"Die Revolution ist [...] die Revolution." Georg Forster über Sprache, Politik und Aufklärung.

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„Die Revolution ist […] die Revolution“ – Georg Forster über Sprache, Politik und Aufklärung1

Axel Rüdiger

Auch wenn Georg Forsters sprachwissenschaftliche Bemühungen vielleicht hinter denen Johann Gottfried Herders und Wilhelm von Humboldts zurückbleiben, so kann man doch mit einigen Erwartun-gen der Frage nachgehen, was wohl geschieht, wenn das Werk des Aufklärers, Weltreisenden und Revolutionärs in einem sprach- und diskurstheoretischen Problemhorizont der Gegenwart aktualisiert und dabei der Verbindung von Sprach- und Ideologiekritik besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.2 Entzieht sich in diesem Fall, wie manche Historiker befürchten, der historische Sinn der Texte dem Anachronismus eines solchen Unterfangens, oder vermag umgekehrt gerade die Konfrontation des Historischen mit theoretischen wie praktischen Gegenwartsproblemen die Ideengeschichte weiter ent-schlüsseln und im konkreten Fall die „Sphinx Forster“3 entzaubern helfen? – Einer Sphinx, die sich einerseits als liberaler Empiriker und Hedonist lesen lässt, welcher der kategorischen Ethik Immanuel Kants reserviert gegenübersteht; um dann anderseits aber als jakobi-nischer Verteidiger der Volksrevolution dem revolutionären Ereignis auch dann noch treu verpflichtet zu bleiben, als sich die meisten deutschen Intellektuellen angesichts der ‚schmutzigen Empirie‘ des Terrors längst von ihren ‚schönen‘ Idealen abgewandt hatten.

1 Ich bedanke mich für kritischen Anregungen und Diskussionen bei Erd-

mut Jost. 2 Folgende Überblicksdarstellungen referieren auf den hier zugrunde ge-

legten theoretischen Rahmen: Pierre Bourdieu, Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990; Jacob Torfing, New Theories of Discourse. Laclau, Mouffe and Žižek, Oxford 1999; Fabio Vighi/Heiko Feldner, Žižek beyond Foucault, Basingstoke 2007.

3 Vgl. Jörn Garber, „Statt einer Einleitung: Sphinx Forster“, in: Wahr-nehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters, hrsg. v. Jörn Garber, Tübingen 2000, 1–19.

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Wenn es stimmt, dass die Geschichte immer die Geschichte der Ge-genwart ist, dann kommt der ernsthaft historisch und politisch den-kende Kopf jedoch keinesfalls um die Verarbeitung aktueller Theo-riedebatten herum – was ihn selbstverständlich nicht von der Pflicht zur historischen Kontextualisierung entbindet, da beides doch offen-sichtlich zusammengehört.4 Tatsächlich ist die Ideengeschichte nicht zuletzt damit beschäftigt, unsere eigenen historischen Voraussetzun-gen ständig aufs Neue zu setzen, indem sie diese entweder in Frage stellt oder verteidigt, was momentan nicht zuletzt in den kontrover-sen Debatten um die bedeutungsvolle Verknüpfung von Aufklärung und Revolution besonders deutlich wird.5 So verändert sich unter der

4 Mit Le Goff kann daher festgestellt werden: „Eine gewisse Mentalitätsge-

schichte, die sich damit begnügt, in die Ideen und das Vokabular der Menschen der Vergangenheit einzudringen und zufrieden ist, wenn sie den Anachronismus vermieden hat, hat den Beruf des Historikers nur zur Hälfte erfüllt. Wenn dieser das authentische Kolorit der Vergangen-heit wiedergefunden hat, so hat er die Pflicht, es mit den Instrumenten der wissenschaftlichen Kenntnisse seines Jahrhunderts zu erklären.“ Jacques Le Goff, „Vorwort“, in: Marc Bloch, Die wundertätigen Könige. Mit einem Vorwort von Jacques Le Goff, München 1998, 9–44, hier: 32.

5 Roger Chartier hat das alte Problem, ob die Ideen der Aufklärung zur Französische Revolution geführt haben, durch die Frage ergänzt, ob es nicht erst die Revolution war, die durch das Setzen ihrer Voraussetzung-en die Aufklärung als ein kohärente Kulturbewegung retroaktiv erzeugte. Die schon von Michel Foucault problematisierte „Schimäre der Ursprün-ge“ folgt demnach keiner einfachen chronologischen Kontinuität, son-dern der Logik eines retroaktiven Zeitsprunges, die in die historische Analyse mit einbezogen werden muss. Auf der anderen Seite war die Revolution, wie die Begriffsgeschichte zeigt, aber durchaus schon im Diskurs der Aufklärung präsent. Insofern sich Aufklärung und Revolu-tion daher wechselseitig geformt haben, kann man sie nicht voneinander isolieren, ohne dass die Komplexität der historischen Situation verloren geht. Vgl. Roger Chartier, Die kulturellen Ursprünge der Französischen Revolution, Frankfurt a. M./New York 1995, 14-17; Keith Michael Baker, Inventing the French Revolution: Essays on French political culture in the eighteenth century, Cambridge 1999; Michael Sonenscher, Before the Deluge. Public debt, inequality, and the intellectual origins of the French Revolution, Princeton/Oxford 2007.

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gegenwärtig rasch an Einfluss gewinnenden Berufung des islamo-phoben Neo-Konservatismus auf die Aufklärung, der historische Inhalt dieses Signifikanten nicht unerheblich – was sich schon daran zeigt, dass der traditionell vom Konservativismus betonte Gegensatz von Aufklärung und Romantik an Gewicht verliert –; zugleich wird dabei die Ablösung der säkularen Aufklärung von der demokrati-schen Ideologie der Volkssouveränität vertieft, die unter Fundamen-talismusverdacht gerät. Hier setzt sich ein Prozess fort, der als Reak-tion auf die Ereignisse von 1968 mit der zunehmenden Instrumenta-lisierung des Demokratiebegriffes im liberalen Diskurs begonnen hatte und mit der weitgehenden Konsumtion der Demokratie durch den Neoliberalismus im Gefolge des Umbruchs von 1989/90 einen ersten Höhepunkt erreicht hatte. Paradoxer Weise ganz ähnliche Fol-gen hat aber auch die gegenläufige Aufklärungskritik, wie sie von postmodernen und postkolonialen Ansätzen vorgetragen wird. Diese knüpfen zwar an den alten konservativen Gegensatz von Aufklärung und Romantik an, delegitimieren damit aber implizit ebenfalls den revolutionären Topos demokratischer Volkssouveränität. Beide Ten-denzen, welche die Ideengeschichte heute prägen, konvergieren also selbst bei unterschiedlichen Aufklärungsdeutungen hinsichtlich der Delegitimation des revolutionären Gründungsereignisses moderner Demokratie und setzen damit bewusst oder unbewusst die legitimen historischen Voraussetzungen für den postdemokratischen Liberalis-mus bzw. Konservativismus der Gegenwart (im Amerikanischen spricht man vom ideologischen Phänomen der „Libcons“).6 Aufklä-rung wird in beiden Fällen als revolutionärer Signifikant getilgt, was einer offenen Attacke auf den demokratischen Diskurs gleichkommt. Die „Revolution der Denkungsart“ (Kant) bzw. „révolution des esprits“ (Voltaire) mutiert nun zur Schimäre einer ‚postideologischen Ideologie‘,7 welche den gegenwärtigen Neoliberalismus legitimiert.

6 Vgl. Jacques Rancière, „Demokratie und Postdemokratie“, in: Politik der

Wahrheit, hrsg. v. Rado Riha, Wien 1997, 94–122. 7 Zur Genese des Revolutionsbegriffs im Kontext der Aufklärung siehe

neben der bereits genannten Literatur: Karl-Heinz Bender, Revolutionen. Die Entstehung des politischen Revolutionsbegriffes in Frankreich zwischen Mittelalter und Aufklärung, München 1977; Karl Griewank, Der neuzeitliche

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Erst die Konflikte im Umfeld der aktuellen Finanzkrise haben wieder einen gewissen Resonanzraum für ideologiekritische Interventionen in die Ideengeschichte geschaffen, in welchem Aufklärung und Revo-lution wieder gemeinsam als reales Gründungsereignis der modernen demokratischen Bewegung erkennbar werden.8 Das Werk Forsters muss aus dieser Perspektive eine symptomatische Sonderstellung einnehmen, die es zur ideengeschichtlichen bzw. ideo-logiekritischen Aktualisierung unserer demokratisch-emanzipatori-schen Voraussetzungen prädestinieren, da Aufklärung und Revolu-tion sich hier nicht nur biografisch überlappen, sondern in ihrer Zusammenhangs- und Widerspruchskonstellation theoretisch konse-quent und ohne Rücksicht auch auf die eigene Person durchreflektiert werden.9 Aufklärung und Revolution sind hier sowohl auf theoreti-scher als auch auf praktischer Ebene so intensiv miteinander ver-schlungen, dass sich das Werk Forsters gegen den aktuellen ideologi-schen Trend des Auseinanderdividierens regelrecht zu sträuben scheint. In Auseinandersetzung mit Kants Erkenntniskritik, den neu-esten Naturwissenschaften seiner Zeit und schließlich Edmund Bur-kes Aufklärungs- und Revolutionskritik wird das Verhältnis von auf-klärerisch-emanzipatorischer Theorie und Praxis, Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, Normativität und Ontologie sowie Politik und Aufklärung von Forster einer praxisorientierten Revision unterzogen. Dies führt zu einer radikalen Sprach- und Ideologiekritik, welche Methoden und Begriffe bereitzustellen sucht, um die reale Undar-stellbarkeit eines revolutionären Ereignisses im Rahmen von Natur- und Menschheitsgeschichte in seiner ontologischen Dimension zu begreifen.

Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung, Frankfurt a. M. 1992; Reinhart Koselleck, „Revolution als Begriff und als Metapher. Zur Se-mantik eines einst emphatischen Worts“, in: ders., Begriffsgeschichten, Frankfurt a. M. 2010, 240–251.

8 Vgl. insbesondere Sonenscher, Before the Deluge; ders., Sans-Culottes. An eighteenth-century emblem in the French Revolution, Princeton/Oxford 2008.

9 Die verschiedenen Schriften Forsters werden in der Folge als kohärenter Textkorpus behandelt, der problemorientiert befragt wird. Die konkrete literarische Form wird dabei vernachlässigt.

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I Die Sprache der Politik

Das Glück der Menschheit ist, laut den Betheuerungen der Regenten, das stete Ziel ihrer landesväterlichen Sorgen. Die neuesten Manifeste der Eroberer von Polen athmen nur diesen Geist und führen nur diese Spra-che.10

Mit dieser Feststellung kommentiert Forster 1793 in seinem Essay Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit nicht nur die ‚Befreiung‘ Polens – wie die europäischen Großmächte Russland, Österreich-Ungarn und Preußen die faktische Annexion und Auftei-lung des Landes nannten –, sondern leitet auch eine längere Reflexion über die ideologischen Mechanismen politischen Sprachgebrauchs ein. Das Ancien Régime bedürfe solch systematischer „Verwirrung des Sprachgebrauchs“, um moralische Rechtfertigungen da vorzutäu-schen, wo gar keine sind; denn ohne diese „würde das Recht des Stärkeren gar bald eine viel zu wankende Stütze ihrer Herrschaft wer-den.“11 Moralische Begriffe wie „Glück, Wahrheit, Tugend“ verkehr-ten sich auf diese Weise systematisch in ihr Gegenteil.12 Gleiches treffe auch auf den Begriff der Politik selbst zu: „Das Geheimniß aller Staatsklugheit“, so stellt Forster lakonisch fest, „ist Vergrößerung; das Geheimniß aller Politik List und Menschenverachtung. […] wo wäre der Spott, der beißender die Aufklärung äffte?“13 Dort, wo es dieser Poli-

10 Georg Forster, „Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der

Menschheit“, in: ders., Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (fortan zit. als AA) X/1: Revolutionsschriften 1792/93, bearb. v. Klaus-Georg Popp, Berlin 1990, 565-591, hier: 566.

11 Ebenda. 12 Ebd. 13 Ebd, 584. – Ebenso wie Robespierre lehnt Forster den Missbrauch der

Menschenrechtsdoktrin zu expansiven Zwecken ab und bringt diesen di-rekt mit der despotischen Gewalt in Verbindung. „Es ließ sich auch wohl erwarten, daß während man in einem Extrem von Europa die Rechte der Menschheit mit den Waffen in der Hand geltend zu machen suchte, Rechte, deren sicherste Schutzwehr doch in der Vernunft allein besteht, im andern die willkührliche Gewalt trotzig ihre Larve von sich warf, um

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tik gelänge, ein relativ stabiles „Regierungs-System“ zu etablieren, „lächeln die weisen Staatsmänner der dummen, oder, was ihnen nur eben so viel sagt, der frommen Einfalt derer, die Volksglück im Erns-te für ihr Augenmerk halten.“14 Forster interpretiert diesen Regierungstyp als einen ebenso zynischen wie formal um politische Korrektheit bemühten „Despotismus“, der permanent vom Glück der Menschen redet, damit aber nur die Ent-subjektivierung bzw. „moralische Nullität der Menschheit“ manifes-tiert.15 Hinter der „gutmüthige(n) Absicht, für die Glückseligkeit an-derer sorgen zu wollen“, verstecke sich

die hinterlistige Herrschsucht, die sich dieser Larve bedient, […] um jene begünstigte Form zur einzigen zu erheben, alle andere neben ihr zu vernichten und sie, die einzige, ewig unverändert zu erhalten.16

Um diese politische Form der Herrschenden tatsächlich zur allein herrschenden Form zu machen, bedürfe es einer besonderen Art von „Zwangsmitteln“, welche die „moralische Freiheit“ individueller „Selbstbestimmung“ – für Forster „die einzig mögliche Quelle der menschlichen Tugend“ – durch das fremde Glück der Herrschenden ersetzt.17 Die Identifikation mit dem fremden Glück der Herrschen-den bezeichnet Forster schließlich als ‚Entfremdung‘.18 Wie erklärt Forster nun die Funktion dieses politischen Mechanis-mus, durch dessen „menschenfreundliche Redensart“19 die Menschen nicht nur den fremden bzw. ideologischen Sprachgebrauch ihrer Herrschaft übernehmen, sondern mit ihrer moralischen Autonomie auch ihre Subjektivität einbüßen und somit gleichsam zu mechani-

in allen Schrecken ihrer eigenen Medusengestalt das schwache Men-schengeschlecht zu versteinern.“ Ebd.

14 Ebd., 583f. 15 Ebd., 568. 16 Georg Forster, „Fragment eines Briefes an einen deutschen Schriftsteller,

oder Schillers Götter Griechenlands“, in: AA VII: Kleine Schriften zu Kunst und Literatur, bearb. v. Gerhard Steiner, Berlin 1963, 1-14, hier: 2.

