Organisation und Führung - 2. Systemmodell der Organisation (nach Luhmann) als Bezugsrahmen für ...

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1 Working/Discussion Papers ‚Organisation und Führung‘ Teil 2: Systemmodell der Organisation (nach Luhmann) als Bezugsrahmen für ein Konzept der Funktion „Führung“ Peter Claussen 15.7.2014 v4 15.12.2014 Ausgehend von der Überlegung, dass ein Führungskonzept aus dem Zweck der Funktion „Führung“ in einer Organisation abzuleiten und zu legitimieren ist 1 , soll zunächst der Begriff der „Organisation“ geklärt werden. Vorauszuschicken ist diesem Vorhaben aber, dass jede begriffsklärende Beschreibung oder Definition normativen Charakter haben wird. D.h., sie wird auf grundlegenden Annahmen beruhen, die nicht bewiesen werden können, aber zumin- dest transparent benannt werden sollten. Die Beschreibung soll andererseits geeignet sein, das Wesen von Organisationen unabhängig von deren inneren Wertvorstellungen und weltan- schaulichen Glaubenssätzen zu charakterisieren. 1. ORGANISATION, UNTERNEHMEN, FIRMAVerwendet man in einem Gespräch die Begriffe „Organisation“, „Unternehmen“, oder „Fir- ma“ synonym, wird man außerhalb einer Fachdiskussion selten auf Verständigungsschwierig- keiten stoßen. Alle drei Begriffe scheinen in ihrer Bedeutung relativ klar. Allerdings fällt den an solchen Gesprächen Beteiligten eine detailliertere Beschreibung we- sentlicher Strukturelemente häufig schwer: Die Frage „Was sind wesentliche Merkmale und Elemente einer Organisation (stellen Sie sich zu Beantwortung dieser Frage z.B. ein Unter- nehmen, eine gemeinnützige Vereinigung, eine Behörde… vor) ?“ an Studenten in einer Lehrveranstaltung über Organisationsentwicklung oder an eine Gruppe von Mitarbeitern einer Organisation gestellt, führt im Allgemeinen erst einmal zu tiefem Schweigen. Daher ist zu vermuten, dass das Wissen um solche Strukturelemente nicht zu einem allgemein zu erwartenden semantischen (abrufbarem Fakten-)Wissen gehört. Bei einem Priming, d.h. einem gezielten Anstoß zur Aktivierung impliziter Gedächtnisinhalte, änderte sich die Reak- tion schlagartig. Durch das Zeigen verschiedener Bilder mit sozialem und organisationalem Bezug, werden offensichtlich Assoziationsketten aktiviert. Nach einer solchen Initialaktivität wurden in allen Gruppen sehr ähnliche Begriffe genannt, die immer wieder denselben Clus- tern mit gleicher oberbegrifflicher Benennung zugeordnet werden konnten (vgl. Abbildung 1). 1 CLAUSSEN 22.5.2014.

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Working/Discussion Papers ‚Organisation und Führung‘ Teil 2: Systemmodell der Organisation (nach Luhmann) als Bezugsrahmen für ein Konzept der Funktion „Führung“ Peter Claussen 15.7.2014 v4 15.12.2014 Ausgehend von der Überlegung, dass ein Führungskonzept aus dem Zweck der Funktion „Führung“ in einer Organisation abzuleiten und zu legitimieren ist1, soll zunächst der Begriff der „Organisation“ geklärt werden. Vorauszuschicken ist diesem Vorhaben aber, dass jede begriffsklärende Beschreibung oder Definition normativen Charakter haben wird. D.h., sie wird auf grundlegenden Annahmen beruhen, die nicht bewiesen werden können, aber zumin-dest transparent benannt werden sollten. Die Beschreibung soll andererseits geeignet sein, das Wesen von Organisationen unabhängig von deren inneren Wertvorstellungen und weltan-schaulichen Glaubenssätzen zu charakterisieren.

1. ORGANISATION, UNTERNEHMEN, FIRMA… Verwendet man in einem Gespräch die Begriffe „Organisation“, „Unternehmen“, oder „Fir-ma“ synonym, wird man außerhalb einer Fachdiskussion selten auf Verständigungsschwierig-keiten stoßen. Alle drei Begriffe scheinen in ihrer Bedeutung relativ klar. Allerdings fällt den an solchen Gesprächen Beteiligten eine detailliertere Beschreibung we-sentlicher Strukturelemente häufig schwer: Die Frage „Was sind wesentliche Merkmale und Elemente einer Organisation (stellen Sie sich zu Beantwortung dieser Frage z.B. ein Unter-nehmen, eine gemeinnützige Vereinigung, eine Behörde… vor) ?“ an Studenten in einer Lehrveranstaltung über Organisationsentwicklung oder an eine Gruppe von Mitarbeitern einer Organisation gestellt, führt im Allgemeinen erst einmal zu tiefem Schweigen. Daher ist zu vermuten, dass das Wissen um solche Strukturelemente nicht zu einem allgemein zu erwartenden semantischen (abrufbarem Fakten-)Wissen gehört. Bei einem Priming, d.h. einem gezielten Anstoß zur Aktivierung impliziter Gedächtnisinhalte, änderte sich die Reak-tion schlagartig. Durch das Zeigen verschiedener Bilder mit sozialem und organisationalem Bezug, werden offensichtlich Assoziationsketten aktiviert. Nach einer solchen Initialaktivität wurden in allen Gruppen sehr ähnliche Begriffe genannt, die immer wieder denselben Clus-tern mit gleicher oberbegrifflicher Benennung zugeordnet werden konnten (vgl. Abbildung 1).

