Der Physiologus : ein christliches Modell der Tiernaturen

12

Transcript of Der Physiologus : ein christliches Modell der Tiernaturen

Der Physiologus:ein christlichesModellder Tiernaturen

Arnaud Zucker

102

Für den Menschen ist das Tier kein einfaches Wesen.1 Wie er selbst ist auch es nicht nurein seelenloser Körper. Mensch und Tier stehen nicht in einer unmittelbaren, direktenVerbindung zueinander. Diese ist vielmehr wesentlich geprägt von kulturellen Faktoren:Physisch und psychisch wird die Beziehung zwischen Mensch und Tier von dermenschlichen Gemeinschaft, welche die Tierwelt lange vor dem Entstehen ersterindividueller Erfahrungen und Berührungen auf ihre Art und Weise assimiliert hat,nach gewissen Regeln gestaltet. Der allgemeine Umgang mit den Tieren (Jagd, Dressur...)und die Techniken der Tierhaltung und Tierzucht selbst sind nicht nur von den jeweiligenEigenschaften der ausgewählten Tiere abhängig, sondern auch davon, wie diese von derGemeinschaft, die sie entwickelt hat, dargestellt werden. Die Tatsache, dass dieverschiedenartigen Kulturen als Filter dieser Beziehung wirken und auch den Rahmenbilden, in dem sie entsteht und sich darstellt, bedeutet nicht, dass das Tier, das mitBestimmtheit symbolisch gesprochen «gut zum Denken» ist (entsprechend dem berühmtenDiktum von Claude Lévi-Strauss: ‘Animals are good to think with’), in seinen Wesensarteneine Neuschöpfung der Phantasie des Menschen ist. Betrachtet man jedoch die Vielfaltder symbolischen Eigenschaften und Werte des einen oder anderen Tiers in denverschiedenen Kulturen, auch wenn diese, wie etwa für das Lamm, den Adler oder denAffen, selbstverständlich scheinen, wird einem bewusst, in welcher Freiheit der Menschmit Hilfe der Tiere und rund um die Tiere Begriffsinhalte und Bedeutungen erschafft.

Unter den zahlreichen antiken und mittelalterlichen Texten, die von diesergrundlegenden kulturellen Rolle der Tiere zeugen, nimmt der Physiologus einenbesonderen Platz ein. Eher als von einem Text müsste man in diesem Fall von einerganzen Bibliothek sprechen, existieren davon doch Hunderte unterschiedlicher Fassungen,die eine besondere literarische Gattung von sowohl naturkundlichem als auchtheologischem Inhalt bilden.2 Die Fachspezialisten unterscheiden in diesem Ensemble drei«Hauptredaktionen» (I, II, III). Der Physiologus ist nach der Bibel das am weitestenverbreitete Werk des Mittelalters, denn er wurde seit dem Ende des zweiten Jahrhundertsunter wechselnden Formen in unzählige Sprachen (Latein, Griechisch, Alt-Syrisch,Armenisch, Äthiopisch, Slawisch, Arabisch, Angelsächsisch usw.) übersetzt.3 Sein Inhaltsetzt sich aus einer Sammlung von Kapiteln zusammen, deren jedes einzelne sich einemTier (oder gelegentlich einer Pflanze oder einem Stein) widmet, indem dessen Natur (diezoologische Realität) beschrieben und die moralische oder (im christlichen Sinn)theologische Bedeutung dieser Natur (die spirituelle Realität) ausgelegt wird (Abb. 45).

Der naturkundliche Teil befasst sich meistens mit ethologischen Aspekten, behandeltalso eine mehr oder weniger grosse Anzahl typischer Verhaltensweisen der Tiere undschöpft dabei aus dem antiken und heidnischen Wissen, das meist auf die zoologischenSchriften des Aristoteles, aber auch auf ältere Texte zurückgeht. Die Beschreibungen dieserVerhaltensweisen stammen häufig aus dem Volksglauben. Sie sind spektakulär (wie dieWiederauferstehung des Phönix, der süsse Atem des Panthers, die aufopfernde Liebe desPelikans für seine Jungen usw.) und erfahren durch den Physiologus eine beachtlicheVerbreitung.

Vom Biber beispielsweise wird berichtet, dass er sich die Hoden abbeisst und sieden Jägern hinwirft, wegen der Heilwirkung, die ihnen zugeschrieben wird (Abb. 46). DerBiber sichert sich so das Leben, denn er weiss, warum die Jäger ihn verfolgen; wird er

Vorherige Seite.Detail Abb. 48.

