Inklusion und Gerechtigkeit

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Inklusion und Gerechtigkeit

Campus Forschung Band 956

Franziska Felder ist Studienleiterin des Bereichs »Gesellschaft und Behinderung« an der Paulus-Akademie ZĂŒrich und Assistentin am Institut fĂŒr Erziehungswis-senschaft der UniversitĂ€t ZĂŒrich.

Franziska Felder

Inklusion und GerechtigkeitDas Recht behinderter Menschen auf Teilhabe

Campus VerlagFrankfurt/New York

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t ZĂŒrich im Herbst-semester 2010 auf Antrag von Prof. Dr. Ursula Hoyningen-SĂŒess und Prof. Dr. Peter Schabe r als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-39591-3

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Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen.www.campus.de

Publiziert mit UnterstĂŒtzung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftli-chen Forschung.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 .1 FĂŒnf Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 .2 Die Bedeutung der Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1 .3 Die Notwendigkeit des Erbringens einer BegrĂŒndungsleistung fĂŒr Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1 .4 Der Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Teil I: Grundlagen

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

2 . Begriff, Struktur und Funktion von Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . 31

2 .1 Der Begriff und die Funktion von Rechten . . . . . . . . . . . . . 34

2 .1 .1 Freiheiten, Kompetenzen, ImmunitĂ€ten und AnsprĂŒche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 .1 .2 Positive und negative Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 .1 .3 Rechtsobjekt, Rechtssubjekt, Rechtsgegenstand . . . . . 392 .1 .4 Das VerhĂ€ltnis von Rechten und Pflichten . . . . . . . . . 41

2 .2 Die BegrĂŒndung von Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

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2 .2 .1 Willenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 .2 .2 Interessentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

2 .3 Zwei Ebenen von Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

2 .3 .1 BedĂŒrfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 .3 .2 PlĂ€ne und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

2 .4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

3 . Behinderungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

3 .1 Das medizinische Modell von Behinderung . . . . . . . . . . . . . 63

3 .2 Das soziale Modell von Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

3 .3 Das Wohlbefindensmodell von Behinderung von Kahane und Savulescu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

3 .4 Das Wohlergehensmodell von Behinderung . . . . . . . . . . . . . . 81

3 .5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

4 . Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

4 .1 Hedonistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

4 .2 Wunschtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

4 .3 Objektive Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

4 .4 Der Capability-Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

4 .4 .1 Verwirklichungschancen und Funktionen . . . . . . . . . 964 .4 .2 Die Schwierigkeiten des Capability-Ansatzes . . . . . . . 994 .4 .3 Ein modifizierter Capability-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . 106

4 .5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Inhalt 7

Teil II: Inklusion

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

5 . Die Struktur von Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

5 .1 Gemeinschaftliche versus gesellschaftliche Inklusion . . . . . . 135

5 .2 Gemeinschaftliche Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

5 .2 .1 Partizipative versus exklusive Grundstrukturen von Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1455 .2 .2 Gemeinschaftliche Inklusion und die Bedeutung von IntentionalitÀt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1525 .2 .3 Passive Partizipation als Form von Inklusion . . . . . . . 158

5 .3 Gesellschaftliche Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

5 .3 .1 Inklusion in den Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1685 .3 .2 Inklusion in den politischen Bereich . . . . . . . . . . . . . 171

5 .4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

6 . Die normative Relevanz von Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

6 .1 Die Bedeutung sozialer IntentionalitĂ€t fĂŒr Inklusion . . . . . . 190

6 .2 Die Bedeutung von Anerkennung fĂŒr Inklusion . . . . . . . . . . 195

6 .3 Die Bedeutung von Freiheit fĂŒr Inklusion . . . . . . . . . . . . . . 207

6 .4 Freiheit, Entwicklung, Anerkennung und Inklusion . . . . . . . 215

6 .5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

7 . Das Recht auf Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

7 .1 Soziale Ungleichheit und strukturelle Benachteiligung . . . . . 228

7 .2 Der Staat als moralischer Agent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

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7 .3 Das Interesse an Nicht-Exklusion und an Inklusion . . . . . . . 243

7 .3 .1 Das Recht auf Nicht-Diskriminierung . . . . . . . . . . . . 2447 .3 .2 Das Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2547 .3 .3 Die Inhalte des Rechts auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion . . . . . . . . 258

7 .4 Ein – vorerst ernĂŒchterndes – Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

7 .5 Inklusionstugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

7 .6 Die Utopie einer guten Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

7 .7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Teil III: Anwendung

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

8 . Inklusion und SonderpÀdagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

8 .1 Die Aufgaben von Disziplin, Profession und Praxis in Hinblick auf Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

8 .2 Die Grenzen des Inklusionsauftrags in der SonderpÀdagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

8 .3 Die Herausforderungen sonderpÀdagogischen Handelns und Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

8 .4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

9 . Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

Vorwort

Das vorliegende Buch hat zum Ziel, ein Recht auf Inklusion fĂŒr Menschen mit Behinderung zu begrĂŒnden . Um dies leisten zu können, ist es nicht nur notwendig, zu klĂ€ren, was Rechte sind, auch das Konzept von Inklusion muss einer genauen begrifflichen und normativen PrĂŒfung unterzogen wer-den . Betrachtet man die Debatte um Integration oder Inklusion, stellt diese Zugangsweise zu Inklusion zumindest in der SonderpĂ€dagogik weitgehend ein Desiderat dar .

Das gewĂ€hlte Vorgehen ist ein analytisches . Als solches erhebt es An-spruch auf eine gewisse Systematik und darauf, nachvollziehbare GrĂŒnde fĂŒr eine bestimmte Position zu liefern . Ich hoffe, in der vorliegenden Arbeit solche GrĂŒnde vorzulegen und damit eine neue, sachlicher gefĂŒhrte Debatte um den Wert von Inklusion und die mit Inklusion verbundenen Forderun-gen anstoßen zu können .

Eine Arbeit wie diese wĂ€re nicht möglich gewesen ohne das Interesse und die Bereitschaft einiger Menschen, Thesen mit mir zu diskutieren, sich ein-zelne Argumente genauer anzuschauen oder den roten Faden einer Argu-mentation in den Blick zu nehmen . Dabei konnte ich mich auf Kolleginnen und Kollegen aus der Philosophie, insbesondere am Ethikzentrum der Uni-versitĂ€t ZĂŒrich sowie am University College London, verlassen . Danken möchte ich speziell Peter Schaber, Susanne Schmetkamp, Barbara Schmitz, Hubert SchnĂŒriger, Thomas Schramme, Ivo Wallimann-Helmer und Jo Wolff sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kolloquien von Pe-ter Schaber und Jo Wolff, welche die Arbeit in verschiedenen Stadien der Entwicklung begleitet haben und mit einzelnen Hinweisen mehr bewirkt haben, als hier namentlich ausgewiesen werden kann .

Auch in der SonderpĂ€dagogik haben einige Personen mit ihren Kom-mentaren und Hinweisen dafĂŒr gesorgt, dass die AnschlussfĂ€higkeit an die sonderpĂ€dagogische Diskussion hergestellt und das Ganze auch fĂŒr sonder-pĂ€dagogische Leserinnen und Leser verstĂ€ndlich wurde . Besonders danken

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möchte ich hier Corinna Badilatti Steger, Kai Felkendorff, Ursula Hoyingen-SĂŒess, Didi KĂ€ufeler, Christian Liesen, Kathrin Wanner und Corinne Wohl-gensinger .

Und schließlich gibt es auch Menschen, welche auf unterschiedliche Weise die zwischenmenschliche Inklusion der Autorin sicherstellten . Hier geht besonderer Dank an meine Familie und Freunde, insbesondere an Ueli und Robert .

1 . Einleitung

1 .1 FĂŒnf Beispiele

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Frage nach dem Recht behin-derter Menschen auf Inklusion .

Die Frage kann in ganz unterschiedlichen Bereichen des Lebens der be-troffenen Menschen auftauchen, wie die unten stehenden FĂ€lle zeigen: im Kontext der Regelschule, in einem Fußballklub oder in einer Kunsthoch-schule, um nur einige lebensweltliche Beispiele zu nennen . Sie kann sich am Aspekt des Zugangs und damit den Voraussetzungen fĂŒr Inklusion entzĂŒn-den wie auch den Prozess oder den Zustand von Inklusion selbst betreffen . Die folgenden Praxisbeispiele, die sich auf Beobachtungen und Erfahrungen stĂŒtzen,1 sollen unterschiedliche, aber keineswegs erschöpfende, Facetten der Frage nach einem Recht auf Inklusion veranschaulichen .

Beispiel 1: Sabine und das Gehörloseninternat

Sabine ist gehörlos und wurde bereits als Kleinkind mit Cochlea-Implanta-ten ausgestattet . Begleitend dazu erhĂ€lt sie eine sonderpĂ€dagogische Sprach-therapie . Sabine ist ein intelligentes und sprachbegabtes MĂ€dchen und wird von ihren Eltern in vielerlei Hinsicht unterstĂŒtzt . Mit Hilfe einer audiopĂ€d-agogischen Begleitung besucht sie mit Erfolg den Kindergarten und die Grundschule an ihrem Wohnort . Eine integrative Beschulung in der weiter-

1 Das Beispiel des MĂ€dchens, das ich Sabine nenne, verdankt sich Peter Lienhard, der dieses in der Arbeit an einem gemeinsam mit Christian Liesen und mir geschriebenen Artikel eingebracht hat . Das Beispiel von Alison Lapper verdankt sich ihrer Autobiographie â€șMy Life in my Handsâ€č (2005) . Das Beispiel von Remo stammt aus der auf SF1 2010 ausge-strahlten Sommerserie â€șÜsi Badiâ€č (auf Deutsch: Unsere Badeanstalt) . Die zwei anderen Beispiele beruhen auf eigenen Erfahrungen . Aus GrĂŒnden des Persönlichkeitsschutzes wurden hier die Namen geĂ€ndert .

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fĂŒhrenden Schule scheint problemlos möglich und ist daher fast schon be-schlossene Sache . Vor dieser Entscheidung hört sie von einem Hörbehinder-teninternat . Nach einem Besuch der dortigen Schule Ă€ußert sie sich begeistert, da sie andere MĂ€dchen mit HörbeeintrĂ€chtigung kennen gelernt und sich mit diesen sehr wohl gefĂŒhlt hat . Ihren Eltern gegenĂŒber formuliert das MĂ€dchen den Wunsch, mit anderen gleichaltrigen MĂ€dchen mit dersel-ben BeeintrĂ€chtigung die weiterfĂŒhrende Schule besuchen zu können . Die Eltern unterstĂŒtzen diese Idee, weil sie das Umfeld der Sonderschule fĂŒr die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Tochter als wichtig erachten .

Hat das MĂ€dchen ein Recht auf die von ihr gewĂŒnschte Beschulung in einem Gehörloseninternat? Und kann diese im Grunde separative Beschu-lung als Inklusion bezeichnet werden?

Beispiel 2: Remo in â€șÜsi Badiâ€č

Remo ist ein Protagonist einer mehrteiligen Doku-Serie, welche im Sommer 2010 im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde . Diese begleitet sechs Men-schen mit geistiger BeeintrĂ€chtigung bei ihrer Arbeit im öffentlichen Freibad St . Margrethen, nahe der deutschen und österreichischen Grenze . Die sechs fĂŒr die Serie ausgewĂ€hlten Menschen helfen dem Bademeisterehepaar einen Sommer lang beim Bewirten der GĂ€ste, den Reinigungsarbeiten auf dem GelĂ€nde und beim Kioskbetrieb . Gemeinsam mit zwei Betreuern wohnen sie wĂ€hrend fast zweier Monate in Wohnwagen auf dem GelĂ€nde .

Bereits in der ersten Folge zeigen sich Probleme zwischen Remo, einem 43-jĂ€hrigen Mann mit Down Syndrom, und seinen fĂŒnf Kollegen . Remo wird von den anderen als laut, frech und faul angesehen, als jemand, der sich jeweils die besten Arbeiten aussucht und das macht, was ihm gerade passt . In der vierten Sendung scheint die Situation zu eskalieren: Remo will nach Hause und einige seiner Kollegen Ă€ussern die Meinung, dass das Leben auf dem Zeltplatz angenehmer wĂ€re ohne ihn .

Hat Remo ein Recht, in die Gemeinschaft inkludiert zu sein, selbst wenn seine Anwesenheit andere stört? Falls ja: Kann er sich dabei auf seine Beein-trĂ€chtigung beziehen? Gibt ihm diese, anders gefragt, ein besonderes Recht auf Inklusion in die Gemeinschaft? Oder ist es vielmehr so, dass seine fĂŒnf Kollegen das Recht haben, ihn aus der Gemeinschaft auszuschließen?

Einleitung 13

Beispiel 3: Alberto und der Lieblingsfußballklub

Alberto ist der wohl treuste und grĂ¶ĂŸte Fan eines der beiden stadtzĂŒrcheri-schen Fußballklubs . Er hat eine schwere Cerebralparese und kann nur den Zeigefinger seiner rechten Hand willentlich und koordiniert bewegen . Al-berto wohnt in einem Heim, das vorwiegend von Menschen mit geistiger BeeintrĂ€chtigung bewohnt wird . Als Mensch mit schwerer körperlicher, aber ohne geistige BeeintrĂ€chtigung fĂŒhlt er sich in diesem Heim unwohl . Die AusflĂŒge an die wöchentlichen Fußballmatches wĂ€hrend der Fußballsaison sind daher willkommene AusflĂŒge aus der fĂŒr ihn tristen Welt des Heims .

Da sein Vater eine hohe Position innerhalb des Schweizerischen Fußball-verbands bekleidet hat, erlangt Alberto frĂŒh Zugang zu Fußballspielern, Fußballspielen und Fußballclubs . Des Öfteren wird er zu AnlĂ€ssen mit pro-minenten Fußballspielern eingeladen und darf auch alle Spiele seines Lieb-lingsklubs gratis besuchen . In seinem Heimklub hat er den Posten eines so genannten â€șFußballmaskottchensâ€č inne . Das bedeutet, er darf auf den Mann-schaftsfotos erscheinen, als wĂ€re er ein regulĂ€res Mitglied der Mannschaft . Auch darf er sich wĂ€hrend den Spielen außerhalb des Spielfelds in dem Be-reich, der eigentlich fĂŒr die Mannschaft und gegebenenfalls fĂŒr SanitĂ€ter und Sicherheitspersonal reserviert ist, aufhalten .

Hat Alberto ein Recht auf diese Form von Inklusion in seinen Lieblings-verein? Falls ja, aus welchen GrĂŒnden kĂ€me ihm dies zu? Hat er zudem ein Recht auf spezielle UnterstĂŒtzung, beispielsweise auf Begleitung zu den je-weiligen Fußballspielen?

Beispiel 4: Alison Lapper und der Zugang zur Kunsthochschule

Alison Lapper ist eine englische KĂŒnstlerin, die ohne Arme und mit verkĂŒrz-ten Beinen geboren wurde . Bekannt wurde sie vor allem durch die Statue des Bildhauers Marc Quinn, der sie nackt und im 7 . Monat schwanger darstell-te . Die Statue mit dem Titel â€șAlison Lapper pregnantâ€č – eine ĂŒber 15 Tonnen schwere Marmorfigur, welche die 4 . SĂ€ule am Trafalgar Square wĂ€hrend rund zweier Jahre belegte – erregte großes Aufsehen .

Lapper hatte seit frĂŒhester Kindheit in einem Heim gelebt, aus dem sie mit 19 Jahren schließlich auszog . In London suchte sie sich eine Wohnung und erwarb den FĂŒhrerschein . Ein Studium in bildender Kunst an der Uni-versitĂ€t von Brighton schloss sie mit Auszeichnung ab . Heute ist Alison Lap-

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per selbst eine bekannte und bedeutende KĂŒnstlerin, unter anderem wurde sie 2003 von der Queen mit dem Order of the British Empire (MBE) fĂŒr ihre kĂŒnstlerische Arbeit ausgezeichnet . Sie hat einen Sohn, der ohne körper-liche BeeintrĂ€chtigung zur Welt kam und der hĂ€ufig Gegenstand ihrer Kunst und der Auseinandersetzung mit Fragen rund um Behinderung und Schön-heit ist .

Obwohl Alison Lapper weitgehend selbstĂ€ndig ist, braucht sie bei zahl-reichen alltĂ€glichen Verrichtungen UnterstĂŒtzung und Begleitung durch an-dere Menschen . Insbesondere benötigte sie UnterstĂŒtzung und Begleitung beim Besuch der Kunsthochschule, fĂŒr deren Besuch sie den Zuschlag erhal-ten hatte . Hat Alison Lapper ein Recht auf die besondere UnterstĂŒtzung? Und was hat eine solche UnterstĂŒtzung oder Begleitung mit Inklusion zu tun?