17 Ebd. 18 Vgl. AA X/1, 576. 19 Ebd., 584.

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schen Automaten degenerieren? Und welche besonderen „Zwangs-mittel“ werden hierfür benötigt? Neben der kognitiven Einschrän-kung von Bildungsmöglichkeiten bedarf es nach Forster auch einer sinnlich-affektiven Bindung an Herrschaft. Um etwa den Glücksbe-griff in seiner entfremdeten politischen Bedeutung als zentralen Signi-fikanten der Herrschaftsordnung zu etablieren, so lässt sich Forster interpretieren, genügt eine formale Definition oder ein autoritärer Sprechakt für sich genommen nicht aus; neben einem institutionellen Rahmen wird hierfür auch noch eine wirksame Verknüpfung des Begriffes mit den sinnlichen Leidenschaften und Affekten der Sprachsubjekte benötigt. „Unbedingter Gehorsam gegen alle Staats-verordnungen, blinder Glaube an jeden Lehrsatz der Kirche, rastloser Fleiß in Verrichtung der vorgeschriebenen Arbeit“, so stellt Forster diesbezüglich fest, „sind die Hauptpflichten eines Menschen der von der Huld seines Herrn die Befriedigung seiner Bedürfnisse erwartet.“20 Dazu könne der Despotismus die Bedürfnisse sowohl politisch be-schränken als auch künstlich neue Bedürfnisse generieren, so dass der moralisch-autonome „Bildungstrieb“21 im Menschen nach Möglich-

20 Ebd., 570. Wenn Forster die Macht der Sprache nicht allein in der reinen

sprachlichen Substanz sucht, dann überkreuzt sich seine Überlegung mit der Kritik Bourdieus am Ansatz der illocutionary force, wie er sich bei John L. Austin und Jürgen Habermas findet. Diese meinen „im Diskurs sel-ber, das heißt in der eigentlichen sprachlichen Substanz [...] des Wortes den Ursprung seiner Wirkung zu entdecken“. Alternativ dazu stellt Bourdieu aber fest: „Die Sprache der Autorität regiert immer nur dank der Kollaboration der Regierten, das heißt mit Hilfe sozialer Mechanis-men zur Produktion jenes auf Verkennung gegründeten Einverständnis-ses, das der Ursprung jeder Autorität ist.“ Pierre Bourdieu, „Sprache und symbolische Macht“, in: ders, Was heißt Sprechen?, 71–113, hier: 73. u. 79.

21 Der Begriff des „Bildungstriebes“ ist ein anthropologischer Schlüsselbe-griff, den Forster von Johann Friedrich Blumenbach übernimmt. „Die ersten Organisationskräfte, man nennt sie plastisch mit den Alten, Seele mit Stahl, wesentliche Kräfte mit Wolf, Bildungstrieb mit Blumenbach, u. s. w. wirken im Menschen dahin. Daß er sich selbst erhalten, und sein individuelles Dasein hier gegen alle äusseren Verhältnisse behaupten könne.“ Georg Forster, „Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit“, in: AA VIII: Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte,

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keit durch die unmittelbar sinnliche Befriedigung äußerer Bedürfnisse neutralisiert wird. Im offensichtlichen Anschluss an Jean-Jacques Rousseau resümiert Forster: „Der Sklav seiner Bedürfnisse ist die Beute aller, die ihn umgeben; er schleppt eine Kette, an der man ihn leiten kann, wohin man will.“22 Indem die Politik den Menschen also zunächst elementare Bedürfnis-se vorenthält, um ihnen anschließend das Allernotwendigste oder besser noch: dasjenige zu geben, was sie eigentlich gar nicht brau-chen, kann das sinnliche Begehren monopolisiert und zugleich immer wieder verschoben und somit dynamisch verstetigt werden. Auf diese Weise könne es dem „Despotismus“ tatsächlich gelingen, „Ersätti-gung und Befriedigung der Naturbedürfnisse [….] willkührlich für das einzige Glück“ auszugegeben.23 Mit Adam Ferguson verbindet Forster die Kritik am paternalistischen Eudämonismus mit der Kritik an der merkantilen Kommerzgesellschaft, die beide unter dem Des-potismusbegriff subsumiert werden.24 Gerade unter den Bedingungen

bearb. v. Siegfried Scheibe, Berlin 1974, 185–193, hier: 187. Die Tatsache dass Forster auch vom „sittliche[n] Bildungstrieb“ spricht, zeugt davon, dass er diesen an der Schnittstelle von physischer und sittlicher Anthro-pologie verortet. Vgl. etwa Georg Forster, „Die Kunst und das Zeitalter“, in: AA VII, 15–26, hier: 17.

22 AA X/1, 585. Vgl. etwa Jean-Jacques Rousseau, „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, in: Kulturkritische und politische Schriften, hrsg. v. Martin Fontius, Bd. 1, Ber-lin 1989, 183–315, hier: 253 u. 268.

23 AA X/1, 583. 24 Für Ferguson war es evident, „daß Bewunderung von Reichtümern zu

despotischer Regierung führt.“ Er ergänzt: „Gelten bloßer Reichtum o-der die Gunst des Hofes als ausschlaggebend für die Zuweisung gesell-schaftlichen Rangs, dann wird der Geist von der Rücksicht auf diejeni-gen Eigenschaften abgebracht, auf die er sich verlassen sollte. Großher-zigkeit, Mut und Liebe zur Menschheit fallen dann der Habgier und Ei-telkeit zum Opfer oder sie werden von einem Gefühl der Abhängigkeit unterdrückt. Das Individuum schätzt sein Gemeinwesen dann nur noch insofern, als es seinem persönlichen Vorankommen oder Gewinn dienstbar gemacht werden kann. […] Auf solch korrupter Grundlage werden die Menschen entweder räuberisch, betrügerisch und gewalttätig,

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der Kommerzgesellschaft lässt sich der Glückbegriff auf die utilita-ristische Bedürfnisbefriedigung durch die Konsumtion ‚äußerer Glücksgüter‘ reduzieren und mithin von der moralischen Freiheit des Subjektes (Tugend) entkoppeln. Das ausschließliche Begehren von ‚äußeren Glücksgütern‘ zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung paralysiert auf diese Weise den ‚Bildungstrieb‘ auf Kosten der inneren Autonomie. Unter diesen Bedingungen erscheint das „Volk“ nur noch als

eine leblose Masse, ein todter Körper, der bloß mechanischen Antrieben gehorcht; jene geistigen Kräfte durchströmen und beleben ihn nicht, verbinden ihn nicht mit sich selbst zu einem lebendigen Ganzen.25

Als besondere „Zwangsmittel“ der Entfremdung, welche die Men-schen ihr Glück primär außerhalb ihrer selbst suchen lassen und sie damit bis auf den moralischen Nullpunkt entsubjektivieren, zählt Forster einige „Werkzeuge der künstlichen Unwissenheit“ auf, die bis heute zum Inventar moderner Kulturkritik gehören:

Wer kennt aber nicht […] den ungeheuren Wust, womit man das Ge-dächtniß auch des geringsten Tagelöhners belastet, um seinen Verstand zur Unthätigkeit zu zwingen? Ammenmährchen und kindische Wider-sprüche in der Anwendung der Begriffe von Ursache und Wirkung, statt einer gründlichen Anleitung zur Kenntniß der umgebenden Natur; Vor-schriften und Formeln zum Auswendiglernen, statt eines durch Erfah-rung und Übung sanft erregten Bewußtseyns; ausgelernte Stellungen und Töne, grobe Taschenspielerkünste, freche Heiligung lebloser Fetische, widersinnige Vorstellungen von Belohnung und Strafe, Unterdrückung der Vernunft durch den seliggepriesenen Glauben an Unsinn, Unmög-lichkeit und Lüge, statt eines einfachen und erhabenen Sinnes, der, über die Gränzen der Menschheit und ihres Erkennungsvermögens hinaus,

[…], oder aber sie werden servil, käuflich und niederträchtig“. Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1988, 449 u. 418. Zu Forsters Rezeption der schottischen Moralphi-losophie siehe: Anette Meyer, Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung, Tübin-gen 2008, 248–255.

25 Georg Forster, „Parisische Umrisse“, in: AA X/1, 593–637, hier: 598.

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ewige Wesenheit, Wahrheit und Güte ahndet, und sich ihnen anzuschlie-ßen sucht!26

Eine wesentliche Strategie der Gegenaufklärung besteht demnach vor allem in der gegensätzlichen Stimulierung von Einbildungs- und Ur-teilskraft, was zum Sieg der Lüge über den Verstand und die Ver-nunft führt. Die „künstliche Unwissenheit“ verdankt sich in erster Linie jenen imaginären Konstrukten in Religion, Medien und Kultur, welche die Fantasie der Menschen einseitig anregen, ohne dabei auch den Verstand zu fordern; Aufmerksamkeit und Verstand werden vielmehr durch Sensationen und billige Unterhaltung gefesselt.27 Auch hier werden die einfachsten Bedürfnisse auf Kosten von Ver-nunft und Moralität befriedigt, was die politische Performanz des ideologischen Glücksbegriffs unterstützt. Weiterhin trägt ein instrumentelles Erziehungssystem zur Neutralisie-rung des inneren „Bildungstriebes“ bei, dessen Dogmatismus alles aufbietet, „um in ihren Zöglingen eigenes Wirken zu hemmen.“28 Die „Fehler der Erziehung“, so Forster,

pflanzen sich in unsere gesellschaftlichen Verhältnisse fort. Mechanismus wird leicht das höchste Gut mechanischgebildeter Menschen, Form und Dogma gelten ihnen für Wesen und Kraft.29

Damit unterdrückt die Institution der Erziehung paradoxer Weise gerade jenen autonomen „Bildungstrieb“, den sie doch eigentlich zu pflegen vorgibt. Wie die Politik und das allgemeine Glücksstreben verkehrt sich somit auch die Pädagogik unter den allgemeinen Bedin-gungen des mechanischen Despotismus in ihr Gegenteil, so dass die

26 AA X/1, 575f. 27 Ganz ähnlich hat in jüngerer Vergangenheit noch der Medientheoretiker

Neil Postman argumentiert. Vgl. Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt a. M. 1998; ders., Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000.

28 Georg Forster, „Über lokale und allgemeine Bildung“, in: AA VII, 45–56, hier: 53.

29 Ebd., 54.

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politische Sprache wie in einer camera obscura gleichsam auf dem Kopf steht. Forster entwirft hier im Anschluss an Rousseaus Entgegensetzung von Natur und Kultur ein fast Orwellsches Szenario: Glück bedeutet Unglück, aus Bildung und Kultur werden depravierende Unterhaltung und blinde Routine, hinter der Wahrheit verbirgt sich die Lüge und aus der Vernunft wird die bloße Meinung. „Der Mißbrauch der Sa-che“, so resümiert er, „hat oft den Sprachgebrauch geändert, und ein Wort, das ursprünglich eine gute Bedeutung hatte, mit einer aus-schließend schlimmen gestempelt.“30 Im Unterschied zu Rousseau jedoch, der die Kultur per se für ideologisch verdorben hielt, ergibt sich Forster, wie noch zu zeigen sein wird, nicht dem zynischen Pes-simismus, sondern macht diesen zum Teil des Problems von Auf-klärung. Mit der Aufzählung dieser ideologischen „Zwangsmittel“ und „Werkzeuge“ beschreibt Forster die Voraussetzungen für die Einrich-tung eines raffinierten politischen Mechanismus, der die Menschen nicht nur gewaltsam ausbeutet und unterdrückt, sondern sogar noch ihren Widerstand und ihren alltäglichen Kampf um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse zur Effektivierung von Herrschaft nutzt. Damit greift er Rousseaus Kritik am Herrschaftsvertrag in der Ab-handlung über den Ursprung der Ungleichheit auf und demonstriert die Wirksamkeit symbolischer Gewalt für politische Herrschaft.31 Mit Hilfe der symbolischen Gewalt von Sprache und Kultur gelänge dem Despotismus die Manipulation von Einbildungskraft und Fantasie, was wesentlicher effektiver sei als der nackte physische Zwang. „Nie empfand man inniger die süße Wollust, über die Gemüther zu herr-schen“, formuliert Forster das Grundprinzip aller späteren Ideologie-

30 AA X/1, 587. Siehe auch Georg Forster, „Kann die Welt je ganz

vernünftig und durch Vernunft glücklich werden?“, in: AA VIII, 358-361, hier: 358.

31 Vgl. Rousseau, „Abhandlung über den Ursprung“, 255ff. Foucault hat diese Technik zur positiven Stimulierung von Macht und zur totalen Mobilisierung menschlicher Kräfte im Konzept der „Biopolitik“ be-schrieben. Vgl. Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, 2 Bde., Frankfurt a. M. 2004.

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und Hegemonietheorie, „indem man ihre Phantasie mit den Bildern der seinigen erfüllte“.32 Ist die Vorstellung vom Glück derart aber einmal auf das primitive gleichsam tierisch-mechanische Naturbe-dürfnis und die kommerziellen ‚Glücksgüter‘ beschränkt, so verfügt der ‚Despotismus‘ über die wirkungsvollste politische Fessel, mit der sich seine Untertanen sogar freiwillig selbst binden. Erhält der „Skla-ve seiner Bedürfnisse“ die begehrten ‚Glücksgüter‘ aus derselben despotischen Hand, die sie ihm zuvor vorenthielt, steigert dies noch seine Abhängigkeit, so dass er schließlich selbst ein Teil des ‚politi-schen Mechanismus‘ wird, und darin freiwillig seine unentrinnbare Knechtschaft akzeptiert. Es würde daher sicherlich zu kurz greifen, wenn man Forsters Ausei-nandersetzung mit der politischen Sprache des Despotismus lediglich der liberalen Eudämonismuskritk zurechnet, mit der er allerdings wichtige Motive teilt. Wenn Forster aber – wie gezeigt – die Kritik am kommerziellen Utilitarismus ausdrücklich und an zentraler Stelle in die Problematisierung des politischen Glücksbegriffs einbezieht, sprengt dies den Rahmen eines rein liberalen Paradigmas. Die liberale Standardkritik am paternalistischen Eudämonismus stellt dessen Wohlfahrts- und Fürsorgeideologie auf der Basis eines negativen Freiheitsverständnisses einen marktkonformen Utilitarismus gegen-über und qualifiziert letzteren zum wesentlichen Kriterium für Mün-digkeit.33 Während das Freiheitsverständnis des Liberalismus daher nicht über die äußere Wahlfreiheit der positiven ‚Glücksgüter‘ am Markt hinauskommt, und insofern letztlich in dem vom Forster kriti-sierten ideologischen Glücksbegriff verbleibt, argumentiert letzterer

32 Fantasie und Einbildungskraft werden daher von Forster als explizite

Gegenstände politischer Theorie behandelt. Vgl. u. a. Georg Forster, „Über die Vernunft in Beziehung auf das Glück der Menschheit“, in: AA VIII, 362f.; ders., „Schwärmerey, eine Mutter der schönen Künste“, in: AA VII, 27f.

33 Paradigmatisch dafür stehen insbesondere Benjamin Constant, „Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen, in: Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert. Texte seiner Entwicklung, hrsg. v. Lothar Gall u. Rainer Koch, Bd. 1, Frankfurt a. M./Wien/Berlin 1981, 40–63; sowie Isaiah Berlin, Freiheit: vier Versuche, Frankfurt a. M. 1995.

