Zur Abwägung von Menschenleben – Gedanken zur Leistungsfähigkeit der Verfassung

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1 3 JRP Zusammenfassung: Der  Staat  steht  regelmä- ßig  vor  der  Aufgabe,  Interessen  gegeneinander  abzuwägen.  Die  Leistungsfähigkeit  einer  Ver- fassung beruht zu einem guten Teil darauf, Vor- gaben  für  die  Abwägung  bereit  zu  stellen,  was  auch Fragen zur Abwägung von Menschenleben  mit umfasst. Konkret wurde die Abwägung von  Menschenleben  im  Zusammenhang  mit  dem  Abschuss eines entführten Flugzeugs diskutiert.  Anders als in Fällen, in denen der Staat nur in- direkt  über  Menschenleben  entscheidet  (zB  bei  der Frage, wie viel in die Verkehrssicherheit in- vestiert werden soll), herrscht bei direkten Ent- scheidungen  weitgehende  Zurückhaltung  bei  der Abwägung von Menschenleben. Die Ansicht,  dass 1 Menschenleben nicht verloren gehen darf,  um  2  Menschenleben  zu  retten,  soll  hinterfragt  werden.  Der  Beitrag  diskutiert,  welche  Erwä- gungen  gegen  ein  Eingreifen  des  Staates  den- noch  angeführt  werden  können  und  geht  auf  die  damit  verbundenen  verfassungsrechtlichen  Grundlagen ein. Deskriptoren:  Flugzeugabschuss ·  Menschenwürde ·   Ökonomische Analyse des Rechts Rechtsquellen:  Art 2, 3 EMRK I.  Einleitung Der  Staat  steht  regelmäßig  vor  der  Aufgabe,  Interessen  gegeneinander  abzuwägen. 1 Er  hat  etwa zu entscheiden, wie viel an Steuergelder in  die  Bildung,  in  die  Landesverteidigung,  in  das  Gesundheitswesen etc investiert werden soll. Da  Mittel, die in einen Sektor laufen, nicht mehr in  einen anderen Sektor investiert werden können,  ist ein Vergleich bzw eine Abwägung vorzuneh- men. Fälle der Interessenabwägung sind oft in  der Verfassung angelegt, wie etwa bei der Frage,  ob  die  Kunstfreiheit  der  Religionsfreiheit  vor- geht,  inwieweit  aufgrund  von  Sicherheit  in  die  Privatsphäre  eingegriffen  werden  darf,  oder  ob  bei  einer  Versammlung  eine  Gegendemons- tration  zulässig  ist.  Besonders  umstritten  sind  Abwägungsfragen, bei denen es um Menschen- leben  geht,  wie  etwa  beim  Abschuss  eines  ent- führten Flugzeugs, 2 das hier als Paradebeispiel  dienen  soll.  Die  grundrechtliche  Leistungsfä- higkeit einer Verfassung basiert zu einem guten  Teil  darauf,  Interessenabwägungen  vornehmen  zu können. Als  verfassungsgesetzliche  Anknüpfungs- punkte  für  die  Abwägung  von  Menschenleben  dienen  das  Recht  auf  Leben,  das  Legalitäts- prinzip und der Gleichheitssatz. Auch wenn in  der österreichischen Verfassung die Menschen- würde nicht explizit als Grundrecht genannt ist,  1 Siehe  zur  Abwägungsperspektive  Ladeur,  Kritik  der  Abwägung in der Grundrechtsdogmatik (2004). 2 BVerfG,  1  BvR  357/05  v  15.2.2006;  siehe  auch  Beze- mek, Unschuldige Opfer staatlichen Handelns, JRP 2007,  121 ff; Eberhard, Recht auf Leben, in: Heißl (Hrsg), Hand- buch Menschenrechte (2009) 80 (87 f). Journal für Rechtspolitik DOI 10.1007/s00730-011-0006-3 Forum Kristoffel Grechenig · Konrad Lachmayer Zur Abwägung von Menschenleben – Gedanken   zur Leistungsfähigkeit der Verfassung © Springer-Verlag 2011 Wir danken Harald Eberhard, Claudia Fuchs und Christoph Konrath für die Durchsicht des  Manuskripts und wertvolle Hinweise. Für den Inhalt  und Fehler bleiben selbstverständlich die Autoren  verantwortlich.

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Zusammenfassung:  Der  Staat  steht  regelmä-ßig  vor  der  Aufgabe,  Interessen  gegeneinander abzuwägen.  Die  Leistungsfähigkeit  einer  Ver-fassung beruht zu einem guten Teil darauf, Vor-gaben  für  die  Abwägung  bereit  zu  stellen,  was auch Fragen zur Abwägung von Menschenleben mit umfasst. Konkret wurde die Abwägung von Menschenleben  im  Zusammenhang  mit  dem Abschuss eines entführten Flugzeugs diskutiert. Anders als in Fällen, in denen der Staat nur in-direkt  über  Menschenleben  entscheidet  (zB  bei der Frage, wie viel  in die Verkehrssicherheit  in-vestiert werden soll), herrscht bei direkten Ent-scheidungen  weitgehende  Zurückhaltung  bei der Abwägung von Menschenleben. Die Ansicht, dass 1 Menschenleben nicht verloren gehen darf, um  2  Menschenleben  zu  retten,  soll  hinterfragt werden.  Der  Beitrag  diskutiert,  welche  Erwä-gungen  gegen  ein  Eingreifen  des  Staates  den-noch  angeführt  werden  können  und  geht  auf die  damit  verbundenen  verfassungsrechtlichen Grundlagen ein.

Deskriptoren:  Flugzeugabschuss · Menschenwürde ·  Ökonomische Analyse des Rechts

Rechtsquellen:  Art 2, 3 EMRK

I.  Einleitung

Der  Staat  steht  regelmäßig  vor  der  Aufgabe, Interessen  gegeneinander  abzuwägen.1  Er  hat etwa zu entscheiden, wie viel an Steuergelder in die  Bildung,  in  die  Landesverteidigung,  in  das Gesundheitswesen etc investiert werden soll. Da Mittel, die in einen Sektor laufen, nicht mehr in einen anderen Sektor investiert werden können, ist ein Vergleich bzw eine Abwägung vorzuneh-men. Fälle der  Interessenabwägung  sind oft  in der Verfassung angelegt, wie etwa bei der Frage, ob  die  Kunstfreiheit  der  Religionsfreiheit  vor-geht,  inwieweit  aufgrund von Sicherheit  in die Privatsphäre  eingegriffen  werden  darf,  oder ob  bei  einer  Versammlung  eine  Gegendemons-tration  zulässig  ist.  Besonders  umstritten  sind Abwägungsfragen, bei denen es um Menschen-leben geht, wie  etwa beim Abschuss  eines  ent-führten Flugzeugs,2 das hier als Paradebeispiel dienen  soll.  Die  grundrechtliche  Leistungsfä-higkeit einer Verfassung basiert zu einem guten Teil  darauf,  Interessenabwägungen  vornehmen zu können.

Als  verfassungsgesetzliche  Anknüpfungs-punkte  für  die  Abwägung  von  Menschenleben dienen  das  Recht  auf  Leben,  das  Legalitäts-prinzip und der Gleichheitssatz. Auch wenn  in der österreichischen Verfassung die Menschen-würde nicht explizit als Grundrecht genannt ist, 

1 Siehe  zur  Abwägungsperspektive  Ladeur,  Kritik  der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik (2004).2 BVerfG,  1  BvR  357/05  v  15.2.2006;  siehe  auch  Beze-mek, Unschuldige Opfer staatlichen Handelns, JRP 2007, 121 ff; Eberhard, Recht auf Leben, in: Heißl (Hrsg), Hand-buch Menschenrechte (2009) 80 (87 f).

Journal für RechtspolitikDOI 10.1007/s00730-011-0006-3

Forum

Kristoffel Grechenig · Konrad Lachmayer

Zur Abwägung von Menschenleben – Gedanken  zur Leistungsfähigkeit der Verfassung

© Springer-Verlag 2011

Wir danken Harald Eberhard, Claudia Fuchs und Christoph Konrath für die Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Hinweise. Für den Inhalt und Fehler bleiben selbstverständlich die Autoren verantwortlich.

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so ist die Bedeutung der Menschenwürde für die österreichische  Verfassung  anerkannt,  wobei ein grundrechtlicher Rückbezug von Menschen-würde-Überlegungen  eingefordert  wird.3  Die Grenzen verfassungsrechtlicher Argumentation zeigen  den  Spielraum  für  wertbezogene  Kon-zepte.  Ökonomische  bzw  konsequentialistische Argumente können hier eingebracht werden.