Beispiel 5: Karin und der Kindergarten in der Gemeinde

Karin ist ein MĂ€dchen von fĂŒnf Jahren, das mit Spina bifida geboren wurde . Als Folge dieser SchĂ€digung ist sie auf den Rollstuhl angewiesen und bis heute weitgehend inkontinent, so dass sie, anders als andere Kinder in ihrem Alter, Windeln tragen muss . Der Kindergarten in ihrer Gemeinde ist nicht auf Kinder im Rollstuhl eingestellt . Eine Treppe fĂŒhrt vom Erdgeschossbe-reich in den ersten Stock eines Holzhauses, in welchem sich der Kindergar-ten der kleinen Landgemeinde befindet .

Den Eltern von Karin ist es wichtig, dass ihre Tochter mit anderen Kin-dern des Wohnortes beschult werden kann . Eine Beschulung in diesem Kin-dergarten wĂ€re aber mit großen baulichen Anpassungen am GebĂ€ude ver-bunden . Der Bau einer Rampe ist aufgrund des Höhenunterschiedes und der engen PlatzverhĂ€ltnisse vor dem GebĂ€ude nicht möglich, da die Rampe zu steil ausfallen wĂŒrde . In Frage kommt also nur der Bau eines Lifts, wel-cher an der Außenseite des GebĂ€udes angebracht werden könnte . Die kleine Landgemeinde erachtet den Bau eines Lifts als zu teuer und auch unange-messen angesichts der Tatsache, dass Karin die einzige Person ist, die gegen-wĂ€rtig einen solchen Lift benötigt . Auch bringen Gemeindevertreter das Argument ein, dass Karin die Möglichkeit zum Besuch einer Sonderschule hĂ€tte, welche sich in einer der Nachbargemeinden befindet .

Haben die Eltern das Recht, stellvertretend fĂŒr ihre Tochter auf den Bau dieses Lifts zu drĂ€ngen, welcher ihr den Besuch des Regelkindergartens er-

Einleitung 15

möglichen wĂŒrde? Haben sie darĂŒber hinaus auch das Recht auf Begleitung ihrer Tochter beim Toilettenbesuch, den sie nicht allein erledigen kann?

1 .2 Die Bedeutung der Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion

Die Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion fĂŒr behinderte Men-schen ist aus zwei GrĂŒnden interessant und bedeutsam . Erstens ist Inklusion ein Wert, auf den oft und in unterschiedlichen politischen und sozialen Zu-sammenhĂ€ngen referiert wird (vgl . Buchanan 1993; Hillmert 2009; Wansing 2009; Wilson 2000; Young 1989) . Auch beziehen bestimmte Disziplinen, beispielsweise die SonderpĂ€dagogik oder die soziale Arbeit, einen Großteil der LegitimitĂ€t ihres Handelns daraus, ob und wie sie die soziale Inklusion benachteiligter Menschen fördern . Inklusion ist ein Ziel professionellen Handelns in diesen Disziplinen, Professionen und Praxen . Damit ist Inklu-sion ein konzeptioneller SchlĂŒsselbegriff, der sowohl in unterschiedlichen wissenschaftlichen, professionellen, praktischen und politischen Diskursen als auch im Alltagsleben von Menschen Anwendung findet .

Zweitens involvieren moralische Rechte besonders starke moralische An-sprĂŒche . Denn Rechte implizieren Pflichten auf anderer Seite, sich in be-stimmter Weise zu verhalten . Haben Menschen also ein Recht auf Inklusion, bestehen Pflichten auf Seiten anderer Menschen oder Institutionen . Damit sind die Pflichten, welche durch die Rechte ausgelöst werden, von besonde-rem Interesse . Kann nĂ€mlich ein moralisches Recht auf Inklusion aufgezeigt und mit GrĂŒnden unterlegt werden, haben die betreffenden Disziplinen und Praxen in ihrem anwaltschaftlichen Auftrag besondere TrĂŒmpfe in der Hand . Dasselbe gilt fĂŒr die Betroffenen selbst . Inklusion ist so betrachtet nĂ€mlich keine Sache von Freiwilligkeit oder WohltĂ€tigkeit mehr .

Die Frage nach einem Recht auf Inklusion mag einige Leserinnen und Leser, beispielsweise in der SonderpĂ€dagogik, auf den ersten Blick verwirren, denn ihre positive Beantwortung wird in dieser und anderen Disziplinen gemeinhin vorausgesetzt . Die Frage, könnte man demnach schließen, ist eine rhetorische und zudem eine gefĂ€hrliche, da sie das Recht auf Inklusion vorgĂ€ngig in Frage stellt .

Ich möchte im Folgenden allerdings zeigen, dass diese EinschÀtzung vor-schnell wÀre . Denn im Zentrum meines Interesses steht nicht nur die gene-

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relle Frage nach einem Recht auf Inklusion, sondern auch die folgenden Anschlussfragen: Wenn ja, worauf genau? Wie sieht ein solches Recht aus? Ist ein Recht auf Inklusion ein spezielles Recht, das nur bestimmten Men-schen zukommt, nĂ€mlich solchen, von denen man sagt, sie hĂ€tten eine Be-hinderung? Kommt ihnen dies gegebenenfalls als Gruppe zu? Oder ist es ein allgemeines Recht, das allen Menschen zukommt? Hat ein Recht auf Inklu-sion, wenn es das denn gibt, Grenzen, und falls ja, wie lassen sich diese be-grĂŒnden? Was bedeuten die Pflichten, die mit Rechten korrespondieren? Wer muss diese Pflichten tragen, einzelne Individuen oder Gruppen? Was ist der genaue Inhalt dieser Pflichten? Kann darĂŒber hinaus etwas ĂŒber Forde-rungen nach Inklusion aus ethisch-normativer Sicht gesagt werden? Und schließlich: Gibt es neben einem Recht auf Inklusion auch andere morali-sche Kategorien, mit denen Forderungen untermauert werden könnten, bei-spielsweise Tugenden der Inklusion?

Zwei offene Fragen: Die Konzepte Behinderung und Inklusion

Einige der oben genannten Anschlussfragen verweisen auf die Konzepte von Behinderung und Inklusion, die es zu klĂ€ren gilt . Die Frage nach einem Recht behinderter Menschen auf Inklusion weist somit jenseits der KlĂ€rung der Struktur, der Funktion und der Inhalte moralischer Rechte auf zwei wei-tere offene Fragen hin: Erstens, was versteht man im vorliegenden Zusam-menhang unter einer Behinderung? Zweitens, was bedeutet Inklusion res-pektive wie sind die Struktur und die normative Relevanz von Inklusion zu sehen? Was, mit anderen Worten, bedeutet es, inkludiert zu sein und warum ist dies wichtig fĂŒr das Leben von Menschen?

Stellt man die Frage nach einem Recht behinderter Menschen auf Inklu-sion, weist dies erstens darauf hin, dass in der Behinderung offensichtlich mangelnde oder gescheiterte Inklusion verborgen liegt . Behinderung ist, mit anderen Worten, ein Problem oder eine Herausforderung fĂŒr die Inklusion der betroffenen Menschen . Was auf den ersten Blick tautologisch wirkt, weist letztlich darauf hin, dass Inklusion und Behinderung in der vorliegen-den Arbeit in einem wechselseitigen BegrĂŒndungsverhĂ€ltnis stehen . Was nĂ€mlich genau als Problem oder als Herausforderung fĂŒr die betroffenen Menschen gesehen wird, zeigt sich erst vor dem Hintergrund eines bestimm-ten VerstĂ€ndnisses von Behinderung . Behinderung und Inklusion verweisen also in der Hauptfrage der Arbeit wechselseitig aufeinander, und zwar nicht

Einleitung 17

hinsichtlich der Konzepte selbst – die Struktur und Bedeutung von Inklu-sion erschließen sich auch ohne Bezug zu Behinderung – sondern hinsicht-lich der Interpretation der lebensweltlichen Problematik und im Zuge dessen auch in der Beurteilung derselben durch Disziplinen wie der SonderpĂ€dago-gik oder der sozialen Arbeit .

Um zu verdeutlichen, was ich damit meine, kann man sich folgende mögliche Interpretation der Problematik von Behinderung und Inklusion vor Augen fĂŒhren: Setzt man eine Behinderung mit einer intrinsisch beding-ten SchĂ€digung der Körperfunktionen und -strukturen gleich, ist es nahelie-gend, die Ursachen fĂŒr mangelnde oder fehlende Inklusion in abwesenden individuell-intrinsischen Faktoren – beispielsweise Intelligenz oder Körper-stĂ€rke – zu sehen . Versteht man unter Inklusion weiter eine aktive Partizipa-tion in einem bestehenden Kontext, beispielsweise einer Schulklasse, wĂŒrde UnterstĂŒtzung und Hilfe vordringlich daran anschließen, die Betroffenen fĂŒr ihre Inklusion â€șfitâ€č zu machen . Fehlende Ressourcen oder inadĂ€quate Strukturen werden aber nicht prominent thematisiert, sondern tauchen, wenn ĂŒberhaupt, höchstens am Rande auf .

Dieses Beispiel zeigt, dass es notwendig ist, die beiden Konzepte Behin-derung und Inklusion zu klĂ€ren, bevor man dazu ĂŒbergehen kann, die Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion fĂŒr behinderte Menschen zu beantworten . Die Erarbeitung eines Konzepts von Behinderung, insbeson-dere der normativen Relevanz von Behinderung, sowie der Struktur und normativen Bedeutung von Inklusion wird dementsprechend in der Arbeit viel Raum einnehmen und die Grundlage zur Beantwortung der eigentli-chen Hauptfrage liefern .

1 .3 Die Notwendigkeit des Erbringens einer BegrĂŒndungsleistung fĂŒr Inklusion

Mit meinem Vorgehen vertrete ich implizit eine andere Position als das Gros der Literatur zu Inklusion, insbesondere in der SonderpĂ€dagogik .2 Denn ge-rade das Konzept von Inklusion scheint aus deren Sicht oft nicht begrĂŒn-

2 Dasselbe trifft auf Vertreter der Integrationsbewegung zu, welche beobachtbar von der Inklusionsbewegung abgelöst wird (vgl . Liesen und Felder 2004) .

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dungsbedĂŒrftig .3 Der Großteil der Autoren in der Sonder- und Inklusions-pĂ€dagogik, die sich zu Inklusion Ă€ußern, sind vielmehr – oft auch implizit4 – der Meinung, dass es allenfalls darum gehe, darzulegen, was Rechte (meist verstanden als Menschenrechte) seien und diese auf das Konzept von Inklu-sion anzuwenden .5 FĂŒr das Konzept Inklusion selbst zu argumentieren, er-achten aber viele Autoren nicht als Aufgabe fĂŒr die eigene Disziplin . Viel-mehr dient Inklusion als – oft unhinterfragter – Leitbegriff und Horizont fĂŒr einen anzustrebenden Zustand lebensweltlicher Eingebundenheit . Aus die-sen GrĂŒnden ist es wenig erstaunlich, dass Inklusion in der disziplinĂ€ren Reflexion als Richtschnur fĂŒr â€șrichtige PĂ€dagogikâ€č und als Containerbegriff fĂŒr eine Vielzahl von pĂ€dagogischen Konzepten und ZugĂ€ngen fungiert .

Besonders auffĂ€llig ist in diesem Zusammenhang, dass sich im Kontext der sonderpĂ€dagogischen Diskussion um Inklusion die Ansicht durchgesetzt hat, dass Inklusion vollstĂ€ndige Eingebundenheit meine, der im Gegensatz zu Integration nie ein Ausschluss oder eine Separation vorangegangen sei . Rhetorisch wird diese Auffassung in den meisten FĂ€llen so wiedergegeben, dass ausgedrĂŒckt wird, Menschen mit einer BeeintrĂ€chtigung hĂ€tten in ei-nem inklusiven VerstĂ€ndnis â€șimmer schon dazu gehörtâ€č, wĂ€hrend sie in ei-nem integrativen VerstĂ€ndnis nachtrĂ€glich dazu gezĂ€hlt worden seien (vgl . Hinz 2002, 2003, 2004) . Nun lassen sich zwar solche Unterschiede in der Wahrnehmung, Einstellung und Behandlung von Menschen gegenĂŒber an-deren Menschen durchaus beobachten . Es macht beispielsweise einen gro-ßen Unterschied, ob man Rollstuhl fahrende Menschen beim Bau eines neu-en GebĂ€udes als selbstverstĂ€ndlich zu einer Gesellschaft gehörende BĂŒrger mit berĂŒcksichtigt und eine Rampe oder einen Lift einbaut, der den Zugang fĂŒr alle gewĂ€hrleistet, oder ob man bestimmte Menschen erst nachtrĂ€glich berĂŒcksichtigt . Insbesondere bei Fragen der baulichen, infrastrukturiellen oder technischen ZugĂ€nglichkeit zeigen sich die Unterschiede in den Be-trachtungsweisen deutlich .

3 Besonders deutlich dahingehend Ă€ußert sich beispielsweise Hans Wocken (1995, S . 110): »Ich weigere mich daher mit der Integrationsbewegung ĂŒberhaupt irgendeinen Grund anzugeben, warum wir gegen Trennung, gegen Ausgrenzung, gegen Isolation und fĂŒr Ge-meinsamkeit sind .« Kritisch hingegen zu solchen und Ă€hnlichen Auffassungen Ă€ußern sich beispielsweise John Wilson (1999, 2000) und Alan Dyson (1999) .

4 Oft wird dies nur durch die Abwesenheit des Erbringens einer BegrĂŒndungsleistung er-sichtlich (vgl . Feuser 2002; Hinz 2003; Preuss-Lausitz 2005; Sander 2003, 2004) .

5 Diese EinschÀtzung hÀngt meiner Meinung nach zentral damit zusammen, dass Inklusion im Gegensatz zu vielen anderen normativen Fragen in der SonderpÀdagogik keine eigent-liche Frage, sondern bereits eine Antwort ist . Die Antwort ist zweifelsohne, dass inklusive Bildung besser sei als separative (vgl . Dyson 1999) .

Einleitung 19

Dennoch macht die Aussage, Inklusion sei dann umgesetzt, wenn man â€șimmer schon dazugehöreâ€č, es keine Exklusion mehr gebe, empirisch wie begriffslogisch keinen Sinn . Denn erstens ist es so, dass Menschen immer auch aus bestimmten Kontexten exkludiert sind . Menschen leben in Bezie-hungen und wĂ€hrend sie versuchen, zu sozialen Beziehungen und unter-schiedlichen Kontexten Zugang zu finden und dazuzugehören, bedeutet dies implizit oder explizit immer auch, dass diese Beziehungen oder gebildeten Institutionen RĂ€nder oder Grenzen haben (vgl . Abrams, Hogg und Marques 2005) . Oft werden diese Grenzen neu gebildet oder erweitert und in vielen FĂ€llen werden diese Ein- und AusschlĂŒsse von den Betroffenen auch als mo-ralisch unproblematisch wahrgenommen . Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sie an einem Einschluss gar nicht interessiert sind oder wenn Ein-schlĂŒsse oder AusschlĂŒsse sich natĂŒrlicherweise ĂŒber VerĂ€nderungen in Be-ziehungsformen ergeben . Am Beispiel der Familie zeigt sich das deutlich: Familien gewinnen Mitglieder durch Geburt oder Heirat . Sie verlieren sie aber auch wieder, beispielsweise durch Scheidung oder Tod . Diese Änderun-gen in zwischenmenschlichen Beziehungen sind zu einem großen Teil natĂŒr-lich oder gewollt . Sie können zwar im Falle von Tod oder Scheidung mit Trauer verbunden sein, niemand aber wĂŒrde sagen, diese mit den verĂ€nder-ten Beziehungsformen einhergehenden Ein- oder AusschlĂŒsse wĂ€ren mora-lisch gesehen problematisch . Zweitens macht die Aussage, bei Inklusion gebe es keine Exklusion oder Separation mehr, weil alle Menschen immer schon dazu gehören wĂŒrden, auch begriffslogisch keinen Sinn . Denn die Grenzen, welche sich durch Beziehungen und Institutionen automatisch ergeben, im-plizieren per definitionem ein Außen und damit Exkludierte, Menschen bei-spielsweise, die nicht zu diesen Kontexten gehören . Weiter unten wird sich zeigen, worin die moralische Problematik solcher AusschlĂŒsse besteht . Dass eine moralische Problematik aber nicht per se und ohne weitere ErlĂ€uterun-gen besteht und dass Exklusion und Separation logische Folgen jeder Form von Inklusion sind, sollte nachvollziehbar geworden sein .

Ich halte die Ansicht, keine BegrĂŒndungsleistung fĂŒr Inklusion erbringen zu mĂŒssen respektive dies als theoretische, letztlich aber sinnlose disziplinĂ€re Spielerei zu betrachten, aus mehreren GrĂŒnden fĂŒr falsch . Erstens ist die behauptete unĂŒberbrĂŒckbare Differenz zwischen Erfahrungs- oder Praxis-wissen und theoretischem oder normativem Wissen nicht konsequent zu halten . SpĂ€testens dann, wenn es um Verteilungsfragen geht, ist jede Profes-sion, Praxis oder Politik auf das Vorbringen guter GrĂŒnde fĂŒr die eigenen Anliegen angewiesen, will sie den selbst auferlegten Auftrag der Anwalt-

20 Inklusion und Gerechtigkeit

schaftlichkeit ernst nehmen . Solche Argumente und GrĂŒnde werden unter anderem in einer ethisch-normativen Zugangsweise eruiert .