1 CLAUSSEN 22.5.2014.

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Abbildung 1: Brainstorming Ergebnisse (geclustert) zur Benennung von Elementen

und Strukturen von Organisationen Sucht man im Bereich der Sozial- und Betriebswissenschaften nach einem möglichen Kon-sens in der Beschreibung des Begriffs der Organisation als strukturellem Gebilde, ist er viel-leicht auf einer Ebene zu finden, in der eine Organisation als System zielorientierter Interak-tion beschrieben wird. Konsens besteht wohl auch noch darüber, dass in diesen Wissen-schaftsbereichen Interaktionen von Menschen gemeint sind und dass Unternehmen als spezifischer Typ von Organisationen zu beschreiben sind.2 Ein Modell der Organisation, das die genannten Merkmale integrieren will, wird also

• Menschen und ihre Interaktionen • Gemeinsamkeiten (Ziele, Überzeugungen, Regeln, Sinn…) die aus diesen Interaktio-

nen entstehen, • Umgebungsbedingungen (Strukturen der Umgebung, physische Umgebung… die auch

als Systeme dargestellt werden können) abbilden müssen. Traditionell wird ein Unternehmen unter diesen Gesichtspunkten als Gesamtkonstruktion, die Menschen, institutionellen Regeln, Prozesse, technische/physische Einrichtungen usw. als Einheit sieht, konzipiert. Es kann aber auch als „soziales System“ konzipiert werden, das aus der sozialen Interaktion biologisch-psychischer Systeme „vom Typus Mensch“3 entsteht und mit anderen wichtigen Komponenten, wie etwa technisch/physischen Einrichtungen, in Aus-tauschbeziehungen steht (Abbildung 2).

2 Der Begriff der Organisation wird natürlich nicht nur für die Strukturen menschlicher Interaktionen verwendet, sondern genauso auch in anderen Wissenschaftsbereichen, z.B. der Biologie. 3 LUHMANN 1984, S. 16–16 verwendet diese Beschreibung für das menschliche Existenz definierende, (= strukturelle Voraussetzung schaffende) gekoppelte biologisch-psychische System „Mensch“ als Voraussetzung für die Entstehung sozialer Systeme. Eine naturwissenschaftliche Darstellung geben z.B. MATURANA 1975 (Begriff der Autopoiese) und BAUER 2011.

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Abbildung 2: Modelle von Unternehmen – Fokus auf Gesamtkonstrukt oder sozialem System Versteht man soziale Systeme als solche Systeme, die ausschließlich aus Interaktionen entste-hen, ist der Mensch als Akteur nicht mehr Teil des sozialen Systems, sondern Teil dessen Umwelt. Nur die menschlichen Interaktionen bilden das System. Der Nutzen dieser Art von Modellierung wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Menschen üblicherweise Mitglieder verschiedener sozialer Systeme sind (Abbildung 3). In dieser Form der Modellierung sind die sozialen Systeme einerseits nicht an die Aktion eines einzelnen Mitglieds gebunden (das Mitglied kann wechseln) und andererseits erhalten die Systeme Dank der wechselnden Situationen, in den ihre Mitglieder sich bewegen, beobachten und kommunizieren, erweiterte Angebote für ihre eigene Kommunikation. Umgekehrt müssen in den Systemen aber auch Regeln aufgestellt werden, welche Themen jeweils als relevant behandelt werden sollen. Au-ßerdem müssen diese Regeln durch das soziale System (also in den Interaktionen der Mitglie-der) auch immer wieder überprüft und ggf. angepasst werden. Ein Modell von Organisatio-nen, das diese Form der Modellierung wählt, wurde von N. Luhmann entwickelt.4 Auf Luh-manns Theorie wird hier immer wieder Bezug genommen.

Abbildung 3: Mitgliedschaften in mehreren sozialen Systemen, Kommunikation nur in jeweils einem System zu

einem bestimmten Zeitpunkt 4 Die folgenden Ausführungen bauen auf der Theorie von N. Luhmann auf. Sie verwenden Luhmanns Begriffe und Überlegungen und versuchen, sie durch Beispiele und Vergleiche zu illustrieren. Die hier diskutierten Grundlagen sind im Wesentlichen in folgenden Werken von Luhmann dargestellt: LUHMANN 1998, LUHMANN 2006, LUHMANN 2008. Abweichend von Luhmann und in Anlehnung an KÜHL wird hier dem Vorschlag gefolgt, weitere Systemtypen wie z.B.: Gruppe, Familie, Bewegung, Netzwerk zwischen den von Luhman deklarierten Systemtypen Interaktion und Gesellschaft einzuführen und diese –wie Luhmann dies im Fall von Organisationen handhabt – nicht als funktionale Differenzierungen innerhalb von Gesellschaft zu betrachten.