 II.   Bekannte Probleme bei der Abwägung von Menschenleben

Der Staat hat zu entscheiden, ob er weitere Res-sourcen  für  die  Verkehrssicherheit  aufwendet, um  ein  zusätzliches  Menschenleben  zu  retten. Es  stellt  sich  die  Frage,  ob  diese  Investition getätigt  werden  soll,  wenn  die  Reduktion  um einen Verkehrstoten € 10.000,-, € 100.000,- oder €  1.000.000,-  kostet?4  Konsens  besteht  über  die Tatsache,  dass  nicht  schlicht  die  Anzahl  der Verkehrsunfälle  minimiert,  das  heißt  so  weit wie  möglich  reduziert  werden  soll.  Eine  Mini-mierung  der  Verkehrsunfälle  wäre  etwa  durch ein  generelles  Autofahrverbot  zu  erreichen, wodurch die Anzahl der Verkehrstoten auf Null sinken würde. Dies wäre allerdings nicht kon-sensfähig.  Vielmehr  werden  die  verschiedenen Vor-  und  Nachteile  berücksichtigt,  wie  etwa die  Tatsache,  dass  das  Autofahren  die  Mobili-tät erhöht. Dass es hierbei zu einer (impliziten) Abwägung von Menschenleben kommt, wird oft nicht offen ausgesprochen. Staatliches Handeln umfasst die Bewertung von Menschenleben auch bei  Fragen  des  Gesundheitswesens,  zB  bei  der Frage, ob weiter in die Sicherheit von Kranken-häusern  investiert  werden  soll;  der  finanziel-len Ausstattung der Polizei,  zur Abschreckung von  Mord  und  anderen  Tötungsdelikten,  etc. Die Frage ist dabei nicht, ob der Staat derartige Bewertungen  vornehmen  soll,  sondern  wie  sie vorzunehmen sind.5

Besonders  kontrovers  diskutiert  werden staatliche  Regeln,  die  unmittelbar  bzw  direkt über  Menschenleben  entscheiden.  Das  betrifft etwa  die  Frage,  wer  ein  lebensnotwendiges 

3 Siehe  differenzierend  Kneihs,  Schutz  von  Leib  und Leben  sowie  Achtung  der  Menschenwürde,  in:  Schäf-fer  (Red),  Grundrechte  in  Österreich,  Bd VII/1  (Merten/Papier  [Hrsg],  Handbuch  der  Grundrechte  in  Deutsch-land und Europa [2009]) 137 (159 ff); siehe auch Bezemek (FN 2) 126.4 Vgl Grechenig/Gelter, Juristischer Diskurs und Rechts-ökonomie, JRP 2007, 30 ff (36).5 Broome, Weighing Lives (2004) 1 ff.

Organ erhalten oder an ein lebensnotwendiges, medizinisches Gerät angeschlossen werden soll, wenn in einem konkreten Fall nicht alle Patien-ten vorsorgt werden können, ob und in welchem Rahmen  Forschung  an  Menschen  erlaubt  ist, in welchem Umfang der Gebrauch von Schuss-waffen durch die Polizei, etwa im Rahmen einer Entführung,  zulässig  ist.  Insbesondere  außer-halb  Europas  wird  in  diesem  Zusammenhang unter anderem die Todesstrafe diskutiert.6 Trotz des  absoluten  Folterverbots  gem  Art  3  EMRK wurden und werden auch in Europa Fragen der Androhung und Anwendung von Folter öffent-lich debattiert.7

Zu einer Abwägung von Menschenleben muss es  auch  kommen,  wenn  durch  den  Abschuss eines  entführten  Flugzeugs  potenzielle  Opfer eines Terroranschlags gerettet werden können. Das  deutsche  Bundesverfassungsgericht  hat  es in diesem Zusammenhang als „schlechterdings unvorstellbar“ bezeichnet, vor dem Hintergrund des  Grundgesetzes  Unschuldige  vorsätzlich  zu töten.8 Diese Ansicht setzt unter anderem einen absoluten  Vorrang  des  Menschenlebens  vor-aus.  Danach  wäre  es  unerheblich,  ob  ein  Men-schenleben  um  fünfzig  Jahre,  ein  Jahr,  eine Stunde  oder  wenige  Sekunden  verkürzt  wird. Gleichzeitig wäre es unerheblich, wie viel eines anderen Wertes dadurch gerettet werden kann. Streng  genommen  dürfte  ein  Menschenleben auch  nicht  um  eine  Sekunde  verkürzt  werden, wenn dadurch die gesamte restliche Menschheit gerettet  werden  könnte.  Es  zeigen  bereits  weit weniger extreme Fälle, dass anerkannte Prakti-ken von keinem absoluten Vorrang ausgehen; so 

6 ZB  Donohue/Wolfers,  Uses  and  Abuses  of  Empirical Evidence  in  the  Death  Penalty  Debate,  Stanford  Law Review 2005, 791 ff.7 Siehe zur Diskussion im Fall Daschner: Götz, Das Urteil gegen Daschner im Lichte der Werteordnung des Grund-gesetzes.  Anmerkung  zu  LG  Frankfurt,  U  v  20.12.2004 –  5/27  KLs  7570  Js  203814/03  (4/04),  NJW  2005,  953; Erb, Notwehr als Menschenrecht  – Zugleich  eine Kritik der  Entscheidung  des  LG  Frankfurt  am  Main  im  „Fall Daschner“,  NStZ  2005,  593;  Herzberg,  Folter  und  Men-schenwürde,  JZ  2005,  321;  Schmahl/Steiger,  Völker-rechtliche  Implikationen  des  Falls  Daschner  (zugleich Anmerkung zu LG Frankfurt, U v 20.12.2004 – 5/27 KLs 7570  Js  203814/03  (4/04),  AVR  2005,  358;  Braum,  Ero-sionen  der  Menschenwürde.  Auf  dem Weg  zur  Bundes-folterordnung (BFO)? Anmerkung zu LG Frankfurt, U v 20.12.2004  –  5/27  KLs  7570  Js  203814/03  (4/04)  –  (Fall Daschner),  KritV  2005,  283;  Jerouschek,  Gefahrenab-wehrfolter – Rechtsstaatliches Tabu oder polizeirechtlich legitimierter Zwangseinsatz?, JuS 2005, 296; C. Jäger, Das Verbot  der  Folter  als  Ausdruck  der Würde  des  Staates, in: Herzberg-FS (2008) 539; EGMR, 10.4.2007, BeschwNr 22978/05 (Fall Daschner) = NJW 2007, 2461.8 BVerfG (FN 2) Abs-Nr 130.

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wird  etwa  nicht  vom  Personal  eines  Kranken-hauses verlangt, an einem Tag doppelt so lange zu arbeiten, wenn dadurch das Leben eines ein-zigen Patienten um wenige Minuten verlängert werden  könnte.  Dass  eine  solche  „lexikalische Ordnung“,  bei  der  ein  Wert  anderen  Werten absolut  vorgeht,  zu  problematischen  Ergebnis-sen führt, wird in der Philosophie auch von Ver-tretern  anerkannt,  die  sich  annäherungsweise einer  solchen  lexikalischen Ordnung bedienen. So bezeichnet es etwa Rawls, der von einem sol-chen Vorrang der Grundfreiheiten ausgeht,  als „klar“,  dass  eine  lexikalische  Ordnung  streng genommen nicht korrekt sein kann.9

Es ist klar, dass ein optimales und allgemein anerkanntes Ziel die Abwägung von Interessen impliziert. Das gilt auch im Zusammenhang mit den  an  der  Universitätsklinik  Mainz  bekannt gewordenen Fällen von tödlich infizierten Babys. In Österreich  sterben  jährlich schätzungsweise etwa 2.500 Menschen an multiresistenten Kran-kenhauskeimen;10 gemäß der Apothekervereini-gung könnten es bis zu 4.800 pro Jahr sein (bei jährlich  55.000  Infektionen  insgesamt).11  Eine Reduktion dieser Zahlen scheint unter Berück-sichtigung  der  nötigen  Aufwendungen  wahr-scheinlich  sehr  wünschenswert,  insbesondere wenn man bedenkt, dass ein Teil der  Infektio-nen durch Nachlässigkeiten bei der Desinfektion durch das Krankenhauspersonal hervorgerufen wird,  wobei  wegen  des  Zeitdrucks  womöglich mehr  Personal  eingestellt  werden  müsste.  Aus politischen Gründen mag es auch sinnvoll sein, eine so umfangreich wie mögliche Reduktion zu verlangen, um einen entsprechenden Druck auf die  Entscheidungsträger  auszuüben.  Gleichzei-tig  ist  klar,  dass  eine  Reduktion  der  tödlichen Infektionen  auf  Null  nicht  finanzierbar  wäre bzw  dass  eine  Finanzierung  andere  Nachteile bringt, die noch weniger gewünscht werden.