103

Abb. 45. Christus mit mehrerenTieren, die von ihm gesegnet werden,Physiologus Bernensis, um 830,Reims. Pergament. Höhe 25,5 cm,Breite 18 cm. Burgerbibliothek, Bern.Cod. 318, f. 7r.

dann erneut bedroht und kann nicht fliehen, «so wirft er sich auf den Rücken und zeigtdem Jäger, dass er keine Geschlechtsteile mehr hat. Dann jagt er den Biber nicht mehrund geht von ihmweg» (Physiologus I.23).4 Ohne Schwierigkeit lässt sich die Moral erraten,die sich hinter dieser Szene verbirgt, in welcher der Biber (castor) sich kastriert (castrat)und somit keusch (castus) bleiben kann. Denn der zweite Teil dieses Handbuchschristlicher Zoologie, das ebenso didaktisch, aber auf der spirituellen Ebene angelegt ist,beschreibt das Verhalten des Bibers als für den Menschen beispielhaft und nach-ahmenswert. Der Christ soll, um das Böse bzw. den Teufel zu meiden, der in dieser

104

Naturszene durch den Jäger verkörpert wird, auf Unzucht und Laster aller Artenverzichten oder sich, gemäss anderen Versionen dieses erbaulichen Kapitels, vonFreunden, die ihn verderben und in Verruf bringen, fernhalten.

Die Einträge der verschiedenen Fassungen des Physiologus sind rechtunterschiedlich. Die umfangreichsten bieten jeweils ein dreiteiliges Kapitel zu jedem Tier,wobei sich die geistige Deutung in einen belehrenden und einen ermahnenden Teilgliedert: (1) Beschreibung des Tiers in seinem natürlichen Wesen (selbstverständlich vonGott geschaffen), (2) Erläuterung der theologischen Bedeutung dieser Wesensart, die einechristliche Wahrheit widerspiegelt, (3) der moralische Appell, den dieses Tier an denChristen richtet, indem es eine spirituelle Natur (in positivem oder negativem Sinn)verkörpert. So wird gleichzeitig in zwei Bereichen (Zoologie, Theologie) und auf dreiEbenen (naturkundlich, dogmatisch, moralisch) ein christliches Modell der Naturgeschaffen.

Der Physiologus erfindet eine prägnante und volkstümliche literarische Form, dieähnlich wie die Tierfabel, ausgehend von einem Szenario, in dem Tiere auftreten, einemoralische Lehre vermittelt. Aber im Unterschied zur Fabel, in der die Tiere bestimmteRollen spielen, um ein didaktisches Programm zu erfüllen, sind die Tiere im Physiologusnicht in eine Handlung eingebunden. Ausgangspunkt der Tierporträts, die hier entworfen

Abb. 46 Biber, der sich selbst kastriert,The Aberdeen Bestiary, um 1200.Pergament. Höhe 30,2 cm, Breite21 cm. University of Aberdeen. f. 11r.

105

werden, ist eine charakteristische und «realistische» Eigenschaft des Tiers, die seineOriginalität in der Lebenswelt veranschaulicht und sein «Wesen» ausmacht. Es kommtnicht auf die strenge Wissenschaftlichkeit dieser reellen Tiereigenschaft an: DasEntscheidende ist vielmehr, dass sich die theologische Auslegung auf eine Tatsache stützt,die als wissenschaftlich präsentiert wird, als Ergebnis der Beobachtung des Menschen,der allgemein als «Kenner der Natur» (Physiologus) bezeichnet wird und der dieLebewesen allem Anschein nach in objektiver Art und Weise beschreibt. Und die imkatechetischen Diskurs des Physiologus wiederverwendeten «Naturen» sind, auch wennsie uns frei erfunden vorkommen, tatsächlich in der antiken Literatur von anerkanntenAutoren bezeugt: der Elefant, der unfähig ist, ohne fremde Hilfe aufzustehen (Abb. 47);der Löwe, der seine Spuren mit dem Schwanz verwischt; das Ichneumon, das sich den«Schlammharnisch» anlegt, bevor es das Krokodil angreift; der Hirsch mit seinem dieSchlangen lähmenden Atem. Die Tiere können mehrere «Naturen» oder unterschiedlicheCharakteristika der göttlichen Nachricht verkörpern wie Schlange, Ameise, Löwe,Storch, Kobra/Aspisschlange und Wolf. Der Löwe versteckt sein Lager geschickt vor denJägern, schläft mit offenen Augen und haucht seinen Atem nach drei Tagen dem totgeborenen Löwenjungen ins Gesicht, um es so wieder zum Leben zu erwecken(Physiologus I.1).5