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wesentlich konsequenter, wenn er die frühkapitalistische Markt- und Kommerzgesellschaft ausdrücklich in seine ideologiekritische Analyse einbezieht. Viel näher steht Forster daher der kritisch-republikanischen Traditi-onslinie, die von Etienne de La Boétie und Michel Montaigne über Baruch Spinoza und Rousseau bis hin zur schottischen Moralphilo-sophie reicht und in der sich durchgängig das kritische Motiv der ‚freiwilligen Knechtschaft‘ (servitude volontaire) feststellen lässt.34 Von La Boétie bis Adam Ferguson wird das Problem des Despotismus im Zusammenhang eines bloß formalen Freiheitsbegriffes behandelt, wobei die politische Ökonomie diesen schließlich mit der Kritik der arbeitsteiligen Kommerzgesellschaft verbindet. Insbesondere Adam Smith wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der moderne Manufakturarbeiter als Marktteilnehmer juristisch-formal zwar frei sei, als ökonomisches Subjekt aber notwendig jegliche moralische Autonomie und Urteilsfähigkeit einbüßt.35 Neben der Religion, den Medien und der Erziehung fungiert demnach auch die moderne Wa-

34 Siehe hierzu: Michael Rosen, On voluntary servitude: false consciousness and the

theory of ideology, Cambridge 1996. 35 „Mit fortschreitender Arbeitsteilung wird die Tätigkeit der überwiegen-

den Mehrheit derjenigen, die von ihrer Arbeit leben, also der Masse des Volkes, nach und nach auf einige wenige Arbeitsgänge eingeengt […]. So ist es ganz natürlich, daß er verlernt, seinen Verstand zu gebrauchen, und so stumpfsinnig und einfältig wird, wie ein menschliches Wesen nur eben werden kann. […] Dies aber ist die Lage, in welche die Schicht der Arbeiter, also die Masse des Volkes, in jeder entwickelten und zivilisier-ten Gesellschaft unweigerlich gerät, wenn der Staat nichts unternimmt, sie zu verhindern.“ Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersu-chung seiner Natur und seiner Ursachen, München 61993, 662f. „Dement-sprechend“, so kann mit Ferguson ergänzt werden, „gedeihen die Ge-werbe (manufactures) am besten dort, wo der Geist am wenigsten zu Rate gezogen wird und wo die Werkstatt, ohne besondere Anstrengung der Einbildungskraft, als eine Maschine betrachtet werden kann, deren einzelne Teile Menschen sind.“ Ferguson, Versuch, 340. Zum allgemeinen historischen Zusammenhang siehe: Albert O. Hirschmann, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frank-furt a. M. 1987, insbesondere 114f.

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renökonomie als institutionelle Voraussetzung ideologischer Sprach-manipulation und trägt damit zur Möglichkeit ‚freiwilliger Knecht-schaft‘ bei. Schon David Hume konnte daher in seinem Essay Über die ursprünglichen Prinzipien der Regierung das ‚Wunder‘ der Herrschaft aus der Kontrolle von Meinungen ableiten:

Nichts erscheint erstaunlicher bei der philosophischen Betrachtung menschlicher Angelegenheiten als die Leichtigkeit, mit der die Vielen von Wenigen regiert werden und die stillschweigende Unterwerfung, mit der Menschen ihre eigenen Gesinnungen und Leidenschaften denen ihrer Herrscher unterordnen. Fragt man sich, wie es zu diesem Wunder kommt, so stellt man fest, daß, zumal die Regierten stets die Stärke auf ihrer Seite haben, die Regierenden durch nichts anderes gestützt werden als durch Meinung. Regierung gründet sich daher ausschließlich auf Mei-nung, und diese Tatsache gilt für die überaus despotischen und militäri-schen Regierung ebenso wie für die freiesten und republikanischsten. Der Sultan von Ägypten oder der Kaiser von Rom mag seine unschuldi-gen Untertanen wie wilde Tiere gegen deren Gesinnung und Neigung an-treiben, aber er muß zunächst seine Mamelucken oder prätorianischen Garden wie Menschen und durch ihre Meinung geführt haben.36

Insofern steht Forster im Kontext von Spätaufklärung und Revoluti-on bereits ein methodisches Arsenal zur Verfügung, in welchem die Ideologiekritik von Karl Marx ebenso schon angelegt ist wie die Herrschaftssoziologie Max Webers und die Hegemonietheorie An-tonio Gramscis.37 Forster zieht diese Motive nicht nur für seine poli-tische Sprachkritik heran, er nutzt sie auch auf originelle Weise für eine selbstkritische Analyse des Anteils der Aufklärung an der Repro-duktion von Herrschaft, so dass man die Selbstaufklärung der Aufklä-rung über ihre immanente dunkle Dialektik durchaus schon mit Fors-ter anfangen lassen kann.

36 David Hume, „Über die ursprünglichen Prinzipien der Regierung“, in:

Politische und ökonomische Essays, hrsg. v. Udo Bermbach, Hamburg 1988, Bd. 1, 25–30, hier: 25.

37 Einen guten Überblick über moderne Ideologietheorien bietet der Sam-melband Mapping ideology, hrsg. v. Slavoj Žižek, London/New York 1994.

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II Die Dialektik der Aufklärung Jener politische Mechanismus, der den modernen ‚Despotismus‘ stützt und dabei Sprache und Denken über die Manipulation von Bedürfnis und Einbildungskraft in ihr Gegenteil verkehrt, gründet sich für Forster zuallererst auf die soziale Spaltung der Gesellschaft. Damit meint er nicht nur die Spaltung der Besitzstruktur in arm und reich, sondern auch die moralisch-intellektuelle Spaltung in gebildet und ungebildet. Anstatt Aufklärung, Vernunft und Freiheit daher in toto zu unterdrücken, kann der ‚Despotismus‘ diese durchaus tolerie-ren und sogar fördern; allerdings nur solange sie ganz im Sinne Hu-mes „bloß das Eigenthum einer geringen Anzahl vorzüglich begüns-tigter Menschen“ bleiben. „Man wolle ja gern den Staatsmann, den Feldherrn, den Priester, den Arzt, den Philosophen aufgeklärt wis-sen“, so gibt Forster im Essay über die Staatskunst polemisch die zynische Ansicht der aufgeklärten Verteidiger des Despotismus wie-der,

man lese sogar mit Vergnügen die Produkte eines gebildeten Verstandes; man höre und sehe mit Entzücken die Werke der reichen Phantasie, der gefälligen Erfindung, des feinen Witzes, des harmonischen Schönheits-sinnes: allein nun erwarte man auch von diesen größern Geistern, denen die Regenten und Höfe Gerechtigkeit widerfahren ließen, dass sie end-lich fühlen möchten, wie ihre Seltenheit ihren Werth erhöhe, und dass sie mit ihren Herren die zur Arbeit und zum Gehorsam geschaffene Men-ge verachten lernten.38

Solange die Aufklärung aber ein Privileg der Gebildeten bleibt, kann der ‚Despotismus‘ sich mit Aufklärung, freier Urteilsbildung und damit auch alternativen Glücks- und Tugendbegriffen durchaus ar-rangieren. Die Aufklärung als elitäres Privileg einer kultivierten Min-derheit macht die Aufklärer aber herrschaftstechnisch – mit Hume gesprochen – lediglich zu kulturpolitischen „Mamelucken“, die zwar durch ihre eigene Meinung geführt werden, damit aber das hegemo-niale „Wunder“ der Herrschaft einer oligarchischen Minderheit über

38 AA X/1, 574.

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eine Mehrheit überhaupt erst ermöglichen. Aufklärung kann damit selbst zum Hindernis von Aufklärung werden. Alle zur Schau gestell-te Dissidenz verpufft mit dem kulturellen Privileg und der hieran anschließenden utilitaristischen Korruption der Aufklärung. Durch den korrupten Genuss des Privilegs macht sich der Aufklärer zum Teil des Herrschaftsmechanismus, wodurch das idealistische Streben der Aufklärung nach universaler Emanzipation der Menschheit nicht nur wirkungslos bleibt, sondern sogar in ihr Gegenteil umschlägt. Somit muss Forster feststellen, dass selbst Aufklärung und Kritik ebenso wie der Glücksbegriff nicht gegen die ideologische Umkeh-rung ihrer Bedeutung immun sind. Wenn sich die „Tyrannei der Mei-nungen“ aber unter der „Larve der Vernunft“ verbergen kann, wird die despotische Herrschaft der doxa intellektuell durch eine zur präto-rianischen Orthodoxie geronnenen Aufklärung legitimiert und befes-tigt und damit „dem Menschengeschlecht um so viel gefährlicher“, wie es in der Einleitung von Volneys Ruinen heißt.39 Die Alternative zu dieser despotischen Dialektik der Aufklärung sieht er im Essay über die Staatskunst keineswegs darin, „daß die Schutz-redner der Menschheit sich in unausführbaren Theorieen versteigen und Gelehrte hinter dem Pfluge sehen möchten. Nein!“40 Ganz im Gegenteil zeichne sich konsequente Aufklärung durch die Verbin-dung von sozialem Realismus mit uneigennützigem Dienst an der Menschheit aus. Zur Kritik entfremdeter Glückseligkeit bedürfe die Aufklärung deshalb der Verknüpfung des kategorischen Imperativs aus Kants Moralphilosophie, der bekanntlich keinen korrupten Utili-tarismus bzw. Empirismus in der Moral duldet, mit einer realistischen und daher ebenso ungeschönten wie undogmatischen Theorie der Praxis.41 Einerseits sei es notwendig, die „Moralität der handelnden

39 Georg Forster, „Über den gelehrten Zunftzwang“ (Vorrede zur deut-

schen Übersetzung von Volney, Die Ruinen), in: AA VIII, 228–233, hier: 230.

40 AA X/1, 576. 41 Zur Kritik am Empirismus in der Moral siehe: Immanuel Kant, „Kritik

der praktischen Vernunft“, in: ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Will-helm Weischedel, VI: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. 1. Teil, Darmstadt 1983, 107–302, hier: 191.

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Personen“ strikt „von der Moralität der Handlungen [zu] unterschei-den“. Denn die utilitaristische

Eitelkeit, die noch mit dem Bewußtseyn eines Verdienstes befriedigt seyn wollte, schmälert den Werth der Tugend, die […] stets ihr eigener und al-leiniger Lohn bleiben muß.42

Anderseits macht Forster jedoch auch deutlich, dass radikale Aufklä-rung sich weder durch bloße logische Begriffsexegese noch durch die idealisierende Abstraktion von den Widersprüchen der sozialen Wirk-lichkeit realisiert. Er konzediert deshalb:

Über den gegenwärtigen Zustand unserer Gattung ist der Philosoph mit dem Politiker einverstanden; aber er fühlt oder weiß vielmehr, was Men-schen seyn könnten und sollten; er geht daher den Ursachen ihrer Her-abwürdigung nach, und sucht das Mittel aufzufinden, welches sie wieder ihrer Bestimmung nähern kann.43

Soziale Romantik war dem Kritiker Forster ebenso fremd wie kultu-reller Exotismus dem Ethnologen.44 Keineswegs dürfe der konse-quente Aufklärer aber die Augen vor jenen „traurigen Erscheinungen der Unwissenheit und Sklaverei“ verschließen, in denen sich der ge-knechtete Mensch befindet, so dass dieser „unglücklicher als die Thiere, seine ganze Wirksamkeit von seinen Trieben entlehnt“.45 Dennoch solle er den Versuchungen des ‚Despotismus‘ wiederstehen, der ihm diese obszöne Misere der Mehrheit als kulturelles Privileg verkaufen will, denn nur so

erkennt [der Aufklärer] in diesem gemißhandelten und um seine Bestim-mung betrogenen Haufen den Gegenstand seiner uneigennützigen und immerwährenden Sorge.46

42 AA X/1, 580f. 43 Ebd., 574. 44 „So ist demnach das Glück des zahmen Sklaven eben so erdichtet, als das

Glück des freien Wilden“. Ebd., 573. 45 Ebd., 574. 46 Ebd.

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Anstatt auf die dünkelhafte Distinktion von der „arbeitenden Klasse“ zu achten, müsse „der wahre Menschenfreund“ sein Engagement notwendig mit der Emanzipation dieses obszönen „Haufens“ verbin-den.47 Forsters Ausführungen ließen sich also dahingehend interpretieren, dass der reflexive Aufklärer der Dialektik der Aufklärung mitsamt ihrer herrschaftlichen Instrumentalisierung der Vernunft einerseits nur durch den entschlossenen Widerstand gegen die moralische Kor-ruption des Utilitarismus entkommen kann, sowie anderseits durch die politische Überwindung jenes sozialen Mechanismus, der die Menschen entsubjektiviert und in ‚freiwilliger Knechtschaft‘ zu me-chanische Automaten herabwürdigt. Tatsächlich sieht Forster in der Französischen Revolution den entscheidenden Umschlag,

wo jenes lügenhafte Bild des Glücks, das so lange am Ziele der menschli-chen Laufbahn stand, von seinem Fußgestelle gestürzt, und der ächte Wegweiser des Lebens, Menschenwürde, an seine Stelle gesetzt werden soll.48

47 Ebd., 574f. Diesen Imperativ leitet Forster nicht aus der abstrakten Mo-

ral, sondern aus der politischen Beobachtung etwa der revolutionären Gründung der USA ab. Ebenso wie in der Natur aus dem „Auswurf […] neue Organisationen“ entstehen, so können auch aus „den überflüßigen oder schädlichen Gliedern eines Staats, die er von sich wirft, […] bald neue Gesellschaften hervor[keimen]“. Dazu bedürfe es nur „einige[r] Menschen von größerer Seele, welche sich unter günstigen Umständen in diesen neuen politischen Organisationen hervorthun“ und welche „der noch biegsamen Masse Gestalt und Consistenz [geben], und […] ihr ei-nen bildenden Trieb ein[hauchen], der sie in allen ihren Theilen entwi-ckelt und weiter organisirt.“ Georg Forster, „Cook, der Entdecker“, in: AA V: Kleine Schriften zur Völker- Länderkunde, bearb. V. Horst Fiedler u.a., Berlin 1985, 181–319, hier: 289. Zur Interpretation dieser Schrift vgl. Michael Ewert, „Vernunft, Gefühl und Phantasie im schönsten Tanze ver-eint“. Die Essayistik Georg Forsters, Würzburg 1993, 92–100.

48 AA X/1, 591.

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III „Perfectibilität“ und Sprachgenese Die menschliche Würde ist bei Forster untrennbar mit moralischer Autonomie und universaler Perfektibilität verbunden. Gemeinsam bilden sie die wichtigsten Kriterien für die Wahrhaftigkeit von Politik und Aufklärung. Bei der Behandlung der Perfektibilität spielen wiede-rum sprachtheoretische Überlegungen eine wichtige Rolle, in deren Mittelpunkt Herders Modell der Sprachgenese steht.49 Universal ist Forsters Begriff der Perfektibilität dabei in doppelter Hinsicht: zum Einen, weil sie allen Menschen ohne Unterschied von Natur aus zu-kommt und zum Anderen, weil sie keinen partikularen Gegenstand hat; menschliche Vollkommenheit also nicht etwa nur halb oder un-vollständig möglich ist. Anders als Kant muss Forster deshalb, wie nach ihm auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem er hier offen-sichtlich den Weg bahnt, das Motiv der „schlechten Unendlichkeit“ verwerfen, bei dem der Begriff der Vollkommenheit partikulares Stückwerk bleibt, sich niemals selbst erreicht und daher lediglich als regulative Idee existiert.50 Insofern existiert hier sowohl ein logisches

49 Vgl. zu Herders Sprachtheorie: Ulrich Gaier, „Johann Gottfried Herder

(1744-1803)“, in: Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, hrsg. v. Tilman Borsche, München 1996, 215–231.

