfropfreiser hergegeben. (FA 1.24:405)

Angewandt auf das morphologische Projekt bedeutet jene Wendung “nicht immer” so viel wie ein “nie.” Nirgends nämlich erscheint weder dem Leser noch dem Morphologen selbst der Garten als der Ort des Ursprungs selbst. Ein solches Erscheinen aber wäre als hinreichende Bedingung aller Veranschaulichung und damit aller Erkenntnis auch die Bedingung des Gelingens dessen, was Goethe mit dem Wort “benamset” bezeichnet, also die Auffindung wie Artikulation eines die Einverleibung der Welt in Sprache organisierenden Namens. Jener Garten aber—nicht zu entscheiden, ob Garten Eden oder schlichtweg Weimerar Hausgarten—trägt keinen Namen im göttlichen Sinne und bleibt damit freilich unerkannt im Sinne einer abgeschlossenen Erkenntnis. Einzig seine Früchte, die ihm entstammenden Pfropfreiser, gelangen zur Erscheinung. Doch lässt sich ihr Ursprung nicht namentlich fassen, vermögen sie doch selbst nicht einzustehen für den uran-fänglichen Namen, sondern allein für die Metapher, welche als Name zweit-er Ordnung jenen Namen erster Ordnung gemäß ihrer Basis, der Analogie, zwar “deckt,” aber nie mit ihm identisch wird. Denn wie jenes “von daher Entsprungene” verhalten sie sich zum eigentlichen Ereignis des Entspringens selbst gegenüber als nachzeitig, also als zu spät gekommene und damit—im Lichte dieses Verhältnisses betrachtet—immer bloß unzureichende Überreste, die zwar von einem Ursprung zeugen, ihn aber nicht für sich genommen belegen oder gar in die unmittelbare Anschauung bringen können.

204 Ansgar Mohnkern

Einstehend für den Abfall von einer Sprache des Namens also partizip-ieren die in der Hegung Fortgepflanzten, also die Pfropfreiser, wie Metaphern an einer nicht-göttlichen Welt, d.h. an einer Welt, in der mit Benjamin das gemeinhin Sprachliche vom Namen längst abgerückt ist, um diesen—darin ein Echo des Ausgangs aus dem Paradies bildend—durch das Prinzip der bloßen Signifikation zu ersetzen und damit also an die Stelle des (göttlichen) Namens “das Wort als Mittel” treten zu lassen:

Die Unmittelbarkeit (das ist aber die sprachliche Wurzel) der Mitteilbarkeit der Abstraktion stellte sich richtend ein, als im Sündenfall der Mensch die Unmittelbarkeit in der Mitteilung des Konkreten, den Namen verließ und in den Abgrund der Mitteilbarkeit aller Mitteilung, des Wortes als Mittel, des eitlen Wortes verfiel, in den Abgrund des Geschwätzes.38

“Die Unmittelbarkeit der Mitteilung” zu verlieren, heißt “die sprachliche Wurzel” zu verlieren, wie es auch den Pfropfreisern in buchstäblichster Weise widerfährt. Darin aber ist auch das Schicksal der Metapher benannt, die zwar an die Dinge heranreicht, sie aber niemals begreift.39 Wie der Mensch samt seiner Sprache nach dem Ausgang aus dem Paradies steht nämlich die Metapher, ähnlich dem von seinem ursprünglichen Stamm abgetrennten Pfropfreis, als etwas Verletztes, Unabgeschlossenes und Unzureichendes ein für das, was Benjamin “gleichsam eine Parodie des ausdrücklich mittelbaren Wortes auf das ausdrücklich unmittelbare”40 nennt, darin aber eben jene den ursprünglichen Namen ausweisende Unmittelbarkeit als dem göttlichen Verhältnis zwischen Sprache und Dingen selbst nicht mehr herzustellen ver-mag. Denn, so führt Benjamin aus, “der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte. . . .”41 Solch ein verletzter Name aber ist die Metapher, die sich, der Wunde der Pfropfung eingedenk, selbst als die angemessene Haltung gegenüber der Wunde der menschlichen, dem Paradies entronnenen Sprache überhaupt erweist. Denn der Verlust des Paradieses ist auch das Abhandenkommen einer Sprache des Namens als einer nicht bloß scheinhaften, sondern tatsäch-lichen Identität von Sprache und Ding im Augenblick ihrer Erkenntnis. Solche Sprache ist in anderen Worten aber keine andere als die, welche das Prinzip einer fundamentalen Geschiedenheit von Signifikat und Signifikant in sich trägt, also die signifikative Sprache des Zeichens. Benjamin deutet darauf hin, wenn es weiterhin heißt:

Indem der Mensch aus der reinen Sprache des Namens heraustritt, macht er die Sprache zum Mittel (nämlich einer ihm unangemessenen Erkenntnis), damit auch an einem Teile jedenfalls zum bloßen Zeichen; und das hat später die Mehrheit der Sprachen zur Folge.42

Ist also jene göttliche, “reine Sprache des Namens” als eine Art Sprachparadies des Namens verlassen, so tritt die im Sinne Benjamins buchstäblich vom Göttlichen abgefallene Sprache aus der Einheit von Name, Ding und Erkenntnis heraus und gelangt unter die Herrschaft des nicht mehr das Ding erkennenden, sondern bloß noch bedeutenden Zeichens, welches zugleich durch ein anderes ersetzbar wird. In der “Mehrheit der Sprachen” vermag also ein Ding durch je verschiedene Zeichen repräsentiert zu werden. Dabei

Goethe Yearbook 205

ist der Austausch auf der Grundlage der Ähnlichkeiten und der Analogie, wie er im Gebrauch der Metapher geschieht, nur eine Variante unter vielen.

Genau darum aber ist auch die Sprache der Morphologie als eine bloß bezeichnende zu keiner Zeit eine Sprache des Namens. Ihr schlechthin Unnambares ist dabei jener Garten, der in seiner Unrepräsentierbarkeit ein-steht für das im radikalen “da” verharrende Entspringen des Entsprungenen oder aber—im Sinne der Morphologie—den unzugänglichen Ursprung der Pfropfreiser. Denn es bleiben genau diese fortgepflanzten Halbgewächse zurück als die metaphorische Verdichtung des Ursprungs aller “organischen Geschöpfe” und damit auch aller morphologischen Gegenstände. Diese sind solche Gegenstände, die nicht bloß Gegenstände für sich sind, sondern ihr-erseits zugleich einstehen für das, was ihnen einzig ihre Darstellbarkeit in einer nicht-uranfänglichen Sprache ohne Namen gewährt: Die Metapher. Indes steht genau darin Goethes Versuch, eine Morphologie als Disziplin rhetor-isch zu begründen, für jedweden Versuch nicht nur einer Wissenschaft zu den Zeiten Goethes, sondern einer Wissenschaft überhaupt ein. Deren Status nämlich hat sich immer auch an dem Maß einer Verständigung nicht nur über ihr jeweiliges Objekt, sondern implizit auch über die Modalitäten der Repräsentation desselben zu rechtfertigen. Daran gemahnt Goethe insbeson-dere, insofern in seinem Schreiben wie bei wenigen sonst jede Form einer Sprache des Wissens latent immer auch in der Funktion einer metaphor-ischen Sprache erscheint, in der die Unfehlbarkeit des Begrifflichen an der Erkenntnis geschwunden scheint. Wie jedes andere sprachliche Ereignis par-tizipiert nämlich wissenschaftliche Sprache am Wesen der Metapher in eben dem Sinn, dass sich in dieser das Verhältnis von Sprache und Dingen fort-während sowohl als ein verschlungenes wie zugleich abständiges erweist. Es ist die Ruhelosigkeit dieser Dialektik von Verschlingung und Abständigkeit, deren vollständige Durchbrechung jeder Wissenschaft freilich Gegenstand einer Hoffnung sein mag, nie aber wohl tatsächlich Ereignis. Mahnend erin-nert Goethe noch heute, in Zeiten des fortwährenden Anschwellens eines Wissens vom Leben, an das Schicksal, welches einer jeden Wissenschaft anhaftet, sobald sie sich ihrem Gegenstand nähert. Denn bei aller—nicht zuletzt technologischen—Präzision, die bis hierher Wissenschaft erreichte, bleibt sie den Dingen gegenüber doch immer bloß approximativ wie das Grundlegendste ihres Instrumentariums, ihre Begriffe. Macht sie aber dabei sich selbst zum Gegenstand, so wird sie selbst zur “schwankenden Gestalt.”