Das Vorgehen des Physiologus widerspiegelt die christliche Weltauffassung. Wie alleGeschöpfe sind die Tiere gleichzeitig Ausdruck der göttlichen Kraft (die sie aus dem Nichtserschaffen hat) und Verbildlichung des Gottesgedankens (Gott hat sie so gemacht, wiesie sind). In dem grossen Buch, das die Natur für die Christen der Spätantike und desMittelalters darstellt, wirken die Tiere zeichenhaft als an den Menschen gerichtetebesondere Symbole, die den Sinn der Schöpfung und der christlichen Wahrheit zumAusdruck bringen. Auch wenn sie nicht sprechen können, ist ihre Natur, das heisst ihrKörper und ihr Verhalten, ein deutliches Zeugnis für den Schöpfer. In der universellenAuslegung der Welt, welche die christlichen Autoren (hauptsächlich Bibelexegeten)entwerfen, können die Tiernaturen nicht als zufällig betrachtet werden: Wozu dient dieAmeise, wenn nicht dazu, durch ihre Handlungen, ihr soziales Verhalten, ihre Emsigkeit,ihre Einsicht die Tugenden vorzuleben, die Gott vomMenschen erwartet? Die Tiere sindBotschafter des Gottesgedankens und der christlichen Lehre. Und so steht am Eingangder meisten Kapitel des Physiologus oft ein Bibelvers, der daran erinnert, dass die Naturunter der Schirmherrschaft Gottes steht, und eine weitestgehende Übereinstimmungzwischen den Diskursen des Glaubens und des Wissens nahe legt.6

Dieses zoologische Handbuch ist das perfekte Beispiel dafür, wie heidnischeÜberlieferungen von christlichen Autoren vereinnahmt werden, verbindet es doch diezoologischen Lehren des Aristoteles und seiner Nachfolger mit dem Gedankengut derjüdisch-christlichen Bibelexegese. Dabei fügen die christlichen Autoren dem vonAristoteles und seinen Erben gesammelten Wissen nur sehr wenige zusätzlichenaturkundliche Anmerkungen bei. Die Theologen und Exegeten, insbesondere dieAutoren der Homilien über das Sechstagewerk (Basilius, Ambrosius), setzen sich bereitsumfassend mit dem reichen Material und den Erkenntnissen des Aristoteles auseinander,die von manchen mit dem Beinamen «Physiologus» bezeichnet werden. Zwischen demzweiten und dem neunten Jahrhundert, während der gesamten Entwicklung und

106

Übertragung des «physiologischen» Genres, werden in den griechischen und lateinischenFassungen jedoch nur etwa 70 Tiere gezählt.7 Wie die Tiersammlung der Fabeln istdiejenige des Physiologus begrenzt und konzentriert sich auf einige Hauptfiguren, die dazugeeignet sind, die Prinzipien der theologischen undmoralischen Doktrin des Christentumsauf die Tierwelt zu übertragen.8 Die darin beschriebene Natur ist exotisch: Es kommennur wenige vertraute Tiere vor, und selbst der Pelikan erhält unglaublich grosseDimensionen. Dieselben Tiere finden sich später in den mittelalterlichen Bestiarien(Philippe de Thaon, Hugues de Fouilloy, Guillaume le Clerc, Gervasius von Tilbury,

Abb. 47. Elefant und Schlangen,Physiologus Bernensis, um 830,Reims. Pergament. Höhe 25,5 cm,Breite 18 cm. Burgerbibliothek, Bern.Cod. 318, f. 19r.

107

Pierre de Beauvais, Brunetto Latini usw.), bei denen es sich um volkstümlicheBearbeitungen des vorbildlichen Physiologus handelt.