50 So stellt Kant bezüglich der Idee einer ebenso gerechten wie humanen politischen Ordnung fest: „Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt.“ Immanuel Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, in: Werke in zehn Bänden, IX: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. 1. Teil, 31–50, hier: 41. Diese „schlechte Unendlichkeit“, kritisiert Hegel, „pflegt vornehmlich in der Form des Progresses des Quantitativen ins Unendliche – dies fortgehende Überfliegen der Grenze, das die Ohnmacht ist, sie auf-zuheben, und der perennierende Rückfall in dieselbe – für etwas Erha-benes und für eine Art Gottesdienst gehalten zu werden, so wie derselbe in der Philosophie als ein Letztes angesehen worden ist.“ Solche „Tira-den“ führen aber zu nichts als zur „Langeweile der Wiederholung“ sowie dem „Gefühl der Ohnmacht“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Wissen-schaft der Logik“, Teil 1: Die objektive Logik, in: Werke V, Frankfurt a. M. 21990, 264f. Zum Verhältnis von Hegel zu Forster siehe auch: Rolf

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als auch ideologisches Problem, auf das Forster etwa in den Ansichten vom Niederrhein hinweist:

Immerhin mögen die Vertheidiger des Despotismus über die gehoffte Vervollkommnung des Menschengeschlechts lachen! Ich lache gerne mit ihnen, wenn von der Realisirung eines Ideals der sittlichen Vollkommen-heit die Rede ist. Wie das Ideal des sinnlichen Vollkommenen, kann es nur in der Phantasie des Philosophen existiren, und hat nicht einmal den Grad von Realität, den der Künstler im Bilde dem Idealischschönen ge-ben kann. Allein es heißt zu früh gelacht, wenn nicht der höchste denkba-re Punkt der Vollkommenheit als wirklich erreichbar angenommen, son-dern nur die Freiheit, in der Entwicklung jedes Einzelnen so weit zu kommen, als Organisation, inneres Kraftmaaß und natürliche Beziehun-gen es jedesmal gestatten, von dem Staate und seinen Herrschern gefor-dert wird.51

Die „Perfectibilität“ des Menschen, so hatte Forster bereits in seinem Essay über James Cook argumentiert, könne weder ein rein spekulati-ves oder normatives Ideal sein noch dürfe man sie, wie Rousseau es tat, „als ein der Natur entgegengesetztes Extrem […] betrachten“.52 Diese „Täuschung“ könne „nur eine consequentere Philosophie wie-der aufheben“, die Forster selbst als „Philosophie des Lebens“ kon-zipierte.53 Als ebenso reale wie praktisch wirksame Kraft bringt Fors-

K. Hočevar, „Georg Forsters Bedeutung für Hegel“, in: Georg-Forster-Studien VI (2001), 67–87.

51 Georg Forster, „Ansichten vom Niederrhein“, in: AA IX: Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790, bearb. v. Gerhard Steiner, Berlin 1958, 114. Die nach wie vor grundlegende Einordnung dieses Textes liefert: Helmut Peitsch, Georg Forsters „Ansichten vom Niederrhein“. Zum Problem des Über-gangs vom bürgerlichen Humanismus zum revolutionären Demokratismus, Frank-furt a. M. 1978.

52 AA V, 194. 53 Ebd., 193. Bekanntlich hat Forster seine „Kleine Schriften“ ab 1789

unter dem Titel „Philosophie des Lebens“ herausgegeben. Gegen Rousseaus metaphysischen Dualismus richtet sich auch folgende Aussa-ge: „Doch der Grübeley wird kein Irrthum leichter, als das unterschei-den, wo nichts abzusondern ist; und so erdichtet sie einen Widerspruch

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ter darin die kulturelle Perfektibilität mit der Materialität des Antago-nismus in Verbindung, welche die menschliche Natur dialektisch mit der Kultur verknüpft und letztere anschließend immer weiter über sich hinaustreibt.54 Dies kann selbstverständlich kein kontinuierlich-harmonischer und niemals zum Abschluss kommender Prozess sein; er muss aufgrund seines antagonistischen Charakters vielmehr als diskontinuierlicher Vorgang gedacht werden, dessen potentielle Un-endlichkeit über die Endlichkeit qualitativer Umschlagpunkte („Revo-lutionen“) verläuft. Eine solche revolutionäre Aktualisierung des Per-fektiblitätsprozesses widerlegt also nicht nur jeden idealistischen Normativismus, sie verlangt auch nach dialektischer Verknüpfung von Unendlichkeit und Endlichkeit sowie von Freiheit und Notwen-digkeit, und öffnet somit den theoretischen Problemhorizont für He-gels Dialektik.55 Wenn Forster mit Reflexion auf die ontologisch-dialektische Totalität dieses Prozesses einerseits feststellt, dass

der vermeynte Contrast zwischen der physischen und sittlichen Bestim-mung des Menschen […] auf einer Abstraktion [beruhet], die nicht im Reiche der Wirklichkeit, sondern in unserer Vorstellungsart liegt;

zwischen Natur und Cultur, der höchstens in einem willkührlichen Ge-brauch der Worte liegt. Die Fähigkeit zum Denken mit allen ihren Fol-gen, ist unserer Natur so wesentlich innewohnend, als der Trieb zur Nahrung und Fortpflanzung, wenn sie gleich nicht jedem Einzelnen nach Möglichkeit entwickelt wird. Was der Gattung zukömmt, entwickelt sich nicht nothwendig in jedem Einzelnen.“ Ebd., 162. Siehe hierzu auch: Jörn Garber, „Von der naturalistischen Menschheitsgeschichte (Georg Forster) zum gesellschaftswissenschaftlichen Positivismus (Fried-rich Buchholz)“, in: Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschafts-feld seiner Zeit, hrsg. v. Jörn Garber u. Tanja van Hoorn, Hannover-Laatzen 2006, 53–78, hier: 59.

54 AA V, 194f. 55 Mit Blick auf Natur- und Menschheitsgeschichte betont Forster: „Der

Gang so vieler Revolutionen […] zertrümmert also offenbar jene ideali-schen Systeme, die auf eine grundlose Hypothese erbauet sind.“ An an-derer Stelle heißt es: „Wie das Unendliche ans Endliche, so ist, über alle Gränzen menschlicher Begriffe hinaus, Freyheit an Nothwendigkeit ge-knüpft“. Ebd., 197 und 194.

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so heißt das allerdings nicht, dass er metaphysischer Naturalist gewe-sen wäre. Denn gleich darauf betont er:

Es giebt folglich keine blos physische, oder, mit einem andern Wort, blos thierische Bestimmung des Menschen, sondern sein Charakter ist, wie der Philosoph der Menschheit unwiderstehlich dargethan hat, Sittlichkeit, die zwar unzählige Schattirungen und Stufen hat, aber das einzige ist, wodurch er sich vom Thier unterscheidet.56

Wie aber lässt sich eine antagonistische Verknüpfung von Natur und Kultur im Menschen jenseits dogmatischer und dualistischer Meta-physik denken? Ein Schlüssel hierfür liegt in Forsters Rezeption von Herders Sprachursprungstheorie.57 Letztlich sieht Forster mit Herder (dem „Philosoph der Menschheit“) den dynamischen Antagonismus bereits in der natürlichen Ausstattung des Menschen angelegt, denn die „Ökonomie der Natur“ äußere sich im Menschen in „Anlagen, die einander zu widersprechen scheinen“.58 Herder hatte den Über-gang von der tierischen Ausdruckssprache, die lediglich unmittelbare Empfindungen artikuliert, zur kognitiv-codierten Sprache des Men-schen, die mit intellektuellen Verstand einhergeht, gleichfalls aus der internen und externen Widersprüchlichkeit der menschlichen Anla-gen abgeleitet.59 Menschliche Sprache und Bewusstsein entstehen demnach als Kompensation mangelnder Anpassungsfähigkeit des Menschen an seine konkrete natürliche Umwelt. Gerade weil der Mensch im Unterschied zum Tier ein universalistisches Wesen und an keinen konkreten Lebensraum gebunden ist, bleibe ihm laut Her-der nichts anderes übrig als die mangelnde instinktive Anpassungsfä-

56 Ebd. 57 Zu Forsters Verhältnis zu Herder siehe: Helmut Peitsch, „Georg Forster

als Leser Herders in ‚Die Kunst und das Zeitalter‘“, in: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, hrsg. v. Martin Bollacher, Würzburg 1994, 357–374.

58 AA V, 194. 59 Vgl. Johann Gottfried Herder, „Abhandlung über den Ursprung der

Sprache“, in: Werke, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1771, hrsg. v. Ulrich Gai-er, Frankfurt a. M. 1985, 695–810.

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higkeit an einen konkreten Ort künstlich per Sprache, Soziabilität, Verstand und Sittlichkeit, kurz der Kultur, auszugleichen.60 Aus der Not keinen perfekten Instinktmechanismus, wie das Tier, zu besitzen, muss der Mensch daher – ganz wörtlich genommen – eine Tugend machen. Die Notwendigkeit des Seins ist hier auf gleichsam negative Weise mit dem Sollen verschränkt, so dass man von einen negativen Monismus sprechen könnte. Sprache, Intellekt und Moral verdanken ihre Existenz bei Herder einer antagonistischen Kluft innerhalb der Natur. Sie sind dann faktisch Supplemente, mit denen der menschli-che Selbsterhaltungstrieb die Lücke im natürlichen Sensorium des Menschen ausfüllt und den internen Antagonismus der Anlagen, der zum äußeren Antagonismus des Menschen mit seiner Umwelt führt, zu koordinieren sucht.

Man nenne diese ganze Disposition seiner Kräfte, wie man wolle, Ver-stand, Vernunft, Besinnung u. s. w. Wenn man diese Namen nicht für abgesonderte Kräfte, oder für bloße Stufenerhöhungen der Tierkräfte annimmt: so gilts mir gleich. […] Der Unterschied ist nicht in Stufen, oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswickelung aller Kräfte.61

Diese „Disposition der Kräfte“, die nach innen über das Denken auf die „Organisation der Sinne“ und nach außen über die Sprache auf die Organisation von Gesellschaft gerichtet ist, zielt ursprünglich auf keinen anderen Gegenstand als auf die defizitäre ‚Lücke‘ in der menschlichen Natur. Im Unterschied zu den Trieben des Instinkts

60 „Jedem Insekt gab sie [die Natur], was und wie viel sie brauchte: Sinne

zur Vorstellung, und Vorstellungen in Triebe gediegen; Organe zur Spra-che, so viel es bedorfte, und Organe, diese Sprache zu verstehen. Bei dem Menschen ist alles in dem größten Mißverhältnis – Sinne und Be-dürfnisse, Kräfte und Kreis der Würksamkeit, der auf ihn wartet, seine Organe und seine Sprache – Es muß uns also ‚ein gewisses Mittelglied fehlen, die so abstehende Glieder der Verhältnis zu berechnen.‘“ Herder sucht dieses „Mittelglied“ ausdrücklich in den „Lücken und Mängeln“, um keine „Qualitas occulta“ extrapolieren zu müssen. Ebd., 715.

61 Ebd., 717.

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begehrt Herders „Besonnenheit“62 unmittelbar keine äußeren bzw. positiven Objekte; sie trägt vielmehr strikt negativen Charakter, da sie allein auf die antagonistische Leerstelle innerhalb der menschlichen Natur gerichtet ist. Wenn Forster Herders „Besonnenheit“ mit Blumenbachs „Bildungs-trieb“ in Verbindung bringt, dann gelangt er – mit Sigmund Freud gesprochen – gleichsam jenseits des Lustprinzips der Instinkte, wobei dieser „Bildungstrieb“ nun als inhaltslose dynamische Form (modus operandi) begriffen werden kann.63 Indem Forster Herders dynami-sches Modell der Sprachgenese zu einem „materiell-antagonistischen Zivilisationsmodell“64 ausbaut und radikalisiert, fungiert der reale Antagonismus der Natur dialektisch sowohl als Bedingung für die Möglichkeit kultureller Sittlichkeit als auch für deren Unmöglichkeit. Auf der Suche nach Ort und Wesen der menschlichen „Seele“ bzw. dem „Bildungstrieb“ lässt Forster die Philosophie in seinem kurzen Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit jenseits aller „Sub-stanzen“ letztlich auf jenen „kritischen Abgrund“ stoßen, „den Mil-ton’s Satan einst durchwanderte“.65 Fasziniert und halb ironisch nimmt er dort die ontologischen Koordinaten dieses diabolischen Wahnsinns in den Blick:

Wenn es so fortgehet, und alles um sie her verschwindet, so läuft sie wirklich Gefahr, im großen idealischen Nichts sich selbst zu verlieren, wofern nicht das uralte Chaos sie eben so freundschaftlich wie den Höl-lenfürsten lehrt, in jener ‚Unermeßlichkeit ohne Grenzen, Ausdehnung und Gegenstand, wo Zeit und Raum unmöglich sind,‘ – sich zu orientie-ren! Doch zurück von dieser Nacht des Ungrunds, des Zwists und der

62 Ebd., 719. 63 Vgl. Sigmund Freud, „Jenseits des Lustprinzips“, in: Studienausgabe, Bd. 3:

Psychologie des Unbewußten, hrsg. v. Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt a. M. 2000, 213–272.

64 Jörn Garber, „Die ‚Schere im Kopf‘ des Autors. Anthropromorphe Bewußtseinsgrenzen von Erfahrung (Georg Forster), in: Die Grenze. Be-griff und Inszenierung, hrsg. v. Markus Bauer u. Thomas Rahn, Berlin 1997, 13–36, hier: 28.

65 AA VIII, 186.

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Verwirrung, wohin vielleicht keiner von meinen Lesern weder einem ge-fallenen Engel noch einem exaltirten Denker Lust zu folgen hat.66

Wie Hegel später in frappanter Übereinstimmung mit der Forster-schen Metaphorik feststellt, hat Forster hier dem Menschen direkt und tief ‚ins Auge‘ geblickt.67 Und tatsächlich situiert Forster im Cook-Essay den „Bildungstrieb“ als Prinzip der Perfektibilität direkt an der negativen Bruchstelle zwischen physischer und sittlicher Anth-ropologie:

Wenn das Bedürfnis eine Sprache schuf und eben dadurch das Bewusst-sein weckte, so übte hingegen jeder neue Grad der Erkenntnis das Be-gehrungsvermögen. Waren bey einem überwundenen Widerstande Be-griffe von können und wollen entstanden, so folgte bald ein Wollen aus Vorsatz und mit Bewußtsein. Brachten endlich erschütternde Erfahrun-gen den Menschen auf eine höhere Stufe der Besonnenheit, und lehrten sie ihn, daß er nicht alles dürfe, was er kann und will; so führte eben die-ser Druck der äußern Verhältnisse zu Begriffen vom Glücke des Lebens, die zwar nach Klima und Lokalumständen verschieden, im Ganzen aber Werkzeuge der ferneren Bildung und Entwicklung sind.68

66 Ebd. 67 „Der Mensch ist diese Nacht, diß leere Nichts, das alles in ihrer Einfach-

heit enthält – ein Reichthum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, de-ren keines ihm gerade einfällt –, oder die nicht als gegenwärtige sind. Diß die Nacht, das Innre der Natur, das hier existirt – reines Selbst, – in phan-tasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein blutiger Kopf, – dort eine andere weisse Gestalt plötzlich hervor, und verschwindet ebenso –. Diese Nacht erblickt man wenn man dem Men-schen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, – es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.“ Georg Wilhelm Fried-rich Hegel, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geis-tes. Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/1806), Hamburg 1976, 187. Vgl. dazu Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M. 2001, 44ff.

68 AA V, 195. „Der Wechsel der Verhältnisse, der Zusammenstoß streiten-der Kräfte, der Contrast entgegengesetzter Ereignisse – diese hin und her strömende Fluth im Ocean der Menschheit läutert und bestimmt überall die Begriffe, und giebt ihnen auch Einfluß auf Handlungen, Tugend und

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Wie sich physische und sittliche Anthropologie in einem Organ über-kreuzen können, demonstriert Forster im Essay Über Leckereyen am Beispiel der menschlichen Zunge, deren ordinär-natürliche Funktion durch die Kommunikation sublimiert wird und damit den Menschen revolutioniert:

Betrachtet man endlich dieses kleine Glied zugleich als Sprachorgan, so erscheint seine Wichtigkeit in einem noch ungleich stärkeren Lichte, in-dem nunmehr die menschliche Perfectibilität großentheils wesentlich da-rin beschlossen liegt. In der Vereinigung dieser beyden Naturanlagen, des Geschmacks und der Rede, in einem gemeinschaftlichen Werkzeuge, findet der Naturforscher und Anthropologe einen reichhaltigen Stoff zum Nachdenken.69

Mit Garber lässt sich bei Forsters Anthropologie daher: von einer ‚Excentricität‘ des Naturwesens Mensch [sprechen], die diesen hindert, sich durch seinen Instinkt umstandslos in die Natur einzupas-sen. Der Mensch kompensiert seine defizitäre Naturausstattung durch

Laster sind daher überall gleichzeitige Erscheinungen; denn auch die Tu-gend wird nur durch Widerstreben möglich; wo weder Feind noch Ge-fahr vorhanden ist, da giebt es weder Kampf noch Sieg.“ Ebd., 196f. Forster stimmt hier wieder ganz mit Kants ethischen Imperativ überein, wonach die „Tugend“ die „moralische Gesinnung im Kampfe [ist], und nicht Heiligkeit im vermeinten Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesin-nungen des Willens“. Kant, „Kritik der praktischen Vernunft“, 207.