Yale University

ANMERKUNGEN

1. So schreibt Herder über das Verhältnis von Pflanzen und Menschen in seinen Ideen: “Es fällt in die Augen, daß das menschliche Leben, sofern es Vegetation ist, auch das Schicksal der Pflanzen habe. Wie sie, wird Mensch und Tier aus einem Samen geboren, der auch als Keim eines künftigen Baums eine Mutterhülle fodert. Sein erstes Gebilde entwickelt sich Pflanzenartig im Mutterleibe; ja auch außer demselben ist unser Fiberngehäuse in seinen ersten Sprossen und Kräften nicht fast der Sensitiva

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ähnlich? Unsre Lebensalter sind die Lebensalter der Pflanzen; wir gehen auf, wachsen, blühen und sterben.” Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in Werke in zehn Bänden, hg. Martin Bollacher u.a. (Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1985–2000) 4:59.

2. Goethes morphologische Arbeiten sowie deren Verhältnis zum Problem der Sprache und Darstellung waren in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand von Untersuchungen. Vgl. dazu etwa Dorothea Kuhn, “Goethes Morphologie. Geschichte—Prinzipien—Folgen,” Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft (Osaka) (1987): 1–21; Robert Stockhammer, “Spiraltendenzen der Sprache: Goethes Amyntas und seine Theorie des Symbols,” Poetica 25 (1993): 129–54; Safia Azzouni, Kunst als praktische Wissenschaft: Goethes “Wilhelm Meisters Wanderjahre” und die Hefte “Zur Morphologie” (Köln/Weimar/Wien: Böhlau), 2005; Dorothea von Mücke, “Goethe’s Metamorphosis: Changing Forms in Nature, the Life Sciences, and Authorship,” Representations 95 (2006): 27–53; Uwe Pörksen, “Goethes phänomenologische Naturwissenschaft: Sprache und Darstellung,” in Naturwissenschaft heute im Ansatz Goethes: Ein Prager Symposion, hg. Dušan Pleštil und Wolfgang Schad (Stuttgart/Berlin: Mayer, 2008) 89–103; Chad Wellmon, “Goethe’s Morphology of Knowledge, or the Overgrowth of Nomenclature,” Goethe Yearbook 17 (2010): 153–77.

3. Dieses “da” Goethes lässt sich, da eine Konstellation mit dem auf die Absenz weisenden “her” bildend, an dieser Stelle nicht mit jenem “Da” Freuds verwechseln, das in dialektischer Verschränkung gemeinsam mit “Fort” das kindliche Spiel von “Verschwinden und Wiederkommen” bildet, in welchem das “Da”—anders als das-jenige Goethes—für die (wohlbemerkt allererst wiederzulangende) Präsenz jener vom Kind zunächst fortgeworfenen und darauf wieder an sich herangezogenen Holzspule einsteht. Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in Studienausgabe, hg. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1969–75) 3:225.