Ähnlichen  Überlegungen  unterliegen  auch Individuen, wenn sie alleine über sich selbst zu entscheiden  haben.  Sie  entscheiden  sich  etwa für ein Verkehrsmittel, bei dem die Wahrschein-lichkeit  eines  tödlichen  Unfalls  höher  liegt  als bei  einem  alternativen  Verkehrsmittel;  für  das 

9 „… it seems clear that, in general, a lexical order cannot be strictly correct …“, Rawls, A Theory of Justice (rev ed [1999]) 40.10 http://www.forumgesundheit.at („Tödliche Keime“).11 http://www.apotheker.or.at  („Apothekertagung:  55.000 Spitalsinfektionen pro Jahr in Österreich“, APA Meldung von  der  Fortbildungstagung  für  ApothekerInnen,  Saal-felden am 4.3.2009). Es wird eine Bandbreite von 240 bis 4.800 Fällen angegeben.

Rauchen,  obwohl  dadurch  die  Lebensdauer verkürzt  wird;  für  eine  bestimmte  Ernährung unter Abwägung von Geschmack und Gesund-heit; insgesamt für einen bestimmten Lebensstil. Bei  den  dabei  getroffenen,  mehr  oder  weniger bewussten Abwägungen wird auch der Wert des eigenen Lebens berücksichtigt.

 III. Verfassungsrechtliche Ausgangslage

A. Zur Zulässigkeit staatlicher Eingriffe in Menschenleben

Die  staatlichen  Eingriffe  in  Menschenleben sind  in  einer  (innerstaatlichen)  Rechtsordnung durch die Rahmenbedingungen der Verfassung begrenzt. Es werden absolute Schranken aufge-stellt,  Bedingungen  genannt  und  Abwägungs-mechanismen verfassungsgesetzlich eingeführt. Die  Menschenrechtsordnung  determiniert  pri-mär  die  Zulässigkeit  eines  verfassungskonfor-men Eingriffs in Menschenleben. Aufgrund der Grundrechtskonzeption  in  Österreich  sind  im Rahmen  der  grundrechtlichen  Schrankendog-matik auch demokratische und rechtsstaatliche Erwägungen zu berücksichtigen.

Primärer  Anknüpfungspunkt  ist  Art  2 EMRK,  dessen  erster  Satz  einen  Gesetzesvor-behalt  statuiert:  „Das  Recht  jedes  Menschen auf  das  Leben  wird  gesetzlich  geschützt.“  Der Schutzbereich  des  Art  2  Abs  1  EMRK  wird durch die Ausnahmen gem Art 2 Abs 2 EMRK nicht eingeschränkt.  Im Gegenteil,  im Rahmen des Schutzbereiches des Art 2 Abs 1 1. Satz wird durch Art 2 Abs 2 EMRK ein materieller Grund-rechtsvorbehalt  formuliert,  der  unter  Geset-zesvorbehalt  und  unter  den  Bedingungen  der Verhältnismäßigkeit steht.12 MaW, die „unglück-liche  Formulierung“13  des  Art  2  Abs  2  EMRK wird  in  einer  Weise  interpretiert,  die  der  Ver-hältnismäßigkeitsprüfung  der  Art  8-11  EMRK entspricht  sowie  einen  Gesetzesvorbehalt  gem Art 2 Abs 1 iVm Art 2 Abs 2 EMRK vorsieht.14 Interpretativer  Anknüpfungspunkt  bleibt  die „unbedingte Erforderlichkeit“ des Art 2 Abs 2 EMRK.  In  österreichischer  Perspektive  wird der  Gesetzesvorbehalt  durch  Art  18  B-VG  als 

12 Siehe Eberhard (FN 2) 90.13 Frowein,  Art  2,  in:  Frowein/Peukert  (Hrsg),  EMRK-Kommentar3 (2009) 36.14 Kneihs, Art 2 EMRK, in: Rill/Schäffer (Hrsg), Kommen-tar zum Bundesverfassungsrecht (4. Lfg 2006) Rz 22.

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rechtsstaatliche Vorgabe verstärkt und auch der Zusammenhang zur Demokratie hergestellt.

Der  Gesetzesvorbehalt  wird  damit  auch  für den  Fall  des  Flugzeugabschusses  zum  relevan-ten  Kriterium  der  Zulässigkeit.  Im  Gegensatz zur  deutschen  Rechtslage  fehlt  in  Österreich eine  spezifische  ausdrückliche  Rechtsgrund-lage.  Im WaffengebrauchsG  findet  sich  gem  §  7 leg cit die Möglichkeit zu einem mit Lebensge-fährdung verbundenen Gebrauch einer Waffe ua im Rahmen von gerechter Notwehr zur Verteidi-gung eines Menschen. Wenn in diesem Fall unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit, die gem § 8 leg cit konkretisiert wird, ein finaler Todesschuss legitimiert werden kann, so  ist damit  jedenfalls keine  gesetzliche  Grundlage  für  einen  Flug-zeugabschuss  gegeben.  Auch  andere  Bestim-mungen  –  etwa  nach  dem  MBG  –  stellen  nach bestehender Rechtslage keine dem Art 18 B-VG entsprechende  gesetzliche  Grundlage  für  einen Flugzeugabschuss in Österreich zur Verfügung.15 Von  der  verfassungsgesetzlichen  Unzulässigkeit eines  staatlichen  Flugzeugabschusses  in  Öster-reich  ausgehend  lässt  sich  aus  ökonomischer Perspektive dennoch hinterfragen, welche Abwä-gungsentscheidungen  mit  einem  solchen  Flug-zeugabschuss verbunden sind. Überdies trifft der Gesetzgeber  auch  durch  die  gesetzliche  Nicht-Regelung  dieses  Falles  eine  Entscheidung  in Hinblick auf den staatlichen Flugzeugabschuss. Die fehlende Gesetzesgrundlage sagt schließlich nichts darüber aus, ob im Ernstfall nicht doch ein Flugzeugabschuss vorgenommen wird und wel-che die rechtlichen Konsequenzen sind; sie wirkt sich  jedenfalls  aufgrund  des  daran  gekoppel-ten  rechtlichen  Sanktionsregimes  vielschichtig aus. So wäre ein solches Handeln nicht nur ohne gesetzliche  Grundlage  und  damit  verfassungs-widrig,  sondern  es  erfüllt  den  strafrechtlichen Mordtatbestand  und  hätte  disziplinarrechtliche Folgen. Die operative Umsetzung wäre auch auf-grund  der  Ungültigkeit  jeglicher  Weisung  gem Art 20 Abs 1 B-VG erschwert. All diese verfas-sungsgesetzlichen  sowie  einfachgesetzlichen Kautelen  ändern  aber  nichts  daran,  dass  die zuständigen Personen im Ernstfall eine Entschei-dung treffen müssten. Dabei wird durch die Ver-fassungswidrigkeit  des  Flugzeugabschusses  die konkrete  Abwägung  Einzelner  zumindest  teil-weise gesteuert. Letztlich müssen diese die Kon-sequenzen  eines  derartigen  Abschusses  tragen. 

15 Siehe auch Kneihs, Terrorabwehr: Darf der Staat wirk-lich Schuldlose töten?, Die Presse 6.3.2006, 6 (http://www.diepresse.com).

Die verfassungsrechtlichen, strafrechtlichen und disziplinarrechtlichen  Sanktionsmechanismen führen  in  weiterer  Folge  wiederum  dazu,  dass zu  guter  Letzt  die  Gerichte  eine  Entscheidung treffen müssen, ob etwa entschuldigende Gründe vorgelegen  haben  oder  nicht.  Auch  hier  spie-len  Abwägungsentscheidungen  eine  relevante Rolle. Zusammenfassend ist nach der bestehen-den Rechtslage der staatliche Flugzeugabschuss verfassungswidrig. Durch das Fehlen einer dies-bezüglichen Regelung hat der Gesetzgeber  eine Entscheidung getroffen. Im konkreten Einzelfall muss die Verwaltung ebenfalls eine Abwägungs-entscheidung treffen und müssen schließlich die Gerichte nochmals darüber befinden.