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1.1.ORGANISATIONEN ALS „BEOBACHTBARE FORM“ Luhmann leitet seinen Organisationsbegriff in mehreren Stufen aus einer systemtheoretischen Betrachtung ab. Grundlage ist die Definition eines Systems als einem „Etwas“, das beobachtet werden kann. Es handelt sich also um ein Objekt, eine „Form“5, die von einem oder mehreren Beobachtern als etwas, das sich von seiner Umgebung unterscheidet, wahrgenommen wird. Jede Form ist etwas, das von seiner Umgebung unterschieden wird, also zwei Seiten hat: das Beobachtete und das nicht Beobachtete. Auch dann, wenn wir eine Organisation betrachten, sie uns vorstellen oder von ihr sprechen, unterscheiden wir zwei Seiten: das „Zugehörige“, in Abbildung 4 durch eine ellipsenförmige Linie zusammengefasst im Inneren der Ellipse liegend, und außerhalb „alles andere“.6 Mit dieser Formulierung ist eine wichtige Feststellung verbunden: eine Organisation/ein Un-ternehmen kann als System nur existieren, wenn es von der Umgebung deutlich zu unter-scheiden ist, also durch seine Identität – seine Andersartigkeit – eine Grenze zwischen sich selbst und der Umgebung zieht (Abbildung 4). Eine Organisation/ein Unternehmen muss mit ihren/seinen Aktivitäten dafür sorgen, dass diese Unterscheidbarkeit erhaltbar bleibt, auch wenn Welt und Zeitgeist sich weiterentwickeln. Veränderung gehört damit zu den Grundele-menten der Existenz einer Organisation. Sie ist das Mittel, um den Zweck – nämlich die Wahrnehmbarkeit (=Unterscheidbarkeit) durch und die Aufmerksamkeit von Beobachtern (z.B. potentiellen Kunden) – bei allen Veränderungen in der Umgebung zu gewährleisten. Am Beispiel des Wettbewerbs wird dies sehr deutlich: Sobald ein Unternehmen ein innovati-ves und stark nachgefragtes Produkt anbietet beginnt das Rennen, dieses Produkt zu kopieren oder gleiche Eigenschaften mit anderen Mitteln anzubieten. Gelingt das, verschwindet die Unterscheidbarkeit. Die Aufmerksamkeit, die dieses spezielle Produkt früher erzeugt hat, lässt nach oder verschwindet im Laufe der Zeit gänzlich, wenn nicht sekundäre Unterscheidungs-merkmale wie ein günstigerer Preis vorhanden sind.

5 Man könnte hier statt des von Luhmann in Anlehnung an Spencer-Brown gewählten Begriffs der „Form“ (SPENCER-BROWN 1969) auch den Begriff der „Gestalt“ wählen, der Ende des 19.Jahrhunderts von Ehrenfels in die Wahrnehmungspsychologie eingeführt wurde (EHRENFELS, FREIHERR VON 1890). 6 Luhmann stellt dazu fest, «dass [damit, Erg. d. Verf.] das Grundproblem der Systemtheorie von Erhaltung eines Bestandes auf Erhaltung einer Differenz umgestellt wird. Das heißt auch, dass nicht mehr von „existenziellen" Notwendigkeiten gesprochen wird (eine Organisation könne nur existieren, wenn...), sondern von Bedingungen der Möglichkeit der Beobachtung von Organisationen. Wenn sie sich nicht unterscheiden lassen, können sie nicht beobachtet werden. » LUHMANN 2006, S. 55–55.

Abbildung 4: System als Unterscheidung eines „Gebildes“ von der Umgebung

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Die Beobachtbarkeit eines Systems entsteht erst, wenn unterscheidbare Merkmale über einen gewissen Zeitraum erhalten bleiben. Für Unternehmen ist dieser Erhalt der Unterscheidbarkeit als eine „competitive advantage“ erkennbar. Verallgemeinert und abstrakt formuliert bedeutet dies, dass eine Organisation eine von der Umwelt wahrnehmbare, d.h. „bemerkenswerte“ Identität entwickeln muss. Will sie die erar-beitete „bemerkenswerte Identität“ erhalten, auch wenn Zeitgeist und Bedürfnisse sich verän-dern, muss sie ihre Identität permanent anpassen (sich adaptieren). Sie muss daran arbeiten, sich so zu verändern, dass ihre weitere Existenz gesichert wird. Ein Unternehmen muss z.B. „stabil“ als interessanter Anbieter von Produkten und Dienstleistungen wahrgenommen wer-den, was paradoxerweise bedeutet, dass es sich permanent verändern muss. Stabil bleibt das Beobachtungsergebnis („interessantes Unternehmen“), während sich Form und Struktur ver-ändern können und müssen (vgl. Abbildung 5). Sie müssen z.B. den sich wandelnden Bedürfnis-sen der Kunden angepasst werden, aber auch den sich verändernden Umgebungsbedingungen z.B. der Rechtsnormen oder des Arbeitsmarktes.