Zweitens ist es, wie Markus Dederich (2006, S . 100) argumentiert, gera-de auch die Distanz, welche Möglichkeiten des (theoretischen) Sehens, das heißt der Einsicht und des Erkenntnisgewinns dank Praxisentlastung, eröff-net . Die oftmals kritisierte Distanz zum Gegenstand erweist sich somit auch als Gewinn .

Drittens will und soll Theorie auch lieb gewonnene Sichtweisen, Routi-nen und moralische Urteile systematisch hinterfragen und gegebenenfalls revidieren . Dies kann sie â€șrĂŒckblickendâ€č wie auch â€șvorausblickendâ€č tun . WĂ€h-rend die rĂŒckblickende Vorgehensweise Sichtweisen, Routinen und morali-sche Urteile nach der Konsistenz ihrer PrĂ€missen und Konklusionen hin befragt, versucht die zweite vorausblickend zu eruieren, was die einmal ge-wonnen PrĂ€missen und Konklusionen implizieren . FĂŒr ein moralisches Recht auf Inklusion wĂŒrde dies bedeuten, dass man sich vor Augen fĂŒhren mĂŒsste, was ein solches Recht implizieren wĂŒrde, beispielsweise, welche Pflichten damit verbunden wĂ€ren . Viele Rechte scheitern nĂ€mlich beispiels-weise daran, dass die in ihnen implizierten Pflichten gegen andere Rechte verstoßen, etwa Persönlichkeits- oder Freiheitsrechte . Oder sie sind deshalb nicht zu begrĂŒnden, weil niemand dazu verpflichtet werden kann, ein be-stimmtes Recht umzusetzen . Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Gut, das es zu schĂŒtzen gilt, zwingend freiwillig erbracht werden muss . Ge-rade Disziplinen wie die SonderpĂ€dagogik, in welchen Inklusion eine so hohe Bedeutung genießt, mĂŒssen die Implikationen und Folgen ihrer Positi-onen bedenken . DarĂŒber hinaus mĂŒssen sie sich angesichts der KomplexitĂ€t der Problematik auch anderen Diskursfeldern zuwenden und damit enge Selbstbezogenheit, sofern vorhanden, aufgeben .6

Viertens fĂŒhrt eine ethisch-normative Reflexionsleistung, genau wie em-pirische Informationen und phĂ€nomenologisches Wissen, zu einem »subs-tantiellen Körper mit verlĂ€sslichen Informationen« (Kauffman 2004, S . 45) . Ethisch-normatives Wissen ist damit ein Werkzeug zur Problemwahrneh-mung, -bearbeitung und -lösung . Vor allen Dingen dient dieses Wissen der Akkumulation von theoretischem und normativem Wissen . Die Reflexions-leistung ist Aufgabe und Inhalt einer wissenschaftlichen Disziplin wie der SonderpĂ€dagogik, die ein solches Wissen ja bereits aus inneren Konsistenz-

6 Daran mangelt es insbesondere in der SonderpĂ€dagogik oft . Christoph Anstötz (1990, S .  133) spricht hier, polemisch, aber nicht ganz unzutreffend, von einem »autistischen Paradigma der SonderpĂ€dagogik« .

Einleitung 21

grĂŒnden benötigt . Sie kann sich, mit anderen Worten, nur so als Wissen-schaft behaupten . Aus den vorangegangenen Punkten sollte aber klar gewor-den sein, dass sich dieses Wissen nicht auf theoretische Belange beschrĂ€nkt, sondern auch Auswirkungen auf professionelles und praktisches Denken und Handeln hat (vgl . weiterfĂŒhrend auch Hoyningen-SĂŒess und Liesen 2007) . Inklusion ist damit, wie andere Werte und Konzepte in diesen Diszi-plinen, ein Gegenstand grundlegender kategorialer Analyse .

Die Bedeutung des Vorbringens von Argumenten und GrĂŒnden

Viele Erlebnisse und Erfahrungen von Menschen mit BeeintrĂ€chtigung, ih-rer Angehörigen sowie von Menschen, die in den assoziierten professionellen Feldern praktisch oder politisch tĂ€tig sind, zeigen, dass Menschen mit Beein-trĂ€chtigungen tendenziell grĂ¶ĂŸeren und qualitativ anderen Arten von sozia-ler Exklusion, Benachteiligung und Separation ausgesetzt sind als andere Menschen (vgl . Burchardt 2000a, 2000b, 2005; EuropĂ€ische Kommission 2009; Marmot 2005; Maschke 2003; McBryde Johnson 2004; Minow 1990; Wong 2009) . Aus diesen wahrgenommenen RealitĂ€ten von erlebter Benach-teiligung, Separation oder Exklusion erschließt sich denn auch ein Großteil der motivationalen Basis fĂŒr den Kampf um Inklusion .7 Im praktisch und politisch gefĂŒhrten Kampf ist der Verweis auf diese Erfahrungen legitim . VerlĂ€sst man aber das politische Parkett, benötigt man empirisches Wissen und Argumente fĂŒr die Eruierung der Bedeutung sowie möglicher Wege zur Durchsetzung und Förderung sozialer Inklusion . Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Argumente und liefert damit zuvörderst eine – de-skriptive wie auch normative – Analyse des Gegenstandes Inklusion .

Argumente stĂŒtzen bestimmte Ansichten und Meinungen mit GrĂŒnden . Das Suchen und Finden von Argumenten und GrĂŒnden fĂŒr Inklusion ver-langt nach einer sorgfĂ€ltigen Analyse der Struktur und der normativen Be-deutung von Inklusion, denn der Verweis auf politische Rhetorik, auf Über-zeugungen und Intuitionen allein hilft nicht weiter .

Insbesondere aus zwei Motiven sollte man sich nicht auf Intuitionen oder Überzeugungen allein verlassen . Intuitionen und Meinungen ersetzen ers-

7 Damit wird auch verstĂ€ndlich, dass die Quelle des Antriebs fĂŒr die Forderung nach Inklu-sion nicht eigentlich Inklusion ist, sondern im Gegenteil die lebensweltliche Erfahrung von Exklusion, Separation, Ausschluss oder Ablehnung . Hieraus erwĂ€chst die Forderung nach Inklusion und darin steckt die eigentliche Aufforderung zum Handeln .

22 Inklusion und Gerechtigkeit

tens Argumente nicht, sondern bilden allenfalls den Ausgangspunkt fĂŒr Überlegungen . Zweitens ist es in vielen FĂ€llen so, dass es Menschen gibt, welche die Intuitionen oder Meinungen der im Feld TĂ€tigen oder Betroffe-nen eben gerade nicht teilen . Dass einige dieser Menschen auch an relevan-ten praktischen Entscheidungsprozessen, beispielsweise in der Verteilung von monetĂ€ren Ressourcen, beteiligt sind, macht die Sache noch brisanter . Das argumentative Ringen muss daher spĂ€testens dort beginnen, wo ein Dissens verschiedener Meinungen vorhanden und man gezwungen ist, fĂŒr seine eigene Überzeugung GrĂŒnde vorzubringen, will man den Dialog nicht abbrechen .8 Um die gesellschaftlichen Akteure vom eigenen Anliegen ĂŒber-zeugen zu können, muss man aber sein Handeln mit vernĂŒnftigen, kohĂ€ren-ten und systematischen GrĂŒnden unterlegen . Dies sind GrĂŒnde, die auch fĂŒr Menschen außerhalb der eigenen Disziplin, Profession oder Praxis nachvoll-ziehbar sind (vgl . Liesen 2006, S . 12f .) . Forderungen nach Inklusion mĂŒssen ihrem Gehalt nach daher mehr sein als bloße Meinungs- und GefĂŒhlsĂ€uße-rungen: »Sie appellieren an die Vernunft und das Empfinden anderer und reklamieren eine ĂŒber das Subjekt hinausgehende Verbindlichkeit . Wer ein moralisches Urteil abgibt, versteht sich nicht als jemand, der lediglich seiner momentanen Befindlichkeit Ausdruck gibt oder seine höchstpersönlichen Überzeugungen mitteilt . Wer moralisch urteilt, versteht sich vielmehr in der Regel als jemand, der etwas behauptet und von den Adressaten seines Urteils erwartet, dass sie das Behauptete nach- und mitvollziehen . Er fasst sein Ur-teil eher als eine Aussage ĂŒber das Bestehen eines Sachverhalts denn als bloße Konfession oder Expression auf . Er begibt sich auf eine Ebene, von der er erwartet oder zumindest hofft, dass sie als tragfĂ€hige Grundlage fĂŒr eine Ver-stĂ€ndigung mit den jeweils Angesprochenen dienen kann« (Birnbacher 2007, S . 24) . In der Argumentation mĂŒssen daher gerade jene Motive und GrĂŒnde hervorgehoben werden, die nicht Gefahr laufen, privat und damit leicht willkĂŒrlich, subjektiv oder beliebig zu wirken (vgl . Leist 1994) . Aus diesem Grund rĂŒcken moralische Motive wie NĂ€chstenliebe, Hilfsbereitschaft oder Mitleid tendenziell eher aus dem Blickfeld . Ins Zentrum des Interesses gera-ten GrĂŒnde und Argumente .9 Ein Grund ist fĂŒr eine Person aber nur dann

8 Dieser Dissens kann auch implizit sein und sich beispielsweise in internen WidersprĂŒchen in den Aussagen oder Forderungen Ă€ußern, die nicht aktual wahrgenommen und geĂ€ußert werden mĂŒssen . Das Vorbringen von GrĂŒnden mĂŒsste also auch dort stattfinden, wo – scheinbar zumindest – sich alle einig sind und Harmonie herrscht .

9 Dabei dĂŒrfen rationale GrĂŒnde und moralische Motivation nicht verwechselt werden . Zwar ist es von Vorteil und auch wĂŒnschenswert, wenn eine begrĂŒĂŸenswerte Handlung von den Betreffenden auch mit der entsprechenden Motivation ausgefĂŒhrt wird . Aller-

Einleitung 23

ein annehmbarer Grund, wenn er nicht vernĂŒnftigerweise zurĂŒckgewiesen werden kann (vgl . Scanlon 1998) .

1 .4 Der Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile . Der erste Teil widmet sich den Grund-lagen fĂŒr die Beantwortung der Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion, der zweite Teil hat die Struktur und die normative Relevanz von Inklusion sowie das Recht auf Inklusion zum Inhalt . Ein dritter und letzter Teil beleuchtet exemplarisch die Herausforderungen und Besonderheiten, welche sich fĂŒr die SonderpĂ€dagogik ergeben .

Der Aufbau der einzelnen Kapitel ist dabei folgender: Nach der Einlei-tung, die das vorliegende erste Kapitel einnimmt, beginnt das zweite Kapitel mit der Diskussion der Frage, was unter Rechten verstanden werden soll . Ich fĂŒhre dabei in die Struktur und Funktion von Rechten ein und plĂ€diere am Ende des Kapitels fĂŒr eine BegrĂŒndung von moralischen Rechten, die Rech-te an Interessen bindet . Das heißt, ich vertrete eine interessenbasierte Theo-rie moralischer Rechte . Diese besagt im Kern, dass moralische Rechte be-stimmte wichtige Interessen von Menschen schĂŒtzen .

Um die Frage, ob Menschen mit Behinderung ein Recht auf Inklusion haben, beantworten zu können, sind, wie bereits erwÀhnt, Umwege vonnö-ten . So werden mit der eigentlichen Hauptfrage andere Fragen aufgeworfen, beispielsweise die Frage nach der normativen Problematik von Behinderung . Der Beantwortung dieser Frage widmen sich das dritte und das vierte Kapi-tel .

Das dritte Kapitel beschĂ€ftigt sich mit unterschiedlichen Modellen von Behinderung . Es ist weit verbreitet, von zwei unterschiedlichen Modellen auszugehen, einem medizinischen und einem sozialen . Ich zeige auf, dass beide ZugĂ€nge schwerwiegende Defizite haben und dass diese Defizite auch von einem dritten Modell, einem Wohlbefindensmodell, nicht gelöst werden können . Ich trete daher fĂŒr ein viertes, ein Wohlergehensmodell von Behin-

dings ersetzt diese Motivation erstens nicht die BegrĂŒndungsleistung und ist zweitens auch ein schwaches Fundament, denn Motivationen können sich rasch wandeln und zudem auch nicht vorausgesetzt werden . Die moralische Motivation ist aber eine wichtige BrĂŒcke von Einstellungen und GrĂŒnden zum Handeln .

24 Inklusion und Gerechtigkeit

derung, ein, welches große NĂ€he zum ICF-Modell der WHO hat, diesem aber einen normativen Schluss hinzufĂŒgt .

Ein Wohlergehensmodell von Behinderung wiederum wirft die Frage auf, was man unter Wohlergehen verstehen soll . Eine bestimmte, fĂŒr den vorliegenden Zusammenhang sinnvolle Auffassung von Wohlergehen wird im vierten Kapitel entwickelt . Dabei fĂŒhre ich in verschiedene Auffassungen von Wohlergehen und gutem Leben ein und zeige auf, warum eine objektive Theorie des guten Lebens am ĂŒberzeugendsten ist . Auch stelle ich an der Stelle eine bestimmte Auslegung einer solchen Theorie vor, den Capability-Ansatz oder Verwirklichungschancen-Ansatz, der in verschiedenen EntwĂŒr-fen vom indischen Ökonomen Amartya Sen und der us-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum entwickelt wurde . Allerdings ist auch der Capability-Ansatz berechtigter Kritik ausgesetzt . Ich lege dar, dass der Capa-bility-Ansatz, den Jonathan Wolff und Avner De-Shalit (2007; Wolff 2009) vertreten, die Problematik, vor der Menschen mit Behinderung in ihren In-klusionsbemĂŒhungen stehen, besser aufgreifen kann .

Das fĂŒnfte Kapitel nĂ€hert sich der Hauptfrage der Arbeit an . Dieses wid-met sich der Frage nach der Struktur von Inklusion . Dabei verfolge ich zwei Annahmen und vertiefe diese im Verlaufe des Kapitels . Die erste Intuition nimmt an, dass Inklusion mit Zugehörigkeit zu tun hat, die zweite, dass In-klusion an soziales Handeln gebunden ist . Die Hauptunterscheidung, die dieses Kapitel durchzieht, ist die Unterscheidung in gemeinschaftliche und gesellschaftliche Inklusion .

Das sechste Kapitel widmet sich der normativen Relevanz von Inklusion . An der Stelle werden auch die StrĂ€nge des dritten, vierten und fĂŒnften Kapi-tels zusammengefĂŒhrt . Ich zeige auf, inwiefern Inklusion zu einem guten Leben beitrĂ€gt und welche Risiken in den BemĂŒhungen ein gutes Leben zu fĂŒhren fĂŒr Menschen mit Behinderung bestehen . Dabei werden insbesonde-re die Bedeutung von Freiheit, Anerkennung und Entwicklung beleuchtet . Abschließende Gedanken zeigen die komplexen Beziehungen zwischen Frei-heit, Anerkennung und Entwicklung in Bezug auf Inklusion auf .

Das siebte Kapitel widmet sich der Hauptfrage der Arbeit: Haben Men-schen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Inklusion? Ausgehend von der Überlegung, dass Menschen mit Behinderung zu einer Gesellschafts-gruppe gehören, die unter sozialer Ungleichheit leidet, argumentiere ich ers-tens fĂŒr ein Recht auf Nichtdiskriminierung und zweitens fĂŒr ein weiterge-hendes, positives Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion . Hinzu kommt drittens ein Recht auf gesellschaftliche Inklusion, das aller-

Einleitung 25

dings nicht ausfĂŒhrlich erlĂ€utert wird, weil es kein spezielles Recht ist, son-dern allgemeinen BĂŒrgerrechten entspricht . Die korrespondierden Pflichten werden dabei aus normativen und pragmatischen GrĂŒnden dem Staat als kollektivem Agenten ĂŒbertragen . Das Kapitel zeigt auch auf, wo die Grenzen von Rechten liegen und was fĂŒr den Bereich jenseits davon in normativer Hinsicht ausgesagt werden kann . Es zeigt sich, dass der Bereich, in welchem ĂŒberzeugend fĂŒr ein moralisches Recht argumentiert werden kann, klein ist und insbesondere die fĂŒr Menschen wichtige SphĂ€re der gemeinschaftlichen Inklusion ausschließt . Auch die Idee von Onora O’Neill (1996), Pflichten an bestimmte soziale Tugenden zu binden, ist mit denselben Problemen wie ein Recht auf gemeinschaftliche Inklusion verbunden und kann daher nicht ver-teidigt werden . Der Bereich dessen, was von Menschen freiwillig geleistet werden muss, ist aus diesem Grund groß . Inklusion ist, mit anderen Worten, zu weiten Teilen eine Frage von Supererogation oder Freiwilligkeit .