B. Diesseits und jenseits der Menschenwürde-Argumentation

1. Menschenwürde in der österreichischen Verfassung

Die  rechtliche  Ausgangssituation  in  Österreich ist von der deutschen Verfassungs- und Rechts-lage  zu  differenzieren.  Wie  bereits  erwähnt, fehlt  es  der  österreichischen  Verfassung  an einer  expliziten  Verankerung  der  Menschen-würde.  Die  trotzdem  zulässige  Menschenwür-deargumentation erfolgt daher im Rahmen und nicht unabhängig von den positivierten Grund-rechten.16  Damit  erfolgt  der  Einstieg  in  die Fragestellung  des  finalen  Todesschusses  oder des  staatlichen  Flugzeugabschusses  über  Art  2 EMRK. Ein Ausschluss  einer Verhältnismäßig-keitsprüfung  im  Rahmen  der  diesbezüglichen Menschenwürdefrage  lässt  sich  nicht  rechtfer-tigen.  Im Gegenteil, die Zulässigkeit des staat-lichen  Eingriffs  hängt  davon  ab,  dass  dieser „unbedingt  erforderlich“  ist.  In  Abgrenzung von  diesem  Fallbeispiel  zeigt  das  Folterverbot gem Art 3 EMRK, dass auch die österreichische Grundrechtsordnung der Menschenwürde abso-luten Wert zuschreibt. Das Folterverbot, das die Menschenwürde  auch  zum  Ausdruck  bringt, kann  nicht  eingeschränkt  werden.  Durch  die fehlende, gesetzliche Grundlage wird  in Öster-reich der staatliche Flugzeugabschuss mit einem absoluten Verbot ausgestattet. Dies soll an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit verfassungs-rechtlichen Abwägungsfragen nicht verhindern, die sich nur de lege ferenda stellen würden.

Die Menschenwürde wird also in Art 2 EMRK zu einem abwägbaren Element  im Rahmen der 

16 Kneihs (FN 3) 159 ff; siehe auch Bezemek (FN 2) 126.

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Verhältnismäßigkeitsprüfung.  Die  an  dieser Stelle  vorzunehmende  Abwägung  bezieht  sich auf die Verhältnismäßigkeit des staatlichen Ein-griffs  und  berücksichtigt  (nur  zT)  die  allfälli-gen Schutzpflichten des Staates zum Schutz von Menschenleben.

2. Einfachgesetzliche Abwägungsentscheidungen auf menschenrechtlicher Basis

Als  Ausgangspunkt  können  der  finale  Todes-schuss  und  die  in  §§  7  f  WaffengebrauchsG vorgesehen  Abwägungskriterien  dienen,17  die wiederum auf den Grundausnahmen des Art 2 Abs 2 EMRK beruhen. Neben den Einschränkun-gen  des  lebensgefährdenden  Waffengebrauchs auf  Fälle  der  Notwehr,  der  Unterdrückung eines  Aufstandes  und  der  Erzwingung  einer Festnahme  werden  weitere  Kriterien  der  Ver-hältnismäßigkeit aufgestellt. Der finale staatli-che Todesschuss darf dabei nur erfolgen, wenn dieser  angedroht  wurde  (etwa  in  Form  eines Warnschusses).  In  dieser  Konstellation  trifft der  Staat  eine  Entscheidung  über  Menschenle-ben gegenüber dem Angreifer (also einer Person oder  Menschenmenge,  von  der  eine  bestimmte Gefahr  ausgeht).  Dem  entspricht  §  8  Abs  2  1. Teil  WaffengebrauchsG,  der  vorsieht,  dass  der Todesschuss nur zulässig ist, wenn voraussicht-lich Unbeteiligte nicht gefährdet werden.

Eine  Abwägung  von  Menschenleben  nimmt allerdings  der  zweite  Teil  dieser  Bestimmung in Form einer wesentlichen Einschränkung vor: „es sei denn, daß er [der lebensgefährdende Waf-fengebrauch, durch den Unbeteiligte gefährdet werden,  Anm]  unvermeidbar  scheint,  um  eine Menschenmenge  von  Gewalttaten  abzuhalten, durch die die Sicherheit von Personen mittelbar oder unmittelbar gefährdet wird.“18 Hier werden zwei Menschengruppen voneinander unterschie-den.  Die  Menschenmenge,  die  zu  Gewalttaten bereit  ist,  bezieht  uU  eben  auch  Personen  mit ein,  die  schützenswert  wären.  Dennoch  wird die  Polizei  zum  finalen  Todesschuss  ermäch-tigt, um Gewalttaten zu verhindern, durch die die Sicherheit  von anderen Personen gefährdet wird.  Auch  wenn  §  8  WaffengebrauchsG  nicht als gesetzliche Grundlage iSd Art 18 B-VG für einen  Flugzeugabschuss  dient,  so  werden  hier 

17 Siehe auch §§ 16 ff MBG, insb § 19 MBG.18 Die entspricht Art 2 Abs 2 lit c EMRK. Siehe dazu Gra-benwarter, EMRK4 (2009) 139.

doch auch Menschenleben durch den Gesetzge-ber abgewogen.

Noch  näher  am  Flugzeugabschuss  sind  die Bestimmungen des Militärbefugnisgesetzes, das sich mit militärischem Eigenschutz gem § 2 MBG beschäftigt, also dem Schutz vor drohenden und zur Abwehr von gegenwärtigen Angriffen gegen militärische  Rechtsgüter.19  Auch  wenn  damit das typische Szenario des staatlichen Flugzeug-abschusses  bereits  vom  Ansatz  ausgeschlossen ist  („da sich der  terroristische Angriff zumeist gegen  zivile  Einrichtungen  richtet“)20,  sind  die diesbezüglich  vorgesehenen  gesetzlichen  Rege-lungen zum lebensgefährlichen Waffengebrauch ebenso aufschlussreich. Als Befugnis des Wach-dienstes  dürfen  militärische  Organe  gem  §  6a MBG  Angriffe  gegen  militärische  Rechtsgü-ter beenden, wobei gem § 16 Abs 1 MBG diese Befugnis auch mit unmittelbarer Zwangsgewalt durchgesetzt  werden  darf.  Diese  unmittelbare Zwangsgewalt umfasst gem § 17 Z 3 MBG wie-derum Waffen, deren Gebrauch § 18 MBG all-gemein  regelt.  All  diese  Bestimmungen  laufen schließlich auf § 19 MBG hinaus, der den lebens-gefährdenden Waffengebrauch regelt. Auch hier gelten  in Anlehnung an § 8 WaffengebrauchsG Einschränkungen  auf  konkrete  Gefährdungs-fälle  sowie  das  Gebot  der  Androhung.  Ebenso findet sich in § 19 Abs 3 MBG, die Regelung, dass bei Gefährdung der Sicherheit von Personen die Gefährdung  Unbeteiligter  iZm  Menschenmas-sen zulässig ist. Überdies sieht § 19 MBG zwei weitere Ausnahmen vor: Zum einen bei schwer-wiegender  Gefahr  für  das  Leben  einer  Person, die „nur durch sofortigen Waffengebrauch abge-wendet werden kann und dieser den Umständen [!] nach verhältnismäßig ist“ (Abs 4 leg cit) sowie zum  anderen,  dass  „während  eines  Einsatzes21 im Einsatzraum von den Voraussetzungen nach Abs 1 bis 3 insoweit abgewichen werden [darf], als  dies  für  die  Erfüllung  des  Einsatzzweckes unerlässlich ist,“ (Abs 5 leg cit). Zusammenfas-send  ist  daher  die  Abwägung  von  Menschen-

19 Siehe auch § 6 MBG sowie N. Raschauer/Wessely, MBG-Kommentar2 (2007) 53 ff.20 Allerdings fällt unter militärische Rechtsgüter gem § 1 Abs 7 MBG nicht nur das Leben und die Gesundheit von Personen,  die  mit  der Vollziehung  militärischer Angele-genheiten betraut sind, sondern auch das Leben und die Gesundheit  von  Organwaltern  verfassungsmäßiger  Ein-richtungen,  sofern deren Schutz  jeweils  im Rahmen der militärischen Landesverteidigung zu gewährleisten ist.21 Als Einsatz gilt gem § 1 Abs 9 MBG „ein Einsatz des Bundesheeres zur militärischen Landesverteidigung nach § 2 Abs 1 lit. a des Wehrgesetzes 2001 (WG 2001), BGBl. I Nr. 146“.