1.2.ORGANISATIONEN ALS SOZIALE SYSTEME Unterscheidbare Merkmale – man könnte auch sagen: „bemerkenswerte“ Merkmale, die Sta-bilität in der Wahrnehmbarkeit durch Anpassung an sich verändernde Umgebungsbedingun-gen generieren – sind bei sozialen Systemen Ergebnis der Aktivitäten dieses Systems selbst. Das „soziale System Organisation“ beobachtet einerseits die Umwelt und schaut sich dann bei der Kommunikation über die Konsequenzen dieser Beobachtung selbst zu, hinterfragt die verschiedenen Beiträge und Konzeptionen, die seine Mitglieder in die Diskussion einbringen.

Abbildung 5: Veränderung der beobachtbaren Form eines Unternehmens am Beispiel der Markt-/Produkt Matrix

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Schließlich entscheidet das soziale System sich für eine bestimmte Position, für bestimmte Angebote an die Umwelt. All dieses zu tun, Angebote zu entwickeln und sich für bestimmte Angebote zu entscheiden, ist ausschließlich eine Operation des sozialen Systems, also Kom-munikation.

Da in Luhmanns Konzept soziale Systeme nur aus Kommunikationen – einem Begriff der im Folgenden (1.2.1) noch detaillierter dargestellt werden soll – bestehen, muss das Beobachten durch eine Organisation etwas anderes bedeuten, als umgangssprachlich zu verstehen wäre: Soziale Systeme nutzen die Fähigkeiten der biologisch-psychischen Systeme ihrer Mitglieder zur Beobachtung und Bewertung der Umwelt und kommunizieren über deren für relevant ge-haltene Beobachtungen der Umwelt oder des Systems selbst. Beobachtung eines sozialen Sys-tems ist also Kommunikation über Beobachtungen, die von den Mitgliedern Systemen für relevant gehalten werden. Was die Mitglieder nicht für relevant halten, weil sie es für inkom-patibel z.B. mit der Aufgabe, den Spielregeln, der Kultur usw. des Systems halten, kann nicht zum Beobachtungsgegenstand, also zum Kommunikationsgegenstand im System werden. Sowohl die Fähigkeiten der Mitglieder und ihre individuelle Art, die Welt zu betrachten, als auch die „Gewohnheiten“ (die Strukturen) der Organisation führen also zu einer Selektion dessen, was beobachtet und diskutiert wird. Es begrenzt den Beobachtungsraum des Systems. Aber: die Umweltsysteme entscheiden ihrerseits autonom, ob sie die Angebote des Systems für „bemerkenswert“, für attraktiv halten. Soziale Systeme sind daher selbst als beobachtende Systeme konzipiert. Sie können ihre Umwelt, aber auch sich selbst beobachten (vgl. Abbildung 6), daraus ihre Schlüsse ziehen und ggf. Formen, Inhalte und Strukturen verändern. Sie be-dingen sich wechselseitig, ohne direkten Einfluss auf die Operationen der jeweils anderen Systeme nehmen zu können.

1.2.1.KOMMUNIKATION ALS KONSTITUIERENDE OPERATION SOZIALER SYSTEME Natürlich sind es Menschen die agieren. Menschen beobachten, denken, bewerten, erinnern sich. Die Aktivität jedoch, die eine soziale Interaktion zwischen Menschen ermöglicht, oder besser sogar: konstituiert, ist Kommunikation. Im engeren Sinne, kann Kommunikation als eine Situation verstanden werden, in der Men-schen sich mit dem Mittel der Sprache austauschen. Nur wenn dieser Austausch sich fortsetzt, die Beteiligten ein Thema finden, das die Fortsetzung des Austauschs für sie interessant und wertvoll macht, kann sich etwas entwickeln, das auch von einem außenstehenden Beobachter als Gemeinsamkeit wahrgenommen wird. Schließen sich mehr Interessierte der Interaktion

Abbildung 6: Soziale Systeme und ihre Kopplungen an andere Systeme

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rund um dieses Thema an, wird der externe Beobachter davon sprechen, dass er eine Gruppe beobachtet; in der hier gewählten Form der Beschreibung also: ein soziales System. Fasst man den Begriff der Kommunikation weiter, kann man darunter generalisierend ein Wechselspiel von Verhalten verstehen, das beobachtet und auf das reagiert wird. Auch in diesem Fall gilt, dass ein externer Beobachter dieses Wechselspiel dann (und nur dann) als das Wechselspiel in einer Gruppe wahrnehmen und beschreiben wird, wenn es beginnt sich zu koordinieren und solange es als koordiniertes Verhalten von ihm zu beobachten ist. Er wird die Gruppe mit dem identifizieren, was er an koordiniertem Verhalten beobachten kann. Flash Mobs sind ein Beispiel, das eine solche Entwicklung im Zeitraffer zusammengefasst illus-triert7. Die Mitglieder der performenden Gruppe sind zunächst nicht als zusammengehörig in der Menge erkennbar. Erst durch die gemeinsame, koordinierte Performance wird deutlich, dass sie zu einer Gruppe gehören. Sie sind aber auch ein Beispiel dafür, dass einem externen Beobachter das koordinierte Verhalten auch auffallen und er es interessant finden muss. So-bald es an Attraktivität verliert, wird er sich anderen Themen zuwenden, „andere Systeme beobachten“. Offensichtlich setzt also das Aufrechterhalten einer „bemerkenswerten“ Identität voraus, dass eine Gruppe nicht nur sich selbst und die Frage, wie sie sich rund um ein interessantes Thema koordiniert, zum Thema ihrer Kommunikation machen darf, sondern auch, ob die erarbeitete Identität für externe Beobachter bemerkenswert ist. Im Abgleich der individuellen Beobach-tungen und den daraus entstehenden Mitteilungen an die anderen Mitglieder des Systems muss in der Kommunikation eine vom Rest der Welt unterscheidbare „Identität“ des sozialen Systems entstehen, die auch als Sinnstruktur bezeichnet wird. Für eine Organisation als ein soziales System bedeutet dies, zu interagieren, um in der Umwelt Beachtung zu finden. Im Wechselspiel von Selbstbeobachtung und Beobachtung der Umwelt müssen die Mitglieder die Informationen in die Interaktion (Kommunikation) bringen, die sie für die Existenzsiche-rung des Systems als relevant ansehen. Im Fall des Misslingens, also einer Fehleinschätzung dessen, was außenstehende Beobachter in der Beobachtung ihrer Umwelt für relevant halten, endet die Existenz der Organisation. Sie bleibt dann bestenfalls in der Erinnerung der Be-obachter als etwas, das einmal Bedeutung hatte.