69 Georg Forster, „Über Leckereyen“, in: AA VIII, 164–181, hier: 175. Aus hegelscher Perspektive demonstriert Forster an der Zunge die „spekulati-ve Identität“ von Natur und Kultur. Hegel hat dies u. a. an den mensch-lichen Geschlechtsorganen wiederholt: „Das Tiefe, das der Geist von innen heraus, aber nur bis in sein vorstellendes Bewußtsein treibt und es in diesem stehenläßt, – und die Unwissenheit dieses Bewußtseins, was das ist, was es sagt, ist dieselbe Verknüpfung des Hohen und Niedrigen, welche an dem Lebendigen die Natur in der Verknüpfung des Organs seiner höchsten Vollendung, des Organs der Zeugung, und des Organs des Pis-sens naiv ausdrückt.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Phänomenologie des Geistes“, in: Werke III, Frankfurt a. M. 31991, 262.

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die Herausbildung von Kultur. Seine ‚imbecillitas‘ erzwingt geradezu technische Kompensationen für seine natürliche Schwäche.70

Dabei überkreuzen sich die durch ungleichmäße Entwicklungen aufgerissenen Antagonismen in einem defizitären Nullpunkt, der die menschliche Existenz radikal in Frage stellt, wenn es nicht gelingt, diese defizitäre Leere mit Hilfe eines kulturellen „Bildungstriebs“ zu supplementieren bzw. aufzufüllen, und damit ganz materialistisch den Prozess der Perfektibilität über das Prinzip der ‚generativen Abwe-senheit‘ in Gang zu setzen.71 Anstatt der Natur also ideale und anth-ropromorphe Absichten oder transzendente geistige Essenzen zu unterstellen, interpretiert Forster die „Ökonomie der Natur“ im Mo-dus eines horror vacui als ein relationales Widerspruchsgeflecht, deren materialistische Struktur defizitär und antagonistisch ist.72 In diesem Sinne spricht Forster im Essay Über Leckereyen von der „Freßgier eines leeren Magens“ und der „Ermangelung der mütterlichen Brust“, die das Bedürfnis nach Genuss weckt, um anschließend über die un-mittelbare Befriedigung hinaus das dauerhafte „Bestreben der Ver-nunft“ auf den Plan zu rufen, „die Begierde darnach durch andre

70 Garber, „Von der naturalistischen Menschheitsgeschichte“, 60f. 71 Da Forster die Anthropologie strikt relational denkt, funktioniert sie als

eine symbolische Ordnung von Differenzen, in der auch noch die leere Abwesenheit eine signifikante Bedeutung erhält. Zum Begriff der „gene-rativen Abwesenheit“ vgl. Slavoj Žižek, Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt a. M. 2005, 55ff.

72 Zum politisch-epistemologischen Hintergrund der Vakuumtheorie in der Frühen Neuzeit siehe: Steven Shapin, Simon Schaffer, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the experimental life, Princeton 1985. Da dieser Zusammenhang in neukantianischer Perspektive unberücksichtigt bleibt, kann Forster irrtümlich „eine theonome, dogmatisch-metaphysische Te-leologie“ vorgeworfen werden. Vgl. Gideon Stiening, „‚[E]s gibt gar kei-ne verschiedenen Arten von Menschen‘. Systematizität und historische Semantik am Beispiel der Kant-Forster-Kontroverse über den Begriff der Menschenrasse“, in: Klopffechterein – Missverständnisse – Widersprüche. Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse, hrsg. v. Rainer Godel u. Gideon Stiening, München 2012, 19–53, hier 51.

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Sinne wieder zu reizen“ und es ins Unendliche zu treiben.73 Man kann hier also sehr wohl von einem „anthropologischen Unitaris-mus“ sprechen, bei dem die sittliche Anthropologie der physischen allerdings durch die leere Negativität einer chaotischen Bruchstelle eingeschrieben ist, so dass der Mensch als ein gespaltener homo duplex erscheint.74 Monismus und Antagonismus müssen sich hierbei keines-falls ausschließen.75 Während der ‚Bildungstrieb‘ aufgrund des Prinzips ‚generativer Ab-wesenheit‘ aber keinen konkreten Gegenstand besitzt, auf den er gerichtet ist und seine produktive Dynamik deshalb solange erhalten bleibt, wie die antagonistische Lücke auf der ontologischen Ebene menschlicher Natur unabschließbar ist, kann er sich auf der ontisch-phänomenalen Ebene dennoch vollenden. Genau dann nämlich, wenn die defizitäre Grundstruktur mit Hilfe einer konkreten Innova-

73 AA VIII, 175 u. 172f. 74 Vgl. Garber, „Die ‚Schere im Kopf‘“, 19. Während Garber aber mit

Sergio Moravia Forsters Unitarismus strikt empirisch-sensualistisch ab-leitet, beziehe ich mich hier auf Žižeks Hegel- und Lacan-Lektüre. Vgl. Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1989; Slavoj Žižek, Die Nacht der Welt. Psycho-analyse und Deutscher Idealismus, Frankfurt a. M. 1998. Das Motiv des homo duplex wurde in die aktuelle Forschungsdebatte eingeführt durch den Ta-gungsband: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Jürgen Schings, Stuttgart/Weimar 1994 (insbesondere in den Beiträgen von Gerald Hartung, Michael Hagner und Wolfgang Riedel).

75 Dies ist das Problem in der Argumentation von Garber. Einerseits rückt er den Antagonismus als zentrales Motiv in Forsters Denken dezidiert in den Mittelpunkt, anderseits besteht er auf der Bruchlosigkeit mit der sich die Entwicklung von Körper und Geist in der Menschheitsgenese voll-ziehen soll. Letztlich löst er damit die radikale Negativität des Antago-nismus in einer positiven Differenz unter anderen auf, wodurch er das dynamische Prinzip der ‚generativen Abwesenheit‘ verfehlt. Vgl. Garber, „Von der naturalistischen Menschheitsgeschichte“, 62. Es ist deshalb sinnvoll, agonistische Differenz- von antagonistischen Äquivalenzbezie-hungen zu unterscheiden. Vgl. hierzu Ernesto Laclau, Emanzipation und Differenz, Wien 2002.

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tion kompensiert werden kann. Forster lässt diese innovative Vollen-dung mit dem Revolutionsbegriff konvergieren, den er sowohl auf die Naturgeschichte als auch auf die Menschheitsgeschichte anwendet, weshalb er auch von einer „Revolution im Menschen“76 sprechen kann. Dem revolutionären Sprung aus dem Tierreich folgen weitere Brüche in der Menschheitsgeschichte, die Forster aber nur metapho-risch beschreiben kann, weil er sich bewusst ist, dass der Begriff di-rekt mit dem Antagonismus konfrontiert wird und dabei immer zu kurz greifen muss.77 Zwar vollende sich die menschliche Natur per Revolution immer nur provisorisch, da die Schließung eines Antago-nismus immer zur Öffnung des nächsten führe, gleichwohl bleibt die revolutionäre Schließung der antagonistischen Lücke der menschli-chen Natur kategorischer Imperativ des materiellen Überlebens und verbindet damit materialistische Notwendigkeit mit sittlicher Pflicht. Der paradoxe und dialektische Charakter, den Forster der Perfektibi-lität zuschreibt, besteht also letztlich darin, dass sie als eine universale Anlage des Menschen funktioniert, die aber gewissermaßen nur in ihrer Abwesenheit anwesend ist. Sprache, Kultur und mithin auch „das Bewusstseyn eines abstrakten Ich“78 resultieren nur aus einer leeren Lücke in der Natur ohne eigenen Inhalt, die künstlich mit Hilfe eines Supplements überbrückt werden muss. Zugleich wird der Mensch aber erst aufgrund dieser formalen Leere tatsächlich zu ei-nem universalen Wesen, denn die Gattung wird damit überhaupt erst in die Lage versetzt, sich den extremsten und unterschiedlichsten

76 AA VIII, 188. 77 Im Kontext der Menschheitsgeschichte spricht Forster deshalb ironisch

von einer „Matronenphysiognomik“, deren metaphorische Analogie-schlüsse er in Kauf nehmen müsse, um revolutionäre Brüche entwick-lungstheoretisch überhaupt beschreiben zu können. Vgl. AA VIII, 186. Siehe dazu auch Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2004, 177–233 sowie Jörn Garber, „‚So sind denn also die Hauptbestimmungen des Menschen […]‘. Anmerkungen zum Verhältnis von Geographie und Menschheitsgeschichte bei Georg Forster“, in: Wahrnehmung – Konstruktion – Text, 193–230.

78 AA V, 195.

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Lebenswelten anzupassen, was dem Tier aufgrund seines ebenso ‚perfekten‘ wie mechanisch-statischen Instinktapparates unmöglich ist. Das kulturelle Begehren des „Bildungstriebs“, das hinter den kon-kreten Objekten der Begierde aktiv ist, gestaltet sich aufgrund dieses antagonistischen Defekts prinzipiell grenzenlos und zielt, wie Forster in seinem Essay Über Leckeryen ausführt, deshalb auf die Illusion des ewigen und perfekten Genusses, der von einem Reizobjekt metony-misch auf das andere verschoben wird und schließlich sowohl im Luxus als auch in der vernünftigen Tugend zum Selbstzweck wird.79 Partikulare und defizitäre Naturanlagen können also dialektisch sehr wohl mit universeller Vollkommenheit verstrickt sein. Trotzdem bleibt die perfektible Kultur dennoch nur ein Supplement der Natur, das den konstitutiven Antagonismus menschlicher Subjektivität nur überbrücken und verschieben kann, weshalb sich die Kultur weder zu einer autonomen Substanz im Sinne Rousseaus konstituieren noch dem Ideal eines vollkommenen Gleichgewichts entsprechen kann. Aus diesen Gründen ist die „Aufklärung“ für Forster im Cook-Essay prinzipiell grenzenlos und „schreitet von Erfahrung zu Erfahrung ins Unbegränzte fort“.80 Dennoch verdienen ihre phantasmatischen Ob-jekte – das „goldne[n] Zeitalter“ mitsamt dem „Stein der Weisen“ –

wenigstens keinen Spott, so lange sie das aufgesteckte Ziel bleibt, wel-ches so viele Kräfte für das Bedürfniß des gegenwärtigen Augenblicks in Bewegung erhält, und einen jeden anfeuert, in seiner Laufbahn nach der Vollkommenheit zu streben, die ihm erreichbar ist.

79 AA VIII, 173. „Lebensgenuß“, so Forster an anderer Stelle, „wohnt eben

so wohl im Wurm, der zehnfach zerschnitten in jedem Stücke sich er-gänzt und in zehn Einheiten abgesondertes Daseyn empfindet, wie im Menschen, der statt jener plastischen Reproductionskraft die zarteren Sinne zu Hütern seines Wesens erhielt.“ Vollendet werde dieser aber erst beim „Genusse seines Bewußtseins und seiner Vorstellungen“, welcher die „Befriedigung blos sinnlicher Begierden und blinder Triebe“ ins Un-endliche steigert. Georg Forster, „Neuholland und die brittische Colonie in Botany-Bay“, in: AA V, 161–180, hier: 161.

80 AA V, 199.

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Ein „reelles Ziel“, zu welchem diese „Bilder der Phantasie“ tatsäch-lich hingeleiten, sei „die subjective Vervollkommnung, welche nur durch eine vollkommnere Erkenntniß der Wahrheit bewirkt werden kann“.81 Obwohl Kultur und Sprache für Forster daher von einer grenzenlo-sen Dynamik getrieben werden, löst sich die Wirklichkeit dennoch niemals vollständig in Sprache und Kultur auf. Diese seien zwar auf die Totalität gerichtet, bleiben aber letztlich doch nur ebenso partiku-lare wie materielle Supplemente der Natur, die selbst von Unvollstän-digkeit und Antagonismus gezeichnet sind. Auch wenn das phantasti-sche Objekt der Begierde, der absolute und vollendete Genuss des „goldnen Zeitalter[s]“, notwendig in Sprache, Texten und Zeichen symbolisiert werden könne, bleibe das universelle Begehrungsvermö-gen hinter der Perfektibilität dennoch stumm und sprachlos; es kann allenfalls metaphorisch, niemals jedoch direkt oder metonymisch artikuliert werden. Deshalb können die „armseligen vier und zwanzig Zeichen“ des Alphabets, wie Forster in einem Brief Friedrich Jacobi bekennt, auch nicht genügen, um die „Welt und ihre Wesen“ zu be-greifen.82 Den eigenen anthropologischen Voraussetzungen gemäß ist es für Forster daher kein Widerspruch, wenn er die zynischen „Gegener der Vervollkommnung“ im Essay über die Staatskunst davon zu über-zeugen sucht,

daß man die schönen Träume von idealischer Vollkommenheit den Schwärmern überlassen könne, ohne deshalb an der Sache der Freiheit, oder, welches gleichlautend ist, der Vernunft und Sittlichkeit zu verzwei-feln.83

81 Ebd., 199f. 82 An Jacobi, 15.11.1789, AA XV: Briefe Juli 1787–1789, berarb. v. Horst

Fiedler, Berlin 1981, 370f., hier: 371. Siehe auch AA VIII, 359, wo er die Möglichkeit einer Metasprache radikal ausschließt. Oder anders ausge-drückt: „Die ‚haltlose‘ Prozeßhaftigkeit wird bis in die Syntax hinein ab-gebildet, der Vorgang selbst kann nicht erklärt werden.“ Garber, „Die ‚Schere im Kopf‘“, 29.

83 AA X/1, 578.

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Während für die idealistische Illusion, wie es in Über Leckereyen heißt, die „Vollkommenheit im Gleichgewicht der Kräfte liegt […]; so ist doch in der würklichen Natur […] ein solches Ideal der Abstraktion wohl schwerlich anzutreffen.“84 Das ideale Gleichgewicht, wie es etwa der politische Liberalismus imaginiert, ist aufgrund der unab-weisbaren Materialität des Antagonismus für Forster folglich nur eine falsche Schimäre und letztlich Ausdruck eines ebenso faulen wie un-möglichen Kompromisses, auf den sich konsequente Aufklärung nicht einlasse könne und dürfe: „Das Mittel zwischen den Extre-men“, so Forster im Cook-Essay, „welches manche Philosophen so eifrig suchten, und oft zu finden wähnten, das vollkommene Gleich-gewicht der Kräfte, ist Ruhe, aber die Ruhe des Todes.85 Gleichwohl, so Forster, muss der Kampf um die sittliche Verbesse-rung menschlicher Lebensumstände aus diesem Grund sowohl als existenzielle Notwendigkeit als auch als normative Pflicht geführt werden. Ernsthafte Aufklärung hat diesen Prinzipien im Kampf mit dem ‚Despotismus‘ unbedingt treu zu bleiben und sich daher der tyrannischen Reduktion des Menschen auf den Mechanismus des tierischen Instinkts zu widersetzen. Denn:

schwerer kann sich niemand am Menschengeschlechte versündigen, als indem er jenen Raupenstand, jene fortwährende thierische Erniedrigung, worin alle seine höheren Anlagen unbenutzt und unentwickelt bleiben, absichtlich zu verlängern sucht, zumal nachdem der Vorwand, auf diese Art das dauerhafte Glück der gesammten Gattung zu sichern, als arger Trug oder nie zu realisirende Täuschung erkannt worden ist.86

Es ist mit Berufung auf Aufklärung, wie Forster im Essay über die Staatskunst darlegt, daher unvereinbar, dass „die Menge“ mit der Begründung

84 AA VIII, 172. 85 AA V, 195. Mit dieser Ablehnung der utopischen Gleichgewichtsmeta-

phorik positioniert sich Forster erneut jenseits von aristotelischem Eudä-monismus und juridischem Liberalismus, die sich in diesem politischen Motiv überschneiden.