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leben  in  wesentlich  mehr  Fällen  möglich  und die Regelung im Gesamten als weitergehend zu qualifizieren. Auch hier zeigt sich abschließend keine  gesetzliche  Grundlage  für  einen  staat-lichen  Flugzeugabschuss,  dennoch  aber  eine deutliche  Abwägung  von  Menschenleben  im Ernstfall. Die Regelung des MBG ist – vor allem in ihren Ausnahmen – so allgemein formuliert, dass der Gesetzgeber es dem militärischen Ein-satzkommando im Einzelfall überlässt, die ver-hältnismäßigen Entscheidungen zu treffen.

 3. Schutzpflichten in Abwägung?

Neben der Frage des Eingriffs in die Rechte der Einzelnen stellt sich die Frage nach den Schutz-pflichten des Staates gegenüber den Betroffenen, sowohl  den  vom  Flugzeugattentat  Betroffe-nen  als  auch  jenen  vom  staatlichen  Flugzeug-abschuss  Betroffenen.  In  beiden  Fällen  ist  der Staat  direkt  bzw  indirekt  involviert.  Schutz-pflichten gegenüber den von einem Flugzeugat-tentat Betroffenen hat der Staat auf  jeden Fall insoweit, als er von dem Attentat weiß und dieses verhindern  kann.  Diesbezüglich  kommen  auch andere Mittel als der Abschuss des Flugzeuges in Betracht. Nach dem Urteil des BVerfG kann der Staat jedoch nicht durch die Schutzpflichten gegenüber den vom geplanten Attentat Betroffe-nen den Abschuss des Flugzeuges legitimieren.

Der Eingriff in das Leben des Flugzeuginsas-sen besteht von  staatlicher Seite  ebenfalls und zwar  soweit  der  Staat  Möglichkeiten  hat,  das Attentat  durch  die  Flugzeugentführer  zu  ver-hindern.  Dies  könnte  etwa  in  Form  eines  Sky Marshalls geschehen, der sich an Bord des Flug-zeuges  befindet,  oder  durch  Unterstützung  der Flugzeuginsassen per Telefon. Der Flugzeugab-schuss hingegen ist keine Frage der Schutzpflicht gegenüber  den  Flugzeuginsassen,  sondern  eine Frage  des  verhältnismäßigen  staatlichen  Ein-griffs  in  das  Recht  auf  Leben.  Insoweit  ist  die Ablehnung Bezemeks von Schutzpflichten gegen-über den Flugzeuginsassen problematisch.22 Die Flugzeuginsassen seien der Gefahr zuzurechnen und  ihr Leben damit  ohnedies nicht  zu  retten, weder  durch  Nicht-Handeln  (Flugzeugabsturz) noch  durch  Handeln  (Flugzeugabschuss).  Die Frage  des  Flugzeugabschusses  muss  in  Hin-blick auf die Flugzeuginsassen primär auf den 

22 Bezemek  (FN  2)  129:  „Der  Staat  hat  vielmehr  seine Schutzpflicht jenen gegenüber wahrzunehmen, die er ret-ten kann, somit zu retten, was zu retten ist, ohne abzuwä-gen, ohne zu quantifizieren.“

verhältnismäßigen  staatlichen  Eingriff  geprüft werden  (Grundrecht  als  Abwehrrecht)  und nicht hinsichtlich der Schutzpflichten des Staa-tes  gegenüber  den  Flugzeuginsassen  in  Bezug auf  die  Bedrohung  durch  Terroristen  (Grund-recht als Gewährleistungspflicht). Aus abwehr-rechtlicher  Perspektive  stellen  sich  Fragen  der Abwägung,  da  der  Eingriff  nur  verhältnismä-ßig  erfolgen  darf.  An  dieser  Stelle  ist  sodann die Argumentation des BVerfG zu hinterfragen, inwieweit  die  vom  Attentat  potentiell  Betrof-fenen  nicht  in  die  Argumentation  einbezogen werden  dürfen.  Betrachtet  man  die  Situation in unterschiedlichen Fällen,  so  zeigt  sich, dass sehr wohl eine Relevanz der potentiell Betroffe-nen besteht. In einem ersten Fall wären von dem potentiellen  Flugzeugattentat  keine  Personen betroffen.  Dies  wäre  dann  der  Fall,  wenn  das Flugzeug – aus welchen Gründen auch immer – über dem Meer fliegt und nicht mehr in der Lage wäre, ein Gebäude oder sonstige Einrichtung zu attackieren. In diesem Fall wäre auch der Flug-zeugabschuss  nicht  zu  rechtfertigen,  da  keine Gefahr mehr für Personen am Boden vorliegt. In einem zweiten Szenario wäre der Tod von ein-zelnen Personen nicht ausgeschlossen, aber der Tod einer größeren Gruppe von Menschen nicht anzunehmen.  Diese  Situation  würde  vorliegen, wenn das Flugzeug etwa wegen technischer Pro-bleme  bereits  sehr  tief  über  dünn  besiedeltem Gebiet fliegen würde. Auch in diesem Fall wäre der  Flugzeugabschuss  nicht  zu  rechtfertigen, selbst wenn die Gefahr für vereinzelte Personen bestünde,  verletzt  zu  werden.  In  einem  dritten Szenario, das dem Bild entspricht, das allgemein präsentiert wird, kann das Flugzeug eine große Anzahl an Menschen verletzen und damit  eine schwere  Gefahr  für  die  öffentliche  Sicherheit darstellen.  In  diesem  Fall  könnte  die  Notwen-digkeit des Eingriffs aufgrund des Fehlens eines gelinderen Mittels zur Erreichung des Ziels der Verhinderung  einer  schwerwiegenden  konkre-ten  und  aktuellen  Gefahr  für  die  öffentliche Sicherheit den Flugzeugabschuss rechtfertigen.

Die  Abwägung  von  Personen  findet  daher im  Rahmen  der  Verhältnismäßigkeitsprüfung durch  Qualifikation  als  schwere  Gefahr  statt. Bei  Verweigerung  dieser  Abwägung  durch  das dt BVerfG wird eine Situation geschaffen, in der es der Staat den Terroristen überlassen würde, die  Abwägung  über  Menschenleben  zu  treffen. Die  Schutzpflichten  gegenüber  der  am  Boden befindlichen Bevölkerung des Staates – bei Mög-

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lichkeit, das Attentat durch Abschuss zu verhin-dern – könnten verletzt werden.23

 4.  Rückkehr zur Menschwürde.  Die Lehren aus der Folterdebatte

Art 3 EMRK statuiert ein absolutes Folterverbot. Dieses Folterverbot stellt auch einen „Hauptan-satzpunkt  für  einen  grundrechtlichen  Schutz der Menschenwürde“24 dar. Die Menschenwürde verbietet  die  gewaltsame  Einwirkung  auf  die physische und psychische Integrität eines Men-schen.25  Die  Verbindung  zwischen  Folterverbot und Menschenwürde stellt die Frage nach dem Grund  des  Abwägungsverbots  im  Rahmen  der Folter. Ein zentraler Grund für das absolute Fol-terverbot  sind  historische,  aber  auch  aktuelle Unrechtserfahrungen  bei  der  Anwendung  von Folter, die zeigen, dass eingeschränkte, rationale und  verhältnismäßige  Folter  nicht  möglich  ist. Eine Kontrolle von Folter ist nicht erreichbar.26

In diesem Sinne ist aber auch bei der gezielten Tötung von unschuldigen Personen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung – und damit auch bei  der  Zulässigkeit  eines  Flugzeugabschusses – die Frage nach absoluten Grenzen der Tötung von Menschen zu stellen. Das Recht auf Leben repräsentiert eben auch die Würde des Menschen. Hinter  der  Argumentation  mit  der  Menschen-würde  stehen  Bedenken  der  Unkontrollierbar-keit  eines  Flugzeugabschusses  und  die  damit verbundenen  unabschätzbaren  und  unkon- trollierten  Folgen  gezielter  staatlicher  Tötung Unschuldiger für die Zukunft (Dammbruch).