Die Deutung des Tierverhaltens unter moralischen oder philosophischenGesichtspunkten in der Literatur und im Kulturleben ist alt, und die Tiere werden oftals reine Modelle des (guten oder schlechten) Verhaltens betrachtet, über die der Menschnachdenken kann, sozusagen als Verkörperungen der menschlichen Werte. In der Antikenehmen zwei miteinander verbundene Diskurse der symbolischen Dimension des Tierseinen wichtigen Platz ein: die Psychologie und die Physiognomie, die, ausgehend vonkörperlichen oder ethologischen Ähnlichkeiten, Modelle schaffen, nach denen derMensch sich ausrichten und anhand derer er über sich nachdenken kann. Im Physiologuserscheinen die Tiere darüber hinaus auch als Beweise der christlichen Doktrin. Diesymbolischen Werte der angeführten Beispiele basieren auf der Analyse charakteristischerund genau beschriebener Verhaltensweisen und nicht auf einer anthropozentrischenIntuition, die sich in einfachen Gleichungen äussert (wie beispielsweise: der Löwe ist nobel,der Panther ist lüstern, der Fuchs schlau und der Hirsch ängstlich). Daher sind dieBedeutungen der Tiere oft vielschichtig oder ungewöhnlich: Der Hirsch ist nicht scheu,sondern ein Schlangenjäger, die Krähe ist kein Unglücksvogel, sondern ein leiden-schaftlicher und treuer Partner.9

Die Tiersymbolik ist das Resultat eines komplexen Entwicklungsprozesses, dereinen klaren Ausgangspunkt ebenso vermissen lässt wie eine übergeordnete Logik. Auchwenn es immer wieder möglich ist, Beweggründe für das Zusammenspiel zwischen einemTier und dessen symbolischer Bedeutung zu erklären, so handelt es sich nie um eineunabänderliche, einer inneren Notwendigkeit entsprechende, sondern immer um einebeliebig, manchmal auch zufällig gewählte Verbindung.10 Der Physiologus, bestimmt zurErläuterung der Tiernaturen in moralischem und theologischem Sinn, hätte Gelegenheitzum Aufbau eines einheitlichen und feststehenden Symbolkodexes bieten können, indem den Tieren die christlichen Werte auf eindeutige und spektakuläre Weise zugeordnetworden wären. Aber dies ist nicht der Fall. Die «emblematischen» Tiere, die dank derAuswahl im Physiologus symbolische Bekanntheit erlangen, können auf ganzverschiedene Arten interpretiert werden. Der Igel ist dafür ein gutes Beispiel. Seintypisches Verhalten wird in allen Fassungen identisch geschildert: «Der Igel klettert aufden Weinstock, […] wirft die Beeren zur Erde. Dann wälzt er sich darin und wirft sichauf den Rücken, sodass sich die Beeren an seine Stacheln heften. Darauf bringt er sieseinen Jungen» (Physiologus I.14; III.24).11 Die aus diesem Verhalten gezogenen Lehrendagegen sind sehr unterschiedlich, denn der Igel kann entweder den vorsätzlichenDiebstahl oder aber die Elternliebe versinnbildlichen: «Du nun, Christenmensch, haltedich fest am geistlichen und wahren Weinstock […]. Wie nämlich könntest du den Igel,den bösen Geist, zu deinem Herzen hinaufsteigen lassen, sodass er dich traubenleerzurücklässt und du gar keinen guten Zweig mehr an dir hast?», besagt eine derFassungen (Physiologus I.14);12 «mache es nun, Christenmensch, dem Igel nach; auchwenn es ein unreines Tier ist, so besitzt es doch eine Lebensart voller Zärtlichkeit undZuwendung für seine Jungen […]. Gehe zur Kirche Gottes und höre auf die Beeren deswahren Weinstocks, nämlich die Worte unseres Herrn Jesus Christus; und bringe sie zudeinen Kindern […]» (Physiologus III.24).13

108

Ähnlich kann das Rebhuhn, ausgehend von demselben Verhalten, gegensätzlichdargestellt werden, einmal in der Rolle des Bösen, ein andermal in der Rolle des treuenChristen: «Der Physiologus sagte vom Rebhuhn, es brüte fremde Eier aus und lasse Jungeschlüpfen; wenn sie aber gross werden, fliegt jede Art zu den eigenen Eltern und sie lassendie Törin allein zurück. So macht auch der Teufel jene, die unmündig im Geiste sind,zu seiner Beute; wenn sie aber ins rechte Alter kommen, beginnen sie, ihre himmlischenEltern zu erkennen, nämlich Christus, die heiligen Propheten und die Apostel – und lassenden törichten Teufel allein zurück» (Physiologus I.18);14 «[…] auch du, Christenmensch,wenn du viel Almosen gegeben hast, gib dich nicht damit zufrieden, sagt er, und laufeschnell, andere Gebote einzuholen und fülle gut dein Nest, nämlich dein Herz, und setzedich verstärkt den bösen Mächten zur Wehr. Wie das Rebhuhn, das sein eigenes Nestverteidigt und sich weigert, die gestohlenen Eier herauszugeben, sei auch du,Christenmensch, stark in deinem Glauben und gib die Eier, die du dem Teufel entwendethast, nämlich die Gebote Gottes, nicht wieder heraus, und lasse dich nicht von den bösenMächten lenken» (Physiologus II.13).15