1.2.2. ENTSCHEIDUNG ALS „SPEZIALFALL“ (FUNKTIONAL DIFFERENZIERTE FORM) DER KOM-MUNIKATION Organisationen können als spezialisierte, „funktional differenzierte“ Art sozialer Systeme betrachtet werden. Sie nutzen eine funktional weiter ausdifferenzierte Form der Kommunika-tion. Neben der vorher dargestellten Form sich koordinierenden Verhaltens nutzen sie die Operation der Entscheidung als spezielle Form der Kommunikation, um im Konfliktfall sicher zu stellen, dass weiter operiert werden kann. Zu entscheiden, was ihre Identität ausmacht und welchen Ausschnitt ihrer Umwelt sie bearbeiten wollen, ist für sie von existentieller Bedeu-tung. Damit ist „Entscheidung“ als zentrale Kommunikationsform ein Merkmal, das Organi-sationen von anderen sozialen Systemen unterscheidet. Nicht aufgelöste Konflikte der Mitglieder zu der Frage der nächsten Veränderungsschritte und damit zur Reaktion auf die Veränderung der Umwelt, würden zur Lähmung des Unterneh-mens führen. Weiterentwicklung wäre nicht mehr möglich, wenn nicht entschieden werden könnte, welcher Weg eingeschlagen werden soll. In der Konsequenz verlöre das Unternehmen den Anschluss an die Entwicklung in der Umwelt. Während die Kopplung sozialer Systeme an die biologisch-psychischen Systeme ihrer Mit-glieder eine notwendige Voraussetzung darstellt, dass Kommunikation überhaupt entstehen kann (vgl. Abbildung)8, entscheiden sie in ihrer Kommunikation selber, welche weiteren Bezie-hungen (Kopplungen) zu anderen Systemen sie unterhalten wollen. Das können Beziehungen 7 Z.B. http://www.youtube.com/watch?v=SXh7JR9oKVE. 8 Solche Kopplungen werden als „strukturelle Kopplungen“ bezeichnet.

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zu weiteren sozialen, aber auch zu technischen9 Systemen sein. Sie müssen aber immer Kopp-lungen zu Systemen unterhalten, die die Grundlagen für ihre Existenz liefern. Kein Unter-nehmen kann ohne Kunden leben, kein Unternehmen kann dauerhaft die Kopplung an die Gesellschaft, deren Kultur und Rechtssystem negieren, in der es operiert, ohne seine Existenz aufs Spiel zu setzen.

1.3.STRUKTUREN UND ELEMENTE DER KOMMUNIKATION Soziale Systeme konstituieren und erhalten sich durch einen fortlaufenden Strom von Kom-munikation, der sich aus einem aneinander anschließenden Kreislauf von einer für mittei-lenswert gehaltenen Mitteilung einer Person an (eine oder mehrere) andere Person(en) auf-baut. Nur wenn diese Mitteilung von einem Gegenüber „verstanden“, d.h. beobachtet und durch eine ebenfalls für mitteilenswert gehaltene Mitteilung fortgeführt wird, ist die Grund-bedingung für die Entstehung eines sozialen Systems gegeben (vgl. Abbildung 6). „Verstehen“ ist an dieser Stelle nicht mit einem inhaltlichen Verständnis oder gar einem Einverständnis gleichzusetzen, sondern als Wahrnehmung, dass ein Gegenüber eine Mitteilung auf verbaler oder auch nonverbaler Ebene gemacht hat. „Missverstehen“ ist, wie jeder aus Erfahrung weiß, ein häufiges Phänomen in der sozialen Interaktion, muss aber die Interaktion nicht beenden. Missverstehen kann Anlass zum Nachfragen, zum Präzisieren und Klären geben oder öffnet gelegentlich auch neue Perspektiven.