4. Goethe selbst ahnte die schwierige Trennung zwischen dem eigenen sprach-lichen Verhältnis zu den pflanzlichen Dingen und den pflanzlichen Dingen selbst, wenn er später in einem morphologischen Aufsatz (Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien) heißt, “daß der Gang meiner botanischen Bildung eini-germaßen der Geschichte der Botanik selbst ähnelt” (FA 1.24:735). Tritt solche “bota-nische Bildung” im Lichte der Gespräche mit Herder und anderen Freunden betra-chtet aber als eine Bildung hervor, der implizit ein Sprachliches zu Grunde liegt, so erklärt sich die Ähnlichkeit in diesem Verhältnis. Zugleich tritt in dem Wort “ähnelte” aber auch die Anwesenheit des Prinzips der Ähnlichkeit zu Tage, welches in der Sprache der Rhetorik (als einer Sprache über die Metapher) mit dem Prinzip der Analogie zu bezeichnen möglich wäre. Die folgenden Ausführungen werden der Verflechtung des Morphologischen mit dem Feld des Rhetorischen am Beispiel des Metaphorischen nachgehen, um die gesamte Tragweite solcher Verflechtung nicht nur im Hinblick auf die rhetorische Dimension, sondern zugleich im Hinblick auf den Status von Wissen allgemein und besonders im Licht der metaphorische Ordnung des-selben aufzuspüren und zu rekonstruieren.

5. Herder etwa bringt den Begriff der Einbildungskraft mit dem Begriff des Bildes in Verbindung. Vgl. seinen Aufsatz Über Bild, Dichtung und Fabel, in Werke in zehn Bänden (Anm. 1) 4:635. Dazu auch der Eintrag zu “einbilden” im Deutschen Wörterbuch: “einbilden, gleichsam einprägen, imprimere, vor augen stellen, ein bild von der sache bei einem andern entspringen und sich festsetzen lassen.” Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Neubearbeitung, hg. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Leipzig: S.Hirtzel 1965ff.) 3:149.

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6. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in Werke in zehn Bänden, hg. Wilhelm Weischedel, Bde. 3–4 (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1956) B 151.

7. Für einen Überblick vgl. Dietmar Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft (München: Hanser, 1981). Der Begriff der Vorstellung, den Kants Definition der Einbildungskraft enthält, ist ohne Zweifel ein kritischer. Im Hinblick auf sein Verhältnis zu rhetorischen Implikationen des Projekts des Vorstellens lohnt insbesondere ein Blick in Rüdiger Campe, “Vor Augen Stellen: Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung,” in Poststrukturalismus: Herausforderungen an die Literaturwissenschaft, hg. Gerhard Neumann (Stuttgart/Weimar: Metzler, 1997) 208–25.

8. Howard ist verantwortlich für die noch heute geläufige fachwissenschaftliche Klassifikation der Wolken durch deren Bezeichnung als Cirrus, Stratus, Cumulus und Nimbus. Goethe zeigte sich von Howards berühmtem Essay on Modification of Clouds (1803) umgehend begeistert, als er ihn 1815—angeregt durch die Lektüre von Ludwig Wilhelm Gilberts Annalen der Physik—kennenlernte.

9. Wolken bei Goethe haben in jüngster Vergangenheit großes Interesse auf sich gezogen. Vgl. erst neulich Marianne Schuller, “Über Wolken, Zu Goethe,” in Transmission: Übertragung—Übertragung—Vermittlung, hg. Georg Mein (Wien/Berlin: Turia+Kant, 2010) 249–60; Joseph Vogl, “Luft um 1800,” in Vita aesthetica: Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hg. Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker (Zürich: Diaphanes, 2009) 45–53; Christian Begemann, “Wolken Sprache: Goethe, Howard, die Wissenschaft und die Poesie,” in Die Gabe des Gedichts: Goethes Lyrik im Wechsel der Töne, hg. Gerhard Neumann und David Wellbery, Freiburg/Breisgau: Rombach, 2006) 225–42.

10. An anderer Stelle bringt Goethe den Begriff der Gestalt mit dem Zusammenspiel von “Hervorgebrachtwerdenden” und “Hervorgebrachtem” in Verknüpfung. Ebenfalls in seinen Heften Zur Morphologie heißt es in Die Absicht eingeleitet: “Betrachten wir alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend eine Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten, als von dem Hervorgebrachtwerdenden gehörig genug zu brauchen pflegt” (FA 1.24:392). Die Spur von diesem Schwanken führt dabei unmittelbar zu jenen ungreifbaren “schwankenden Gestalten” (FA 1.7:11), deren Nähern ja bekanntermaßen die Zueignung zu Faust eröffnet.