Das achte Kapitel beleuchtet die bisherigen Erkenntnisse exemplarisch aus Sicht der SonderpÀdagogik . Dabei geht es vordringlich um die Frage, welches Handeln und Wissen die SonderpÀdagogik auf Disziplin-, Professi-ons- und Praxisebene auf der Basis von Rechten einfordern kann und wel-ches nicht . Nach einer programmatischen Skizze des Auftrags der SonderpÀ-dagogik, welches Inklusion in den unterschiedlichen Wirkungsfeldern verortet, kommt dabei die Sprache insbesondere auf die Schwierigkeiten und Herausforderungen und damit auch die Grenzen des Inklusionsauftrags in der SonderpÀdagogik .

Ein letztes, neuntes und abschließendes Kapitel fasst die Erkenntnisse der ganzen Arbeit zusammen und wagt einen Ausblick zur Zukunft der In-klusion behinderter Menschen in unserer Gesellschaft .

Nachdem ich damit den groben Aufbau der Arbeit skizziert habe, be-ginnt der erste Teil der Arbeit mit der Frage nach dem Begriff, der Struktur und der Funktion moralischer Rechte .

Teil I: Grundlagen

Einleitung

Der erste Teil der Arbeit widmet sich den Grundlagen . Um die Frage beant-worten zu können, ob es ein Recht auf Inklusion gibt und wie dieses aus-schauen könnte, mĂŒssen zuerst eine Reihe fundamentaler Fragen beantwor-tet werden . Dies kann an einem Beispiel gezeigt werden: Will man die Frage beantworten, ob Menschen einen freien Willen haben, mĂŒssen die zentralen Grundbegriffe Wille, Mensch und Freiheit, eventuell gar das Verb haben ei-ner grundlegenden Bedeutungsanalyse unterzogen werden . Tut man dies nicht, sind auch die GrĂŒnde, die zu einer bestimmten ethisch-normativen Position gefĂŒhrt haben, nicht interpersonell nachvollziehbar . Dies mĂŒssten sie aber sein, möchte man auf intersubjektive VerstĂ€ndigung und BerĂŒck-sichtigung der eigenen Forderung durch andere abzielen .

Dieselbe Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung zeigt sich auch bei der Frage, ob Menschen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Inklu-sion haben . Folgende zentralen Begriffe und Konzepte tauchen auf: Recht, Behinderung, Inklusion . Die KlĂ€rung der ersten beiden Begriffe oder Kon-zepte findet sich nachfolgend im ersten Teil dieser Arbeit . Prinzipiell gehört die KlĂ€rung aller drei Grundbegriffe zu den Grundlagen . Dennoch sollen in diesem Kapitel einzig die Begriffe und die Bedeutung von Rechten und von Behinderung im Zentrum stehen . Das hat weniger systematische, als viel-mehr praktische GrĂŒnde . Inklusion bildet gewissermaßen das KernstĂŒck der Arbeit und soll aus diesem Grund sowohl in seiner begrifflichen Dimension wie auch seiner ethisch-normativen Bedeutungsdimension in einem eigenen zweiten Teil erarbeitet werden . Grundlegender – und damit einen ersten Teil der Arbeit umfassend – scheint mir die KlĂ€rung der Konzepte Recht und Behinderung .

Bezogen auf das vorliegende Thema kann folgendes konstatiert werden: Es geht nicht nur und vor allen Dingen nicht in einem ersten Schritt darum, diejenigen Handlungen und Einstellungen zu ermitteln, die vonnöten sind, um Inklusion umzusetzen . DarĂŒber hinaus ist es aussichtslos, eine Bestim-mung der Begriffe zu finden, die von allen geteilt wird und mit jeder Praxis in Einklang steht . Die einzige Möglichkeit besteht darin, die Begrifflichkeit

30 Inklusion und Gerechtigkeit

konsequent zu verwenden . Um dies tun zu können, mĂŒssen Begriffe und Konzepte definiert und in ein kohĂ€rentes VerhĂ€ltnis gebracht werden .

Genau diese KlĂ€rungen stehen im Folgenden im Zentrum . Dabei geht es im zweiten Kapitel einerseits um die Auslegung des Begriffs, der Struktur und der Funktion von Rechten . Der genaue Inhalt des Rechts auf Inklusion kann dabei noch nicht geklĂ€rt werden . Dies in erster Linie deshalb, weil die genaue Bestimmung des Begriffs Inklusion und die normative Bedeutung von Inklusion an der Stelle noch ausstehen . Andererseits steht die Frage nach dem Behinderungsbegriff respektive dem Behinderungsmodell im Zentrum . Auch diese Frage hat einen praktischen, lebensweltlichen Hintergrund . Spitzt sich die Frage nach der Bedeutung von Inklusion auf das Leben von Menschen mit Behinderung zu, stellt sich unweigerlich die Frage, in welcher Hinsicht Menschen mit Behinderung in ihrer Inklusion respektive den Be-mĂŒhungen dahin so gefĂ€hrdet sind, dass sie als Ziel gefordert werden muss . Die Forderung nach Inklusion weist nĂ€mlich nicht nur darauf hin, dass of-fensichtlich lebensweltlich mangelnde Inklusion ein Problem darstellt . Sie zeigt auch, dass mangelnde Inklusion teilweise in der Behinderung der be-treffenden Menschen liegt . Dies wiederum wirft die Frage auf, was unter ethisch-normativen Gesichtspunkten eine Behinderung ist .

Die KlĂ€rung der Begriffe und der Bedeutung von Rechten und von Be-hinderung stehen folgerichtig in diesem ersten Teil der Arbeit im Zentrum . Ich beginne dabei mit dem Begriff und der Struktur von Rechten und gehe dann dazu ĂŒber, mich dem Begriff und der Bedeutung von Behinderung anzunehmen .

2 . Begriff, Struktur und Funktion von Rechten

Die Frage nach Rechten ist zweifellos eine zentrale Frage der Philosophie wie auch der Politik und öffentlicher Debatten . In zahlreichen KĂ€mpfen haben Menschen mit BeeintrĂ€chtigungen, Ă€hnlich wie andere gesellschaftlich mar-ginalisierte Gruppen, inhaltliche Rechte erstritten und um gleiche BerĂŒck-sichtigung ihrer Anliegen gekĂ€mpft . Rechte haben daher unbestritten einen hohen Stellenwert im Kampf um die Anliegen dieser Gruppen .

Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Rechte nur einen kleinen Teil moralischer Forderungen abdecken . Rechte sind starke moralische An-sprĂŒche, da sie immer auch Pflichten implizieren . Das heißt jemandem Rechte zuzusprechen bedeutet, auch Pflichten und PflichtentrĂ€ger zu be-stimmen . Dieses Faktum unterscheidet Rechte beispielsweise von sogenannt supererogatorischen Handlungen, also Handlungen, welche zwar moralisch gut und begrĂŒĂŸenswert sind, die aber weder verpflichtend sind noch korres-pondierende Rechte aufweisen .

Wenn ich demzufolge danach frage, ob Menschen mit Behinderung ein Recht auf Inklusion haben, frage ich danach, welche starke moralische For-derung sich bezĂŒglich des Gegenstands Inklusion ziehen lĂ€sst . Es bedeutet auch danach zu fragen, ob den betroffenen Menschen ein Recht auf Inklusi-on als Individuen oder, beispielsweise, als Mitglieder einer sozialen Gruppe zukommt . Und es heißt zudem, sich nach der Pflicht und den TrĂ€gern der-selben zu erkundigen . Schließlich ist auch die Frage nach dem genauen In-halt eines solchen Rechts zentral .

Die Frage nach einem Recht auf Inklusion ist, wie ich eingangs bereits aufgezeigt habe, keine schlichte ja/nein- Frage, als die sie vordergrĂŒndig er-scheint, sondern im Kern die Frage danach, wie ein solches Recht aussehen kann und wie es ausgestaltet werden sollte . Die Art und Weise, wie man die Hilfen fĂŒr und Einstellungen gegenĂŒber den Betroffenen begrĂŒndet, kann sehr unterschiedlich ausfallen . Ist die Hilfe freiwillig, sind es gute Taten, die man vollbringen kann, aber nicht muss? Und hĂ€ngt die Anteilnahme und

32 Inklusion und Gerechtigkeit

Hilfe von GefĂŒhlen fĂŒr die betreffenden Personen ab? Was geschieht, wenn jemand die GefĂŒhle nicht empfindet? Ist das moralisch kritisierbar? Ist man moralisch verpflichtet zu helfen oder zu unterstĂŒtzen? Falls ja: Wie begrĂŒn-det man solche Pflichten? Sind Hilfe und UnterstĂŒtzung an einklagbare Rechte gebunden? Falls ja, wie begrĂŒndet man diese Rechte und zu welchen Leistungen berechtigen sie? Reichen rechtlich einklagbare Hilfeleistungen aus oder sind Mitmenschen noch zu etwas anderem aufgefordert? Und ist ĂŒberhaupt Hilfe oder nicht vielmehr Anerkennung des Andersseins verlangt? Dies sind einige der Herausforderungen, die sich im Zuge der Beantwortung der im Zentrum stehenden Frage ergeben .

Zwei Betrachtungsebenen

Wenn im Folgenden von Rechten die Rede ist, sind zwei Ebenen zu unter-scheiden, von denen nur die erste in diesem Kapitel behandelt wird . Erstens geht es um eine formale Ebene . Diese widmet sich, wie vorliegend, der Frage nach dem Begriff, der Struktur und der Funktion von Rechten . Zweitens geht es um die inhaltliche, substanzielle Ebene, die auf der formalen aufbaut und sich der Frage widmet, welches Recht auf Inklusion Menschen mit Be-hinderung konkret haben sollten . Diese Ebene wird im siebten Kapitel be-handelt . Die Frage nach dem Recht auf Inklusion bildet somit eine Klammer ĂŒber die ganze Arbeit . Es wird sich zeigen, dass sowohl ein VerstĂ€ndnis von Behinderung wie auch ein VerstĂ€ndnis der Struktur und der normativen Be-deutung von Inklusion fĂŒr die Beantwortung der Frage, welches Recht auf Inklusion Menschen mit Behinderung haben, zentral sind . Damit kommen unweigerlich auch die moralischen Bereiche neben dem Recht auf Inklusion zur Sprache . Es wird sich nĂ€mlich zeigen, dass Rechte generell nur einen kleinen Teil dessen ausmachen, was man moralisch als wĂŒnschens- oder ver-urteilenswert auszeichnen kann .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 33

Einige Qualifikationen

Die Frage nach dem moralischen Recht darf nun aber erstens nicht mit juri-dischem Recht verwechselt werden . Moralische Rechte fallen zweitens auch nicht zwingend mit Menschenrechten zusammen .

Abgrenzung zu juridischem Recht

Moralische Rechte sind moralisch begrĂŒndete Rechte . Als Bezugsrahmen gelten hier normative Überlegungen . Juridisches Recht hingegen hat als Be-zugsrahmen Gesetze, Verordnungen und gegebenenfalls die Verfassung eines Staates . Moralische Rechte können zwar auch juridische sein, sie mĂŒssen aber nicht . Was allenfalls aus der Formulierung moralischer Rechte folgt, ist ihre Positivierung respektive Umformulierung in juridisches Recht . Mit die-ser kann eine lebensweltliche DurchsetzungsfĂ€higkeit in vielen FĂ€llen nĂ€m-lich erst erreicht werden . Das gilt vor allem dann, wenn sich in der Analyse der moralischen Verantwortung respektive in der Zuschreibung von Pflich-ten an Adressaten des Rechts zeigt, dass diese Verantwortlichkeiten geklĂ€rt und klar zugewiesen werden mĂŒssen . Gewisse moralische Rechte erfordern daher eine Institutionalisierung . Eine mögliche Form einer Institutionalisie-rung ist die Fassung in juridisches Recht .

Abgrenzung zu Menschenrechten

Moralische Rechte fallen auch nicht zwingend mit Menschenrechten zusam-men . Zwar gibt es innerhalb der Diskussion um die Menschenrechte Positi-onen, die Menschenrechte als moralische Rechte sehen (vgl . Griffin 2008) .1 Insofern man Menschenrechte auch als moralische Rechte sehen kann, wÀre es somit durchaus vorstellbar, die Frage nach dem moralischen Recht behin-derter Menschen auf Inklusion als Frage nach einem Menschenrecht auf In-klusion zu stellen .

Allerdings wÀre damit in gewissem Sinne dem hier geplanten Unterneh-men inhaltlich vorgegriffen, insbesondere dann, wenn man sich auf eine Menschenrechtsdeklaration bezieht, was fast immer der Fall ist . Vorgegriffen wird der Frage deshalb, weil die Deklaration bereits (politische) Antworten auf die von mir aufgeworfenen Fragen liefert . So listet sie erstens eine Reihe

1 Daneben gibt es Positionen, welche Menschenrechte zuvörderst in einem völkerrechtli-chen oder legalen Kontext verordnen (vgl . Beitz 2009) .

34 Inklusion und Gerechtigkeit

von konkreten Menschenrechten auf, wĂ€hrenddem dies in meiner Arbeit gewissermaßen Ziel und Zweck der Untersuchung ist . Zweitens richten sich die in der Deklaration genannten Rechte vornehmlich gegen Staaten und nicht gegen Individuen . Auch dies ist aber in meiner Untersuchung eine of-fene Frage .

Mein Unternehmen steht daher zwar nicht in Widerspruch zur Behin-dertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, aber es ist der Deklaration in gewissem Sinne vorgelagert, in gewissem Sinne auch anders gelagert . Denn anders als eine Deklaration, die ihre Wirkmacht vor allem im prakti-schen und politischen Bereich entfaltet und ihre Erfolge auch an diesen Bereichen messen muss, frage ich nach der BegrĂŒndung von Rechten und danach, wie solche Rechte aussehen könnten . Dabei soll keineswegs abge-stritten werden, dass der Behindertenrechtskonvention lebensweltlich eine große Wirkmacht in der Durchsetzung von Teilhabe und Zugehörigkeit zu-kommen kann, zumal die Deklaration sowohl in den Allgemeinen GrundsĂ€tzen wie auch in zahlreichen Artikeln explizit von Rechten auf In-klusion, Zugehörigkeit oder Teilhabe spricht und diese in Hinblick auf un-terschiedliche Bereiche des menschlichen Lebens konkretisiert (vgl . Bundes-ministerium fĂŒr Arbeit und Soziales 2008) .

2 .1 Der Begriff und die Funktion von Rechten

Um die konkrete Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion beant-worten zu können, muss man vorgĂ€ngig eine Vorstellung dafĂŒr entwickeln, was Rechte ĂŒberhaupt sind . Dabei ist auch die Frage zentral, weshalb man gerade von einem Recht auf Inklusion sprechen soll . Zwei Elemente machen Rechte zu besonders starken moralischen Forderungen .

Erstens sind Rechte mit Pflichten fĂŒr den Adressaten von Rechten ver-bunden . Die mit Rechten korrespondierenden Pflichten, wie ich noch zei-gen werde, verlangen von einem Adressaten des Rechts die AusfĂŒhrung oder Unterlassung einer Handlung . Sie haben daher eine freiheitseinschrĂ€nkende Wirkung auf Seiten des Adressaten . Eng damit verbunden ist ein zweiter Punkt . Rechte stehen mir als RechtstrĂ€gerin zu, sie verleihen mir eine beson-dere Position, die ich sonst nicht hĂ€tte . Was mir aufgrund meines Rechts geschuldet wird, ist keine Dienstleistung und auch kein Akt der WohltĂ€tig-keit .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 35

Die Stadt Nowheresville

Um diesen letzten Punkt zu verdeutlichen, fordert Joel Feinberg (2007) seine Leser in einem fiktiven Beispiel auf, sich die Stadt Nowheresville vorzustel-len . In dieser leben die Menschen friedlich zusammen, sie helfen einander, wo sie können, ohne allerdings ĂŒbermĂ€ĂŸig altruistisch zu sein . Es sind Men-schen, die mit den edelsten Tugenden ausgestattet sind, mit MitgefĂŒhl fĂŒr andere, Sympathie, Wohlwollen und SolidaritĂ€t . Auch haben die BĂŒrger von Nowheresville Pflichten der WohltĂ€tigkeit . Diesen Pflichten aber entspre-chen keine Rechte auf Seiten von Individuen, wohltĂ€tig behandelt zu wer-den . Das Spezifische an der Stadt Nowheresville ist also, dass ihre Bewohner keine Rechte kennen und haben . Sie kennen nur Tugenden und Pflichten der WohltĂ€tigkeit . Was, so fragt uns Feinberg, wĂ€ren die Auswirkungen einer solchen Gesellschaft ohne Rechte?