Abbildung 7: Kommunikationsmodell Kommunikation ist also nicht als Übertragung einer Information von einem Sender an einen Empfänger definiert, sondern kommt in Luhmanns Konzept nur in Form einer aufeinander aufbauenden Interaktion zustande. Weick bezeichnet dies mit Bezug auf Allport als „doppel-ten Interakt“:

«Wenn Individuen in der Vis-á-Vis-Situation in direkter Weise aufeinander reagieren, wird ein sozialer Reiz, der beispielsweise durch das Verhalten des Individuums A gegeben wird, wahr-scheinlich eine Reaktion des Individuums B auslösen, welche ihrerseits als Reiz auf A wirken und ihn zu weiteren Reaktionen veranlassen wird. Die Richtung der Reize und ihrer Folgen ist also zirkulär, die Reaktion jeder Person wird mitausgelöst oder verstärkt durch die Reaktionen, welche seine eignen Reaktionen bei anderen ausgelöst haben (1924, S.148f) ».10

Soziale Systeme existieren, solange sie ihre Kommunikation – insbesondere in der ausdiffe-renzierten, besonderen Form der Entscheidung – „anschlussfähig“ fortsetzen, sich also „rich-tig“ entscheiden, was die Anpassung an die Umwelt angeht. Mitteilungen oder Entscheidun-

9 Der Begriff technische Systeme wird in diesem Theoriemodell in einem erweiterten Sinn verstanden und adres-siert alle künstlich synthetisierten Systeme, also Systeme von Artefakten. Damit umfasst er z.B. auch niederge-schrieben, gespeicherte Regelwerke. 10 WEICK 1985, S. 13–13, als Quelle für das Zitat gibt Weick „ALLPORT, F.H., Social Psychology Houghton Mifflin, Cambridge Mass.“ an.

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gen müssen dann aneinander logisch anschließen oder aufeinander aufbauen oder verweisen. Soziale Systeme können sich mit Hilfe der biologischen und psychischen Möglichkeiten ihrer Mitglieder (die als separate Systeme betrachtet und untersucht werden – s.u.), bei ihrer Kom-munikation beobachten und auch ihre Umwelt beobachten. Soziale Systeme erschaffen sich also selber durch eigene Operation (nämlich ihre Kommunikation), wenn es ihnen gelingt, „anschlussfähig“ zu kommunizieren, d.h. Beziehung zu nehmen auf das, was bisher ihre Ge-meinsamkeit dargestellt hat und was diese Gemeinsamkeit bestätigt und weiterentwickelt. Sie werden daher als autopoietisch11 bezeichnet. Wird die Kette der aneinander anschließenden Kommunikationen nicht fortgesetzt, kann die Gemeinsamkeit nicht erhalten werden. Das so-ziale System erlischt, die Unterscheidbarkeit durch außenstehende Beobachter ist nicht mehr gegeben. In Luhmanns Modell entsteht und besteht ein soziales System also ausschließlich aus Kom-munikationsbeiträgen. Menschen, die durch ihre Physis und Psyche erst die Voraussetzung für Kommunikation schaffen, werden der Umgebung, der Umwelt des sozialen Systems zugeord-net. Für das nur aus den Kommunikationsbeiträgen bestehende soziale System sind Körper und Psyche von Menschen „Enabler“, die der Systemumwelt zuzurechnen sind, aber eine existentielle Voraussetzung für die soziale Interaktion, d.h. für die Kommunikation darstellen (vgl. Abbildung 7).

Abbildung 8: Strukturelle Kopplung zwischen dem sozialen System und menschlichen Sys-temen12 Jedes Unternehmen konstituiert sich also aus den (Kommunikations-)Beiträgen von Men-schen, die bereit sind, sich der Organisation anzuschließen. Solche Kopplungen können wech-seln, sie müssen aber in quantitativ und qualitativ ausreichendem Umfang gegeben sein.

11 Autopoiese: (altgriech. Αὐτός ‚selbst‘ und ποιέιν ‚schaffen, bauen‘) Prozess der Selbsterschaffung und Selbst-erhaltung von Systemen durch Rekursion auf eigene Strukturen und Strukturprogramme. In der Soziologie von Luhmann auf soziale Systeme bezogen, die sich durch die konstituierende Operation der Kommunikation produzieren und – wenn die Kommunikation anschlussfähig ist, d.h. eine Kommunikation an die nächste anschließt - erhalten. CLAUSSEN 2012, S. 383–383. 12 Beziehungen zu Systemen der Umwelt, die eine Existenz des betrachteten Systems erst ermöglichen, werden als „strukturelle Kopplungen“ bezeichnet.