11. Auf den ideellen oder, in anderer Sprache gesprochen, strukturellen Charakter von Goethes morphologischem Denken wurde bereits eindringlich von Ernst Cassirer hingewiesen, dessen Verdienst es war, Goethe aus dem Umfeld real-historisierender Fragestellung von der Art, wie es—d.h. der Uranfang, das Entspringen, die Entwicklung und schließlich auch das Projekt einer Fortpflanzung—denn eigentlich gewesen sei, befreit zu haben. Cassirer schreibt deshalb zu dem sämtliche morphologischen Strukturen verdichtenden Projekt einer Metamorphose bei Goethe: “Die Lehre von der Metamorphose hat mit dieser Frage nach der historischen Abfolge der Lebenserscheinungen nichts zu tun; sie ist von jeder Art der ‘Deszendenztheorie’ nicht nur dem Inhalt nach, sondern der Problemstellung und Methode nach geschieden. Der Goethische Begriff der ‘Genese’ ist dynamisch, aber er ist nicht historisch; er verbindet weit voneinander abliegende Formen, indem er ihre stetige Vermittlung aufzeigt, aber er will keine Stammbäume von Arten aufstellen. Die Umbildung, ver-möge deren aus einer gemeinsamen Urform, dem Blatt, die einzelnen Pflanzenteile, die Kelch- und Kronenblätter, die Staubfäden usf. entstehen, ist ideelle, nicht reale Genese.” Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft in der neueren Zeit (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994) 3:156.

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12. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. Rudolf Boehm (Berlin: de Gruyter, 1966) 283.

13. Zu diesem Brief Goethes an Knebel siehe auch Shu Ching Ho, Über die Einbildungskraft bei Goethe: System und Systemlosigkeit, Freiburg/Breisgau: Rombach, 1998) 71–82. Die Autorin bemüht sich vor allem um eine begriffsgeschich-tliche Skizzierung des Verhältnisses von Goethes und Kants Verständnis der Einbildungskraft. Ein genauer bestimmender Nachvollzug der inneren Bewegung die-ser Passage bleibt allerdings aus.

14. Eckart Förster hat bekanntermaßen darauf hingewiesen, dass solchem “Geist” in Goethes Schreiben immer wieder ein attributiertes Auge anwächst, in welches sich Goethes Theorie des phänomenologischen Sehens als die des Moments einer quasi-philosophischen Vermittlung im idealistischen Spiel von Subjekt und Objekt verdich-tet. Försters Ansatz beruht dabei allerdings auf einer synekdochischen Verdichtung von Goethes Rede von der Vielzahl der “Augen des Geistes,” wie sie etwa auch im Kontext der Goetheschen Morphologie und vor allem der Farbenlehre auftaucht, auf ein pars pro toto (“Auge des Geistes”), um dieses vereinheitlichte Auge seinerseits zu einem epistemologischen Prinzip Goethes zu erheben. Trotz dieser zuspitzenden rhetorischen Verdichtung aber erscheint es nicht unschlüssig, Goethes dialektisch verschlungenes Spiel zwischen Sprache und Dingen, wie es im Brief an Knebel impliz-it verhandelt wird, in Relation mit der philosophischen Debatte um das Verhältnis von Subjekt und Objekt zu setzen, wie es etwa—darauf weist Förster hin—in der Analogie zu Fichtes Rede von einem “Auge des Geistes” möglich erscheint. Vgl. Eckart Förster, “Goethe and the ‘Auge des Geistes,’” Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75.1 (2001): 87–101.

15. Aristoteles, Poetik, übers. Arbogast Schmitt, in Werke in deutscher Übersetzung, begr. Ernst Grumach, hg. Hellmut Flashar, Bd. 5 (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008) 29.

