Mythos oder Geschichte? Die historische Kritik an der Bibel und ihre theologische Bedeutung
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Mythos oder Geschichte?
Die historische Kritik an der Bibel und ihre theologische Bedeutung
Konrad Schmid
Im Januar 2000 führte die BBC eine Umfrage unter anglikanischen und
römisch-katholischen Bischöfen in England durch. Sie ergab, dass fast
keiner der antwortenden Bischöfe beider Konfessionen davon ausgeht,
dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen habe. Ein grosse Mehrheit
der anglikanischen Bischöfe weist weiter die Auffassung ab, dass Adam
und Eva real existiert haben sollen. Mehr als die Hälfte der römisch-
katholischen Bischöfen ist davon aber überzeugt. Ein Viertel der anglika-
nischen Bischöfe denkt nicht, dass die jungfräuliche Empfängnis Jesu ein
historisches Faktum sei, bei den katholischen zweifelt nur einer daran. Alle
katholischen und die meisten anglikanischen Bischöfe glauben an die Auf-
erstehung Jesu nach seinem Tod. Ausnahmslos alle halten an der Gültig-
keit der Zehn Gebote fest.1
Nun könnte man aus solchen – in sich natürlich aufgrund der Pauschalität
der Fragen hochproblematischen – Umfragen verschiedene konfessions-
kundliche Schlussfolgerungen ableiten, das soll im Folgenden nicht ge-
schehen. Es geht an dieser Stelle lediglich um die Feststellung, dass zu-
mindest für einen biblischen Aussagebestand, die Erschaffung der Welt in
sechs Tagen, wie sie im ersten Kapitel der Bibel beschrieben wird, kaum
ein Würdenträger auch von vergleichsweise traditionellen Kirchen mehr
davon ausgeht, dass es sich hierbei um eine historische Aussage handelt.
Mit diesem einen Beispiel ist immerhin soviel klar: Die Bibel ist auch aus
orthodox katholischer oder anglikanischer Sicht nicht einfach Darstellung
historischer Realität, sondern ihre literarische Präsentation von vergange-
nen Begebenheiten wie etwa der Weltschöpfung ist offenbar etwas ande-
res.
1 NZZ 18, 22.1.2000, 64.
2
Die theologische Konvergenz in diesem Punkt erscheint zwar auf den ers-
ten Blick wenig sensationell, denn sie beruht auf der Evidenz heutiger wis-
senschaftlicher Erkenntis. Es lässt sich heute nicht mehr erfolgreich be-
streiten: Die Welt in ihrem schöpfungsmässigen Bestand ist weder nur ca.
6000 Jahre alt, wie es die biblische Zeitrechnung will, noch ist sie chrono-
logisch gesehen das Werk von sechs Tagen.
Aber gerade in ihrer Vernünftigkeit ist diese Konvergenz zwischen den
christlichen Kirchen – auf einen zweiten Blick bezüglich des Sechstage-
werks – durchaus sensationell. Vor 500 Jahren noch hätten die Leugner des
Sechstagewerks aller Konfessionen den Scheiterhaufen zu gewärtigen ge-
habt. Dass die Kirchen unterschiedlicher Konfession sich der wissenschaft-
lichen Erkenntnis nicht verschliessen und keine doppelten Standards in der
Kosmologie zulassen, ist angesichts dessen ein höchst bedeutsamer Be-
fund.
Um ein mögliches Missverständnis gleich auszuschliessen: Man würde
diesen Befund nur unzulänglich interpretieren, wenn man sich auf den fol-
genden Standpunkt stellen würde: Die Kirchen hatten keine andere Wahl,
als sich den Erkenntnissen der neuzeitlichen Wissenschaft zu beugen. Sie
gaben dem Druck von der Strasse, dem Zeitgeist nach. Vielmehr dürfte es
wesentlich angemessener sein zu sagen: Der innere Drang zur Wahrheit
des christlichen Glaubens trieb ihn dazu, den Dialog mit der Wissenschaft
zu suchen und Wege zu finden, die Bibel nicht gegen, sondern mit den
Wissenschaften zu verstehen.
Den vielleicht sinnenfälligsten Ausdruck hat diese Überzeugung in der
Ausbildung und Rezeption der historischen Bibelkritik jedenfalls im
Mainstream der christlichen Theologie gefunden. Wer heute Pfarrer oder
Pfarrerin in einer der genannten Kirchen werden will, muss die historische
Bibelkritik erlernen. Daran halten die Theologischen Fakultäten, aber eben
auch die Kirchen fest. Das war nicht immer so und es ist auch heute – aus-
serhalb der Fakultäten und der Kirchen – keineswegs unumstritten, dass
die historische Bibelkritik ein notwendiges und vitales Element theologi-
scher Ausbildung sein soll.
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So zirkuliert etwa in verschiedenen freikirchlichen Bibelschulen die Chi-
cago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit aus dem Jahr 1978, die in
ihrem Artikel 12 festhält:
„Wir bekennen, dass die Schrift in ihrer Gesamtheit irrtumslos und damit
frei von Fehlern, Fälschungen oder Täuschungen ist.
Wir verwerfen die Auffassung, dass sich die biblische Unfehlbarkeit und
Irrtumslosigkeit auf geistliche, religiöse oder die Erlösung betreffende
Themen beschränke und Aussagen im Bereich der Geschichte und Natur-
wissenschaft davon ausgenommen seien. Wir verwerfen ferner die Ansicht,
dass wissenschaftliche Hypothesen über die Erdgeschichte mit Recht dazu
benutzt werden dürften, die Lehre der Schrift über Schöpfung und Sintflut
umzustossen.“2
Mit Blick auf die historische Bibelkritik heisst das kurz gesagt: Sie wird
abgelehnt. Die Bibel braucht keinen kritischen Zugang zu ihr, denn sie ist
a priori irrtumslos. Die akademische Theologie argumentiert gegenüber
einem solchen Zugang in der Regel wie folgt – einmal abgesehen davon,
dass die Bibel keine Lehren, sondern Erzählungen über Schöpfung und
Sintflut enthält –: Die Wahrheit der Bibel muss sich erweisen, sonst wäre
sie keine Wahrheit. Oder umgekehrt: Eine nur vorausgesetzte Wahrheit,
die sich nicht zu bewähren hätte, wäre eine billige Wahrheit und damit
wahrscheinlich eben nur eine für wahr gehaltene Wahrheit, die aber nicht
wirklich wahr ist.
Auch die etablierten Kirchen teilen diese Auffassung: Der vielleicht gut
gemeinte Schutz, den die Chicago-Erklärung der Bibel zukommen lassen
will, ist ein Danaer-Geschenk: Er schadet der Bibel mehr, als er ihr hilft.