Diese  Kontrollgefahren  in  der  konkreten Situation stellen sich aber auch im Rahmen des Flugzeugabschusses.  Während  bei  der  geziel-ten staatlichen Tötung von Personen, von denen eine  schwerwiegende  Gefahr  für  die  öffentli-che Sicherheit direkt ausgeht, eine Gruppe klar abgegrenzt  und  definiert  werden  kann,  ist  die Öffnung  der  staatlichen  Handlungsoption  zur Tötung  Unschuldiger  zur  Verhinderung  einer Terrorgefahr  ein Terrain, das  schwer abgrenz-

23 Ein  grundrechtlicher  Anspruch  auf  eine  bestimmte Handlung  durch  den  Staat  lässt  sich  allerdings  grund-rechtlich  nicht  begründen.  Siehe  Pabel,  Sicherheit  als Schutzgut  in  der  grundrechtlichen  Güterabwägung,  in: Lienbacher/Wielinger  (Hrsg),  Öffentliches  Recht.  Jahr-buch 2008 (2008) 173 (181).24 Kneihs (FN 3) 161.25 Ebenda, 153.26 Siehe  Kozma, The  Example  of Torture:  Are  there  any constitutional limits left?, in: Eberhard ua (Hrsg), Consti-tutional Limits to Security (2009) 167 (178 ff).

bar wird. Insoweit kann der gezielte Flugzeug-abschuss als der Grenzfall eingeschätzt werden, der  zur  Tötung  Unschuldiger  in  unterschiedli-chen Situationen der Terrorbekämpfung führen könnte. Schließlich ist aber auch in der konkre-ten  Flugzeugabschusssituation  die  Kontrollier-barkeit  eines  verhältnismäßigen  Abschusses sehr schwer möglich.

Zusammenfassend  wird  daher  das  Men-schenwürdeargument  als  Kontrollproblem  bei schwerwiegenden Eingriffen in die persönliche Integrität, wozu das Recht auf Leben auch zählt, relevant.  Damit  lässt  sich  auf  einer  menschen-rechtlichen und verfassungsgerichtlichen Ebene einer Grenzziehung zwischen abwägungsfesten und abwägungsoffenen Bereichen rechtfertigen.

C. Höchstgericht, Gesetzgeber, Militär: wer soll entscheiden?

Wie  sich  durch  die  bisherigen  Ausführungen gezeigt hat,  sind vielschichtige Abwägungsent-scheidungen zu treffen, die auf unterschiedlichen Ebenen ausgestaltet werden. Alle Staatsgewal-ten sind dabei eingebunden. So  ist der Gesetz-geber  zentraler  Angelpunkt.  Wird  durch  den Gesetzgeber  eine  Regelung  zum  staatlichen Flugzeugabschuss  vorgesehen,  werden  Bedin-gungen  festgelegt,  unter  denen  ein  Abschuss rechtlich zulässig ist. Diese Regelung unterliegt wiederum der Kontrolle durch ein Verfassungs-gericht,  das  die  Legitimität  der  Regelung  zu beurteilen hat, wie dies in Deutschland gesche-hen  ist.  Wird  durch  den  Gesetzgeber  –  wie  in Österreich – keine Regelung getroffen und damit der staatliche Flugzeugabschuss implizit unter-sagt, sind dennoch – wie dargestellt – Entschei-dungen zu treffen. Es haben damit letztlich die sachlich  zuständigen  Personen  in  der  staatli-chen  Verteidigungsorganisation  eine  Entschei-dung zu treffen. Es stellt  sich damit  insgesamt die  Frage,  wie  das  Zusammenspiel  zwischen den  beteiligten  Akteuren  ausgestaltet  werden soll.  In  Deutschland  hat  das  Höchstgericht  die Entscheidung  des  Gesetzgebers  für  unzuläs-sig  erklärt.  In  Österreich  hat  der  Gesetzgeber (implizit)  die  Entscheidung  durch  das  Militär für  unzulässig  erklärt.  Damit  ist  in  Deutsch-land  wie  in  Österreich  das  Militär  rechtlich nicht  entscheidungsbefugt  und  hat  den  Ein-griff  zu  unterlassen.  Aufgrund  der  faktischen Entscheidungen  des  Militärs,  zu  handeln  oder Handlungen zu unterlassen, sind sodann wieder die Gerichte etwa  in Form von Schadenersatz-forderungen  im  Rahmen  von  Amtshaftungen 

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involviert, die getroffene Entscheidung zu über-prüfen. Jenseits des Staates ist schließlich auch der  EGMR  als  internationale  Menschenrechts-instanz  eingebunden,  die  staatlichen  Vorgänge iSd Art 2 EMRK zu überprüfen.

 IV.  Abwägung von Menschenleben  aus konsequentialistischer Sicht

A. Individuelle Handlungsnorm

Bei den erwähnten Abwägungsproblemen wird klar,  dass  eine  Vielzahl  von  Fragen  umfasst ist,  wie  etwa  ob  das  Leben  eines  Kindes  mehr wert  ist  als das Leben einer  erwachsenen Per-son, ob das Leben eines Gesunden mehr wert ist als das Leben eines Schwererkrankten, wie sich ein  Leben  unserer  Generation  zu  einem  Leben künftiger Generationen verhält etc.27 Neben die-ser philosophischen Diskussion gibt es verschie-dene  anerkannte  Sozialnormen,  zB  zur  Frage, wer  bei  einem  sinkenden  Schiff  bevorzugt gerettet  werden  soll,  wenn  die  Rettungsboote nicht ausreichen.

In diesem Beitrag sollen diese Fragen ausge-blendet werden und schlicht nach der Abwägung einer unterschiedlichen Anzahl von Menschen-leben gefragt werden. Dies entspricht der Situ-ation  eines  potentiellen  Flugzeugabschusses, bei dem nicht bzw nicht rechtzeitig festgestellt werden  kann,  welche  Menschen  sich  im  Flug-zeug  und  welche  Menschen  sich  im  Zielobjekt des Terroranschlags befinden.

Grundsätzlich  sind  zwei  Menschenleben einem  Menschenleben  vorzuziehen.  Das  sollte auf individueller Ebene auch konsensfähig sein. Würden  sich  im  Zusammenhang  mit  einem möglichen  Flugzeugabschuss  die  (potentiell) betroffenen Personen hinter einem Schleier des Nichtwissens28 bzgl Ihrer Situation befinden und somit  keine  Information  darüber  haben,  ob  sie sich  im Flugzeug oder  im betroffenen Gebäude befänden,  würden  sie  sich  für  eine  Norm  ent-scheiden, die für die Gesamtheit der involvierten Personen am besten ist. Man stelle sich vor, dass hundert  Personen,  die  sich  in  einem  Gebäude befinden, dadurch gerettet werden könnten, dass ein  entführtes  Flugzeug,  das  auf  das  Gebäude 

27 Broome (FN 5) 1 ff.28 Das  hier  vorgenommene  Gedankenexperiment  folgt der  prägnanten  Beschreibung  des  Ökonomienobelpreis-trägers Harsanyi, Cardinal Utility in Welfare Economics and in the Theory of Risk-taking, Journal of Political Eco-nomy 1953, 434.

zusteuert,  abgeschossen  wird,  wobei  sich  im Flugzeug  50  Personen  befinden.  Hinter  einem Schleier  des  Nichtwissens  stellt  sich  die  Situ-ation für die betroffenen Personen so dar, dass sie  sich  mit  einer  Wahrscheinlichkeit  von  1/3 im Flugzeug und von 2/3 im Gebäude befinden. Würden  sie  sich  dafür  entscheiden,  das  Flug-zeug  abzuschießen,  so  würde  die  Überlebens-wahrscheinlichkeit  2/3  betragen.  Entscheiden sie sich dafür, das Flugzeug nicht abzuschießen, so beträgt die Überlebenswahrscheinlichkeit 0; es  wird  mit  einer  Wahrscheinlichkeit  von  1/3 die Lebensdauer geringfügig verändert. Bei die-ser Abwägung  ist  es  für die Betroffenen nahe-liegend, sich für eine Norm zu entscheiden, die einen  Abschuss  vorsieht,  da  damit  klar  ihre Überlebenswahrscheinlichkeit steigt.

Auf der Ebene von staatlichem Handeln spie-len  verschiedene  Überlegungen  eine  Rolle,  die eine  andere  Norm  statuieren  können  als  die, die eine individuelle Handlungsanweisung vor-schreibt.  Es  handelt  sich  dabei  um  die  Frage staatlichen Handelns gegenüber Unterlassen, um Probleme, die durch unzureichende Information und mögliche Fehler des Staates hervorgerufen werden,  um  die  Kosten  der  Überwachung  und den  potentiellen  Missbrauch  durch  den  Staat sowie  um  „ex  ante“-Auswirkungen,  etwa  im Rahmen der sonstigen Flugsicherung.