86 X/1, 590f.

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von dieser Bestimmung ausgeschlossen und von ihrer Erreichung ge-waltthätig abgehalten werde, weil es freilich unmöglich ist, daß alle sich in gleichem Grade zu vernünftigen und sittlichen Wesen entwickeln.87

Forsters aufgeklärter Realismus, der um die dialektische Einheit wie Diskrepanz von Theorie und Praxis weiß, hat daher nichts zu tun mit jenem realistischen Zynismus, der den universalen Anspruch der Aufklärung zu Gunsten empirisch-partikularer Sophismen aufgibt:

Wenn jemand eine Anzahl Kugeln nach einem bestimmten Ziele zu werfen hätte, wie thöricht würde er uns vorkommen, falls er sich bereden ließe, daß er sie eben sowohl in entgegengesetzter Richtung dürfe laufen las-sen, weil sie doch nicht alle das Ziel erreichen könnten!88

Aus dem gleichen Grund kritisiert er in Über Leckereyen auch jene per-verse Lust falscher, puristischer Askese, deren Anhänger

bey der ärgsten Lust auszuschweifen, oft aus Furcht enthaltsam sind, und sich zu einem feigherzigen Leiden verdammen, um nur noch länger leiden zu können, indeß ein hoher Grad von Mannskraft dazu gehört, Befriedigung mit Schmerz zu erkaufen.89

Diese korrupte und solipsistische Lust an der unendlichen Aus-schweifung, die Forster nicht zuletzt auch im philosophischen Topos der ‚schlechten Unendlichkeit‘ entdeckt, macht Philosophie und Auf-klärung gleichsam zu einer l’art pour l’art, die nur durch die Endlich-keit provisorischer Befriedung ersetzt werden kann, auch wenn damit das Risiko schmerzvollen Scheiterns in Kauf genommen werden muss.

87 Ebd., 578f. 88 Ebd., 579. 89 AA VIII, 171. Dieser Gedanke wird sowohl in Marx als auch in Fried-

rich Nietzsche radikale Anhänger finden.

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IV ‚Epistemozentrismus‘ und praktische Dialektik der Erfahrung Die ideologische Instrumentalisierung von Sprache und selbst von Aufklärung durch den politischen ‚Despotismus‘ betrachtet Forster, wie zu sehen war, als Hauptprobleme konsequenter Aufklärung. Da-bei rückt er den Herrschaftsmechanismus in der Politik in eine direk-te Analogie zum mechanischen Dogmatismus in den Wissenschaften:

Mit Recht warnt daher die Philosophie, die auf Erhaltung der Freiheit und der Eigenthümlichkeit im Menschen bedacht ist und kein despoti-sches Interesse hat, ihre individuellen Überzeugungen allgemein geltend zu machen, vor jenem in allen Wissenschaften noch so wirksamen zünf-tigen Despotismus, der genau wie der politische und hierarchische, da-rauf ausgeht, die Menschen in den Zauberkreis eines Systems zu bannen, ausser welchem die Wahrheit nicht anzutreffen seyn soll, und innerhalb dessen Bezirk gleichwohl die Beschränktheit des Raums und die Armuth der Ideen die Hälfte unserer Anlagen zur Untäthigkeit verdammen, in-deß die andere ein mechanisches opus operatum treibt.90

Wenn Forster in der Einleitung zu Constatin François de Volneys einflussreicher geschichtsphilosophischer Abhandlung über die Revo-lutionen91 jenen „gelehrten Zunftzwang“ kritisiert, der – vermittelt über die institutionelle und die mentale Struktur von Wissenschaft – dazu verführt, die unreflektierte Struktur der intellektuellen Arbeits-teilung an Universitäten und Akademien mehr oder weniger unbe-wusst mit der realen Struktur der Welt zu verwechseln, so plädiert er mit der damals gerade neu entstehenden französischen science sociale für eine ‚Revolution in der Denkungsart‘, welche selbst die Kantische Kritik am dogmatischen Intellektualismus noch übersteigt.92 Dabei

90 AA VIII, 231. 91 Vgl. Constatin François de Volney, Les ruines ou méditation sur les révolutions

des empires, Paris 1791. Forster hat das Buch gemeinsam mit Dorothea Margareta Forkel ins Deutsche übersetzt: Ruinen oder Betrachtung über die Revolutionen der Reiche, Berlin 1792.

92 Zur französischen science sociale siehe: Ulrich Dierse, „Die Anfänge der ‚sciene sociale‘ bei den französischen Ideologen und in ihrem Umkreis“,

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reicht es für Forster keineswegs aus, die Erkenntnisgegenstände pas-siv als „mechanisches opus operatum“ zu behandeln; vielmehr kommt alles darauf an, den dynamischen modus operandi vollständig in den Erkenntnisprozess einzubeziehen, ohne ihn als ‚Ding an sich‘ auszu-grenzen. Mit Kant hatte sich Forster diesbezüglich methodisch zuvor bereits anlässlich der Kontroverse über die Menschenrassen kritisch ausei-nandergesetzt.93 Und obwohl Forster dessen Ethik und Vernunftkri-tik durchaus schätzte, lehnte er doch den darin immer noch enthalte-nen ‚Epistemozentrismus‘94 ab, der für Forster den tatsächlichen Durchbruch zu einer realistischen Theorie wissenschaftlicher Praxis verhinderte. Marx‘ spätere Hegel-Kritik antizipierend, wonach die idealistische „Sache der Logik“ die materialistische „Logik der Sache“ verdecke, führte er gegen den Apriorismus eine wissenssoziologisch reflektierte Theorie ins Feld, die den epistemologisch wie kulturell gebundenen Standort in die Erkenntnistheorie einbezieht.95 „Mit einem Worte“, so fasst Forster seine Kritik zusammen, „die Ordnung der Natur folgt unseren Eintheilungen nicht, und sobald man ihr dieselben aufdringen will, verfällt man in Ungereimtheiten.“96 Um die

in: Frankreich 1800. Gesellschaft, Kultur, Mentalitäten, hrsg. v. Gudrun Gersmann u. Hubertus Kohle, Stuttgart 1990, 104–121; Sonenscher, Be-fore the Deluge, 67–94, 302–348 sowie Robert Wokler, „Ideology and the origins of social-science“, in: The Cambridge History of Eighteenth-Century Po-litical Thought, hrsg. v. Mark Goldie and R. Wokler, Cambridge/New York 2006, 688–709.

93 Vgl. dazu zuletzt: Godel/Stiening, Klopffechterein. Daneben insbesondere Wolfgang Riedel, „Historizismus und Kritizismus. Kants Streit mit G. Forster und J. G. Herder“, in: Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung, hrsg. v. dems., Frankfurt a. M. 1989, 148–170.

94 Den Begriff des „Epistemozentrismus“ übernehme ich von Bourdieu, dessen sozialwissenschaftliche Praxeologie sich in wichtigen Motiven mit Forsters Kant-Kritik überschneidet. Vgl. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, 68–77.

95 Vgl. Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: MEGA(2), I/2, Berlin 1982, 3–137, hier: 18.

96 Georg Forster, „Noch etwas über die Menschenraßen“, in: AA VIII, 130–156, hier: 146.

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ontologischen ‚Logik der Sache‘ in der ontisch-phänomenalen ‚Sache der Logik‘ darstellbar zu machen, könne das spezialisierte Universi-tätswissen Europas für sich genommen deshalb keinesfalls ausrei-chen. Tatsächlich nahm Forster mit dem Hinweis, dass die Ordnung der Universität nicht direkt mit der Ordnung von natürlicher wie sozialer Welt korrespondiere, einen wichtigen Topos moderner Sozialwissen-schaft voraus, den in jüngerer Vergangenheit insbesondere Bourdieu problematisiert hat. Philosophie und Wissenschaft bedürfen demnach einer zusätzlichen ideologiekritischen Reflexion dieser Vermittlung.97 Genau diese Forderung lässt sich auch schon in Forsters Kant-Kritik entdecken:

Wenn also der Satz: daß man in der Erfahrung nur alsdenn finde was man be-darf, wenn man vorher weiß, wornach man suchen soll, […] auch seine unange-fochtene Richtigkeit hätte: so wäre gleichwohl bey der Anwendung des-selben eine gewisse Vorsicht nöthig, um die gewöhnlichste aller Illusio-nen zu vermeiden, diese nämlich, daß man bey dem bestimmten Suchen nach dem was man bedarf, dasselbe oft auch da zu finden glaubt, wo es wirklich nicht ist. Wie vieles Unheil ist nicht von jeher in der Welt ent-standen, weil man von Definitionen ausgieng, worein man kein Mißtrau-en setzte, folglich manches unwillkührlich in einem vorhinein bestimm-ten Lichte sah, und sich und andere täuschte!98

97 Wie Forster nutzt auch Bourdieu eine reflexive Ethnologie als ideologie-

kritisches Korrektiv: „Die Gebildeten sind die Eingeborenen der oberen Bildungssphäre und neigen daher zu einer Art von Ethnozentrismus, den man Klassenethnozentrismus nennen könnte.“ Pierre Bourdieu, „Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung“, in: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 61994, 159–201, hier 163. Der Epistemozentrismus ist eng verzahnt mit dem, was weiter oben mit Forster zur Dialektik der Aufklärung gesagt wurde: „Die Verzerrungen der scholastischen Sicht haben um so größere und wissenschaftlich ruinösere Auswirkungen, je weiter die Objekte der Wissenschaft in ihren Lebensbedingungen von den scholastischen Feldern entfernt sind – mag es sich dabei um die Mitglieder der traditionell von der Ethnologie […] untersuchten Gesellschaften handeln oder um die Inhaber niedriger Positionen des sozialen Raums.“ Bourdieu, Meditationen, 65f.

98 AA VIII, 132f.

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Forster räumt Kant zwar ein, dass es in der Tat einer erkenntnistheo-retischen Reflexion des modus operandi bedürfe, um nicht naiv und positivistisch in der Natur ‚herumzutappen‘.99 Gleichwohl reiche die transzendentale Bestimmung aber nicht aus, da sie für sich genom-men die ontologisch-natürliche Dimension des antagonistischen mo-dus operandi verfehlt, und damit riskiert in einen apriorischen Modell-platonismus zu verfallen.100 Gleich einem Betrunkenen, der seinen verlorenen Schlüssel nur unter dem Lichtkegel der Laterne sucht, so lässt sich Forsters Kritik am logozentrischen Kurzschluss illustrieren, verfehlt Kant die ontologische Dimension der Wirklichkeit trotz transzendentaler Vernunftkritik. Forster sucht dagegen nach einer „unphilosophische[n] Art zu philo-sophiren“101, die reale Wirkungen der ontologischen Natur innerhalb der Vernunft zu repräsentieren vermag, auch wenn deren Ursache außerhalb von Sprache und Verstand liegt. Da sich die sprachlich-kognitive Repräsentation solcher Phänomene der kontinuierlich-unendlichen Rationalität metonymischer Annäherung entzieht, muss Forster zur Darstellung des Undarstellbaren notwendig auf eine me-taphorische Repräsentationslogik zurückgreifen. Obgleich hierbei ontologische und empirische Argumente mitunter durcheinanderlau-fen und mit Recht Kants Kritik provozieren, so öffnet Forster damit

99 „In der kritischen Abwehr eines forschungsmethodischen Empirismus

sind sich Forster und Kant durchaus einig; beide argumentieren in die-sem Zusammenhang mit einem Ganzen der Natur bzw. einem solchen wissenschaftlicher Theoriebildung.“ Stiening, „‚[E]s gibt gar keine ver-schiedenen Arten“, 46. Dem Epistemozentrismus ist daher keinesfalls mit einem untheoretischen Empirismus beizukommen; ganz im Gegen-teil gebietet es die „Umkehrung des Blicks, die erforderlich ist, um die Praxis in ihrer eigenen Logik zu erfassen, […] gegenüber dem theoreti-schen Standpunkt einen theoretischen Standpunkt zu beziehen“. Bour-dieu, Meditationen, 70.

100 „[O]b es gleich Fälle giebt, wo Spekulation und abstrakte Bestimmtheit voraus ahnden können, was die Anschauung hernach für wahr erkennt: so sind doch jene nicht selten, wo sie auf Abwege gerathen und die Er-fahrung rechts liegenlassen.“ AA VIII, 132.

101 An Jacobi, 02.01.1789, AA XV, 233.

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doch den Raum für eine über Kant hinausführende dialektische „Wirklichkeitswissenschaft“ (Garber) mit praktischem Anspruch.102 Tatsächlich ist der Gegensatz zwischen Kant und Forster diesbezüg-lich gar nicht so unüberwindlich, wie es beiden Parteien und auch noch ihren späteren Interpreten erschien. Denn beide Positionen nähern sich demselben Problem lediglich von zwei unterschiedlichen Seiten an. Während Kant den Menschen bei der Reflexion seiner Geschichtsfähigkeit allein unter dem Postulat der Freiheit der sittli-chen Anthropologie analysiert, bestimmt Forster die Menschheitsge-schichte primär naturgeschichtlich über die physische Anthropologie, markiert aber von hier aus die offene Lücke innerhalb derselben phy-sischen Anthropologie, die wiederum nur durch die internen „Orga-nisationskräfte“ bzw. die sittliche Dimension des Menschen („Bil-dungstrieb“) ausgefüllt werden kann. Unter Berücksichtigung dieser oppositionellen Gemeinsamkeit lässt sich Forsters ‚anthropologischer Unitarismus‘ mit Kants unbedingtem Beharren auf der immateriellen Formalität von Sittlichkeit durchaus in eine symmetrische Beziehung setzen, in der sie sich nicht notwendig ausschließen müssen. Die im-materielle Sittlichkeit Kants füllt dann die materielle Unvollständig-keit des Menschen gleichsam supranaturalistisch aus, so dass Materia-lismus und Freiheit sowie Notwendigkeit und radikale Kontingenz in ein dialektisches Verhältnis treten. Der eigentliche Dissens entsteht erst aus dem Widerspruch zwischen partikularer Beschränkung des Wissens in Kants Vernunftkritik und dem universalen Totalitätsanspruch in Forsters ontologischer Per-spektive auf das ‚Ganze der Natur‘, der über die idealistische Begriffs-logik hinausgeht und die reale Kluft in der Natur, die letztlich das dynamische Wesen des Menschen ausmacht, metaphorisch schließt.103 Während Kant hierin lediglich eine neue Version des dogmatischen Erkenntnisnaturalismus sieht, dessen Totalitätsan-spruch durch die Substitution exakter philosophischer Erkenntnis zugunsten metaphorischer Bezeichnung erkauft ist;104 war sich Fors-ter des provisorischen Charakters dieser Konstruktion sehr wohl

102 Vgl. Garber, „Von der naturalistischen Menschheitsgeschichte“, 56. 103 Vgl. Garber, „Die ‚Schere im Kopf‘“, 21. 104 Vgl. Riedel, „Historizismus“, 153ff.