Weshalb? Er nimmt die Bibel nicht ernst. Er traut ihr nicht zu, dass sie sich
selbst bewähren kann, sondern nimmt sie von vornherein aus jedem Disput
heraus. Das aber stärkt ihr Ansehen und ihre Autorität nicht, sondern
schwächt es.
2 Text und Kommentar abrufbar unter www.reformatio.de/bekenntnisse/Chicago.pdf.
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Die historische Bibelkritik ist so zwar einerseits weitgehend fraglos rezi-
piert und anerkannt, wird andererseits aber an einigen Orten ebenso deut-
lich abgelehnt. Offenbar kann das Christentum empirisch gesehen beides:
Mit oder ohne historischer Bibelkritik leben, es liesse auch noch hinzufü-
gen, mit viel oder wenig Bibelkritik – allerdings zu unterschiedlichen Prei-
sen.
Im Folgenden sollen zunächst drei Spielarten des Umgangs mit der Bibel-
kritik aus den letzten drei Jahrhunderten vorgestellt werden, die diese
Spannbreite illustrieren mögen: David Friedrich Strauss (1835), Rudolf
Bultmann (1941) und Joseph Ratzinger (2007). Daran werden sich einige
Überlegungen zur heutigen Bedeutung und zur Zukunft der historisch-
kritischen Methode anschliessen.
I. Das Leben Jesu nach den Evangelien: ein Mythos (David Friedrich
Strauss)
Die Frage nach dem Stellenwert der historischen Bibelkritik nimmt in der
Geschichte der Universität Zürich einen zentralen Platz ein und hat vor
knapp 170 Jahren nahezu über ihr Sein oder Nichtsein entschieden. Die
Universität Zürich wurde 1833 gegründet und bereits 6 Jahre später, 1839,
beinahe wieder geschlossen – wegen der Frage, welche und wieviel Bibel-
kritik an ihr zuzulassen sei. Zentrale Figur des Anstosses war David Fried-
rich Strauss, dessen Wahl zum ordentlichen Professor für Kirchenge-
schichte und Dogmatik am 2. Februar 1839 vom Regierungsrat bestätigt
worden war. David Friedrich Strauss war damals bereits wissenschaftlich
ebenso berühmt wie in kirchlichen Kreisen berüchtigt für sein 1500 Seiten
starkes Buch „Das Leben Jesu“, das er als 27jähriger verfasst hatte und das
die Darstellungsweise der Evangelien als mythologisch beschrieb. Aller-
dings ist auch nach David Friedrich Strauss das Grundgerüst des Lebens
Jesu in den Evangelien ohne Frage historisch. Dass Jesus in Nazareth auf-
gewachsen sei, dass er sich von Johannes habe taufen lassen, dass er leh-
rend im Land herumgezogen und am Schluss aufgrund seiner Konflikte mit
5
der Obrigkeit am Kreuz hingerichtet worden sei, das alles ist für Strauss
nicht zweifelhaft. Doch dieses Gerüst wurde in den Evangelien breit aus-
gestaltet mit frommen Ideen und religiösen Interpretationen der nachöster-
lichen Gemeinde. So wurde Jesus nachträglich als der Sohn Gottes darge-
stellt, der mannigfache Wunder gewirkt habe und nach seinem Tod am
Kreuz auch auferstanden sein soll. Das alles aber sind, so Strauss, nicht
historische, sondern mythische Elemente, die die Gemeinde – immerhin,
wie Strauss sich ausdrückt, „absichtslos“ – ihrem Herrn Jesus zugedichtet
habe.
David Friedrich Strauss war bei alledem aber kein fundamentaler Religi-
onskritiker oder Feind des Christentums, im Gegenteil. Vielmehr beteuerte
er bereits im Vorwort seines Buches:
„Den innern Kern des christlichen Glaubens weiss der Verfasser [also
Strauss selbst] von seinen kritischen Untersuchungen völlig unabhängig.
Christi übernatürliche Geburt, seine Wunder, seine Aufstehung und Him-
melfahrt, bleiben ewige Wahrheiten, so sehr ihre Wirklichkeit als histori-
scher Fakta angezweifelt werden mag.“3
Was das Neue Testament an der Jesusfigur als Christologie entwickelt hat,
sein Gottmenschentum, die Vereinigung von endlichem und unendlichem
Geist in seiner Person ist nach dem überzeugten Hegelianer Strauss schon
ein richtiger Gedanke, nur dass er nicht einem Individuum zukommt, son-
dern auf die Gattung der Menschheit überhaupt übertragen werden muss.
Was die Evangelien „absichtslos dichtend“ von Jesus sagen, gilt der Sache
nach von der Menschheit:
„Das ist ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar
ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle andern zu geizen, sondern
in einer Manchfaltigkeit von Exemplaren ... liebt sie ihren Reichthum aus-
zubreiten.“4
3 Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Tübingen 1935, VII. 4 Leben Jesu, 734.
6
Die Christologie der Evangelien betrifft in Wahrheit die allgemeine Anth-
ropologie. Doch solche Distinktionen halfen David Friedrich Strauss nicht
viel. Seine Berufung löste vor allem in den Zürcher Landgebieten einen
solchen Proteststurm aus, dass die aufgebrachten Massen nach Zürich
stürmten und zwar nicht die Universität, so doch immerhin die damalige
liberale Regierung zu Fall brachten. Bei dem sogenannten „Züriputsch“ am
6. September 1839 kamen neun Personen um, darunter ein Regierungsrat,
vier Personen wurden schwer verletzt. Der „Putsch“ war allerdings poli-
tisch nur beschränkt wirksam, 1845 übernahmen die Liberalen bereits wie-
der die Zürcher Regierung. Er ist aber immerhin sprachgeschichtlich inso-
fern von Bedeutung, als mit „Putsch“ erstmals ein schweizerdeutsches
Wort in die internationale politische Begrifflichkeit Aufnahme fand.
Der Bibelkritiker David Friedrich Strauss war allerdings gar nicht mehr
unmittelbarer Anlass des Streits gewesen, denn er war sicherheitshalber
bereits einige Monate zuvor in der Ruhestand versetzt worden, mit einer
jährlicher Pension von 1000 Franken, was 50% des Professorengehalts ent-
sprach. Man muss allerdings zu Straussens Ehrenrettung sagen, dass er das
Geld aus diesem „goldenen Fallschirm“ nie für eigene Zwecke verwendet
hatte, sondern den Armen zukommen liess.