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Menschen sind fast immer gleichzeitig Mitglieder in verschiedenen sozialen Systemen, wie z.B. einer Familie, einem Freundeskreis oder Vereinen, die jeweils sehr unterschiedliche Ge-meinsamkeiten (Sinnstrukturen) verbindet. In jedem dieser Systeme sind es also bestimmte, sehr spezifische Themen, die die Wahrnehmbarkeit des Systems von außen (wie auch von innen) ermöglichen. Die Systeme sind selektiv und nur bestimmte Themen sind in ihnen rele-vant. Gerade deshalb unterscheidet die Luhmann in seiner Theorie sozialer Systeme zwischen menschlichen (biologischen und psychischen) Systemen als Voraussetzung (für soziale Inter-aktion) schaffende Struktur und den ausschließlich durch soziale Interaktion in Form der Kommunikation konstituierten sozialen Systemen. Auch wenn es zunächst irritierend wirkt: nicht Menschen als biologische Wesen mit einer Psyche sind nach dieser Modellvorstellung Mitglieder sozialer Systeme, sondern nur sogenannte „Personen“13 als Träger einer Rol-le(nerwartung), die sich in der Kommunikation realisiert. Verständlich wird dies, wenn man sich vorstellt, dass jemand z.B. Mitglied in einem Fußballverein und in einem Handballverein sein kann. Im Fußballverein ist die Erwartung der Mitglieder untereinander, aber auch der Zuschauer, dass der Ball mit dem Fuß gespielt wird, im Handballverein soll er im Allgemei-nen mit der Hand, aber keinesfalls mit dem Fuß gespielt werden. Jemand, der in beiden Ver-einen Mitglied ist, kann die Rollenerwartungen (= Verhaltens- u. Kommunikationserwartun-gen) durchaus in beiden Vereinen selektiv erfüllen. Es sind also nicht bei jedem Spiel erneute langwierige Verhandlungen notwendig, welche Erwartungen jeweils zu erfüllen und welche Regeln einzuhalten sind. Die Komplexität der unterschiedlichen Situationen ist jeweils von dem Menschen zu bewältigen, der Mitglied in den unterschiedlichen sozialen Systemen ist. Die ohnehin komplexe Situation der verschiedenen sozialen Systeme wird damit entlastet (s. auch Abbildung 3). Aber natürlich sind die spezifischen Themen in einem sozialen System nicht unveränderlich. Die Mitglieder bringen immer wieder neue, individuelle Erlebnisse und daraus für sie wichti-ge Themen in die Kommunikation ein. Das kann das System irritieren und schließlich dazu führen, dass es seine kollektiven Überzeugungen, d.h. seine „Sinnstrukturen“ verändert und weiterentwickelt. Irgendwann kann es also soweit sein, dass im Fußball die „Tatsachenent-scheidung“ des Schiedsrichters, ob der Ball gänzlich die Torlinie überquert hatte und ein Tor erzielt wurde durch eine technische Funktion, die sogenannte Torlinientechnik mit einer An-ordnung von Videokameras und Auswertungssoftware, ersetzt wird.

1.4.ORGANISATIONEN UND ENTSCHEIDUNG Entscheidungen sieht Luhmann als besondere, funktional weiter ausdifferenzierte Form der Kommunikation und als das charakteristische Merkmal von Organisationen. Gelingt es in einer Organisation nicht, eine wirksame, die Organisation differenzierende Entscheidung an die nächste anzuknüpfen, erlischt die Organisation. Organisationen verwenden die Kommunikationsform der Entscheidung, um in der unendli-chen Zahl von möglichen (Geschäfts)-Ideen und Teilaktivitäten diejenige(n) auszuwählen, die ihr Profil und damit ihre beobachtbare „Form“ prägen und erhalten, auch wenn sich die Um-welt verändert. In dem von E. Schein detailliert beschriebenen Fall der Firma DEC14 -- in den 1970er Jahren der zweitgrößte Computerhersteller der Welt -- waren nach der Analyse von Beteiligten mehrere Ent-scheidungen nicht anschlussfähig, die letztlich zum Ende des Unternehmens führten. Die Kunden, d.h. Systeme in der für DEC relevanten Umwelt, fanden im Vergleich zu den von DEC angebotenen hoch-

13 Etymologisch wird der Begriff „Person“ meistens als vom lat. lat. persona „Maske des Schauspielers“ abgelei-tet erklärt. Dementsprechend wird die Person bei Luhmann als Träger einer Rollenerwartung aufgefasst, die sich in der Kommunikation äußert. 14 SCHEIN 2006.

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preisigen Workstations die neu auf den Markt drängenden PC als „bemerkenswerter“ und wandten ihre Aufmerksamkeit schnell ab. Gleichzeitig erwiesen sich Entscheidungen über proprietäre Softwarelösungen genauso wenig als an-schlussfähig wie Entscheidungen über interne Strukturen.15 Es gelang nicht, die von außen beobachte-te Identität des Unternehmens als Anbieter von intelligenten Technologieangeboten, die die Bedürfnis-se großer Nutzerkreise zu vergleichsweise niedrigen Kosten und in fairer Partnerschaft bedienten, aufrecht zu erhalten. Gerade auch die proprietären Softwarelösungen – früher als intelligentes Techno-logieangebot gegenüber schwerfälligeren Mainframe Lösungen wahrgenommen – mutierten in der externen Wahrnehmung zu unfairen, weil Entscheidungsfreiheit begrenzenden Versuchen, Bindung zu erzwingen. Der Gründer, Ken Olson, musste schon 1992 die Führung abgeben. Das Unternehmen verlor 1998 endgültig die Selbständigkeit. Entscheidungen in Organisationen sind also alles andere als trivial. Eine Organisation erlischt, wenn es ihr nicht gelingt, durch anschlussfähige Entscheidungen, „bemerkenswert“ zu bleiben wie auch Kommunikation zum Erliegen kommt, wenn auf einen Beitrag keine Erwiderung erfolgt, der Beitrag nicht beobachtet oder nicht für „bemerkenswert“ gehalten wird. Zum ei-nen ist also die Herausforderung zu bewältigen, im Überschuss der Möglichkeiten und der Ungewissheit zukünftiger Entwicklung überhaupt eine sinnvolle Entscheidung zu treffen und zum anderen die Frage zu klären, wie Entscheidungen getroffen werden können, wenn der Organisation gleichwertige Entscheidungsalternativen zur Verfügung stehen. Luhmanns The-orie zeigt also klar auf, dass genau hier der Bedarf für eine Entscheidungsmacht entsteht, wenn eine Organisation in ihrer Entwicklung nicht zu Stillstand kommen soll.16 Dass eine Führungsrolle aber mehr an Funktionsinhalt definieren muss, soll im Kontext der Überlegun-gen zum Entwicklungsprozess einer Organisation betrachtet werden.