Die Symbolik ist nicht fest vorgegeben, sondern in der Auslegung veränderbar undflexibel. Der Einfachheit halber behalten wir oft ein einseitiges und schematischesSystem im Kopf und verändern das Symbol zu einer flachen Allegorie oder einemsteifen Emblem. Der Physiologus spiegelt Symbole wider und erschafft sie. Obwohl er nacheinem ziemlich einfachen System der schwarz-weiss-Malerei verfährt (der Teufel, der Jude,der schlechte Mensch gegenüber Christus, dem Christen), lädt er dazu ein, sich an denTiernaturen zu inspirieren, um sich im Glauben zu orientieren, aber er liefert dazu nurunverbindliche Vorschläge, Schlüssel, die von einer Fassung zur anderen variierenkönnen, wie die auswechselbare Moral einer Fabel.

Die Figur der Schlange bietet ein eindrucksvolles Beispiel für diese konstantesymbolische Dynamik. Dieses Tier gilt im heutigen Volksglauben mehrheitlich alsschädlich, listig und böse. Diese extreme symbolische Bewertung scheint sich zum einenaufgrund ihrer tatsächlichen sowie kulturell verankerten giftigen Natur und zum anderenaufgrund ihrer negativen Rolle im Sündenfall in der Bibel aufzudrängen. Dabei handeltes sich um eine schematische und intellektuell nicht zu begründende Interpretation. Die«Schlangen» sind nicht nur meistens ungiftig, sondern sie sind in der christlichenTradition oft Träger positiver und beispielhafter Bedeutungen. So liefert der Physiologusschmeichelhafte Porträts der «Schlange», die immer ein tugendhaftes Vorbild für denMenschen ist. Während der Text im Allgemeinen den verschiedenen Tieren eine «Natur»oder ein herausragendes Merkmal zuordnet, sind es bei der Schlange deren vier (dieHöchstzahl in der Sammlung), die zudem alle in die positive Richtung weisen: DieSchlange häutet sich, sie stösst ihr Gift aus, bevor sie trinkt, sie flieht vor demunbekleideten Menschen und greift den bekleideten Menschen an, sie stellt sich, mitAusnahme des Kopfes, dem Menschen, der sie töten will (Abb. 48). Hierin liegt also dieQuintessenz der Schlangennatur, die durch ihr Verhalten demMenschen zum Seelenheilverhilft. Wie die Schlange soll der Mensch sich von seinen Sünden befreien, um sich zuerneuern; er soll zur Quelle des Gotteswortes gehen, den Mund von jeglicher Boshaftigkeitgereinigt; er soll seinen Körper dem Tod überlassen, ohne das zu verleugnen, was ihnleitet; und schliesslich soll er auf Vergnügungen verzichten, damit das Böse nicht Macht

109

über ihn bekommen kann. In drei dieser Verhaltensweisen ist die Schlange ein Vorbildfür das menschliche Verhalten, und im letzten Fall, durchdrungen vom Ideal derUnschuld, ist sie weniger der Feind des Menschen als vielmehr eine Ermutigung, derchristlichen Tugend zu folgen. Neben dem Bild der teuflischen Schlange, dem primärenVersucher in der Genesis und der Maske des Satans in der Apokalypse, entwickelt sichauf der antiken naturkundlichen Grundlage offenbar eine gegensätzliche Symbolik, diejedoch nicht neu ist: Weder gut noch schlecht, ist die Schlange ein Gefährte, der in derBibel oft im positiven Sinne erwähnt wird.

Abb. 48. Schlange stellt sich demKampf, Physiologus Bernensis, um830, Reims. Pergament. Höhe 25,5 cm,Breite 18 cm. Burgerbibliothek, Bern.Cod. 318, f. 12v.