Das Leben in einer solchen Gesellschaft, wie sie Nowheresville darstellt, hĂ€tte nach Ansicht Feinbergs fatale Auswirkungen auf unsere WĂŒrde und unser SelbstverstĂ€ndnis, denn: »Der Besitz von Rechten versetzt uns in die Lage, â€șaufrecht zu gehenâ€č, anderen in die Augen zu schauen und uns als allen anderen grundsĂ€tzlich gleichwertig zu fĂŒhlen . Sich als TrĂ€ger von Rechten zu verstehen, bedeutet nicht ungerechtfertigt, sondern angemessen stolz zu sein, sich die minimale Selbstachtung entgegenzubringen, die nötig ist, um der Liebe und der WertschĂ€tzung anderer Personen wĂŒrdig zu sein« (Feinberg 2007, S . 194f .) . Die BĂŒrger einer Gesellschaft, die im Gegensatz zu den BĂŒr-gern von Nowheresville Rechte kennen, sind nicht hilflos auf die MildtĂ€tig-keit und die PflichterfĂŒllung ihrer MitbĂŒrger angewiesen . Sie haben Rechte, die ihnen zustehen und die sie notfalls einklagen und durchsetzen können . Genau diese Funktion von Rechten ist es, die ihnen zu Selbstachtung und WĂŒrde verhilft und die Rechte weiterreichender und stĂ€rker macht als Pflich-ten ohne korrespondierende Rechte .

Die Definition von Rechten

In einem sehr weiten und liberalen VerstĂ€ndnis von Rechten, das nicht be-reits von speziellen Annahmen ausgeht, kann man nach Peter Koller (2007, S . 86) folgendes unter einem Recht verstehen: Ein Recht ist eine normative

36 Inklusion und Gerechtigkeit

Position einer Person gegenĂŒber einer anderen Position, beispielsweise einer anderen Person .

Die normative Position hat folgende Eigenschaften: Erstens eröffnet sie der Person, welche die Position inne hat (also dem RechtstrĂ€ger oder Rechts-subjekt) bestimmte Handlungsmöglichkeiten, die sie sonst nicht hĂ€tte und die in ihrem Interesse liegen . Zweitens begrenzt sie die Handlungsmöglich-keiten des Adressaten des Rechts, des Rechtsobjekts, indem sie ihm gewisse Pflichten auferlegt . Und drittens stellt sie einen gewichtigen Handlungs-grund dar, der in vielen FĂ€llen PrioritĂ€t vor anderen HandlungsgrĂŒnden hat . Unter einem Recht versteht man einen valid claim, also einen legitimen An-spruch, den man anderen gegenĂŒber geltend machen kann und welcher Pflichten auf deren Seite auslöst (vgl . Feinberg 2007) . Rechte zu haben be-deutet mit anderen Worten, starke moralische GrĂŒnde zu haben, die Freiheit anderer einzuschrĂ€nken, mit dem Zweck, die andere Person von einem Han-deln abzuhalten respektive zu einem Handeln zu verpflichten (vgl . Frankena 1955) . Rechte stehen damit in einem SpannungsverhĂ€ltnis zwischen Frei-heitsbegrenzung und Freiheitsermöglichung .

2 .1 .1 Freiheiten, Kompetenzen, ImmunitĂ€ten und AnsprĂŒche

Analytisch können nach der einflussreichen Analyse von Wesley N . Hohfeld (1913) im Wesentlichen folgende Typen von Rechten unterschieden werden: Freiheiten, Kompetenzen, ImmunitĂ€ten und AnsprĂŒche .2

Freiheiten

Freiheiten dienen der Sicherung von Alternativen sowie der Beseitigung von Hindernissen . Freiheitsrechte sind solche Rechte, bei denen es keine Regeln gibt, die jemanden verpflichten, etwas zu tun oder zu unterlassen . Hat je-mand beispielsweise das Recht Vögel zu fĂŒttern, ist das ein Freiheitsrecht . Es besagt nĂ€mlich, dass es keine Regeln gibt, die jemandem das VögelfĂŒttern verbieten wĂŒrden .

In liberalen Gesellschaften werden Freiheitsrechte oft vorausgesetzt, da BĂŒrger liberaler Gesellschaften davon ausgehen können, dass das, was nicht

2 Diese Trennung ist analytischer Natur, in der Praxis findet sich meist eine Mischung un-terschiedlicher Positionen (vgl . Alexy 1986, S . 209f .) .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 37

verboten ist, erlaubt ist . Auffallend sind formale Freiheitsrechte daher oft erst dann, wenn sie Ausnahmen von den generell geltenden Regeln betreffen, bei-spielsweise, wenn die Polizei bei der Verfolgung eines Verbrechers die gelten-den GeschwindigkeitsbeschrĂ€nkungen ohne Sanktionen ĂŒbertreten darf .3

Kompetenzen

Kompetenzen sind Befugnisse, die Rechte oder Pflichten einer anderen Per-son zu verÀndern, indem durch bestimmte Handlungen Rechte und Pflich-ten entweder erzeugt oder beseitigt werden . Hat eine Person A eine Kompe-tenz, bedeutet dies, dass A in der Position ist, durch eine Handlung eine rechtliche Situation verÀndern zu können . Das bekannteste Beispiel einer Kompetenz ist das Recht, anderen Menschen bestimmte Verhaltenspflichten aufzuerlegen, beispielsweise durch das Aufsetzen eines Vertrages .

ImmunitÀten

ImmunitĂ€t zu haben bedeutet, nicht der Kompetenz eines anderen unter-worfen zu sein . Sie kann damit auch als Negation einer Kompetenz bezeich-net werden (vgl . Koller 2007, S . 90) . (Negative) Freiheiten, ImmunitĂ€ten und Kompetenzen sind eng miteinander verbunden . Durch das EinrĂ€umen von Kompetenzen werden die HandlungsspielrĂ€ume und damit die negati-ven Freiheiten von Einzelnen grĂ¶ĂŸer .

AnsprĂŒche

Zentral fĂŒr die vorliegende Arbeit ist nun vor allem die Bedeutung von Rechten als AnsprĂŒche auf etwas. Daher werde ich mich im Folgenden vor allem auf sie fokussieren . Anspruchsrechte umschreiben AnsprĂŒche auf Handlungen oder Handlungsunterlassungen . Der relationale Charakter die-ses Rechts kommt in seiner allgemeinen Form – A hat gegenĂŒber B ein Recht auf X – zur Geltung .

Der TrÀger des Rechts ist A, der TrÀger der Pflicht oder der Adressat des Rechts ist B und X entspricht dem Gegenstand oder dem Objekt des Rechts .

3 Daher nennt Hohfeld (1913) diese Rechte auch Privilegien .

38 Inklusion und Gerechtigkeit

Gegenstand des Rechts sind Handlungen oder Handlungsunterlassungen von Seiten des Adressaten des Rechts .

Damit sind zwei Elemente in Anspruchsrechte eingeschlossen: erstens die Pflicht des Rechtsobjekts oder des Adressaten des Rechts, ein bestimmtes Verhalten zu realisieren, zweitens die ErmĂ€chtigung des Inhabers des Rechts, die ErfĂŒllung der Pflicht einzufordern und gegebenenfalls Schritte zur Er-zwingung derselben einzulĂ€uten . Je nachdem, ob das Verhalten, worauf ein Anspruch besteht, aktives Handeln oder ein Unterlassen ist, kann man nega-tive und positive Rechte unterscheiden .

2 .1 .2 Positive und negative Rechte

Rechte können negativ oder positiv sein, wobei negative Rechte Unterlassun-gen umfassen . Negative Rechte begrĂŒnden negative Pflichten, Unterlassungs-pflichten genannt . Unter die negativen Rechte fallen beispielsweise folgende Rechte: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit sowie das Recht auf Versammlungsfreiheit . Negative Rech-te gewĂ€hren negative Freiheiten . Sie stellen sicher, dass niemand daran ge-hindert wird, in bestimmter Weise zu handeln .

Negative Rechte können nach Robert Alexy (1986, S . 174) in drei Grup-pen unterteilt werden: Die erste benennt Rechte darauf, dass der TrĂ€ger der Pflicht bestimmte Handlungen des RechtstrĂ€gers nicht ver- oder behindert . Die zweite Gruppe besteht aus Rechten gegenĂŒber dem TrĂ€ger der Pflicht, bestimmte Eigenschaften oder Situationen des RechtstrĂ€gers nicht zu beein-trĂ€chtigen, so zum Beispiel die Eigenschaft gesund zu leben oder die Situati-on der Unverletzlichkeit der eigenen Behausung nicht zu gefĂ€hrden . Die dritte Gruppe schließlich meint Rechte darauf, dass der TrĂ€ger der Pflicht bestimmte rechtliche Positionen des TrĂ€gers des Rechts nicht beseitigt . Ein Beispiel hierfĂŒr sind Eigentumsrechte .

Positive Rechte schĂŒtzen demgegenĂŒber AnsprĂŒche auf bestimmte GĂŒter . Beispielsweise impliziert das Recht auf Bildung, dass Bildungsmöglichkeiten bereitgestellt werden, damit das Recht auf Bildung auch wahrgenommen werden kann . WĂ€re das Recht auf Bildung ein negatives Recht, wĂŒrde es nur darin bestehen sicherzustellen, dass jemand nicht in seinen BildungsbemĂŒ-hungen gehindert wird . Offensichtlich genĂŒgt dies nicht, um das Recht auf Bildung abzusichern . Im Fall des Rechts auf Bildung impliziert die entspre-

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 39

chende Pflicht, den Rechtssubjekten Bildungsmöglichkeiten ĂŒber die Insti-tutionen der Bildung, typischerweise der Schule, bereitzustellen .

Die den positiven Rechten entsprechenden positiven Pflichten sind fĂŒr die TrĂ€ger der Pflichten stĂ€rker freiheitsbegrenzend als negative Pflichten, weil sie nicht nur verlangen, nicht in einen Freiheitsbereich einzugreifen, sondern darĂŒber hinaus bestimmte Handlungen zu tĂ€tigen . Im Gegensatz zu bloßen Unterlassungen ist die Freiheit des Rechtsobjekts damit stĂ€rker ein-geschrĂ€nkt als das bei negativen Rechten der Fall ist . Gleichzeitig ermögli-chen positive Rechte dem Rechtssubjekt mehr oder substanziellere Freihei-ten (vgl . Boshammer 2003, S . 30) .

2 .1 .3 Rechtsobjekt, Rechtssubjekt, Rechtsgegenstand

Rechte haben eine dreistellige Relation: Rechtssubjekt, Rechtsobjekt, Rechts-gegenstand . Diese dreistellige Relation erscheint aber in vielen FĂ€llen zwei-stellig . So liest sich zum Beispiel die Aussage »A hat ein Recht auf Leben« als eine zweistellige Relation zwischen einem Rechtssubjekt und dem Rechtsge-genstand . Auch ein Recht auf Inklusion, wie es in der Aussage »A hat ein Recht auf Inklusion« ausgedrĂŒckt werden könnte, hat diese Form . Das Rechtsobjekt, der TrĂ€ger der Pflicht, muss in einer Analyse daher wieder sichtbar ge macht werden, damit die dreistellige Relation erscheint . Die voll-stĂ€ndige Formel wĂŒrde dann lauten: »A hat gegenĂŒber B ein Recht auf Inklu-sion .« Dieses B kann dann, je nach Auslegung, beispielsweise ein anderer BĂŒrger, eine SonderpĂ€dagogin oder der Staat sein .

Die Beantwortung der Frage, was Rechte sind, ist eng an die Frage, wer Rechte haben kann, gebunden . Genau genommen ist die Beantwortung der zweiten Frage von der Beantwortung der ersten abhĂ€ngig . Die Beantwor-tung der ersten Frage ist an dieser Stelle noch nicht vollstĂ€ndig möglich . Den meisten Auslegungen der zweiten Frage ist aber gemein, dass es sich bei den Rechtsobjekten oder TrĂ€gern der Pflichten um Wesen handeln muss, die ers-tens verstehen, was von ihnen gefordert wird, die zweitens sinnvollerweise fĂŒr ihr Tun und Lassen verantwortlich gemacht werden können und die drit-tens im Blick auf ihr Verhalten entscheidungsfĂ€hig sind . So kann man prin-zipiell auch Steinen oder Bergen Rechte zusprechen, es macht aber wenig Sinn, diesen EntitĂ€ten Pflichten zuzuweisen . Das heißt, Steine oder Berge können zwar als Rechtssubjekte und somit als TrĂ€ger von Rechten prinzipiell in Frage kommen, nicht aber als Rechtsobjekte . Denn Steine oder Berge

40 Inklusion und Gerechtigkeit

verstehen weder, was von ihnen als Pflicht gefordert wĂ€re, noch können sie fĂŒr ihr Tun oder Lassen verantwortlich gemacht werden . DarĂŒber hinaus sind sie auch nicht entscheidungsfĂ€hig .

Was den Rechtsgegenstand X betrifft, können mindestens zwei – und bei der Interessentheorie, die anschließend vorgestellt wird, drei – Bedingungen formuliert werden (vgl . Boshammer 2003, S . 43ff .): Es muss sich erstens um GegenstĂ€nde handeln, die prinzipiell erzwingbar sind . Das ist die Erzwing-barkeitsbedingung .4 Auf GĂŒter, zu deren Wert die Freiwilligkeit untrennbar dazu gehört, gibt es daher kein Recht . So existiert beispielsweise kein Recht auf Dankbarkeit oder Liebe .5

Zweitens muss die ErfĂŒllung des Rechts auch in der VerfĂŒgungsmacht der jeweiligen PflichtentrĂ€ger sein . So kann es kein Recht geben, nicht von einer Naturkatastrophe heimgesucht zu werden, denn es liegt außerhalb der Macht von Menschen, Naturkatastrophen gĂ€nzlich zu verhindern .6 Es gibt aus diesem Grund auch kein (direktes) Recht auf GlĂŒck, da GlĂŒck zu ver-schaffen nicht ausschließlich in der Macht des PflichtentrĂ€gers liegt (vgl . Thomson 1990, S . 37) . Diese zweite Bedingung kann man als ErfĂŒllbarkeits-bedingung bezeichnen .

Schließlich kommt bei der Interessentheorie eine dritte Bedingung hin-zu . Rechte dienen dem Schutz derjenigen Interessen, die insofern als funda-mental zu gelten haben, als sie an sich bereits einen ausreichenden Grund fĂŒr FreiheitseinschrĂ€nkungen auf Seiten der PflichtentrĂ€ger darstellen .7 Recht-

4 Dies ist auch dann der Fall, wenn man keinen starken Begriff von Erzwingbarkeit vertritt, also beispielsweise nicht davon ausgeht, dass moralische Rechte nur dann existieren, wenn Sanktionen folgen . Erzwingbar sind Rechte auch dann, wenn man das MĂŒssen im Sinne eines schwachen moralischen MĂŒssens versteht .

5 Damit ist allerdings nicht gemeint, dass eine Liebesbeziehung nicht mit besonderen Rech-ten und Pflichten verbunden sein kann (vgl . dazu ausfĂŒhrlich Krebs 2002) . Der Unter-schied ist aber der, dass eine Liebesbeziehung bereits freiwillig eingegangen wurde und diese Beziehung dann anschließend mit speziellen Pflichten gegenĂŒber der anderen, ge-liebten Person einhergeht . Ein Recht auf Liebe an sich zu behaupten scheint aber absurd zu sein, da es ein zentrales Motiv, die gegenseitige Anziehung aus freien StĂŒcken, untergra-ben wĂŒrde .

6 Das bedeutet nun nicht, dass nicht viel gegen SchĂ€den bei Naturkatastrophen gemacht werden könnte, im Gegenteil . So wĂ€ren die verheerenden VerwĂŒstungen nach Naturkata-strophen oft vermeidbar, wenn adĂ€quate Vorsorge, beispielsweise bessere Statik beim HĂ€u-serbau, betrieben worden wĂ€re . Die Aussage betrifft nur die grundsĂ€tzliche Wahrschein-lichkeit des Eintretens von Naturkatastrophen und nicht deren (durchaus von Menschen zu beeinflussenden) Auswirkungen .

7 Richard Brandt (1983, S . 43) spricht in diesem Zusammenhang von der Fokussierungs-funktion von Rechten, die ein Individuum und dessen Wohlergehen ins Zentrum stellen .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 41

lich beanspruchen lassen sich also nur diejenigen GĂŒter, die in den funda-mentalen Interessen der Individuen liegen, und nicht irgendwelche Interes-sen im Sinne von PrĂ€ferenzen oder momentanen WĂŒnschen . Dadurch, dass es sich bei Rechten um fundamentale (das heißt grundlegende) und begrĂŒn-dete Interessen handelt, wird ihre Befriedigung zu einer gesellschaftlichen und nicht mehr bloß privaten Angelegenheit erklĂ€rt . Werden Rechte miss-achtet, wird das als Anlass legitimer, oft auch staatlicher, Interventionen ge-sehen .