B. Staatliches Handeln vs Unterlassen

Es  entspricht  einer  weit  verbreiteten  morali-schen  Überzeugung,  bei  der  Abwägung  von Menschenleben  das  Unterlassen  einem  aktiven Handeln  vorzuziehen.  Dies  wurde  unter  ande-rem im Zusammenhang mit der Umleitung eines Zuges analysiert, bei dem der Entscheidungsträ-ger das Leben mehrerer Menschen retten kann, in dem er eine Weiche umstellt, wobei die Folge ist, dass ein (anderer) Mensch dabei ums Leben kommt.29 Die Zurückhaltung bei der Vornahme einer aktiven Handlung würde in weiterer Folge bedeuten, dass ein Flugzeug weder abgeschossen würde, noch würde ein anderweitig begonnener Abschuss gestoppt werden. Auf staatlicher Ebene wirkt dieses Ergebnis inkonsequent, würde ein Unterlassen doch einmal zehn Menschen einem Menschen vorziehen und ein anderes Mal einen Menschen  zehn  Menschen.  In  diesem  Zusam-

29 Siehe Chen, Markets and Morality: How Does Competi-tion Affect Moral Judgment? (Arbeitspapier) mwN. Chen verwendet  die  Bezeichnung  „utilitaristisch“  für  Perso-nen, die die kleinere Zahl der größeren opfern würde und „deontologisch“ für Personen, die inaktiv bleiben würden.

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menhang  ist  auch  darauf  hinzuweisen,  dass der Staat ständig in den „natürlichen Lauf der Dinge“ eingreift und entsprechende Abwägun-gen oft aktiv beeinflusst, wie etwa bei der Aus-gestaltung des Gesundheitssystems. Dass es sich hierbei  nur  um  eine  „mittelbare“  Disposition über Menschenleben handelt,  ist wiederum auf individueller Ebene verständlich, bleibt aber auf staatlicher  Ebene  isoliert  betrachtet  ohne  aus-reichende Rechtfertigung.

C. Fehler des Staates und Missbrauch

Oft wird implizit von einem perfekt funktionie-renden  Staatsgefüge  ausgegangen.  Allerdings kommt es insbesondere aufgrund unvollständi-ger Information zu Fehlern, wobei es zwei Arten von  Fehlern  gibt.  Erstens  kann  es  passieren, dass  ein  Flugzeug  abgeschossen  wird,  obwohl es  nach  einer  (konsequentialistisch-)ethischen Norm nicht hätte abgeschossen werden dürfen. Zweitens  kann  es  sein,  dass  ein  Flugzeug,  das entsprechend dieser Norm abgeschossen werden sollte, nicht abgeschossen wird. Bei diesen bei-den  Arten  von  Fehlern  handelt  es  sich  um  ein Phänomen,  das  oft  im  Zusammenhang  mit  der Gerichtspraxis thematisiert wird.30 Da nicht alle Information vorhanden ist, muss es zwangsläu-fig zu „fehlerhaften“ Entscheidungen kommen, das heißt zu solchen, die bei vollständiger Infor-mation besser ausgefallen wären. Dies ist in der Regel  wenig  problematisch,  soweit  die  Fehler unsystematisch  bzw  unvoreingenommen  oder unparteiisch  ausfallen.  Sind  die  Fehler  jedoch in eine Richtung verzerrt, so stellt sich die Frage nach den Ursachen.

Das Verlangen nach einer Zurückhaltung des  Staates  kann  unter  anderem  darauf  gründen, dass man explizite oder implizite Beeinflussun-gen vermeiden möchte. So könnte die Entschei-dung  beim  Abschuss  eines  Flugzeugs  dadurch verzerrt sein, dass sich bestimmte Personengrup-pen  im Flugzeug oder  im betroffenen Gebäude befinden. Aus rechtsökonomischer Sicht handelt es  sich  um  ein  Überwachungsproblem.  Staat-liches  Handeln  kann  nicht  oder  nur  unter  der Aufwendung  hoher  Kosten  überwacht  werden, weshalb  ein  Handlungsverbot  vorzugswürdig sein  kann.  Eröffnet  man  die  Diskussion,  um eine  Abwägung  von  Menschenleben  und  dehnt 

30 Siehe Grechenig/Nicklisch/Thöni, Punishment Despite Reasonable  Doubt  –  A  Public  Goods  Experiment  with Sanctions Under Uncertainty, Journal of Empirical Legal Studies (in Druck) mit zahlreichen Nachweisen.

diese womöglich auf die Frage unterschiedlicher Menschen  (jung/alt,  gesund/krank  etc)  aus,  so ist zu befürchten, dass diese Diskussion von den Interessen  der  einzelnen  Gruppen  beeinflusst wird und es zu nicht rechtfertigbaren Ungleich-behandlungen  kommt.  Die  Aversion  gegenüber einer  Abwägung  von  Menschenleben  ist  daher auch auf sachlicher Ebene nachvollziehbar. Ent-scheidend ist, dass es in vielen Fällen nicht um eine  ethische  Ablehnung  der  Abwägung  von Menschenleben geht, sondern um die Bedenken gegenüber der Anwendung dieser Normen durch den Staat.

D. ex ante Effekte

Eine wichtige Frage, die in der juristischen Dis-kussion oftmals vernachlässigt wird, ist die der ex  ante  Effekte  von  Rechtsnormen.  So  kann etwa eine Schutzbestimmung einer bestimmten Arbeitnehmergruppe  eine  dieser  Personen  ex post schützen (zB bei Schwangerschaft), wegen des  dadurch  erzeugten  höheren  Schutzniveaus findet  eine  solche  Person  allerdings  (noch) schwieriger  eine  Anstellung  ex  ante.  Diesem Argument liegt zugrunde, dass Personen spätere Folgen antizipieren und schon ex ante bei ihrer Entscheidung  berücksichtigen.  Ob  Arbeitneh-merschutzbestimmungen  Arbeitnehmer  nicht nur ex post, sondern auch ex ante schützen, ist eine schwierige und bislang ungeklärte empiri-sche Frage.

Analog könnte es bei der Abwägung von Men-schenleben  passieren,  dass  der  Staat  bei  der Zulässigkeit  der  Folter  weniger  in  die  übrige Prävention  von  Verbrechen  investieren  würde als bei einem absoluten Folterverbot. Im Bereich von Flugzeugentführungen könnte es sein, dass zu  wenig  in  die  Flugsicherung  investiert  wird, wenn  für  den  Fall  einer  Flugzeugentführung das  Flugzeug  abgeschossen  werden  darf.  Ein wichtiger  ex  ante-Effekt  betrifft  die  Wahr-scheinlichkeit  von  Flugzeugentführungen.  Es liegt  nahe,  dass  Flugzeugentführungen  cet  par wahrscheinlicher  werden,  wenn  ein  Abschuss untersagt  ist,  da  die  Abschreckungswirkung für  potentielle  Entführer  geringer  ist.  Dem-entsprechend  könnte  eine  weite  Ermächtigung zum Abschuss entführter Flugzeuge eine große Abschreckungswirkung  entfalten,  womit  es  zu weniger  oder  gar  keinen  Entführungen  kom-men könnte. Das bedeutet, dass eine umfassende Ermächtigung  zum  Abschuss  von  Flugzeugen (ex ante) potentielle Flugzeuginsassen schützen und  damit  die  Opferanzahl  reduzieren  könnte. 

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JRPK. Grechenig und K. Lachmayer

Sie könnte somit ohne Weiteres einen umfassen-deren Schutz potentieller Insassen darstellen als eine  Norm,  die  Flugzeugabschüsse  untersagt. Auch dies ist eine empirische Frage.

V. Leistungsfähigkeit der Verfassung

A. Konsequenzen für die verfassungsrechtliche Beurteilung

Die  verfassungsrechtliche  Beurteilung  durch Abwägungen  erreicht  Rationalitätsgrenzen. An  diesen  Grenzen  entsteht  rechtspolitischer Gestaltungsspielraum,  der  durch  die  betroffe-nen Akteure, seien es nun der Gesetzgeber, die Gerichtshöfe  des  öffentlichen  Rechts,  die  Voll-ziehung oder die ordentlichen Gerichte, ausgeübt wird.31 Die Wissenschaft kann die bestehenden Rsp-Linien  zur  Ausfüllung  der  abwägungs-bezogenen  Spielräume  darstellen  und  darüber hinaus theoretische Konzepte als Sinnangebote den rechtserzeugenden Akteuren zur Verfügung stellen. Ein stärker werdendes Angebot derarti-ger  Theoriekonzepte  stellen  ethische  Experten zur  Verfügung,  die  Fragestellungen  der  Men-schenwürde  oder  der  Abwägung  mit  Sinnin-halten rationalisieren. In diesem Beitrag wurde versucht  zu  zeigen, dass auch die ökonomische bzw  konsequentialistisch-ethische  Perspektive auf  das  Recht  ein  rationalisiertes  Angebot  zur Verfügung stellen kann. Dieses Modell beinhal-tet  –  wie  auch  jedes  andere  Modell  –  Ideali-sierungen,  die  wiederum  als  Grenzen  bei  der praktischen Umsetzung zu identifizieren sind.