Strauss hatte zwar in seiner persönlichen Biographie kein Glück, doch sei-
ne Wirkung war enorm. Die Auffassung, dass das Leben Jesu, so wie es
die Evangelien darstellen, das Resultat interpretativer Überformungen ist
und dass der „historische Jesus“ ein anderer ist als der „Christus des Glau-
bens“, wurde zu seiner Zeit zwar verketzert, doch sie gehört heute zum
Standardrepertoire der Bibelwissenschaften. Strauss hatte im Grundzug
recht: Die biblische Präsentation der Geschichte Jesu koinzidiert nicht mit
deren historischen Rekonstruktion. Das hängt schlicht damit zusammen,
dass die Bibel als antiker Text Geschichte nicht historisch-kritisch konzep-
tualisiert, sondern resultativ-theologisch. Sie stellt die Geschichte nicht so
dar, wie es gewesen ist, sondern mit der Absicht aufzuzeigen, was sie be-
deutet.
7
Welche theologische Bedeutung kam der Bibelkritik bei Strauss näherhin
zu? Interessant ist bei ihm der Umstand, dass die Bibelkritik – anders als
etwa bei den Pionieren des 17. Jahrhunderts wie Spinoza – nicht dazu
diente, das aufklärerische Freigeisttum zu begründen – Jesus als Lehrer
moralischer Ideale wie des sittlichen Monotheismus oder des unendlichen
Werts der Menschenseele. In dieser Richtung dachte Strauss nicht. Bibel-
kritik war bei ihm kein emanzipatives, sondern ein mediales Geschäft: Die
Bibelkritik galt ihm als ein Vehikel, um zur eigentlichen Wahrheit des
Christentums vorzustossen, die eben nicht darin besteht, an bestimmte
ethische Werte oder einen einzelnen gestorbenen und auferstandenen
Wundertäter zu glauben, der um die Zeitenwende gelebt hat. Vielmehr
liegt die Wahrheit des Christentums nach Strauss im idealistisch gedeute-
ten Grundgedanken der Christologie, in der geistigen Vermittlung von
Endlichem und Unendlichem, in der Vereinigung von Gott und Mensch im
Geist.
Nur: Was die Bibel von Christus sagt, so Strauss, gilt für alle Menschen. In
diesem Sinn richtig verstehen kann man die Bibel aber nur, wenn man sie
historisch kritisiert.
Natürlich wirkt heute die Strauss’sche Bestimmung der Wahrheit des
Christentums nicht mehr plausibel, aber im 19. Jahrhundert war sie es für
breite gelehrte Kreise. Interessanterweise hat nur das Straus’sche Mittel,
die Bibelkritik, bis heute überlebt. Das von ihm anvisierte Ziel, die idealis-
tische Interpretation des Christentum, hat sich aber spätestens im 20. Jahr-
hundert grundlegend verändert.
II. Die Entmythologisierung des Neuen Testaments (Rudolf Bultmann)
Rudolf Bultmann ist heute eine unbestrittene Grösse der Theologie. Als er
1941 seine zentralen Thesen zur Entmythologisierung des Neuen Testa-
ments vorstellte, die im Grunde genommen nichts anderes als ein theolo-
gisch motiviertes Programm radikaler historischer Kritik an der Bibel an-
gesichts ihrer mythischen Prägung bedeutet, meinten allerdings einige sei-
8
ner Kollegen, wie Eberhard Jüngel im Vorwort zu seiner Edition von
Bultmanns Vortrag „Neues Testament und Mythologie“ maliziös feststellt,
Bultmann sei – im Alter von 57 Jahren – bereits senil geworden.5 Man
kann aus dem Rückblick in aller Ruhe festhalten: Dem war nicht so. Bult-
mann erfreute sich damals uneingeschränkter geistiger Fitness. Was dieses
Urteil hervorrief, war nichts anderes als die kompromisslose intellektuelle
Redlichkeit Bultmanns, die ein echtes Verstehen der Bibel forderte, gegen
die „Dünkelhaftigkeit“, die etwa Dietrich Bonhoeffer in einigen Teilen der
zeitgenössischen Theologie feststellte.6 Worum ging es bei der sogenann-
ten Entmythologisierung?
Rudolf Bultmann war sich in Grundzügen mit David Friedrich Strauss in
der Sache einig. Ja eigentlich noch radikaler ging Bultmann davon aus,
dass die Bibel durch und durch mythisch geprägt sei. Das kann auch gar
nicht anders sein, denn die Bibel ist in einer Zeit entstanden, als die Men-
schen fraglos von einem dreistöckigen Weltbild ausgingen, das Himmel,
Erde und Hölle voneinander unterschied und in allen drei Stockwerken
verschiedene geistige Mächte am Werk sahen. Die biblischen Autoren
formulierten ihre Botschaft – mit Strauss gesprochen „absichtslos“ – im
Gewand ihrer zeitgenössischen Vorstellungen. Deshalb ist die biblische
Botschaft, so genommen wie sie ist, nach Bultmann für heutige Menschen
unverständlich geworden, da sie dieses Weltbild nicht mehr teilen. Es ge-
hört zum Standardrepertoire jeder Besprechung von Bultmann, den folgen-
den Absatz aus „Neues Testament und Mythologie“ zu zitieren:
„Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krank-
heitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch neh-
men und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testa-
ments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muss
sich klar machen, dass er, wenn er das für die Haltung des christlichen
5 Vgl. die Einleitung von E. Jüngel zu R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie.
Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941),
BevTh 96, München 1985, 8. 6 Ebd., 8f.
9
Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart
unverständlich und unmöglich macht.“7
Bultmann nennt sogleich einige Beispiele, mit welchen mythologischen
Aussagen die Leserschaft des Neuen Testaments konfrontiert wird:
„Wie kann meine Schuld durch den Tod eines Schuldlosen (wenn man von
einem solchen überhaupt reden darf) gesühnt werden? Welche primitiven
Begriffe von Schuld und Gerechtigkeit liegen solcher Vorstellung zugrun-
de? Welch primitiver Gottesbegriff? Soll die Anschauung vom sündentil-
genden Tode Christi aus der Opfervorstellung verstanden werden: welch
primitive Mythologie, dass ein Mensch gewordenes Gotteswesen durch
sein Blut die Sünden der Menschen sühnt!“8
Vermutlich waren es solche Passagen, die 1941 Bultmanns Kollegen, ge-
fangen in ihrer Normaltheologie, an dessen geistiger Gesundheit zweifeln
liessen. Doch hier sprach kein seniler, sondern ein kritischer-konstruktiver
Geist. Wie Strauss ist Bultmann nicht an der Destruktion, sondern an der
Rekonstruktion der biblischen Botschaft interessiert. Wie kann man denn
heute die Bibel noch verstehen, wenn sie doch so primitiv mythologisch
geprägt ist? Bultmann entwickelte dazu das Programm der Entmythologi-
sierung der Bibel. Dabei ging es, wie Bultmann sogleich klarstellte, nicht
darum, alles aus der biblischen Darstellung wegzustreichen, was mythisch
ist – also um die Elimination des Mythos. Damit wäre das Kind mit dem
Bade ausgeschüttet worden. Vielmehr muss der Mythos sachlich befragt
werden, er muss interpretiert werden:
„Kann man schematisch sagen, daß in der Epoche der kritischen Forschung
die Mythologie des Neuen Testaments einfach kritisch eliminiert wurde, so
7 Ebd., 16. 8 Ebd., 19.
10
wäre – ebenso schematisch gesagt – die heutige Aufgabe die, die Mytholo-
gie des Neuen Testaments kritisch zu interpretieren.“9
Wie ist das zu bewerkstelligen? Was ein Mythos sagen will, ist nach Bult-
mann über die Rekonstruktion des Selbstverständnisses seines Erzählers zu
erheben. Die Weltsicht des Mythos ist zeitbedingt, aber das anthropologi-
sche Selbstverständnis, das sich in einem Mythos äussert, das ist rekonstru-
ierbar und verstehbar. Bultmann spricht auch von der existentialen Inter-
pretation des Mythos, das das Existenzverständnis des jeweiligen Autors
erhebt.
„Welches Existenz-Verständnis? Nun, dieses, daß sich der Mensch in einer
Welt vorfindet, die voll ist von Rätseln und Geheimnissen, und dass er ein
Schicksal erfährt, das ebenso rätselhaft und geheimnisvoll ist. Er wird zu
der Erfahrung gedrängt, daß er nicht Herr über sein Leben ist, und er wird
dessen inne, dass die Welt und das menschliche Leben ihren Grund und
ihre Grenze in einer Macht (oder in Mächten) haben, die jenseits dessen
liegt, was er berechnen, über das er verfügen kann, in einer transzendenten
Macht.“10
Diese Grunderfahrung wird vom Mythos, der naturgemäss vom „Unweltli-
chen weltlich, von den Göttern menschlich“11 redet, so dargestellt, dass er
„in naiver Weise das Jenseits zum Diesseits [objektiviert]“,12 und so eben
verweltlicht.
9 25 (Hervorhebung im Original). 10 R. Bultmann, Zum Problem der Entmythologisierung (1963), in: ders., Neues Testa-
ment und christliche Existenz. Theologische Aufsätze, hg. von A. Lindemann, UTB
2316, Tübingen 2002, 284–293, 290 (Hervorhebung im Original). 11 Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 22. 12 Problem, 290.
11
„Die Entmythologisierung will demgegenüber die eigentliche Intention des
Mythos zur Geltung bringen, nämlich die Intention, von der eigentlichen
Wirklichkeit des Menschen zu reden.“
Es liegt auf der Hand, dass der historischen Bibelkritik bei diesem herme-
neutischen Programm ein eminenter Stellenwert zukommt. Einen Mythos
entmythologisieren, ihn existential interpretieren, kann man nur, wenn man
auf historisch-kritischem Weg das Existenzverständnis seines Autors er-
hebt. Vom biblischen Text zu diesem Existenzverständnis führt allein die
Bibelkritik, die allerdings entsprechend aufgeklärt und ausgerichtet sein
muss.
Vergleicht man die Rolle der historischen Bibelkritik bei Strauss und bei
Bultmann, so kann man zunächst ein gemeinsames Movens feststellen:
Beide benötigen die Bibelkritik, um der Wahrheit der Bibel näherzukom-
men, die nicht – wie etwa bei der Chicago-Erklärung – in ihrem Buchsta-
ben liegt. Mit Blick auf Strauss trifft Bultmanns Analyse nicht ganz zu,
dass der Mythos von den Früheren einfach eliminiert worden sei. Im Rah-
men der historischen Analyse ist das zwar richtig – hier strich Strauss in
der Tat alles heraus, was mythisch ist –, doch war das mythische Material
für ihn von zentraler Bedeutung, da es gewissermassen in kindlicher Form
– in Zuschreibung an den einen Menschen Jesus – eine allgemeine Wahr-
heit formuliert, die aber in ihrer reinen, idealistischen Form kritisch rekon-
struiert werden muss. Bultmanns existentiale Interpretation des Mythos
zielte demgegenüber allerdings nicht auf eine übergeschichtliche Idee wie
bei Strauss, sondern auf die Erhebung des Existenzverständnisses der bib-
lischen Texte.
Bultmanns Entmythologisierungsprogramm ist zwar in die Jahre gekom-
men. Es passt nicht mehr ganz zur postmodernen Befindlichkeit mancher
Bibelleserinnen und -leser, der Mythos feiert mancherorten ein Revival,
welches das Programm ohnehin obsolet erscheinen lässt. Manche haben
Bultmanns Insistieren auf der existentialen Interpretation auch Unge-
12
schichtlichkeit oder gar Zeitlosigkeit vorgeworfen.13 Diese Kritikpunkte
mögen zutreffen oder nicht, es bleibt aber doch festzuhalten, dass das her-
meneutische Problem der Bibel und die theologische Notwendigkeit von
historischer Bibelkritik nach Bultmann wohl selten mit vergleichbarer
Schärfe auf den Tisch gebracht worden ist.
Man sollte in dieser Hinsicht nicht hinter ihn zurückfallen. Dass die Ge-
schichte aber manchmal anders verläuft, als die Wünsche, die man an sie
heranträgt, soll die dritte Station veranschaulichen.