2 .1 .4 Das VerhÀltnis von Rechten und Pflichten

Aus der Aussage â€șA hat gegenĂŒber B ein Recht auf Xâ€č folgt trivialerweise, dass sich ein Recht immer an eine EntitĂ€t8 richten muss: »One cannot have a claim that is a claim against nothing – a claim out into the blue, as it were« (Thomson 1990, S . 41) . Die besondere moralische Bedeutung von Rechten liegt, wie ich gezeigt habe, unter anderem in der Korrelation von Rechten und Pflichten respektive in der Tatsache, dass Rechte Pflichten auf anderer Seite auslösen .9 Wo man von einem Recht auf etwas spricht, besteht immer auch eine entsprechende Pflicht zu etwas .10 Spricht man also von Rechten, meint man damit implizit auch korrespondierende, sich ergebende Pflichten auf anderer Seite . Umgekehrt ist dies nicht der Fall . Nicht in jedem Fall entsprechen Pflichten auch Rechte einer anderen Person oder EntitĂ€t . Die Tatsache, dass Rechte Pflichten auslösen, macht Rechte zu besonders starken moralischen AnsprĂŒchen, denn die den Rechten korrespondierenden Pflich-

Aus den Rechten von Personen ergeben sich laut Brandt verschiedene Pflichten, die sich alle am ultimativen Wert von Personen orientieren .

8 Diese EntitÀt kann durchaus deckungsgleich mit dem Rechtssubjekt sein . Die damit ge-forderten Pflichten wÀren dann Pflichten gegen sich selbst .

9 Dies unterscheidet auch Rechte im strikten Sinne von Privilegien, denen keine Pflichten entsprechen . Daher bezeichnet man Privilegien auch oft als schwach (vgl . Thomson 1990, S . 46) .

10 Mit anderen Worten: Rechte sind GrĂŒnde fĂŒr Pflichten fĂŒr andere (vgl . Raz 1984, S . 196) . Was das bedeutet, schildert David Lyons (1970) in einem Beispiel . Geht man davon aus, dass Anna Ben zehn Franken schuldet, die sie sich von ihm geliehen hat, kann man daraus folgern, dass Ben ein Recht auf die Zahlung der zehn Franken durch Anna hat . Und man kann ebenfalls folgern, dass Anna die Pflicht hat, Ben die zehn Franken zu zahlen . Beide, Pflicht wie Recht, bedingen sich, sie koexistieren notwendigerweise . Das heißt, Rechte implizieren Pflichten, können aber nicht auf sie reduziert werden .

42 Inklusion und Gerechtigkeit

ten sagen nicht, was wĂŒnschenswert oder gut wĂ€re, sondern machen eine Aussage darĂŒber, was jemand, moralisch gesehen, tun oder lassen muss .

Pflichten, die auf Rechte zurĂŒckgehen, unterscheiden sich von anderen Pflichten durch die Form ihrer Gerichtetheit (vgl . Sumner 1987, S .  24) . Pflichten, denen Rechte entsprechen, sind gerichtete Pflichten . Es sind Pflich-ten, die man erstens jemandem schuldet . Zweitens schuldet man sie dieser Person oder EntitĂ€t aufgrund eines Merkmals, einer Eigenschaft oder einer Disposition, die ihm oder ihr selbst zukommt und welche die Grundlage seines oder ihres Rechts darstellt . Anders gesagt, Rechte werden mit Verweis auf den grundlegenden Wert einer bestimmten Eigenschaft von Individuen begrĂŒndet (vgl . Waldron 1989, S . 504) .

FĂŒr viele, aber eben nicht fĂŒr alle FĂ€lle gilt dabei, dass einem Recht eine inhaltsgleiche Pflicht entspricht . So haben Individuen beispielsweise Pflich-ten der Wohlfahrt gegenĂŒber einer großen Anzahl möglicher EmpfĂ€nger, die wiederum aber kein Recht auf deren Hilfe haben . Auch gibt es Rechte, die alleine aufgrund ihres Sachverhalts respektive des Gegenstands, den sie abde-cken, umstritten erscheinen lassen, wer nun genau PflichtentrĂ€ger ist . Bei-spielhaft dafĂŒr ist das Recht auf Bildung und die damit verbundene Frage, wer die Pflicht zur Bildung trĂ€gt: die Eltern, die Schule, die Gesellschaft als Ganzes?

Nicht in jedem Fall ist also eindeutig vorgegeben, welche Pflicht durch ein bestimmtes Recht begrĂŒndet ist und wer PflichtentrĂ€ger ist . Das Recht einer Person löst eine Pflicht bei einer anderen Person aus, korreliert aber nicht logisch mit dieser . Rechte sind Grundlagen fĂŒr Pflichten fĂŒr andere Personen oder EntitĂ€ten . Manche Rechte können zudem mit verschiedenen Pflichten verbunden sein, die ihrerseits historischen VerĂ€nderungen unterlie-gen . Es gibt daher keine geschlossene Liste von den mit Rechten korrespon-dierenden Pflichten . Auch können Kernrechte – also Rechte, die sich auf kein anderes Recht weiter zurĂŒckfĂŒhren lassen – zu neuen, aus ihnen abge-leiteten, Rechten fĂŒhren (vgl . Raz 1984, S . 199f .) . Rechte haben, mit anderen Worten, einen inhĂ€rent dynamischen Charakter .

2 .2 Die BegrĂŒndung von Rechten

Es gibt zwei widerstrebende TheoriestrĂ€nge ĂŒber die BegrĂŒndung von Rech-ten (vgl . MacCormick 1982; Waldron 1984; Sumner 1987): die Willenstheo-

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 43

rie, auch choice theory, will theory oder Autonomietheorie genannt, und die Interessentheorie, auch interest theory, benefit theory oder wellbeing theory ge-nannt . Bei allen Unterschieden, die den zwei TheoriestrĂ€ngen zugeordnet werden können, sind beide doch Konzeptionen desselben Konzepts von Recht . Sie teilen die Auffassung, dass die Funktion von Rechten Freiheitsein-schrĂ€nkungen auf dritter Seite implizieren, die zur Durchsetzung eines sozi-alen Ziels legitim sind . Sie sind sich also einig darin, dass Rechte legitime normative EinschrĂ€nkungen fĂŒr das Rechtsobjekt zur Folge haben, dass sie also berechtigte Pflichten generieren .

Der Hauptunterschied der beiden Theorien liegt in der normativen Funktion, die sie Rechten zuschreiben (vgl . Sumner 1987, S . 97) . In der In-teressentheorie sind es Aspekte des Wohlergehens, welche mit Hilfe von Rechten geschĂŒtzt werden . Bei der Willenstheorie sind es die Freiheit und die normative Kontrolle des Rechtssubjekts als autonom handelnder Agent .

Nicht ĂŒberraschend ist, dass beide TheoriestrĂ€nge jeweils unterschiedli-che Auffassungen sowohl der Person als auch des moralischen Lebens vertre-ten: »Structures which highlight autonomy will treat individuals as active managers of their own lives even when doing so will work to their overall detriment . On the other hand, structures which highlight welfare will treat individuals as managers when that is likely to be in their interest and will otherwise treat them as the passive beneficiaries of the services of others« (Sumner 1987, S . 97) . Beide ZugĂ€nge unterscheiden sich also hinsichtlich der Werte, die sie als zentral erachten, Autonomie oder Wohlergehen, und kommen damit verbunden zu jeweils unterschiedlichen konkreten Rechten .

Im Folgenden fĂŒhre ich die beiden ZugĂ€nge aus und nenne GrĂŒnde, weshalb die Interessentheorie zu bevorzugen ist .

2 .2 .1 Willenstheorie

Bei der Willenstheorie steht die Autonomie des Rechtssubjekts im Zentrum . Das Rechtssubjekt wird als autonomes Wesen gesehen, dessen (Entschei-dungs- und Willens-)Freiheit als zentral zu schĂŒtzende FĂ€higkeit angesehen wird . Eine autonome Person und damit ein potenzielles Rechtsubjekt ist je-mand, der erstens sein eigenes Leben fĂŒhrt und bestimmt und der zweitens Kosten und Nutzen der Wahl seiner LebensplĂ€ne abwĂ€gen und notfalls an-passen kann .

44 Inklusion und Gerechtigkeit

In der Willenstheorie wird Autonomie aber nicht nur als deskriptives Merkmal der (potenziellen) Rechtssubjekte gesehen . Autonomie ist gleich-zeitig prĂ€skriptiv fĂŒr diesen Zugang, denn die Willenstheorie besagt nicht nur, dass Menschen autonom sein mĂŒssen, damit ihnen Rechte zukommen können . Sie besagt darĂŒber hinaus auch, dass diese (als spezifisch menschlich erachteten) AutonomiefĂ€higkeiten zu respektieren sind (vgl . Oshana 2006) .

Rechte ermöglichen es der Willenstheorie nach dem Inhaber von Rech-ten, normative Kontrolle ĂŒber das Rechtsobjekt auszuĂŒben . Dazu benötigt das Rechtssubjekt Freiheiten und Entscheidungsmöglichkeiten . Rechte schĂŒt-zen aber nun nicht die Autonomie des Rechtssubjekts, denn so wĂ€ren sie nur instrumentell . Rechte werden vielmehr durch Autonomie konstituiert (vgl . Raz 1986, S . 204) . Autonom zu sein ist daher eine notwendige Bedingung dafĂŒr, ĂŒberhaupt Rechte zu haben und als Rechtssubjekt zu gelten .

Die Willenstheorie vertritt explizit keine Auffassung des guten Lebens . Der Autonomieschutz der Rechtssubjekte ist Selbstzweck . Die Rechtssubjek-te können sich ihre Zwecke selbst setzen . Womit sie ausgestattet werden mĂŒssen, sind einzig die notwendigen Freiheiten dazu, Zwecke verfolgen zu können . Aus diesem Grund erfolgt ein Vorrang des Rechten vor dem Guten (vgl . Sandel 1995, S . 13) . Um die Autonomie des Einzelnen angemessen zu respektieren, ist diese Rechtstheorie neutral gegenĂŒber verschiedenen Versi-onen des guten Lebens .

Drei Kritikpunkte an der Willenstheorie

Die Kritik an der Willenstheorie konzentriert sich auf drei Punkte, wobei der dritte direkt auf die Interessentheorie verweist .

Ausschließliche Betonung von negativen Rechten

Wer die Autonomie des Einzelnen als höchstes moralisches Gut ansieht, der erlaubt nur negative Rechte . Diese Sichtweise vertritt beispielsweise der li-bertĂ€re Philosoph Robert Nozick (1974) . Es ist aber, wie ich im Fall des Rechts auf Bildung gezeigt habe, nicht ĂŒberzeugend, alle Rechte ausschließ-lich als negative Rechte zu sehen . Philosophen wie Amartya Sen (1992) oder Charles Taylor (1999) sind daher der Meinung, dass die Freiheit, die durch negative Rechte gewĂ€hrt wird, erst dann als substanzielle Ermöglichung in-dividueller Freiheit aufgefasst werden kann, wenn dem Einzelnen zugleich

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 45

die FĂ€higkeiten und Ressourcen zur VerfĂŒgung stehen, um von dieser Frei-heit sinnvoll Gebrauch machen zu können . Das bedeutet, dass eine substan-zielle Ermöglichung von Freiheit eine ErgĂ€nzung durch positive Rechte be-nötigt .

Der Ausschluss nicht-autonomer Menschen und die Ignoranz gegenĂŒber Verletzlichkeit

Der gerade im Zusammenhang mit Behinderung wichtige Kritikpunkt an der Willenstheorie ist zweitens, dass viele Menschen als Rechtssubjekte gar nicht in Frage kommen, da sie kein ausreichendes Maß an Autonomie auf-weisen, um als TrĂ€ger von Rechten zu gelten . Menschen, die nicht in subs-tanziellem Sinne als autonom gelten können, werden daher von der Theorie nicht abgedeckt . Darunter fallen Menschen, die noch nicht autonom sind, wie beispielsweise Kleinkinder, Menschen, die nicht mehr autonom sind, beispielsweise alte, demente Menschen, aber auch Menschen mit geistigen und psychischen BeeintrĂ€chtigungen, bei denen hinsichtlich ihrer Autono-mie zumindest epistemische Unsicherheit besteht . Gerade diese Menschen aber verdienen aufgrund ihrer Verletzlichkeit besonderen moralischen Schutz .

DarĂŒber hinaus ist die Verletzlichkeit ein speziesspezifisches Faktum . Alle Menschen sind nĂ€mlich – im Gegensatz zu vielen anderen Lebewesen wie auch zu unbelebten GegenstĂ€nden wie Steinen – in bestimmten Phasen ihres Lebens hilflos und daher an die Hilfe und die UnterstĂŒtzung durch andere Menschen existenziell gebunden, um ein gutes Leben fĂŒhren zu können .

Die Willenstheorie unterschlĂ€gt zudem, dass Menschen nicht ihr ganzes Leben lang autonome Wesen sind, sondern zwingend einen Reifungsprozess durchleben mĂŒssen, um autonome Wesen zu werden . Diese Reifungsprozes-se sind nun aber nicht Prozesse, die wie ein automatisch generiertes Pro-gramm ablaufen wĂŒrden . Es sind im Gegenteil Prozesse, die sich, je nach QualitĂ€t der Hilfe, UnterstĂŒtzung und Begleitung, fördernd oder hemmend auf die Autonomie des Subjekts auswirken .11 Menschen sind zur Entwick-lung ihrer Autonomie immanent auf gehaltvolle Interaktion mit anderen Menschen angewiesen . Sie brauchen, mit Ernst Tugendhats Worten (1998, S . 58) »EigenrĂ€ume des Sichentfaltens und Gedeihens«, um zu autonomen Agenten ihres Lebens heranzureifen .

11 Vgl . dazu die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse Michael Tomasellos (2006, 2009; Tomasello und Rakoczy 2009), auf die ich spĂ€ter ausfĂŒhrlich zu sprechen komme .

46 Inklusion und Gerechtigkeit

Gerade diese wichtigen Fakten menschlichen Lebens – Menschen sind existenziell verletzlich und ihre Verletzlichkeit ist darĂŒber hinaus auch sozial geprĂ€gt – sollten sich auch in Rechten fĂŒr die Betroffenen niederschlagen, die verletzliche Phasen menschlichen Lebens mit besonders starken morali-schen AnsprĂŒchen schĂŒtzen .12

Autonomie ist nicht einziges Interesse und Ziel von Menschen

Das dritte und meiner Meinung nach ĂŒberzeugendste Argument gegen die Willenstheorie leitet direkt zu der von mir bevorzugten interessenbasierten Theorie ĂŒber . Diese Kritik besagt folgendes: Autonomie kommt eine wichti-ge Bedeutung im menschlichen Leben zu . Menschen haben ein Interesse daran, eigene Entscheidungen zu fĂ€llen, Optionen im Leben zu haben, selbstbestimmt zu sein . Es ist daher angebracht, diese Interessen ĂŒber Rechte zu schĂŒtzen .

Autonomie ist aber nicht das einzige Ziel von Menschen .13 Daher um-fasst die Willenstheorie die Rechte, welche Menschen haben oder haben soll-ten, auch nur ungenĂŒgend . So ist der Zweck eines Rechts auf Bildung nicht nur der, den Menschen HandlungsspielrĂ€ume zu verschaffen . Durch Bil-dung wird Menschen auch die Möglichkeit gegeben, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, beispielsweise, indem sie lesend und schreibend mitei-nander kommunizieren oder sich Wissen ĂŒber die Welt aneignen können . Bildung ermöglicht Teilhabe am menschlichen Leben, das Sammeln reicher innerer Erfahrungen und geht weit ĂŒber bloßen Autonomiegewinn hin-aus .14

Es ist daher sinnvoll, Autonomie als ein fĂŒr Menschen wichtiges Interes-se zu beschreiben, ohne in der Autonomie gleichzeitig den einzigen Wert menschlichen Lebens zu sehen, der mit Hilfe von Rechten geschĂŒtzt werden

12 Zwar kann man hier argumentieren, dass der Schutz der Verletzlichkeit auch ĂŒber Pflich-ten (ohne korrespondierende Rechte) gewĂ€hrleistet werden kann . Die Folge einer solchen Sichtweise ist aber, dass auch Mitbetroffene, beispielsweise Angehörige, ungenĂŒgend ge-schĂŒtzt sind . Sie können nicht stellvertretend fĂŒr ihre Familienmitglieder Handlungen aufgrund eines Rechtsanspruchs einfordern, sondern sind selbst in einer moralisch schwĂ€-cheren Position .

13 Menschen haben beispielsweise auch Interessen nach Sicherheit, Geborgenheit oder Schutz .

14 Auch lassen sich bestimmte Interessen, wie beispielsweise das Interesse eines indigenen Volkes auf kulturelle Selbstbestimmung, nicht ausschließlich ĂŒber Autonomie beschrei-ben . Den Betroffenen geht es ja gerade nicht nur um ihre Autonomie, sondern auch um die Einbettung des Einzelnen in den Kontext einer kulturellen Gemeinschaft .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 47

sollte . Indem der Wunsch nach Selbstbestimmung als menschliches Interesse beschrieben wird, kann Autonomie als ein Bestandteil individuellen Wohler-gehens betrachtet werden, aber nicht als der einzige . Da die Interessenkon-zeption die Willenstheorie aufnehmen kann, indem sie Autonomie als ein wichtiges Interesse von Menschen integriert, nicht aber umgekehrt, ist sie der Willenstheorie vorzuziehen (vgl . Sumner 1987, S . 96) . Die Interessen-theorie ist breiter und umfassender als die Willenstheorie und wird im Fol-genden weiter verfolgt .