Die  Leistungsfähigkeit  der Verfassung  zeigt sich  ua  auch  daran,  inwieweit  das  Zusam-menspiel  zwischen  Staat  und  Gesellschaft durch  die  Rechtsordnung  gesteuert  wird  bzw gesteuert  werden  kann.  Die  grundrechtlichen Abwägungskalküle stellen in europäischen Ver-fassungen  einen  zentralen  Steuerungsmecha-nismus  dar.  Zahlreiche  Fragestellungen,  wie eben auch die in diesem Beitrag besprochenen, bringen  die  grundrechtlichen  Abwägungskal-küle  an  die  Grenzen  ihrer  Leistungsfähigkeit. Die  Leistungsfähigkeit  der  Verfassung  wird auch  in  Zukunft  daran  zu  messen  sein,  inwie-weit  es  ihr  gelingt,  sensible  Fragestellungen der  Menschenwürde  und  der  Abwägung  von Menschenleben  zu  entscheiden.  Die  Darstel-lung einer anderen Herangehensweise an diese 

31 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 350 ff.

Abwägungsvorgänge  war  Ziel  der  hier  vorge-stellten Betrachtung.

B. Verfassungsrechtliche Beurteilung von staatlichem Missbrauch

Wie bereits erwähnt, kann als eine zentrale Pro-blemstellung  der  Missbrauch  von  staatlichen Befugnissen  identifiziert  werden.  Der  verfas-sungsrechtliche Umgang mit  staatlichem Miss-brauch bestehender Befugnisse ist vielschichtig und komplex. An dieser Stelle  sollen nur  skiz-zenhaft  ein  paar  Linien  aufgezeichnet  werden und  diese  einer  allgemeinen  Schlussfolgerung zugeführt werden.

In allgemeiner Betrachtung dient das gesamte Konzept der Verfassung der Verhinderung staat-lichen Missbrauchs durch Herstellung von Frei-heit  des  Einzelnen.  So  binden  demokratische Organe, wie das Parlament, und demokratische Kontrollmechanismen, wie ein Untersuchungs-ausschuss,  die  Verwaltung.  Das  Konzept  der Gewaltenteilung verteilt staatliche Funktionen, die  sodann  durch  gewaltenübergreifende  ver-fassungsgesetzlich  vorgesehene  Kontrolle  wie-derum  staatlichen  Missbrauch  verhindern  soll. Bundesstaatlichkeit  entpuppt  sich  in  diesem System als Kontrolle zwischen den unterschied-lichen  Ebenen  des  Staatsgebildes.  Grund-rechte werden nicht nur aus der Perspektive der Durchsetzung  subjektiver  Rechte  betrachtet, sondern  auch  aus  der  Kontrollfunktion  staat-lichen Organen gegenüber, die wiederum durch andere staatliche Organe stattfindet.

Jenseits  der  allgemeinen  Überlegungen  zu staatlichem  Missbrauch  soll  hier  noch  kurz auf  eine  verwaltungsbezogene  Perspektive näher  eingegangen  werden.  Das  österreichi-sche  Rechtsstaatskonzept  weist  dabei  unter-schiedliche  Defizite  auf,  die  dazu  führen,  dass die Kontrolle staatlichen Missbrauchs – sowohl institutionell  als  auch  rechtsschutzbezogen  – Lücken aufweist. Dabei spielen unterschiedliche Mechanismen negativ zusammen. Auf subjekti-ver  Seite  aus  Sicht  des  Betroffenen  sind  etwa die  Bindung  des  Rechtsschutzes  an  bestimmte Rechtsakte  und  –  damit  verbunden  –  die  feh-lende  allgemeine  Rechtswegegarantie,  die  feh-lende  Verfassungsbeschwerde  im  Rahmen  der ordentlichen  Gerichtsbarkeit,  die  Reduzierung des  Konzepts  des  fairen  Verfahrens  auf  Art  6 EMRK-Materien  oder  Einschränkungen  der Verfahrenshilfe  sowie  die  Ablehnungsmöglich-keiten des VfGH zu nennen. Auf institutioneller Seite bestätigen mangelnde Transparenz durch 

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11JRP Zur Abwägung von Menschenleben – Gedanken zur Leistungsfähigkeit der Verfassung

ein starkes Amtsverschwiegenheitskonzept, eine noch  immer  nicht  bestehende  Verwaltungs-gerichtsbarkeit  erster  Instanz,  Defizite  in  der Bekämpfung  von  Korruption,  fehlende  Kon-zepte  der  guten  staatlichen  Verwaltung,  unzu-reichende  Kontrollabsicherungen  in  geheimer (sicherheits-  und  kriminal)polizeilicher  Ver-waltung  durch  sog  Rechtsschutzbeauftragte, starke  politische  Einflussnahme  und  geringe parlamentarische  Kontrolle  sowie  zahlreiche staatsgebundene  Medien  die  rechtsstaatlichen Defizite.  Die  Weiterentwicklung  des  österrei-chischen  Rechtsstaats  wird  dabei  primär  von europäischer Seite voran getrieben, sei es durch den  EGMR  und  die  Konzepte  der  EMRK,  sei es durch rechtsstaatliche Konzepte der EU, die durch den EuGH effektuiert werden. Eigenstän-dige  innerstaatliche Reformen neigen  regelmä-ßig dazu verschoben zu werden.

An  rechtsstaatlichen  Herausforderungen mangelt  es  in  Zeiten  terroristischer  Gefähr-dungen,  globaler  Migrationen,  staatlichen  und privaten  Herausforderungen  der  informatio-nellen  Selbstbestimmung,  dem  Verschwimmen zwischen Staat und Privat, der Europäisierung des  Rechts  sowie  der  Fragmentierung  des  Völ-kerrechts und der Pluralisierung des Rechts ins-gesamt  nicht.  Die  Stärkung  rechtsstaatlicher Kontrolle  ist  daher  dringend  geboten,  die  im Rahmen  des  rechtsstaatlichen  Mehrebenensys-tems  zu  verwirklichen  ist.  Schließlich  wirken sich  verbesserte  rechtsstaatliche  Strukturen auch  auf  die  ökonomische  Analyse  des  Rechts positiv  aus,  da  eine  Verstärkung  des  Rechts-staats staatlichen Missbrauch verringert und so die Plausibilität des Modells verbessert.

 VI. Schluss

Die weit verbreitete Ansicht, dass der Staat nicht ein Menschenleben opfern darf, um zwei Men-

schenleben  zu  retten,  gründet  nicht  auf  einer anerkannten ethischen Norm, sondern vielmehr auf  den  Bedenken  gegenüber  dem  Staat,  eine entsprechende  Norm  richtig  anzuwenden.  Das ist gemeint, wenn dem Staat für bestimmte Ein-griffe  keine  Ermächtigung  erteilt  werden  soll. Auf  individueller  Ebene  ist  es  aus  konsequen-tialistischer bzw ökonomischer Sicht schwer zu rechtfertigen, zwei Menschenleben nicht einem Leben vorzuziehen. Das zeigt unter anderem das Gedankenexperiment eines Schleiers des Nicht-wissens.  Insgesamt  ist  es  konsequent,  dass  im demokratischen  Rechtsstaat  die  Verfassungs-rechtsprechung  in  bestimmten  Bereichen,  wie etwa dem Sicherheits- und Polizeirecht, mit Ver-boten reagiert wird, um der Problematik unkon-trollierter  bzw  missbräuchlicher  Anwendung staatlicher Gewalt zu begegnen.

Korrespondenz: Dr. Kristoffel Grechenig, LL.M. (Columbia),  Post-Doc  Wissenschaftlicher  Mit- arbeiter  (Senior  Research  Fellow)  am  Max-Planck-Institut  zur  Erforschung  von  Gemein-schaftsgütern;  Kurt-Schumacher-Strasse  10, 53113 Bonn; E-Mail: [email protected]

Priv.-Doz. Univ.-Ass. Dr. Konrad Lachmayer, Institut  für  Staats-  und  Verwaltungsrecht  an der Universität Wien, Schottenbastei 10-16, 1010 Wien; E-Mail: [email protected]

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