III. Jesus ist kein Mythos (Joseph Ratzinger)
Das von Joseph Ratzinger vorgelegte Jesusbuch entwickelte sich sogleich
zu einem Verkaufsschlager.14 Die zentrale These des Buches besteht darin,
„einmal den Jesus der Evangelien als den wirklichen Jesus, als den ‚histo-
rischen Jesus‘ im eigentlichen Sinn darzustellen.“15 So wie ihn die Evange-
lien zeichnen – ist Jesus aus der Sicht Ratzingers eine „historisch sinnvolle
und stimmige Figur“16. Mehr noch: Sie ist so sinnvoller und stimmiger als
die historischen Rekonstruktionen zu Jesus, die die Bibelwissenschaften in
Geschichte und Gegenwart kreiert haben. Bibel und gemäss Ratzinger
recht betriebene Bibelkritik koinzidieren gewissermassen: Die historische
Bibelkritik entwickelt kein anderes Bild als die Bibel selbst. Wie wenn es
sich direkt gegen David Friedrich Strauss wenden würde, formuliert
13 Vgl. M. Moxter, Gegenwart, die sich nicht dehnt. Eine kritische Erinnerung an das
Zeitverständnis R. Bultmanns, in: D. Georgi u.a. (Hgg.), Religion und Gestaltung der
Zeit, Kampen 1994, 108–122. 14 Joseph Ratzinger Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im
Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i.Br. u.a. 2007. Das Buch hat eine breite Diskussion
ausgelöst, vgl. z.B. T. Söding (Hg.), Das Jesus-Buch des Papstes. Die Antwort der Neu-
testamentler, Freiburg i.Br. 2007; K. Kardinal Lehmann u.a., „Jesus von Nazareth“
kontrovers, Münster 22007; M. Ebner, R. Hoppe, T. Schmeller, Der „historische Jesus“
aus der Sicht Joseph Ratzingers. Rückfragen von Neutestamentlern zum päpstlichen
Jesusbuch, BZ 52 (2008), 64-81. 15 Jesus von Nazareth, 20. 16 Jesus von Nazareth 21.
13
Ratzinger: Jesus ist „kein Mythos, er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut,
steht ganz real in der Geschichte.“17
Man ist beglückt und verwundert zugleich über die methodische Transpa-
renz Ratzingers: Das durchzuführende Programm, den vom Neuen Testa-
ment verkündigten Christus als den historischen Jesus zu behaupten, steht
ganz am Anfang des Buches. Wie im Hiobprolog wird dem Leser sozusa-
gen die Lösung des Buches an die Hand gegeben. Ratzinger scheint den
Eindruck gar nicht verhindern zu wollen, dass die Grundthese im Grunde
schon von vornherein feststand. Besonders reizvoll ist die folgende Ver-
wendung der Vokabel „einmal“: „Ich wollte den Versuch machen, einmal
den Jesus der Evangelien als den historischen Jesus darzustellen.“
Etwas irritierend wirkt in diesem Satz die doppelte Betonung: der wirkli-
che Jesus, der historische Jesus im eigentlichen Sinn. Die Vermutung liegt
nahe, dass damit gesagt werden soll: Der Jesus der Evangelien, das ist der
wirkliche Jesus und nicht der von der historischen Bibelwissenschaft er-
mittelte: Der ist nur ein historisches Konstrukt, der Jesus der Evangelien
ist der historische Jesus im eigentlichen Sinn.
Es fragt sich nun allerdings sofort, weshalb darf denn nicht der Jesus der
Evangelien der Jesus der Evangelien sein, und weshalb kann nicht der his-
torische Jesus der historische Jesus sein? Wieso müssen denn beide iden-
tisch sein? Nun, man kann dieses Bestreben durchaus als geheimen Erfolg
der historisch-kritischen Methode interpretieren: Es reicht Ratzinger nicht,
das biblische Bild von Jesus nachzuzeichnen, sondern er zeichnet dieses
nach mit dem Anspruch, damit auch die Historie zu treffen. Mit dem Vati-
canum II., hinter das auch Ratzinger nicht zurück kann und will, betont er
denn auch vehement Recht und Notwendigkeit der historischen Kritik:
„Da gilt zunächst, dass die historische Methode – gerade vom inneren We-
sen der Theologie und des Glaubens her – eine unverzichtbare Dimension
der exegetischen Arbeit ist und bleibt. Denn für den biblischen Glauben ist
es wesentlich, dass er sich auf wirklich historisches Geschehen bezieht ... .
17 Jesus von Nazareth, 316.
14
Wenn also Geschichte ... wesentlich zum christlichen Glauben gehört,
dann muss er sich der historischen Methode aussetzen – der Glaube selbst
verlangt das.“18
Bei aller Hochschätzung sieht Ratzinger aber auch elementare Grenzen der
historischen Kritik:
„Ihre erste Grenze besteht für den, der in der Bibel sich heute angeredet
sieht, darin, dass sie ihrem Wesen nach das Wort in der Vergangenheit be-
lassen muss.“19
Als zweites gibt er zu bedenken:
„Als historische Methode setzt sie die Gleichmässigkeit des Geschehens-
zusammenhangs der Geschichte voraus, und deshalb muss sie die ihr vor-
liegenden Worte als Menschenworte behandeln.“20
Schliesslich fehlt ihm beim historisch-kritischen Zugang zur Bibel das
Miteinbringen der Gesamtdimension der Einheit der Schrift.
So meint Ratzinger, dass die historische Bibelkritik zwar wichtig sei, aber
der Ergänzung bedürfe. Ja, sie weise nachgerade über sich selber hinaus
und trage „eine Offenheit auf ergänzende Methoden in sich“21. Solche er-
gänzenden Methoden erblickt Ratzinger in der sogenannt „kanonischen
Exegese“ – „Lesen der einzelnen Texte der Bibel in deren Ganzheit“, das
sei „eine wesentliche Dimension der Auslegung, die zur historisch-
kritischen Methode nicht in Widerspruch steht, sondern sie organisch wei-
terführt und zur eigentlichen Theologie werden lässt.“22
18 Jesus von Nazareth, 14. 19 Jesus von Nazareth, 15. 20 Jesus von Nazareth, 15. 21 Jesus von Nazareth, 16. 22 Jesus von Nazareth, 18.
15
Auch hier begegnet man einem eigentümlich emphatischen Sprachge-
brauch. Es gibt nach Ratzinger „Theologie“ und „eigentliche Theologie“,
die offenbar nur im Überschreiten der historischen Kritik zu haben ist.
Nun mag man sich zu diesem Programm stellen, wie man will. Es erscheint
allerdings zumindest in dem Punkt als widersprüchlich, dass es mit einer
historischen These antritt: Der Jesus der Evangelien ist der historische Je-
sus, gleichzeitig aber offen deklariert, dass der methodische Weg zur Be-
gründung dieser These nicht allein mit dem Handwerkszeug historischer
Exegese erfolgen wird.
Wie sich Mythos und Historie bei Ratzinger genau zueinander verhalten,
ist aufgrund des homiletischen Stils des Buches nicht einfach zu erkennen.