110

Dieses Bestiarium, das sich als «naturkundlich» versteht, die Natur aber als freieSchöpfung Gottes auffasst, räumt auch denen, die wir als «Ungeheuer» und «Mischwesen»bezeichnen, einen Platz ein. Diese Geschöpfe, welche die meisten christlichen Autorenauch in unserer Welt zulassen, da für Gott nichts unmöglich ist und ihr Name in derHeiligen Schrift erscheint, sind grösstenteils Klassiker der heidnischen Literatur: dieSirenen, die Kentauren, die Einhörner, die Greifen. Die Sirene hat eine mit ihrerprimären Natur übereinstimmende Gestalt: Sie ist nicht fischförmig wie in den späterenDarstellungen, sondern halb Frau, halb Vogel; ihre untere Hälfte stammt jedoch nicht

Abb. 49. Einhorn mit Jungfrau Maria,Physiologus Bernensis, um 830,Reims. Pergament. Höhe 25.5 cm,Breite 18 cm. Burgerbibliothek, Bern.Cod. 318, 16v.

111

von einem Raubvogel, wie üblich, sondern in originaler Weise von einer Gans. Ebensowird der Kentaur im Physiologus als «Onokentaur» bezeichnet, dessen menschlicherOberkörper mit dem Leib eines Esels und nicht mit einem Pferdeleib verbunden ist, waszweifelsohne durch diese Herabsetzung seine ketzerische Natur verstärkt. Da der Esel inder semitischen Kultur eine regelrechte Noblesse besitzt, gibt dies die Möglichkeit,dieses Ungeheuer direkt mit den «lästernden Häretikern» (Physiologus I.13)gleichzusetzen.16 Das Einhorn, das die Sanftheit eines Lamms und die Kraft einesNashorns besitzt und dessen erste Beschreibung auf das fünfte vorchristliche Jahrhundertzurückgeht, ist stärker als alle Jäger, lässt sich aber von einer Jungfrau zähmen, «und esspringt ihr auf den Schoss, und die Jungfrau nährt das Tier und bringt es dem König inden Palast» (Physiologus I.22).17 Man erkennt das berühmte Einhorn, aus dem der Textein Sinnbild Gottes macht, «er nahm Wohnung im Leib der wahrhaft reinen JungfrauMaria» (Abb. 49) (ibid.). Das seltsamste Tier dieser fantasiereichen Gesellschaft ist mitSicherheit der «Ameisenlöwe», dessen Name heute ganz offiziell von einem Insektgetragen wird. Diese rein christliche Schöpfung tritt, obwohl seine Vorgeschichte komplexist, zuerst in der griechischen Übersetzung des Buchs Hiob (4.11) auf und setzt sich inder Tradition durch mit seiner unmöglichen Morphologie, dem Vorderkörper einesLöwen von seinem Vater und dem Hinterkörper einer Ameise von seiner Mutter. Sobalddas Tier geboren ist, muss es natürlich sterben, da es keine Nahrung findet, die für beideHälften verträglich ist. Die Lehre, die dieses Mischwesen impliziert, richtet sich an dieSchwankenden und Schwachen: «Euer Ja sei ein Ja und Euer Nein sei ein Nein»(Physiologus I.20; Matthäus 5, 37).18

Dieser exegetische Nachkomme, Sohn der Schrift und Enkel der mythologischenMischwesen-Ungeheuer des antiken Griechenlands, ist vor allem das unverkennbareErgebnis einer stetigen und freien Kreation, insbesondere, aber nicht ausschliesslich imPhysiologus, einer Sammlung von Tierdarstellungen, über die man nach einer zweitenNatur und einem höheren Sinn strebt.19 Die Beliebtheit dieses inspiriertenWerks und seinerverschiedenartigen Fauna kann auch in dem prägenden Einfluss wahrgenommen werden,den es bis zum Ende des Mittelalters auf die Kunst (religiöse Gemälde und Skulpturen)sowie auf die Bibelkommentare und Predigten hatte. Aber die Intuition allein reicht nichtaus, um den Sinn der Tierdarstellungen zu verstehen und zu schätzen, der nicht nur jenach Darstellungskontext variiert, sondern sich auch auf verschiedenen Ebenen abspieltund sich auf unerwartete, sogar paradoxe symbolische Werte beziehen kann. Denn allediese Geschöpfe sind, wie es der Physiologus sagt, «von doppelter Art, zu loben und zutadeln» (Physiologus I.3),20 und ihre unterschiedlichen «Naturen» sind eine Quelleunzähliger Bedeutungsmöglichkeiten, zu deren Exegese jeder, ob Leser oder Betrachter,aufgefordert wird.