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bewusst, nahm diese aber in Kauf, um vor den praktischen Proble-men des antagonistischen Ursprungs und der Totalität nicht kapitulie-ren zu müssen.105 Dieses vermeintliche epistemologische Handicap kehrt sich aber sofort um, wenn berücksichtigt wird, dass Kants Transzendentalphi-losophie ihrerseits immer noch dogmatisch von einem fixen und unerreichbaren ‚Ansich‘ ausgeht, dem sich die menschliche Erkennt-nis mit Hilfe ihrer Kategorien zwar annähern kann, ohne dieses aber je erreichen zu können. Faktisch reproduziert Kant damit – wie oben anhand von Hegels Kritik der „schlechten Unendlichkeit schon fest-gestellt wurde – nur die alte religiöse Vorstellung von einem un-beflecktem Absoluten. Aus dieser Perspektive ist es Kant, der dogma-tisch am Transzendenten festhält, während Forsters Lebensphiloso-phie radikal mit diesem religiösen Motiv bricht und das ‚Ansich‘ nunmehr konsequent innerhalb des praktischen Horizonts von Be-wusstsein und Erfahrung zu verorten sucht.106 Das erkenntnistheore-tische Problem der Unerreichbarkeit des ‚Dings an sich‘ lässt sich hierauf aufbauend, wie Hegel bei der Analyse der „sinnlichen Gewiß-heit“ demonstriert, direkt in seine Lösung überführen.107 Laut Hegel überwindet das reflexive Bewusstsein seine intuitive und unmittelbare Entgegensetzung zu objektiven Gegenständen durch die Erkenntnis, dass deren ‚Ansichsein‘ immer schon in einem Verhältnis mit dem Bewusstsein steht und nur für dieses existiert. Wenn das Bewusstsein das von ihm selbst gesetzte ‚Ansich‘ als Produkt der eigenen Reflexi-

105 Siehe AA VIII, 186, wo er – wie oben bereits erwähnt – selbstironisch

von seiner „Matronenphysiognomik“ räsoniert. Vgl. auch Garber, „Von der naturalistischen Menschheitsgeschichte“, 59 u. 64.

106 In Verkennung dieses Sachverhalts glaubt Stiening, Forster den säkularen Status seiner Theorien entziehen zu können, den er bei Kant entdeckt zu haben glaubt. Vgl. Stiening, „‚[E]s gibt gar keine verschiedenen Arten“, 50.

107 Vgl. Hegel, „Phänomenologie“, 82–92. Siehe hierzu: Gerhard Gamm, Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997, 91ff. Ich verdanke diesen Hinweis Reinhard Heil, Zur Aktualität von Slavoj Žižek. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2010, 28.

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on erkennt, wird deutlich, weshalb das transzendente ‚Außen‘ des Subjekt-Objekt-Dualismus auf dieser erweiterten Reflexionsstufe nicht mehr notwendig ist. Die ‚Substanz‘ kann dann mit Hegel als ‚Subjekt‘ gefasst werden; was allerdings nicht bedeutet, dass das Er-kenntnisobjekt einfach subjektiviert wird, sondern dass „der Akt der subjektiven Erkenntnis […] vielmehr im voraus in ihrem substantiel-len ‚Objekt‘ enthalten [ist]: der Weg der Wahrheit ist Teil der Wahr-heit selbst.“108 Wenn also schon Forster dazu tendiert, das substantielle ‚Objekt‘ (das Ding an sich) als Subjekt zu interpretieren, dann muss er sich keines-wegs auf ein absolutes Übersubjekt oder eine teleologische Metaphy-sik beziehen, sondern er kann auf die gespaltene Subjektivität des homo duplex rekurrieren, dessen innere „Spaltung“ mit Žižek formu-liert:

dem Leben des Absoluten selbst innewohnt. Es gibt kein ‚absolutes Sub-jekt‘ – das Subjekt ‚als solches‘ ist relativ, durch eine Selbstteilung ge-zeichnet, und genau als solches ist das Subjekt der Substanz inhärent.109

Auf diese Weise wird das ‚Ansich‘ zwar niemals restlos aufgehoben, sehr wohl aber innerhalb menschlicher Erfahrung wahrgenommen und dynamisiert, weshalb ein dialektischer Erfahrungsbegriff über-haupt erst möglich ist.110 Es wäre daher etwas zu billig, Forster hier „abstrakten Subjektivismus“ und dogmatischen Empirismus vorzu-werfen.111 Wir haben es hier vielmehr mit einem kohärenten Modell

108 Slavoj Žižek, Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Fak-

tor, Wien 1994, 34. 109 Žižek, Die Tücke, 123f. 110 Auf den Punkt gebracht, hat dies wiederum Hegel: „Diese dialektische

Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wis-sen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegen-stand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.“ Hegel, „Phänomenologie“, 78.

111 So aber Stiening, dessen Vorwurf, Forster habe eine „systematisch unge-löste Kombination von dogmatischer Metaphysik und mehr habituellem als theoretisch begründetem, epistemologischem und methodischem Empirismus“ vertreten, daher als haltlos zurückgewiesen werden muss.

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zu tun, in dem die Endlichkeit eines Erkenntnis- und Handlungsaktes mit der Unendlichkeit revolutionärer Progression vermittelt werden kann. Zwar verliert das Absolute innerhalb des soziokulturellen Hori-zonts menschlicher Praxis seine unerreichbare Makellosigkeit, dafür wird es aber jenseits aller Schwärmerei zu einer dialektisch-praktischen Kategorie, die – über die Revolutionstheorie – Natur- und Menschheitsgeschichte verbinden kann. V Die Sprache der Revolution

Die Revolution ist – vorausgesetzt, daß Sie nach unserer generalisirten Definition lüstern sind – ist die Revolution. Ihnen dünkt das wohl zu ein-fach? oder es scheint wohl gar ins Platte zu fallen? Eine Augenblick Ge-duld! Lange genug haben wir uns gesträubt, das Kind bei seinem rechten Nahmen zu nennen; aber wer kann für Gewalt? Daß sich alles Kopf über Kopf unter wälzt, ist ein vollgültiger Beweis, daß der Nahme der Sa-che entspricht; und wer mag wissen, ob mit dieser Bewegung nicht die Exegetik eines Deutschen Schriftstellers noch künftig gerettet werden kann, der von dem großen Worte behauptet hat, daß es eigentlicher auf die Wiederbringung, als auf die Zerstörung aller Dinge gemünzt seyn soll?112

Diese Schlüsselstelle in Forsters berühmter Revolutionsinterpretation in den Parisischen Umrissen disqualifiziert zunächst nochmals den intel-lektualistischen Logozentrismus insbesondere der deutschen Intellek-tuellen mitsamt dessen ‚schöner Seele‘. Die soziale Volksrevolution wird hier als ein ebenso antagonistisches wie dynamisches Naturer-eignis dargestellt, das sich allen etablierten Deutungs- und Regulie-

Vgl. Stiening, „[E]s gibt gar keine verschiedenen Arten“, 47 u. 52. Aus diesem Grunde sollte man keineswegs vor der neukantianischen Polemik gegen Forsters Methode zurückweichen, sondern offensiv darauf beste-hen, dass nur diese dialektisch zur Ethik des kategorischen Imperativs passt. Während Kant vor den epistemologischen wie praktischen Kon-sequenzen seiner eigenen Ethik zurückschreckt, hat Forster versucht, diese konsequent auszubuchstabieren und damit den Grundstein für ei-nen ‚dialektischen Materialismus‘ gelegt.

112 AA X, 1, 595.

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rungsschemata entzieht.113 Forster konkretisiert dies durch verschie-dene Naturmetaphern: „Wie die Zerwühlung Calabriens durch das Erdbeben, so ist uns jetzt die Explosion in Frankreich […] ein merk-würdiges Phänomen“.114 Die Revolution bildet demnach eine „Na-turerscheinung, die zu selten ist, als daß wir ihre eigenthümlichen Gesetze kennen“ könnten, und sie lässt sich auch „nicht nach Ver-nunftregeln einschränken und bestimmen, sondern muß ihren freien Lauf behalten.“115 Als „ungeheure Triebfeder“ und „ächte vim iner-tiae“ hat sie, wie eine „Schneelawine“ oder Flutwelle, „alle Dämme durchbrochen, alle Schranken übertreten, die ihr viele der besten Köpfe hier und drüben […], in ihren Systemen vorgeschrieben hat-ten.“116 Gleichzeitig erscheint diese quasi-natürliche Unwiderstehlich-keit aber auch als Merkmal erhabener Souveränität: „Die Lava der Revolution fließt majestätisch und schont nichts mehr. Wer vermag sie abzugraben?“117 Forster beschreibt das Ereignis der Revolution hier als jenen unmög-lichen Moment, wo der Antagonismus als verborgener modus operandi menschlicher Kultur plötzlich mit unwiderstehlicher Zerstörungskraft durch deren Oberfläche bricht und direkt sichtbar wird. Dieser trau-matische Blick in den Abgrund der Zivilisation, den Forster an ande-rer Stelle als „Nacht des Ungrunds“ bezeichnet hatte,118 erscheint

113 Zur Revolutionsmetaphorik in der deutschen Aufklärung im Allgemei-

nen und bei Forster im Besonderen siehe: Frauke Schäfer, „Die Franzö-sische Revolution im Spiegel deutscher Aufklärungssprache“, in: 1798 – Weltwirkung einer grossen Revolution, hrsg. v. Manfred Kossok u. Editha Kross, Bd. 1, Berlin 1989, 163–184; Jörn Garber, „Die Zivilisationsmet-ropole im Naturzustand. Das revolutionäre Volk von Paris als Regenera-tions- und Korruptionsfaktor der ‚Geschichte der Menschheit‘“, in: Spät-absolutismus und bürgerliche Gesellschaft. Studien zur deutschen Staats- und Gesell-schaftstheorie im Übergang zur Moderne, Frankfurt a. M. 1992, 364–408.

114 Georg Forster, „Erinnerungen aus dem Jahr 1790“, in: AA VIII, 263–352, hier: 280.

115 AA X/1, 595. 116 Ebd., 596 u. 594. 117 An Therese Forster, 24.10.1793, AA XVII: Briefe 1792 bis 1794 und

Nachträge, bearb. v. Klaus-Georg Popp, 461. 118 AA VIII, 186.

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aber zugleich auch als der dynamische Moment ihrer Erneuerung. Der Widerspruch der sprachlich-intellektuellen Darstellung eines solchen ‚Naturereignisses‘, das sich doch eigentlich aller Darstellung entzieht, wird von Forster wiederum metaphorisch aufgelöst. Freilich verbleibt auch die metaphorische Beschreibung eines Naturereignis-ses, dessen war er sich sehr wohl bewusst, immer noch innerhalb eines sprachlich-kulturellen Rahmens. Die innersprachliche Distinkti-on von gewalttätiger Natur und intellektueller Kultur kann deshalb noch nicht ausreichen, um die ontologische Dimension der Revoluti-on zu repräsentieren. Genau aus diesem Grund greift Forster auf die tautologischen Formel zurück: „Die Revolution ist […] die Revoluti-on.“ Mit dieser Tautologie knüpft er wiederum – wie schon mit dem Mo-tiv der servitude volontaire – an die realistische Traditionsline des neu-zeitlichen Republikanismus an, in der die tautologische Rhetorik ge-gen religiöse Formen der Herrschaftslegitimation und deren säkulari-sierte Derivate in der naturrechtlichen Vertragstheorie verwendet wurde. Von Montaigne über Pascal bis hin zu Hume wird der „mysti-sche Grund der Autorität“ mit Hilfe der tautologischen Formel ‚Das Gesetz ist das Gesetz‘ demonstriert.119 Gegen die religiösen und juris-tischen Begründungsideologien von Souveränität besteht dieser Rea-lismus auf deren antagonistischer Begründungslosigkeit, die sich aus-drückt in der Formel: necessitas non habet legem.120 Wie alle politischen Ordnungen basiert auch noch der Rechtsstaat auf einem illegalen bzw. illegitimen antagonistischen Gewaltakt und folgt mithin dem politischen „Prinzip des zureichenden Nichtgrundes“121 bzw. – in Forster Worten – dem „Ungrund der Nacht“. Die letzte Wahrheit der

119 Vgl. Bourdieu, Meditationen, 119f.; Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mys-

tische Grund der Autorität“, Frankfurt a. M. 1991, 24ff.; Žižek, Denn sie wis-sen nicht, 217.

120 Vgl. Istvan Hont, Jealousy of Trade. International Competition and the Nation-State in Historical Perspective, Cambridge (Mass.)/London 2005, 11ff.

121 Bourdieu, Meditationen, 119. Ganz ähnlich spricht auch Hans Blumenberg vom „Prinzip des unzureichenden Grundes“. Ders., „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 104–136, hier: 124.

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Politik liegt demnach allein in einer willkürlichen Usurpation. Dagegen versuchen die Ideologien des Gottesgnadentums und der juristischen Vertragstheorie diese skandalöse Wahrheit zu verschlei-ern, indem sie den ‚negativen‘ Abgrund des Antagonismus retroaktiv durch die Fiktion einer ‚positiven‘ Begründung ersetzen und damit faktisch ihre eigenen Voraussetzungen setzen.122 Und tatsächlich beruht die normal-alltägliche Wirksamkeit des Gesetzes auf dieser ideologischen Verschleierung, welche Max Weber in seiner Herr-schaftssoziologie treffend als „Legitimationsglaube“ bezeichnet hat.123 Das Gesetz ist dann anerkannter Ausdruck göttlicher oder juristischer Gerechtigkeit und bezieht von dort seine legitime Autorität. Regie-rung kann dann, wie Hume oben bemerkte, erfolgreich auf bloße Meinung gegründet werden, wobei Priester, Advokaten und sogar Aufklärer zu „Mamelucken“ der Herrschaft regredieren. Anders als der Vertragstheoretiker Kant, der das öffentliche Räson-nement über den Ursprung von Souveränität ebenso apodiktisch ausschloss wie dasjenige über das ‚Ding an sich‘,124 stellt der politi-

122 Marx hat diese ideologische Form der Begründung in seiner Kritik an

der sogenannten „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ analysiert. Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: MEGA(2) II/5, Berlin 1983, 574–610. Siehe hierzu auch Žižek, Denn sie wissen nicht, 219 u. 223.

123 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie, besorgt v. Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 51980, 122.