Es gibt aber einen höchst interessanten Satz in seinem Buch, der einen ge-
wissen Aufschluss gibt, wie sich Ratzinger das Zusammentreffen von My-
thos und Geschichte in der Person Jesu denkt:
„[D]ie Mythen haben auf ihn [sc. Jesus] gewartet, in dem das Ersehnte
Wirklichkeit geworden ist.“23
Jesus wird also nicht supranatural als Inkarnation des Mythos gedeutet,
sondern Mythos und historischer Jesus haben sich als kongenial passgenau
zueinander erwiesen: Der historische Jesus ist genau derjenige gewesen,
den die mythische Tradition als künftigen Heilsbringer erwartet hat.
Versucht man, Ratzingers Position zum Mythos mit derjenigen von Strauss
und Bultmann zu vergleichen, so gewinnt man den Eindruck, dass der My-
thos offenbar der Sache nach gar kein Problem für Ratzinger darstellt.
Ganz anders noch Bultmann:
„[W]elch primitive Mythologie, dass ein Mensch gewordenes Gotteswesen
durch sein Blut die Sünden der Menschen sühnt!“
23 Jesus von Nazareth, 316f.
16
Dass – historisch gesehen – ein Mensch gewordenes Gotteswesen durch
sein Blut die Sünden der Menschen sühnt, ist für Ratzinger offenbar akzep-
tabel. Problematisch ist nur die Nomenklatur: Das ist kein Mythos, sondern
Geschichte. Die der Sache nach mythische Darstellung Jesu im Neuen Tes-
tament kann historisch verstanden werden. Jesus ist kein Mythos.
Das geht nur schon deshalb einigermassen gut, weil Ratzinger die in dieser
Hinsicht schwierigen Elemente der Wunder Jesu und der Auferstehung gar
nicht behandelt. Sein Buch behandelt nur den Ausschnitt von der Taufe bis
zur Verklärung.
In hermeneutischer Hinsicht fällt Ratzinger im Rahmen der von ihm favo-
risierten „kanonischen Exegese“ einen dezidiert anderen Entscheid als
Strauss oder Bultmann. Die Bibel kann also solche einleuchten, wenn man
sie nur als Ganzes betrachtet. Der Mythos kann als Geschichte verstanden
werden, wenn man ihm nur das nötige Wohlwollen entgegenbringt.
IV. Der Bedeutungsverlust der historisch-kritischen Methode in der Theo-
logie der letzten fünfzig Jahre
Blickt man auf die gegenwärtige Bibelwissenschaft in Theologie und Kir-
che, so ist die Position von Ratzinger nicht alleine. Noch in den fünfziger
Jahren war die historische Bibelkritik nicht nur institutionell, sondern auch
ideell unumstritten. Gerhard Ebeling veröffentlichte 1950 einen vielbeach-
teten Aufsatz in der Zeitschrift für Theologie und Kirche, der überschrie-
ben war mit „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die pro-
testantische Theologie und Kirche.“24 Nur schon der Umstand, dass er mit
diesem Thema seine neue Herausgeberschaft der Zeitschrift antrat, ist be-
merkenswert. Seine wohlbegründete Aufmerksamkeit für die historisch-
kritische Methode findet sich, selbst innerhalb der Bibelwissenschaften,
heute so nur noch selten. Man mag das beklagen oder begrüssen, zunächst
aber einmal geht es darum, diesen Prozess zu verstehen.
24 ZThK 47 (1950), 1–46 = ders., Wort und Glaube Bd. I, Tübingen
31967, 1–49.
17
Was ist geschehen? Vier Faktoren lassen sich erkennen, die in unterschied-
licher Gewichtung eine Rolle gespielt haben mögen und die im Folgenden
in aller Knappheit umrissen seien.
1. Das Revival religiösen Erlebens und das Zurücktreten analytischer
Zugangsweisen zu religiösen Phänomenen
„Rückkehr der Götter“ – „Wiederkehr der Religionen“ und wie die weite-
ren Schlagworte heissen: Sie zeigen – bei aller inneren Problematik – an,
dass religiöses Erleben ein gewisses Comeback in der gegenwärtigen Ge-
sellschaft feiert. Es scheint sich dabei so zu verhalten, dass Religion sich –
um Erfolg zu haben und zu gesellschaftlicher Akzeptanz zu gelangen –
nicht primär in ihrem Wahrheitsgehalt bewähren muss, sondern vielmehr
in ihrem Erlebniswert. Entsprechend treten historisch-analytische Zu-
gangsweisen – jedenfalls in ihrer theologischen Bedeutung – in den Hin-
tergrund. Die Rezeption der Bibel ist mehr und mehr durch alternative Me-
thoden, engagierte Lektüreformen und praktische Vermittlungsformen ge-
prägt.25
2. Die Internationalisierung und Entkonfessionalisierung der Theolo-
gie
Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hinein konnte sich die deutsch-
sprachige protestantische Theologie oft als geschlossenes System verhal-
ten. In ihr hatte sich die massgebliche Forschungstradition abgespielt, sie
hatte die methodischen Standards gesetzt, aus ihr stammten die führenden
Fachvertreter und in ihr spielten sich die wesentlichen Forschungsdiskus-
sionen ab. Das ist heute nicht mehr so. Es kann sich heute kein Doktorand
25 Vgl. für eine Klassifikation G. Theissen, Methodenkonkurrenz und hermeneutischer
Konflikt. Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel, in: J. Mehlhausen (Hg.), Plura-
lismus und Identität, VWGTh 8, Gütersloh 1995, 127–140, 127f mit Anm. 1–3.
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oder keine Doktorandin mehr allein in dieser Tradition bewegen, ohne
notwendigerweise dem Dilettantismus und Provinzialismus zu verfallen.
Mit der Internationalisierung und Entkonfessionalisierung der Bibelwis-
senschaft ging aber auch eine methodische Pluralisierung der Zugänge zur
Bibel einher, die die – in der deutschsprachigen protestantischen Theologie
privilegierte – historische Kritik auch innerhalb der Wissenschaft zu einer
unter mehreren Optionen machte.
3. Spezialisierung und Isolierung der theologischen Einzeldisziplinen
Weiter ist auf den Befund aufmerksam zu machen, dass sich die traditio-
nellen fünf Hauptdisziplinen der Theologie, Altes Testament, Neues Tes-
tament, Kirchengeschichte, Systematische und Praktische Theologie heute
in einem solchen Mass spezialisiert und verselbständigt haben, dass das
innertheologische Gespräch zwischen den Disziplinen stark an Bedeutung
verloren hat. Für die historische Bibelkritik brachte das das doppelte Prob-
lem mit sich, dass einerseits etwa in der Systematischen oder Praktischen
Theologie die konkreten Resultate der historisch arbeitenden Bibelwissen-
schaften kaum rezipiert worden sind. Andererseits ist die historisch-
kritische Methode in den Bibelwissenschaften ihrerseits kaum von neueren
geschichtstheoretischen Überlegungen affiziert worden, wie sie in der Kir-
chengeschichte, Systematischen Theologie oder Philosophie angestellt
werden. Beides trägt nicht gerade zur Bedeutungssteigerung der histori-
schen Bibelkritik bei.