2. DER KO-EVOLUTIONSPROZESS IN SOZIALEN SYSTEMEN Luhmanns Theorie sozialer Systeme stellt neben der Beschreibung eines Strukturmodells auch wichtige Teilprozesse der Entwicklung eines solchen Systems dar. Bereits das Kommu-nikationsmodell mit der Darstellung von Kommunikation als „doppeltem Interakt“ (siehe 1.3) ist eine solche prozesshafte Beschreibung. Grundlegend beschreibt Luhmann den Entwick-lungsprozess eines sozialen Systems als einen Prozess des Abgleichs der individuellen Erfah-rungen (bewertete Beobachtungen der Welt), die als Angebot in die Kommunikation einge-bracht, von den Mitgliedern als „nicht passend“ verworfen oder als „passend“ angenommen und in das gemeinsame mentale Modell integriert werden. Den Kommunikationsprozess zu-grunde legend, beschreibt er die Entwicklung einer Organisation: Im System entsteht eine dreifache Schrittfolge, die (Ko-)Evolution, also Strukturänderung charakterisiert:

1. Beobachtete Umweltveränderungen irritieren das System und erzeugen das Potential für Abweichungen von existierenden Strukturen, d.h. Varietät.

2. Diese im System entstandene Varietät wird einer Selektion unterworfen, d.h. die kommunizierte Variante wird entweder selegiert und im System als veränderte Struk-tur eingebaut, oder abgelehnt (dann muss das System mit den Folgen dieser Entschei-dung und dem Wissen, dass es eine Alternative gegeben hätte, leben).

3. Beide Fälle -- die Unsicherheit über die „Richtigkeit“ der Entscheidung und /oder der Umgang mit der veränderten Struktur -- führen zunächst zu Destabilisierung, und die muss verarbeitet werden. Restabilisierung ist damit der Prozess der Selbstorganisation, der die Voraussetzung für erneute Variation und Selektion schafft.17

Welche Veränderungen in der Umwelt das System wahrnimmt, ist eine Frage des Zufalls, ist nicht planbar (denn das würde voraussetzen, dass das System seine Umwelt im Sinne seiner 15 A.a.O. S. 33f. 16 LUHMANN 2006, S. 221–221. 17 LUHMANN 1998, S. 427–427.

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Erwartungen beeinflussen könnte). Und welche Entscheidung das System als Reaktion auf beobachtete Veränderungen (‚Irritationen‘) der Umwelt trifft, entscheidet nur das System selbst. Es kann sich entscheiden, seine Struktur als Reaktion zu verändern, es kann aber auch indifferent reagieren. Aber jede Veränderung eines Systems ist immer auch eine Veränderung für alle Systeme seiner Systemumwelt, auf die diese wieder reagieren können oder auch nicht und damit kann jede Veränderung der Struktur eines Systems zu einer Kettenreaktion von Veränderungen in vielen anderen Systemen führen. Evolution ist Koevolution, da in der Um-welt ebenfalls System evoluieren.18 3. AUSBLICK Die im ersten Teil aufgestellte Forderung nach einem anthropozentrischen Zugang für ein alternatives Konzept der Beschreibung einer Organisation und der Funktion Führung erfüllt Luhmanns Theorie eindeutig. Auch die Theoriekonzepte anderer Wissenschaftsgebiete wie der Biologie, der Medizin, der Psychologie sind hier anschlussfähig, da Luhmann Organisati-onen als Kommunikationssysteme beschreibt, deren Kommunikation durch strukturell gekop-pelte biologische und psychische Systeme erst ermöglicht wird. Im nächsten Schritt wird es daher darum gehen, die innere Logik des Entwicklungsprozesses zu beschreiben und die Fra-ge zu untersuchen, welche Aufgaben einer funktional ausdifferenzierten Rolle „Führung“ in diesem Prozess zukommen also die Frage zu beantworten, für welchen Zweck Führung ein geeignetes Mittel ist.19 Eine detailliertere Ableitung von benötigten Kompetenzen sollte mög-lich sein, wenn vorher noch das von Luhmann als strukturelle Voraussetzung für Kommuni-kation und Interaktion unterstellte biologisch-psychische System eingehender betrachtet wor-den ist.

18 Gesamthaft zum Begriff der Evolution bei Luhmann s.LUHMANN 1998, 417ff 19 CLAUSSEN 9.8.2014, CLAUSSEN 18.10.2014.

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