16. Aristoteles, Poetik, 30.

17. Manfred Frank, “Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der Metapher,” Neue Hefte für Philosophie 18/19 (1980): 67.

18. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in Werke in zehn Bänden, Bd. 8 (Anm. 6) B 254.

19. Erläuternd zu Kants Begriff der Hypotypose vgl. Rodolphe Gasché, “Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant,” in Was heißt Darstellen?, hg. L. Haart Nibbrig (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994) 152–74. Zu §59 der Kritik der Urteilskraft und dem Problem von Metapher vgl. Rüdiger Campe, “Vor Augen Stellen” (Anm. 7) 210ff.

20. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B 256.

21. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B 256.

22. In prominentester Form ist dies wohl durch Hans Blumenberg geschehen. Vgl. dazu die Einleitung zu den Paradigmen zu einer Metaphorologie (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998) 11ff. Sowie die Ausführungen in Theorie der Unbegrifflichkeit, aus dem Nachlaß hg. Anselm Haverkamp (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2007) 53–60.

23. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B 257. Zu solchen Gegenständen gehören nach Kant jene drei Ideen der reinen Vernunft, wie er sie bereits in der Kritik der reinen Vernunft—gemäß der Definition einer Idee als “ein Begriff aus Notionen, die die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt” (B 377)—bestimmt hatte: Unsterblichkeit der Seele, Freiheit, Gott. Denn, so schreibt Kant, es “ist alle unsere Erkenntnis von Gott bloß symbolisch” (Kritik der Urteilskraft, B 257).

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24. Manfred Frank, “Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der Metapher” (Anm. 17) 59. In einer oft verwendeten Übersetzung ist das in jenem ónoma aufschimmernde Problem einer Nomenklatur, ja einer Namensgebung selbst nicht mehr zu erkennen, insofern Manfred Fuhrmann die Formel onómatos allotríou epiphorá unscharf widergibt als “die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird).” Aristoteles, Poetik, übers. und hg. Manfred Fuhrmann (Stuttgart: Reclam, 1982) 67.

25. Eine solche Sprache des Mangels etabliert schon August Wilhelm Schlegel im direkten Umfeld des Versuchs einer Bestimmung tropischen Sprechens: “Die Tropen und Metaphern, der schönste Schmuck des poetischen Styls, waren demnach anfänglich Nothbehelf, wegen der Armut der Bezeichnung.” Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, in Kritische Ausgabe der Vorlesungen, hg. Ernst Behler in Zusammenhang mit Frank Jolles (Paderborn: Schöningh, 1989ff.) 1:438.

26. Johann Gottfried Herder, Über Bild, Dichtung und Fabel, in Werke in zehn Bänden (Anm. 1) 4:642.

27. Dafür steht in Kants Kritik der reinen Vernunft geradezu unhintergehbar der erste Satz der Transzendentalen Ästhetik ein: “Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch die-jenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und wodurch alles denken als Mittel abzweckt, die Anschauung” (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 33).

28. Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in Kritische Studienausgabe, hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Auflage (Berlin/New York: de Gruyter, 1988) 1:879.

29. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge, 879.

30. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge, 880.

31. Mit solcher Metaphorizität steht zugleich dasjenige im Bunde, was Goethe schlich-tweg als “Zeichen” beziffert, von welchem es im Lichte des Wissens um die Trennung von bloßer Anschauung und Ausdruck derselben, also von Vergegenwärtigung und sprachlicher Repräsentation eines Gegenstandes an selber Stelle der Farbenlehre heißt: “Jedoch wie schwer ist es, das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer lebendig vor sich zu haben und es nicht durch das Wort zu töten. Dabei sind wir in den neuern Zeiten in eine noch größere Gefahr geraten, indem wir aus allem Erkenn- und Wißbaren Ausdrücke und Terminologie herübergenommen haben, um unsere Anschauungen der einfacheren Natur auszudrücken. Astronomie, Kosmologie, Geologie, Naturgeschichte, ja Religion und Mystik werden zu Hülfe gerufen; und wie oft sind nicht das Allgemeine durch ein Besonderes, das Elementare durch ein Abgeleitetes mehr zugedeckt und verdunkelt als aufgehellt und näher gebracht” (FA 1.23:245).

32. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B 288.

33. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, B 288.

34. Paul Ricœur, La métaphore vive (Paris: Seuil, 1975).

35. Zur Verbindung zwischen Metapher und Leben vgl. einmal mehr Rüdiger Campe, “Vor Augen Stellen” (Anm. 7), 215–17. Dass im Zentrum der Metapher das Prinzip der Überschreitung zwischen Nicht-Leben und Leben und damit in übertragener Form jene kritische Schwelle des Entspringens zwischen “da” und “her” steht, geht dabei nicht allein aus dem aristotelischen Verständnis der Metapher, auf welcher Campe sein Argument stützt, sondern ebenso aus einer späteren antiken Metapherndefinition hervor. So heißt es bekanntermaßen in Quintilians Institutio Oratoria von der

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Metapher, welche in der Opposition zum Vergleich verstanden wird: “Eine Vergleichung ist es, wenn ich sage, ein Mann habe etwas getan ‘wie ein Löwe.’ Die gesamte Wirkung der Metapher aber entfaltet sich offenbar vor allem auf 4 Gebieten: wenn bei belebt-en Dingen eines für das andere gesetzt wird. . . . Oder es werden unbelebte Dinge statt anderer von der gleichen Art genommen. . . . Oder es (drittens) werden statt belebter Dinge unbelebte genommen: ‘bracht’ Schicksal oder Schwert der Griechen Wehr zu Fall?’ Oder umgekehrt (viertens): ‘Er sitzt nichtsahnend auf hohen / Felsens Scheitel der Hirt, wo er vernimmt das Getöse’. Und manchmal aus solchen Metaphern, die in kühner und beinahe waghalsiger Übertragung gewonnen werden, entsteht wunder-bare Erhabenheit, wenn wir gefühllosen Dingen ein Handeln und Leben ver-leihen. . . .” Marcus Fabius Quinitilianus, Ausbildung des Redners, hg. und übers. Helmut Rahn, 2. Tl. (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988) 223, Hervorhebung der Verf.

36. Walter Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1977) 2:148.

37. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, hg. Brian McGuinness und Joachim Schulte (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998) 26.

38. Benjamin, Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, 154.

39. Was Blumenberg “Unbegrifflichkeit” nennt, könnte demnach im eigentlichen Sinne auch eine Form der Unbegreiflichkeit darstellen, welche schon in den immer bloß defizitären Begriff eingelassen ist: “Das Verhältnis des Begriffs zum Gegenstand ist verglichen worden mit dem zwischen verschiedenen Sinnesorganen und ihren Leistungen: das Sehen vertritt nur die Möglichkeit der Berührung, des Fühlens, damit des Besitzens” (Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit [Anm. 22], 108). Solche Strukturen des Ersetzens aber bilden das Fundament der Metapher, die ja gerade an solchen Plätzen des Mangels ihren Ort einnimmt, jedoch nicht um den durch das Prinzip einer grundsätzlichen Abständigkeit vom Gegenstand geprägten Mangel zu kompensieren, sondern um ihn vielmehr in sich aufzunehmen, ja in der Form des Zu-spät-Kommens zu verdoppeln. Das aber geschieht vor allem im Hinblick auf die morphologische Welt als der Welt der lebenden Dinge oder, wie Blumenberg schreibt, der “Lebenswelt.” Denn “im Aspekt auf die Lebenswelt ist die Metapher, auch die absolute, noch dazu in ihrer grammatisch-rhetorisch präzis definierten Kurzform, etwas Spätes und Abgeleitetes.” Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit (Anm. 22), 101.

40. Benjamin, Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, 153.

41. Benjamin, Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, 153.

42. Benjamin, Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, 153.