4. Auswirkungen der Rezeptionsforschung
Schliesslich sind die Resultate der modernen Rezeptionsforschung nicht zu
unterschätzen, die ihren Eindruck auch auf die Theologie gemacht haben.
Textsinn ist nicht nur und ausschliesslich von seiten des Textes determi-
niert, sondern es gibt fraglos so etwas wie eine Mitarbeit des Lesers oder
der Leserin bei der Konstitution des Textsinns. Das heisst nicht, dass die
Leser allein dem Text vorschreiben, was er zu sagen hat. Es heisst aber
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eben auch nicht, dass es ein Verstehen abgesehen von den Verstehensvo-
raussetzungen der Leser gibt.26
Für die protestantische Theologie ist das vielleicht ein auf den ersten Blick
ungeliebter Gedanke, den man aufgrund seiner Evidenz lieber ausblendete
als bekämpfte. Bei näherem Hinsehen ist aber gerade aus protestantischer
Perspektive die Mitarbeit des Lesers beim Lesevorgang als ein entschei-
dender Punkt zu würdigen: Er macht auf seine Weise deutlich, was der
Theologie immer ein fundamentales Anliegen war: Dass nämlich der
Glaube nicht more geometrico aus der Bibel andemonstriert werden kann,
sondern dass Glaube etwas ist, was auf dem sanften Weg der Resonanz,
der Überzeugung und der Einsicht zustande kommt.
Doch gerade wenn man sich der Rezeptionsforschung nicht verschliesst,
scheint die historisch-kritische Methode auch von hierher wiederum eher
in das Hintertreffen zu geraten. Sie ist im Wesentlichen produktionsorien-
tiert, und die Einbindung rezeptionsorientierter Fragestellungen verlangt
jedenfalls nach einer Modifiktion ihrer traditionellen Gestalt.
V. Die Zukunft der historisch-kritischen Methode
Welche Stellung, Bedeutung und Zukunft hat die historisch-kritische Me-
thode angesichts dieser Entwicklungen noch? Zunächst einmal wird man
festhalten müssen, dass einige der skizzierten Entwicklungen zwar prob-
lematisch, andere aber durchaus legitim sind. Ein blosses Beharren auf der
klassichen Gestalt der historisch-kritischen Methode unter gleichzeitigem
Lamento über den auch anderwärts zu beobachtenden Untergang des
Abendlands wäre gerade dieser Methode selber nicht angemessen. Ja, man
wird sogar zugestehen müssen, dass die historische Bibelkritik zumindest
in der protestantischen Theologie mancherorten bis zu einem gewissen
Grad selbst mythologisiert worden ist: Wird ein Bibeltext nur nach den
Regeln der historisch-kritischen Kunst exegesiert – so war die Meinung –,
26 Vgl. R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, UTB 303, München 41994.
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dann erschliesst sich seine theologische Bedeutung von selbst. Die refor-
matorische Grundentscheidung für den sensus literalis gegenüber allen
allegorischen Auslegungen der Bibel wurde im erwachenden Historismus
des 18. und 19. Jahrhundert, als die protestantische Theologie ihre institu-
tionelle gefügte Gestalt bekam, dankbar aufgegriffen. Wer historisch arbei-
tet, gelangt ohne weiteres zum theologischen Kern der Sache. Diese Auf-
fassung ist nicht ganz falsch. Sie ist aber wahrscheinlich auch nicht ganz
richtig.
Es kommt darauf an, was man unter „historisch-kritischer“ Arbeit versteht.
Man kann darunter das trockene Brot der historischen Einordnung von
Texten verstehen. Wenn man sich so entscheidet, liegt es auf der Hand,
dass historisch-kritische Exegese kaum theologische Bedeutung hat und
der Ergänzung bedarf. Dann geht es bei ihr um das, was herkömmlicher-
weise als „Einleitungsfragen“ bezeichnet wird. Um zur Theologie vorzu-
stossen, wären zusätzliche Anstrengungen nötig. Gerade Ratzingers Jesus-
buch zeigt aber, dass die Möglichkeit, die historisch-kritische Methode
dazu um so etwas wie kanonische Exegese zu erweitern, mit erheblichen
Problemen behaftet ist. In der Durchführung Ratzingers wird die histori-
sche Kritik jedenfalls nicht organisch mit der kanonischen Lektüre ver-
bunden, sondern von dieser sanft umarmt und erdrückt. Dem theologisch
höchst bedeutsamen Umstand, dass der Schatz des Gotteswortes nur in den
irdenen Gefässen des Menschenworts zu haben ist, wird hier nicht ange-
messen Rechnung getragen.
Deshalb erscheint die Lösung angemessener, nicht die historisch-kritische
Exegese um weitere Vermittlungs- und Anwendungsschritte zu erweitern,
sondern sie selbst so weit zu fassen, dass sie einerseits den heutigen me-
thodischen Anfordernungen an sie genügt, und andererseits auch – das
würde ich davon nicht trennen – theologische Relevanz hat. Denn es bleibt
doch nach wie vor festzuhalten: So richtig es ist, dass die historische Kritik
nicht einfach automatisch auf theologische Aussagen führt, so ist es
gleichzeitig eben auch richtig, dass es theologische Funktionen der histori-
schen Bibelkritik selbst gibt. Die Bibelkritik ist gegen Ratzinger eben nicht
nur von historischer, sondern als solche auch von theologischer Bedeu-
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tung. Ihre unverzichtbaren theologischen Leistungen hatte bereits Ebeling
1950 in dem genannten Aufsatz herausgestellt. Sie sichert zunächst die
Fremdheit, das Gegenüber der Bibel. Das betrifft nicht nur – wie der Alt-
testamentler Bernhard Duhm sich 1892 ausdrückte – den Schutz vor „Raz-
zien der Dogmatiker aller Farben“,27 sondern die Externität des Bibelwor-
tes überhaupt, ohne die das Christentum in einer theologischen Endlos-
schlaufe versinken würde. Nur wenn die Bibeltexte in einer Weise ange-
gangen werden, die das eigene Vorverständnis nicht als Tugend, sondern
als Not einstuft, werden sie etwas zu sagen haben.