2 .2 .2 Interessentheorie

Bei der interessenbasierten Rechtstheorie stehen die Interessen und das Wohlergehen der Rechtssubjekte im Zentrum . Rechtssubjekte zeichnen sich dieser Theorie nach dadurch aus, dass sie die FĂ€higkeit haben, Interessen zu entwickeln und zu verfolgen . Die zentrale Funktion von Rechten besteht nach dieser Theorie in der Ermöglichung der Interessenbefriedigung (vgl . Boshammer 2003, S . 36f .) . Die korrespondierenden Pflichten sind dazu da, die durch die Rechte umschriebenen Interessen zu schĂŒtzen .

Nun sind aber nicht alle Interessen von Menschen im Blickpunkt von Rechten, sondern nur die, welche zentral mit menschlichem Wohlergehen zu tun haben . Die Rechte sind mit Verweis auf fundamentale Interessen ih-rer TrĂ€ger begrĂŒndet . Der Rechtsanspruch ist nur dort begrĂŒndet, wo be-stimmte Interessen eines Subjekts einen ausreichenden Grund dafĂŒr darstel-len, die Freiheit eines anderen einzuschrĂ€nken . Nach Joseph Raz (1984, S . 195) ergibt sich folgende Definition von Rechten: »X has a right if and only if x can have rights, and other things being equal, an aspect of x’s well-being (his interest) is a sufficient reason for holding some other person(s) to be under a duty .«

Einem Individuum können nach Raz dann und nur dann Rechte zuge-schrieben werden, wenn sein Wohlergehen von ultimativem Wert ist . Rechts-subjekte sind nur diejenigen, bei denen man sinnvollerweise von Wohlerge-hen und Interessen ausgehen kann .15

15 Oft wird in einer interessenbasierten Rechtstheorie zudem davon ausgegangen, dass aus-schließlich menschliche Individuen TrĂ€ger von Rechten sein können . Damit vertreten die meisten Autoren einen sogenannten anthropozentrischen Individualismus . Meiner Ansicht nach sind Rechte aber keineswegs zwingend auf Menschen beschrĂ€nkt . Eine Schwierigkeit der Tierrechtsdebatte besteht darin, von der faktischen Feststellung, dass vielen Tieren keine Rechte zukommen, zu schließen, dass diese in der Konsequenz auch Menschen mit

48 Inklusion und Gerechtigkeit

Vorteile und Schwierigkeiten der Interessentheorie

Ein zentraler Vorteil der Interessentheorie gegenĂŒber der Willenstheorie ist, dass die Interessentheorie offener ist hinsichtlich der Frage, wer als Subjekt von Rechten gelten kann . So ist es auch möglich, Menschen mit schweren geistigen BeeintrĂ€chtigungen als Rechtssubjekte zu sehen und grundsĂ€tzlich einer Zwei-Gruppen-Bildung (in diejenigen Menschen, welchen Rechte zu-kommen, und diejenigen, welche keine Rechtssubjekte sein können) zu ent-gehen . Allerdings lĂ€uft die Interessentheorie damit Gefahr, den Status eines Rechtssubjekts inflationĂ€r zuzuschreiben . Der Interessenbegriff muss somit dahingehend qualifiziert werden, was ein Interesse ist, und was es heißt, dass etwas im Interesse eines Rechtssubjekts ist .

Zwei Interessenbegriffe

GemĂ€ĂŸ Christine Swanton (1980) kann man von zwei Interessenbegriffen ausgehen, einem evaluativen und einem deskriptiven . Dem ersten VerstĂ€nd-nis nach ist die Aussage, dass etwas ein Vorteil fĂŒr X ist, logisch Ă€quivalent zur Aussage, dass etwas gut ist fĂŒr X . Das bedeutet, dass jede EntitĂ€t Interes-sen haben kann, von der behauptet werden kann, dass etwas gut oder ein Vorteil fĂŒr sie ist .

Dieser Interessenbegriff ist evaluativ konnotiert . Das heißt, er setzt eine Wertung voraus . Daher wird dieser Interessenbegriff auch evaluativer Interes-senbegriff genannt . Der in einer evaluativen Konzeption umschriebene Kreis möglicher Rechtssubjekte ist potenziell sehr groß . In Frage kommen alle We-sen, denen man Interessen zuschreiben kann .

Dem evaluativen Interessenbegriff steht ein deskriptiver gegenĂŒber . Die-ser fasst Interessen als mentale PhĂ€nomene . Der Kreis potenzieller Rechts-subjekte ist damit enger gezogen . Mit ihm werden bestimmte mentale FĂ€hig-keiten vorausgesetzt, welche die Bedingung dafĂŒr darstellen, dass jemand oder etwas Interessen haben kann . In verschiedenen Auslegungen können

schweren Behinderung nicht zukommen sollten (vgl . McMahan 2005; Singer 1994) . Das ist eine Schlussfolgerung, die sich meiner Meinung nach aber keineswegs ziehen lassen muss . Vielmehr könnte man die Position vertreten, bestimmte Rechte auch Tieren zuzu-sprechen .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 49

diese FÀhigkeiten beispielsweise LeidensfÀhigkeit16, Bewusstsein oder Er-kenntnisvermögen17 sein .

Die Vorteile eines evaluativen Interessenbegriffs

Es gibt verschiedene GrĂŒnde, einen evaluativen Interessenbegriff vorzuzie-hen .

Erstens kann etwas gut fĂŒr mich sein, ohne dass ich es mir gleichzeitig wĂŒnsche oder – anders ausgedrĂŒckt – dass es in meinem (deskriptiven) Inte-resse begrĂŒndet ist . Aus diesem Grund kann ich auch ein Recht auf etwas haben (weil es gut fĂŒr mich ist), selbst wenn ich es mir nicht wĂŒnsche, oder es nicht in meinem (deskriptiven) Interesse ist . Dies wird deutlich an einem Beispiel . Es wĂ€re unplausibel, das Recht auf Bildung nur denjenigen Kin-dern zuzuschreiben, welche ein deskriptives Interesse an Bildung zeigen . Vielmehr gehen wir davon aus, dass dieses Recht allen Kindern zukommt, weil Bildung gut ist fĂŒr sie . Die schwache These, die besagt, dass der Besitz eines Rechts mindestens in einer Hinsicht gut sein muss fĂŒr deren Besitzer, genĂŒgt .

Eine Bedingung fĂŒr die Zuschreibung des Status als Rechtssubjekt ist demnach erstens, dass etwas gut sein muss fĂŒr X . Nach Joseph Raz (1986, S . 166) können daher nur diejenigen Wesen oder EntitĂ€ten Rechte haben, welche intrinsischen oder ultimativen Wert haben, nicht aber bloß instru-mentellen Wert . Das schließt bestimmte Dinge bereits aus: Werkzeuge bei-spielsweise haben ausschließlich instrumentellen Wert, ihnen schuldet man kein bestimmtes Verhalten . Und man kann ihnen auch kein Unrecht tun . Etwas kann also auch nicht gut oder schlecht sein fĂŒr sie, höchstens fĂŒr den-jenigen, der sie braucht .18

Zweitens brauchen Menschen Rechte, weil sie TrĂ€ger von Interessen sind, deren Befriedigung Teil ihres Wohlergehens und Bedingung fĂŒr Wohlerge-

16 Eine solche Position vertritt beispielsweise Peter Singer (1994) . 17 Eine solche Position wird beispielsweise von Joel Feinberg (2007) vertreten . 18 Allerdings ist nicht alles, was intrinsischen Wert hat, bereits auch von ultimativem Wert .

Etwas kann intrinsischen Wert haben und dennoch an einen weiteren, ultimativen Wert gebunden sein . Joseph Raz (1986, S . 177f .) nennt hier das Beispiel des Werts eines Hundes fĂŒr seinen Besitzer . Der Hund hat zweifelsohne intrinsischen Wert fĂŒr den Besitzer, aber es ist das Wohlergehen seines Besitzers, das von ultimativem Wert ist . Der Hund trĂ€gt nicht-instrumentell zu diesem Wohlergehen bei . Also ist seine Existenz von intrinsischem, aber letztlich abgeleitetem Wert .

50 Inklusion und Gerechtigkeit

hen ist: »Weil die Befriedigung dieser Interessen im Kontext einer Gesell-schaft nicht zuletzt durch die konfligierenden Interessen anderer Individuen latent bedroht ist, benötigt der Einzelne Rechte, die sein Wohlergehen er-möglichen, indem sie den Schutz grundlegender Interessen sichern, die allen Individuen als TrĂ€ger bestimmter allgemeiner Merkmale zugeschrieben wer-den« (Boshammer 2003, S . 35) .19

Die Möglichkeit einer Zuschreibung gilt nicht fĂŒr alle Interessen, aber fĂŒr bestimmte, grundlegende . Diese sind objektiv und können daher Men-schen auch dann zugeschrieben werden, wenn sie diese selbst nicht Ă€ußern (können) . Der Grund dafĂŒr ist, dass sie einer geteilten BedĂŒrfnisstruktur des Menschen entstammen . »To ascribe to all members of a class C a right to treatment T is to presuppose that T is, in all normal circumstances, a good for every member of C, and that T is a good of such importance that it would be wrong to deny it or withhold it from any member of C« (MacCor-mick 1982, S .  160) . Verletzt man diese basalen Rechte auf die ErfĂŒllung grundlegender BedĂŒrfnisse, so die Annahme, tritt ein substanzielles Leiden auf Seiten des Rechtssubjekts ein . Die betroffenen Menschen sind in ihrem Wohlergehen in der Folge fundamental gefĂ€hrdet oder geschĂ€digt .20

Die Erkenntnis, dass Rechte (objektive) Interessen schĂŒtzen, wirft nun die Frage auf, welcher Art die Interessen sind, die es ĂŒber Rechte zu schĂŒtzen gilt . Zweifelsohne ist es notwendig, verschiedene Interessen zu unterschei-den . Von grundlegenden, basalen Interessen, beispielsweise nach Nahrung oder Obdach, mĂŒssen Interessen unterschieden werden, die bestimmte Men-schen haben, und welche sie zwar mit GrĂŒnden verteidigen können, die aber in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung nicht von allen Menschen geteilt wer-den .

Ich werde im Folgenden zwei Ebenen von Interessen unterscheiden: ei-nerseits BedĂŒrfnisse, die universell sind und der menschlichen Natur ent-stammen respektive eng mit dieser verbunden sind, und andererseits Interes-sen, die man mit â€șPlĂ€nen und Zielenâ€č von Menschen umschreiben kann .

19 Vgl . hierzu ausfĂŒhrlicher und nicht nur auf Rechte bezogen Allen Buchanan (1990) . 20 Gerade fĂŒr (sonder-)pĂ€dagogische Belange ist daher die (potenzielle) GefĂ€hrdung des

Wohlergehens ein wichtiger Grund und Auslöser fĂŒr UnterstĂŒtzung und Hilfe .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 51

2 .3 Zwei Ebenen von Interessen

2 .3 .1 BedĂŒrfnisse

Menschen haben eine Reihe von BedĂŒrfnissen, beispielsweise nach Nahrung, einem Obdach oder nach genĂŒgend Schlaf . Üblicherweise unterscheidet man zwischen absoluten und instrumentellen BedĂŒrfnissen (vgl . Braybrooke 1987; Schramme 2006; Thomson 1987) . Instrumentelle BedĂŒrfnisse verwei-sen dabei auf absolute BedĂŒrfnisse, welche der Vermeidung von Leiden die-nen . »Absolute BedĂŒrfnisse liegen dort vor, wo man an einen Punkt gelangt, an dem nicht mehr sinnvoll nach weitergehenden Zielen gefragt werden kann . Einen Verdurstenden in der WĂŒste beispielsweise wird man kaum fra-gen, warum er Wasser braucht . Die absoluten BedĂŒrfnisse sind dadurch ge-kennzeichnet, dass sie auf einen möglichen schwerwiegenden Schaden oder ein Leid verweisen, das eintritt, falls das BedĂŒrfnis nicht erfĂŒllt wird« (Schramme 2006, S .  224) . Oft werden die absoluten BedĂŒrfnisse auch GrundbedĂŒrfnisse genannt . Instrumentelle BedĂŒrfnisse mĂŒssen sich also auf solche absoluten oder GrundbedĂŒrfnisse zurĂŒckfĂŒhren lassen . So kann man beispielsweise das BedĂŒrfnis, ein Glas Milch zu trinken, auf das absolute BedĂŒrfnis, Nahrung und FlĂŒssigkeit zu sich zu nehmen, zurĂŒckfĂŒhren .

Die Struktur von BedĂŒrfnissen

BedĂŒrfnisse haben folgende dreistellige Struktur: X benötigt Y um zu Z . Bei absoluten BedĂŒrfnissen steht bei â€șum zu Zâ€č das Ziel der Leidvermeidung . Da bei absoluten BedĂŒrfnissen die Aussagen aber oft eine elliptische Form auf-weisen und damit zweistellig erscheinen, bleibt diese Grundlage oft verbor-gen und muss, wie bereits erwĂ€hnt, in der Analyse erst wieder sichtbar ge-macht werden (vgl . Schramme 2006, S . 224) . Man sagt dann beispielsweise nur: Der Mensch hat ein BedĂŒrfnis nach Nahrung . Der Zusatz aber, dass Nahrung der Leidvermeidung dient, bleibt verborgen . Und dieses tritt ja unbestritten ein, wenn Menschen keine Nahrung erhalten .

52 Inklusion und Gerechtigkeit

Determinierung durch die menschliche Natur

BedĂŒrfnisse, im Besonderen die biologischen BedĂŒrfnisse, werden durch die menschliche Natur determiniert . Das heißt, sie sind in spezifischer Weise an die menschliche Lebensform gebunden und bestimmen den Bereich dessen, was Menschen benötigen, um als Menschen ĂŒberleben zu können . BedĂŒrf-nisse betreffen, mit anderen Worten, die Subsistenz von Menschen . Sie kenn-zeichnen gewissermaßen die passive Seite des Menschen als bedĂŒrftiges, ver-letzliches und abhĂ€ngiges Wesen (vgl . Doyal und Gough 1991; Laitinen 2009) .

Über BedĂŒrfnisse können Menschen nicht in ausgeprĂ€gtem Maß ent-scheiden, wie sie ĂŒber WĂŒnsche und Interessen bestimmen können . BedĂŒrf-nisse sind nicht an WĂŒnsche und spezifische Ziele gebunden, im Gegenteil . Ein BedĂŒrfnis existiert unabhĂ€ngig von aktualen WĂŒnschen . »Need turns on the observation that some things are required despite what one chooses, and however hard one struggles against the need« (Alkire 2005, S . 233) . Men-schen profitieren aus diesen GrĂŒnden auch unabhĂ€ngig von ihren WĂŒnschen von der ErfĂŒllung von BedĂŒrfnissen (vgl . Raz 1986, S . 260) .

Es gibt unterschiedliche Wege, BedĂŒrfnisse zu erfĂŒllen . Die Befriedigung des BedĂŒrfnisses hĂ€ngt dabei von der Art des BedĂŒrfnisses ab . So kann ein BedĂŒrfnis nach Nahrung durch Essen gedeckt werden, ein BedĂŒrfnis nach Zugehörigkeit durch Freunde oder Familie . BedĂŒrfnisse können in der Regel nicht substituiert, also durch etwas Anderes ersetzt, werden . So kann das BedĂŒrfnis nach Freundschaft nicht durch Nahrung befriedigt werden oder umgekehrt .21

Menschen sind in der ErfĂŒllung ihrer BedĂŒrfnisse von Ressourcen, aber auch anderen Menschen, speziell von deren Hilfe, abhĂ€ngig . So haben Men-schen beispielsweise BedĂŒrfnisse nach ausreichend Nahrung, bestimmten Temperaturen und Kleidung, die ihnen Schutz bietet, einem Obdach, nach Gesundheit oder der Abwesenheit von Schmerzen, nach Anregung und zwi-schenmenschlichem Kontakt . WĂ€hrend Letzteres direkt an die Hilfe und das Zusammensein mit anderen Menschen gebunden ist, sind Menschen hin-sichtlich anderer BedĂŒrfnisse von Ressourcen und nur kontingenterweise

21 Interessanterweise zeigen gerade bestimmte Verhaltensweisen und psychiatrisch relevante Erkrankungen, beispielsweise Drogenmissbrauch oder Bulimie, dass der Versuch der Be-friedigung eines bestimmten BedĂŒrfnisses durch Mittel, die einem anderen BedĂŒrfnis ent-sprechen, nicht gelingt . Meistens fĂŒhrt dieser Versuch im Gegenteil zu psychischen Prob-lemen, weil das eigentliche BedĂŒrfnis ĂŒber die gewĂ€hlten Mittel nicht befriedigt werden kann .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 53

von der Hilfe anderer Menschen abhĂ€ngig . Menschen sind beispielsweise dann abhĂ€ngig von der Hilfe ihrer Mitmenschen, wenn sie sich die Ressour-cen selbst nicht beschaffen können oder anderweitig UnterstĂŒtzung oder Hilfe bei der Befriedigung eines BedĂŒrfnisses benötigen . Diese Angewiesen-heit auf Hilfe trifft auf viele Menschen mit BeeintrĂ€chtigung, aber auch auf alte, pflegebedĂŒrftige Menschen sowie kleine Kinder zu .