124 „Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich: d. i. der Untertan soll nicht über diesen Ursprung als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelndes Recht (ius controversum), werktätig vernünfteln […] das sind für das Volk, das nun schon unter dem bürgerlichen Gesetze steht, ganz zweckleere, und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfte-leien. […] Der Geschichtsurkunde dieses Mechanismus nachzuspüren ist vergeblich, d. i. man kann zum Zeitpunkt des Anfangs der bürgerlichen Gesellschaft nicht herauslangen […]. Diese Nachforschung aber in der Absicht anzustellen, um allenfalls die jetzt bestehende Verfassung abzu-ändern, ist sträflich.“ Immanuel Kant, „Metaphysik der Sitten“, in: Werke

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sche Realismus diesem ebenso normalen wie mythologischen Geset-zesbegriff tautologisch einen zweiten antagonistischen Gesetzesbe-griff gegenüber. Dieser folgt keinerlei Rechtslogik und ist deshalb sowohl Ausdruck radikaler Willkür als auch der Autonomie des Poli-tischen. Genau in diesem Sinne gilt: ‚Das Gesetz ist das Gesetz‘. Wenn Forster diese realistische Tautologie also auf die Revolution anwendet, dann zeigt sich nicht nur, dass sein Aufklärungsverständnis wesentlich weiter geht als das von Kant, er stellt auch einen direkten Zusammenhang von Souveränität und Revolution her, und unterzieht darüber hinaus den revolutionären Idealismus der liberalen Romanti-ker – deren rasch enttäuschten falschen Erwartungen sie bald zu den schärfsten Revolutionsgegnern werden ließ – einer radikalen Kritik. Die Revolution ist für Forster eben nicht nur die von den Intellektu-ellen anfangs enthusiastisch gefeierte naturrechtliche Wiederherstel-lung von idealer Legitimität; sie muss daneben genauso als ein ver-rückter Antagonismus begriffen werden, der die gewaltsame Setzung einer neuen Ordnung real erzwingt. Exakt in diesem doppelten Sinne ist die Revolution nicht mit sich selbst identisch und zerfällt daher sowohl in „Wiederbringung“ als auch in „Zerstörung“. Zunächst scheint die Tautologie, wie Forster eingangs erwähnt, nur eine reine Plattitüde zu sein, die sich – mit Hegel gesprochen – auf der einfa-chen intellektuellen Ebene der ‚sinnlichen Gewissheit‘ bewegt.125 Auf den zweiten Blick aber entpuppt sie sich als eine komplexe sprachphi-losophische Reflexion mit einem verborgenen politischen Inhalt, der sofort deutlich wird, wenn man Hegels Analyse der ‚sinnlichen Ge-wissheit‘ weiter verfolgt und auf Forsters Revolutionsbegriff anwen-det. Jetzt wird durch die Tautologie keineswegs – wie es zuerst schien – eine einfache Identität hergestellt, vielmehr formuliert sie mit der Gegenüberstellung von revolutionärer „Wiederbringung“ und „Zer-störung“ einen krassen Widerspruch. Während es zuerst so aussieht, als könne der Begriff der Revolution vollständig bestimmt und alles

VII: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. 2. Teil, 309–634, hier: 437f. u. 462f.

125 Vgl. Hegel, „Phänomenologie“, 82–92. Siehe hierzu auch Gamm, Der Deutsche Idealismus, 129f.

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gesagt werden, stellt sich anschließend heraus, dass eigentlich nichts gesagt worden ist. Erscheint die Tautologie also zunächst als Satz der Identität, so offenbart sie sich anschließend als Satz der Nichtidentität jeder Identität. Mit anderen Worten, die Bedeutung der Aussage wird notwendig durch das Ausgesagte unterlaufen. So scheint mit der Aussage: „Die Revolution ist“, das unreflektierte Bewusstsein das ‚Ansichsein‘ der Revolution – den negativen und sich jeder Repräsentation entziehenden Antagonismus – direkt und unvermittelt erfassen zu können. Wenn das Bewusstsein dieses ‚An-sichsein‘ aber näher bestimmen will, bemerkt es, dass es dies nur innerhalb des Mediums der Sprache tun kann und sich dabei notwen-dig immer weiter in Widersprüche verwickelt. Was kann also über das ‚Ansichsein‘ der Revolution anderes gesagt werden, als das es ist? Nichts! Exakt dieses ‚Nichts‘ jedoch bezeichnet die ontologische Leere des revolutionären Antagonismus – den horror vacui des „leeren Magens“ – wie sie Forster systematisch in seinen Schriften entwickelt hatte. Mit Žižek gesprochen fügt die tautologische

Wiederholung des Gleichen […] den Prädikaten [der Revolution] ein gewisses ‚Nichts‘ hinzu, einen leeren Ort, einen Mangel an Bestimmung, der supplementär ist.126

Und dieses „unmögliche ‚Prädikat‘ der Identität-mit-sich“ ist es,127 welches die Leere bzw. den Mangel in der metonymischen Reihe der Prädika-te der allgemeinen Substanz metaphorisch subjektiviert. Forsters Tautologie trifft sich hier letztlich direkt mit der von Sieyès geliefer-ten politischen Formel der Revolution, wonach der ‚Dritte Stand‘ nichts ist, um aber alles zu werden.128 Dieses ‚Nichts‘, das in der me-

126 Žižek, Denn sie wissen nicht, 61. Žižeks Analyse von Hegels Formel „Gott

ist Gott“ lässt sich hier direkt auf Forsters tautologischen Revolutions-begriff übertragen.

127 Ebd. 128 Vgl. Emmanuel Joseph Sieyès, „Was ist der Dritte Stand?“, in: Politische

Schriften. 1788–1790, hrsg. v. Eberhard Schmitt u. Rolf Reichardt, München/Wien 21981, 117–195, hier: 119.

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tonymischen Reihe der politischen Ordnung nicht auftaucht, kann metaphorisch nur repräsentiert werden, indem es mit deren Ausnah-me – dem exkludierten unordentlichen Teil der Reihe (eben dem ‚Dritten Stand‘ bzw. den Sansculotten) – in Beziehung gesetzt wird. Dieser Sachverhalt trifft sich logisch mit Forsters bereits erwähnter Beobachtung, wonach in der Gesellschaft ebenso wie in der Natur gerade aus dem „Auswurf […] neue Organisationen“ entstehen kön-nen. Aus den „überflüßigen oder schädlichen Gliedern eines Staats, die er von sich wirft“ – so sei hier nochmals der Cook-Aufsatz zitiert – entstünden „bald neue Gesellschaften“. So hätten die „Freystaaten in Amerika […] keinen andern Ursprung, und ihre Gesetzgeber gien-gen aus ihrer eignen Mitte hervor.129

Aus der Perspektive Žižeks betrachtet, lässt sich für Forsters meta-phorische Repräsentation der Revolution daher Folgendes konstatie-ren: Die „ursprüngliche Metapher“ stellt nicht eine „Substitution von ‚etwas für etwas Anderes‘ [dar], sondern eine Substitution von etwas für nichts: der Akt, durch den ‚es etwas anstelle von nichts gibt‘“.130 Aus diesem Grunde kann der leere Abgrund des Antagonismus als Subjekt der Revolution agieren und der „Auswurf“ der unordentli-chen Ausnahme die allgemeine Substanz der Gesellschaft metapho-risch für alle anderen sozialen Elemente repräsentieren. Forsters tau-tologischer Revolutionsbegriff funktioniert aus diesem Blickwinkel als ein „leerer Signifikant“, der auf paradoxe Weise die Unmöglichkeit der Repräsentation repräsentiert.131 Während alle übrigen Signifikan-ten das Subjekt auf positive Weise für den leeren Revolutionssignifi-kanten repräsentieren, repräsentiert dieser auf negative Weise gerade deren Versagen bei der Repräsentation. Weil das souveräne Subjekt der politischen Ordnung exakt aber derjenige Akteur ist, der über keinen positiven bzw. ‚eigentlichen‘ Signifikanten verfügt, der dieses

129 AA V, 289. 130 Žižek, Denn sie wissen nicht, 63f. 131 Vgl. zum Konzept des „leeren Signifikanten“ ebd., 30; sowie Ernesto

Laclau, „Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?“, in: ders., Emanzipation, 65–78.

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vollständig repräsentieren könnte, bezeichnet der ‚leere‘ Revolutions-signifikant das politische Subjekt bzw. den Souverän.132 In der Terminologie der Volkssouveränität ausgedrückt, heißt das: Alle Bürger repräsentieren für das eine politische Amt das gleiche Subjekt, wohingegen dieses eine Amt als ‚substanzloses Subjekt‘, für alle Bürger die Unmöglichkeit von Repräsentation repräsentiert. Wenn der ‚leere Signifikant‘ der Revolution durch seine einzigartige Ausnahmeposition hierbei das chaotische Feld partikularer Elemente in ein totalisiertes, konsistentes Netz verwandelt, dann stellt er genau dasjenige dar, was Lacan einen „Stepppunkt“ (point de capiton) nannte. Dieser steppt die Heterogenität des diskursiven Feldes an einen be-sonderen Ort und etabliert somit eine signifikante Totalität, die auf dem Prinzip eines singulären Universalismus beruht.133 Forsters tau-tologischer Revolutionsbegriff vermag dann sowohl die signifikante Negativität der pouvoir constituant repräsentieren, die durch eine gewalt-same creatio ex nihilo eine demokratische Ordnung der Volkssouveräni-tät hervorbringt, als auch die positive pouvoir constitué, welche die ei-gentlich nicht repräsentierbare materielle Grundgewalt des Volkes innerhalb einer demokratischen Verfassung repräsentiert.134 In die-sem Sinne verbindet Forster Sieyès Verfassungstheorie mit der später von Hegel ausformulierten These, wonach die Substanz das Subjekt ist.135

132 Der ‚leere Signifikant‘ vermag nach Žižek gerade deshalb das Subjekt zu

repräsentieren, „da das Lacansche ‚Subjekt des Signifikanten‘ nicht eine positive substantielle Entität ist, die außerhalb der Reihe ihrer Repräsen-tationen persistiert; es koinzidiert mit ihrer eigenen Unmöglichkeit, ‚ist‘ nichts als die durch das Fehlgehen der Repräsentation eröffnete Leere.“ Žižek, Denn sie wissen nicht, 30.

133 Vgl. ebd., 32. 134 Zu der von Sieyès entwickelten Lehre von der verfassungsgebenden Ge-

walt des Volkes (pouvoir constituant) siehe grundlegend: Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes – Ein Grenz-begriff des Verfassungsrechts, in: Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, hrsg. v. Ulrich K. Preuß, Frankfurt a. M. 1994, 58–80.

135 „Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichan-

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Die Revolution an sich wird davon, dass sie einmal „Wiederbrin-gung“ und einmal „Zerstörung“ ist, letztlich gar nicht berührt. Ihre Allgemeinheit entsteht mit Hegel gesprochen gerade durch die „Ne-gation […] weder Dieses noch Jenes, ein Nichtdieses [zu sein], und ebenso gleichgültig, auch Dieses wie Jenes zu sein“.136 Obwohl beim Sprechen über die „Revolution“ immer etwas konkret Seiendes vor-gestellt wird, wird dabei gleichzeitig unbewusst doch immer etwas Allgemeines ausgesagt. Das bedeutet wiederum, dass die subjektiv gemeinte Aussage mit dem Objekt des Ausgesagten niemals vollstän-dig zur Deckung kommt. An dieser Stelle wird die dynamische Funk-tion der Sprache für Kultur und Politik im Denken des durch eine hegelianische ‚Brille‘ betrachteten Forsters noch einmal besonders deutlich. Denn es ist dieser Widerspruch zwischen Gemeinten und Gesagten, der von der tautologischen (Nicht-)Identität innerhalb der Sprache angezeigt wird und die Dialektik der menschlichen Kulturge-schichte vorantreibt. Gerade weil die Sprache die Kommunikation sowohl verzerrt als auch erst ermöglicht, ist die Vermittlung von sub-jektivem Meinen und objektiver Wahrheit überhaupt erst möglich. „Die Sprache aber ist, wie wir sehen, das Wahrhaftere“, so hebt He-gel die fundamentale Bedeutung der Sprache für die Philosophie hervor,

in ihr widerlegen wir selbst unmittelbar unsere Meinung; und da das All-gemeine das Wahre der sinnlichen Gewißheit ist und die Sprache nur dieses Wahre ausdrückt, so ist es gar nicht möglich, daß wir ein sinnli-ches Sein, das wir meinen, je sagen können.137

Wenn Forster auch hier wieder ganz dialektisch, hegelianisch gelesen werden kann, so lässt das umgekehrt auch auf die intensive Forster-Lektüre Hegels schließen. Die Dialektik von subjektiver Meinung und objektiver Wahrheit, wie sie Hegel innerhalb der Sprache entwickelt,

derswerdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negati-vität, eben durch die Entzweiung des Einfachen; oder die entgegenset-zende Verdoppelung“. Hegel, „Phänomenologie“, 23.

136 Ebd., 85. 137 Ebd.

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kann auch auf die Dialektik von unendlichem und endlichem Fort-schritt bei Forster angewendet werden. Gerade weil es nicht möglich ist, das Gemeinte auch restlos sagen zu können bzw. transparent zu machen, verläuft die menschliche Kultur notwendig als ein unendli-cher Prozess, der jedoch zugleich in jeweils endlichen Sprechakten verläuft. Da mit anderen Worten jeder Signifikant das sprechende Subjekt notwendig fehlrepräsentiert, verschiebt sich die Dynamik der Repräsentation auf der Suche nach dem ‚perfekten‘ bzw. ‚eigentli-chen‘ Signifikanten, von einem positiven Signifikanten auf den ande-ren. Die Besonderheit von Forsters Revolutionsbegriff besteht dagegen gerade darin, weder auf der Stufe einer „nicht-totalisierten, ‚schlech-ten Unendlichkeit‘ signifikanter Repräsentation“138 stehen zu bleiben noch den Anspruch zu erheben, innerhalb der metonymischen Reihe positiver Signifikanten endlich den ‚eigentlichen‘ Signifikanten der Revolution gefunden zu haben, der die Geschichte gleichsam met-apolitisch endgültig beenden würde. Alternativ zu diesen Varianten bezeichnet Forsters Revolutionsbegriff vielmehr ausdrücklich die Un-möglichkeit und das notwendige Scheitern einer solchen Reprä-sentation. Dies kann er aber nur als ‚reiner‘ bzw. ‚leerer‘ Signifikant leisten, dessen negativen Charakter ihn von allen positiven Entitäten unterscheidet. Insofern oszilliert Forsters Revolutionsbegriff zwi-schen der realen, materialistischen Undarstellbarkeit des revolutionä-ren Antagonismus und dessen negativer Darstellung innerhalb von Sprache, Kultur und Politik. Anstatt im circulus vitiosus ‚schlechter Unendlichkeit‘ gefangen zu bleiben, und sich in den Antinomien von politischer Reform und Revolution zu verstricken, bietet Forsters Revolutionsbegriff somit die Möglichkeit für eine dialektische Ver-mittlung von unendlicher Sprach- und Kulturdynamik sowie der Endlichkeit revolutionärer Sprech- und Handlungsakte, welche die Undarstellbarkeit des sittlichen Fortschritts der Menschheit repräsen-tieren.139

138 Žižek, Denn sie wissen nicht, 29. 139 Zur Dialektik von Reform und Revolution im Denken von Forster siehe

auch Marita Gilli, „Reform und Revolution bei Georg Forster“, in: Georg-Forster-Studien IV (2000), 17–61.

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VI Schluss Es dürfte deutlich geworden sein, welche wichtige Rolle die Reflexion über Sprache für Forsters Kultur- und Politikverständnis spielte. Die Aktualisierung dieser Überlegungen im gegenwärtigen Methodenho-rizont von politischer Diskurstheorie und Ideologiekritik kann m. E. schon deshalb als fruchtbar betrachtet werden, da sie sowohl die dialektischen als auch die materialistischen Grundlagen von Forsters „Philosophie des Lebens“ plastisch hervortreten lässt. Insbesondere kann dadurch auch das Verhältnis Forsters zu Kant und Hegel, jen-seits des abgenutzten Dualismus von Empirismus und Rationalismus, klarer bestimmt werden. So nimmt Forster in der philosophischen Passage von Kant zu Hegel ohne Zweifel einen prominenten Platz ein, der in der Ideengeschichte bisher immer noch nicht ausreichend gewürdigt wurde. In den hier besprochenen Schriften wird darüber hinaus auch die dialektische Verflechtung von Aufklärung und Revo-lution deutlich, die sich nicht in der Dichotomie von ‚mechanischer Aufklärung‘ und ‚lebendiger Romantik‘ auflöst. Ob es damit gelungen ist, die „Sphinx Forster“ ein Stück weiter zu entschlüsseln, bleibt aber dem Urteil der Leser überlassen.