Vielleicht noch entscheidender ist aber der folgende Aspekt. An der Ak-
zeptanz der Bibelkritik hängt die Frage, ob das Christentum eine Weltreli-
gion oder eine Sekte sein will, ob die Kirche eine Volkskirche oder ein
fundamentalistischer Zirkel sein will, ob das Christentum etwas mit dieser
Welt oder nicht zu tun haben will. Auf unfehlbare, unhinterfragbare himm-
lisch geoffenbare Schriften berufen kann sich jede Religion, wenn sie will.
Das ist aber eine typische Sektenargumentation. Der Glaube an den Glau-
bensgrund wird bereits vorausgesetzt. Allerdings: Elefantenzähne werden
auch nicht aus Klaviertasten gemacht. Im Christentum ist das Verhältnis
von Glaube und Bibel anders gedacht: Die Bibel ist ja nicht bloss für die-
jenigen zugänglich, die bereits an sie glauben, sondern umgekehrt kann sie
dazu führen, Glauben zu wecken.
Die in bestimmten Kreisen als theologische Geissel wahrgenommene his-
torische Bibelkritik – man denke an die Chicago-Erklärung – erweist sich
bei näherem Hinsehen nicht als Hindernis, sondern als unabdingbares
Element einer theologisch verantworteten, der Wahrheit verpflichteten Bi-
belrezeption. Hellsichtig hatte Ebeling entsprechend bereits 1950 diagonis-
tiziert, dass die damals – und so kann man hinzufügen, auch heute noch –
bestehenden Probleme der christlichen Theologie und Verkündigung, die
er in deren Lahmheit und Wirklichkeitsferne sah, nicht mit der übermäch-
tigen Dominanz des historischen Bewusstseins, sondern umgekehrt mit
27 B. Duhm, Das Buch Jesaja, HKAT III/1, Göttingen 1892, 3.
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dessen Ausfall zu tun hat, weil dieser Ausfall einen ruinösen Wirklich-
keitsverlust zur Folge hat.
Wenn manche historisch-kritischen Bibelauslegungen heute blutleer und
langweilig erscheinen mögen, dann ist in der Regel dazu festzuhalten: Die-
se Auslegungen sind nicht deshalb blutleer und langweilig, weil sie zu his-
torisch sind, sondern weil sie zuwenig historisch sind – „historisch“ in ei-
nem inhaltlich gefüllten Sinn. Offenbar haben sie es nicht erreicht, die Bi-
beltexte als ernste Lebensäusserungen ihrer Zeit in ihrem religiösen Kon-
text plausibel zu machen. Offenbar ist es ihnen nicht gelungen, den exis-
tentiellen Erfahrungshorizont dieser Texte nachzuzeichnen. Historische
Kritik muss entsprechend nicht beschnitten, sondern sie muss intensiviert
werden, sie muss authentischer werden, sie muss anschaulicher werden.
Der Kirchengeschichtler Hans Lietzmann hat einmal gesagt, die historisch-
kritische Methode sei nichts anderes als die Anwendung des gesunden
Menschenverstands auf die Bibel. Darum geht es: Nicht um die Anreiche-
rung eines Textes um historische Quisquilien, sondern um dessen Betrach-
tung mit dem gesunden Menschenverstand.
Eine so betriebene historische Kritik könnte ihrerseits auch ohne weiteres
theologisch relevant sein. Theologie ist eben kein supranaturaler Firniss,
mit dem das historische Geschäft nun in erbaulicher oder metaphysischer
Weise überdacht würde, sondern die Theologie hängt substanziell am Hier
und Jetzt. Sie ist nicht zu haben losgelöst von den konkreten existenziellen
Erfahrungen, auf die sie sich bezieht.
Es gibt einen theologiegeschichtlich höchst bedeutsamen Versuch, diese
zugleich historische und theologische Intensivierung der historischen Bi-
belkritik zu beschreiben. Sie stammt von Karl Barth und findet sich im
Vorwort zur 2. Auflage seines Römerbriefkommentars aus dem Jahr 1922.
Die 1. Auflage hatte ihm von mancher Seite – weil er zu theologisch und
zuwenig historisch argumentiere – den Vorwurf eingetragen, ein Verächter
der Bibelkritik zu sein. Barth anerkannte dann im Vorwort der 2. Auflage
ausdrücklich „Recht und Notwendigkeit“ der Bibelkritik, aber er macht ihr
das „Stehenbleiben bei einer Erklärung des Textes“, die er „keine Erklä-
rung des Textes nennen kann, sondern nur den ersten primitiven Versuch
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einer solchen, nämlich bei der Feststellung dessen‚ was da steht’“28. Dem-
gegenüber fordert Barth, müsse die Bibelkritik zu einem Verstehen dessen
vordringen, was in diesen Texten vorgetragen wird.
„Kritischer müssten mir die Historisch-Kritischen sein!“29 – „Bis zu dem
Punkt muss ich als Verstehender vorstossen, wo ich nahezu nur noch vor
dem Rätsel der Sache, nahezu nicht mehr vor dem Rätsel der Urkunde als
solcher stehe, wo ich es also nahezu vergesse, dass ich nicht der Autor bin,
wo ich ihn nahezu so gut verstanden habe, daß ich ihn in meinem Namen
reden lasse und selber in seinem Namen reden kann.“ 30
Barth selber war es etwas ungemütlich, als er dies schrieb, denn er fügt so-
gleich hinzu:
„Ich weiß, daß diese Sätze mir wieder schwere Rügen eintragen werden.“31
In der Tat ist es einigermassen verblüffend zu sehen, wie der erklärte An-
tiromantiker Barth zu strukturell romantischen Modellen des Sich-
Einfühlens, des ‚Going-Native‘ der Bibelexegese greift, um zur Sache der
Bibel vorzustossen.
Heute würden die Akzente wohl etwas anders gesetzt werden, etwa würde
die Fruchtbarkeit des hermeneutischen Abstands des Auslegers zur Bibel
stärker betont werden. Die gegenwärtige Hermeneutik neigt mit guten
Gründen dazu anzunehmen, dass ein Autor selbst nicht immer der beste
Ausleger seiner eigenen Texte ist. Wie Paulus zu werden, ist nicht der an-
gezeigte Weg, um Paulus zu verstehen. Doch das Anliegen und die Forde-
rung Barths sind mehr als aktuell geblieben. Wer Paulus verstehen will,
muss erkennen wollen, was er sagt, und nicht nur, wann und wo er es ge-
sagt hat. So ist der Bibelwissenschaft im 21. Jahrhundert mit Karl Barth zu
28 K. Barth, Der Römerbrief, Zürich
21922 (1989), XVI.
29 Römerbrief, XVIII. 30 Römerbrief, XIX. 31 Römerbrief, XIX.