Allerdings darf nicht vergessen gehen, dass Phasen der AbhĂ€ngigkeit von anderen Menschen das Leben aller Menschen in vielfĂ€ltiger Weise durch-dringen . Alle Menschen sind in der einen oder anderen Hinsicht von der Hilfe anderer abhĂ€ngig und sei dies nur als GegenĂŒber in zwischenmensch-licher Interaktion . Feministische Ethikerinnen und FĂŒrsorgeethiker weisen somit zu Recht auf Hilfe und AbhĂ€ngigkeit als menschliche Grundkonstante hin (vgl . Feder Kittay 1999; Held 2006; MacIntyre 1985) .

BedĂŒrfniserfĂŒllung macht noch kein gutes Leben aus

Allerdings macht die ErfĂŒllung von BedĂŒrfnissen das Leben eines Menschen noch nicht gut . Dies wird deutlich, wenn man sich vor Augen fĂŒhrt, was es bedeuten wĂŒrde, wenn in einem Leben sĂ€mtliche GrundbedĂŒrfnisse erfĂŒllt wĂ€ren, aber nichts darĂŒber hinaus Gehendes . Ein solcher Mensch hĂ€tte ge-nĂŒgend zu essen, um nicht ĂŒbermĂ€ĂŸig zu hungern, er hĂ€tte ein einfaches Obdach, so dass er nicht Wind und Wetter ausgesetzt wĂ€re, er hĂ€tte Klei-dung, um nicht frieren zu mĂŒssen und so weiter . Der Mensch mĂŒsste also nicht in substanziellem Sinne leiden . Sein Leben wĂ€re aber noch kein gutes . Denn zu einem guten Leben gehört nicht nur die Deckung von Grundbe-dĂŒrfnissen . Zu einem guten Leben gehört auch die Verfolgung und ErfĂŒl-lung von PlĂ€nen und Zielen . Diese PlĂ€ne und Ziele kennzeichnen eine zwei-te Ebene menschlicher Interessen .

2 .3 .2 PlÀne und Ziele

Im Gegensatz zu BedĂŒrfnissen können Menschen zu ihren PlĂ€nen und Zie-len wertend Stellung nehmen . Dies können sie zu ihren BedĂŒrfnissen nicht oder nur in sehr eingeschrĂ€nktem Maß . Die Unterscheidung zwischen Be-dĂŒrfnissen und PlĂ€nen und Zielen markiert denn auch eine moralisch be-deutsame Schwelle . Die grundlegenden Bereiche menschlichen Lebens sind

54 Inklusion und Gerechtigkeit

durch BedĂŒrfnisse gekennzeichnet . Werden die BedĂŒrfnisse von Menschen nicht gedeckt, beraubt man sie etwas ganz Grundlegendem im menschlichen Leben . Insofern ist die ErfĂŒllung von BedĂŒrfnissen basaler oder grundlegen-der als die ErfĂŒllung von spezifischen PlĂ€nen und Zielen .22

Die aktive Seite menschlichen Lebens

Der Bereich der PlĂ€ne und Ziele kennzeichnet die aktive Seite menschlichen Lebens respektive den Menschen als aktives, unabhĂ€ngiges, autonom han-delndes Wesen, das Ziele hat und sie verfolgt . Ziele und PlĂ€ne in einem weiten VerstĂ€ndnis decken nach Joseph Raz (1986, S .  291) beispielsweise Projekte, PlĂ€ne, Beziehungen, Ambitionen oder commitments ab . Da es die Ziele und PlĂ€ne von Individuen sind, prĂ€gen sie die Handlungen der betref-fenden Menschen . Sie fĂ€rben die Wahrnehmung der Umgebung und der Welt und sie sind wichtig fĂŒr emotionale Antworten und fĂŒr die Vorstel-lungswelt von Individuen . Sie spielen aus diesen GrĂŒnden eine tragende Rol-le im Leben von Menschen . Ziele mĂŒssen dabei nicht gewĂ€hlt und bewusst sein, sie können auch unbewusst sein . Auch können Menschen in sie hinein-wachsen und damit sozialisiert werden . So sind gewisse soziale Ziele an Kon-ventionen und geteilte Vorstellungen ĂŒber Rollen und Funktionen von Menschen gebunden .

Die hierarchische Struktur von Interessen

Interessen haben offensichtlich eine hierarchische Struktur . Das heißt, PlĂ€ne und Ziele bauen auf BedĂŒrfnissen auf . Oft ist es möglich, einen bestimmten Plan oder ein Ziel letztlich auf ein bestimmtes BedĂŒrfnis zurĂŒckzufĂŒhren respektive in der ErfĂŒllung des Plans oder des Ziels auch die Befriedigung eines BedĂŒrfnisses zu sehen . So kann die Teilnahme in einem Fanklub neben dem Interesse an einem bestimmten KĂŒnstler auch die Befriedigung eines BedĂŒrfnisses nach Gemeinschaft sein . Dass PlĂ€ne und Ziele auf BedĂŒrfnissen aufbauen, weist darauf hin, dass die Befriedigung von einfacheren BedĂŒrfnis-

22 Zweifelsohne ist es so, dass es einen relativ weiten Übergangsbereich zwischen BedĂŒrfnis-sen und Interessen gibt, der auch davon abhĂ€ngen kann, inwiefern das Individuum in der Lage ist, wertend zu seinen BedĂŒrfnissen Stellung zu nehmen .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 55

sen notwendig ist fĂŒr die ErfĂŒllung von komplexeren Zielen und PlĂ€nen .23 Der Erfolg von einzelnen Zielen bemisst sich dabei hĂ€ufig nicht an den mo-mentanen Zielen, sondern an umfassenden, komplexen PlĂ€nen und Zielen, die den Charakter von LebensplĂ€nen oder -zielen haben können . Ist dies der Fall, ist es nicht erstaunlich, dass sich große Lebensziele auf den Charakter oder die Ausgestaltung des Lebens als Ganzes beziehen . Scheitern Menschen an diesen großen PlĂ€nen und Zielen, fĂŒhlen sie sich nicht selten in ihrem ganzen Leben gescheitert . Sie empfinden dies mit anderen Worten als umfas-sendes Scheitern .

Der Bezug zu menschlichem Wohlergehen

Menschliches Wohlergehen ist in folgenden Hinsichten an die Ziele und PlĂ€ne von Menschen gebunden (vgl . Raz 1986, S . 308): Erstens ist mensch-liches Wohlergehen außer im Falle von biologischen und gewissen sozialen und kulturellen BedĂŒrfnissen an die erfolgreiche ErfĂŒllung von Zielen ge-bunden . Ziele und PlĂ€ne wiederum sind an HandlungsgrĂŒnde gebunden, insofern Menschen ihr Handeln nĂ€mlich in den meisten FĂ€llen mit GrĂŒnden unterlegen (können) . Zweitens glauben Menschen an den Wert von Zielen und PlĂ€nen, selbst wenn sie sich diese nicht wĂŒnschen . So kann es ein Mensch fĂŒr gut befinden, gebildet zu sein, selbst wenn er sich das nicht wĂŒnscht . Daher können bestimmte objektive Faktoren eines guten Lebens, beispielsweise Bildung, als menschliches Ziel bestimmt werden, ohne not-wendigerweise Bezug auf die aktualen WĂŒnsche einer Person zu nehmen .

In der Verbindung respektive dem Beitrag zu menschlichem Wohlerge-hen und menschlichem Leiden zeigt sich nochmals die hierarchische Di-mension von Interessen, beginnend bei menschlichen GrundbedĂŒrfnissen, deren Deckung fundamental ist . Garrett Thomson (2005, S . 185) betont ins-besondere die Wechselwirkungen zwischen BedĂŒrfnisbefriedigung, der Mög-lichkeit, eigene Interessen in Form von Zielen und PlĂ€nen verfolgen zu kön-nen und menschlichem Leiden: »The concept of an interest must form an integral part of the concept of a fundamental need because our interests de-termine in general terms what types of activities and experiences we are de-prived of when we are harmed . We require the notion of an interest to ex-plain what harm is, and we require the notion of harm to explain what a

23 Darauf weist in gewisser Weise die BedĂŒrfnispyramide von Abraham H . Maslow (1981) hin .

56 Inklusion und Gerechtigkeit

fundamental need is . The concept of an interest demonstrates in what sense our well-being consists of living in accordance with our nature, rather than consisting of getting what we desire . The significance of inescapable interests is that these define in what way we must treat this nature as given . They provide a certain starting-point for deliberation and a certain fixedness in what is to count as good and bad for a person .« BedĂŒrfnisse stellen den Start-punkt fĂŒr die Überlegungen, was fĂŒr einen Menschen gut oder schlecht ist, dar . Sie sind die fixen Eckpunkte menschlichen Leidens und Wohlergehens .

2 .4 Fazit

Rechte decken einen wichtigen Teil moralischer Forderungen ab . Sie verlei-hen den TrĂ€gern erstens eine besondere Position, die sie sonst nicht hĂ€tten, und sie haben zweitens eine freiheitseinschrĂ€nkende Wirkung auf Seiten des RechtstrĂ€gers . Das heißt, sie sind mit Pflichten auf anderer Seite verbunden . Besonders dieser pflichtauslösende Charakter macht moralische Rechte inte-ressant .

Im Zuge der Überlegungen habe ich eine interessenbasierte Theorie mo-ralischer Rechte vertreten und eine andere Theorie, die Willenstheorie, zu-rĂŒckgewiesen . Die Interessentheorie geht davon aus, dass Rechte wichtige Interessen von Menschen schĂŒtzen . Diese Interessen werden aber nicht de-skriptiv verstanden, sondern evaluativ .

Damit ist es möglich, auch Menschen mit schweren BeeintrĂ€chtigungen Rechte zuzuschreiben . Dies aus dem Grund, weil ihnen wie allen Menschen bestimmte GrundbedĂŒrfnisse zugeschrieben werden können . Ohne die Er-fĂŒllung dieser basalen menschlichen BedĂŒrfnisse – beispielsweise nach Nah-rung, Obdach, aber auch menschlicher Zuwendung – leiden Menschen sub-stanziell . Über den Bereich von GrundbedĂŒrfnissen hinaus haben Menschen PlĂ€ne und Ziele . Diese kennzeichnen eine zweite Ebene wichtiger menschli-cher Interessen . Bedeutsam sind hierbei nicht die partikularen PlĂ€ne und Ziele an sich, sondern deren freiheitsfunktionale Wirkung . In der erfolgrei-chen Verfolgung von PlĂ€nen und Zielen, wie sich spĂ€ter noch vertiefter zei-gen wird, drĂŒcken sich nĂ€mlich die Freiheitsgrade aus, die Menschen ha-ben .

Auf diese Weise hat das vorliegende Kapitel den Grundstein zum forma-len VerstÀndnis von Rechten geliefert . Begriff, Struktur und Funktion von

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 57

Rechten wurden darin geklĂ€rt . Die inhaltliche FĂŒllung, insbesondere die Antworten auf die Fragen, wer nun genau als Rechtssubjekt in Frage kommt, wer TrĂ€ger der Pflichten ist und welche Rechte inhaltlich genau bestehen, werden im siebten Kapitel geliefert .

FĂŒr meine Fragestellung hat sich insofern erst der formale Rahmen ge-zeigt, in welchem sich die Beantwortung der Frage bewegen kann . Dabei möchte ich insbesondere folgende Aspekte nochmals betonen: Erstens muss der Gegenstand – in diesem Fall Inklusion oder bestimmte Aspekte von In-klusion – erzwingbar sein . FĂŒr einige GegenstĂ€nde, beispielsweise Dankbar-keit oder Liebe, ist dies nicht möglich, da sie untrennbar an Freiwilligkeit gebunden sind . Es muss sich daher bei Inklusion zeigen, ob und wie sie er-zwingbar ist . Zweitens muss der Gegenstand, also Inklusion, in der VerfĂŒ-gungsmacht der PflichtentrĂ€ger liegen . Sind Menschen verpflichtet, Inklusi-on umzusetzen, weil dies einem Recht entspricht, dann muss sich zeigen, dass es tatsĂ€chlich in der Macht der Rechtsobjekte liegt, das Recht zu erfĂŒl-len . Auch hier gibt es Beispiele, die zeigen, dass das nicht immer möglich ist . So kann man zwar viel fĂŒr das GlĂŒck einer anderen Person tun, es ist aber außerhalb der Macht von Menschen zu erreichen, dass sich diese Person auch tatsĂ€chlich glĂŒcklich fĂŒhlt . Es kann also, so kann man folgern, keine Pflicht darauf geben, jemanden glĂŒcklich zu machen . Drittens muss es um wichtige Interessen gehen . Diese Interessen messen sich daran, dass sie einen wichtigen Beitrag zum menschlichen Wohlergehen leisten . Wenn es bei-spielsweise um die Inklusion in einen Fußballklub geht, dann mĂŒsste man zeigen, inwiefern dies nun zu menschlichem Wohlergehen beitrĂ€gt . Da die Beantwortung der Frage aber davon abhĂ€ngt, was man ĂŒberhaupt unter menschlichem Wohlergehen versteht, muss ich die Frage noch eine Weile ruhen lassen . Ich werde sie im dritten und insbesondere im vierten Kapitel, welches sich dann zentral der Frage widmet, wieder aufnehmen .

Bis es möglich ist, die Frage nach dem Recht auf Inklusion zu beantwor-ten, sind noch einige Umwege vonnöten . Beispielsweise werden mit der Fra-ge, ob Menschen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Inklusion ha-ben, die Unterfragen aufgeworfen, was eine Behinderung ist und worin die normative Problematik besteht, eine Behinderung zu haben . Genau auf die-se Fragen will ich im Folgenden eingehen .

3 . Behinderungsmodelle

Die Beantwortung der Frage nach der normativen Bedeutung von Behinde-rung ist deshalb zentral, weil man nur so die normative Problematik der be-troffenen Menschen verstehen kann . Sind nĂ€mlich Menschen aufgrund ihrer Behinderung aus vielen Lebensbereichen ausgeschlossen, wirft dies die Frage auf, worin denn die Behinderung der betroffenen Menschen liegt respektive weshalb sie fĂŒr Fragen von Exklusion oder Inklusion relevant ist . Auf Fragen der Inklusion und Exklusion gibt es ganz unterschiedliche Antworten oder LösungsansĂ€tze, die alle damit zusammenhĂ€ngen, welches Modell von Be-hinderung man vertritt .

Aufbau des Kapitels

In der Diskussion der Frage konzentriere ich mich auf folgende Modelle: das medizinische Modell von Behinderung1, das soziale Modell von Behinderung, das Wohlbefindensmodell von Behinderung sowie das von mir abschließend entwickelte Wohlergehensmodell von Behinderung, welches verwandt ist mit der Internationalen Klassifikation der FunktionsfĂ€higkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation WHO . Diesem Modell fĂŒgt es aber einen normativen Schluss an . Nicht diskutieren werde ich das Modell von Behinderung, wie es in der Rechts- und Versicherungs-sprache gebraucht wird, und welches Behinderung an Erwerbsminderung bindet (vgl . Welti 2005, S . 735) . Ein solches VerstĂ€ndnis von Behinderung scheint fĂŒr den vorliegenden Zusammenhang nicht zielfĂŒhrend .

Das Kapitel zeigt auf, dass die Problematik von Behinderung vor allen Dingen in der EinschrÀnkung des Wohlergehens liegt . Das an dieses Kapitel

1 Manchmal wird dieses Modell aufgrund seiner Annahmen und Implikationen auch als »personal tragedy concept of disability« (Christensen 1996, S . 64) bezeichnet .

60 Inklusion und Gerechtigkeit

anschließende vierte Kapitel beleuchtet aus diesem Grund die Frage, was man unter Wohlergehen verstehen soll .

Vier FĂ€lle

Folgende reale FĂ€lle sollen durch das Kapitel fĂŒhren . An ihnen kann gezeigt werden, worin die normative Problematik einer Behinderung liegt respektive welche Antworten die jeweiligen Modelle auf die Frage, was eine Behinde-rung ist, bereitstellen .

Fall 1: Tom Shakespeare, Nachfahre des berĂŒhmten William Shakespeare, britischer Bioethiker und Soziologe sowie 3 . Baron von Lakenham, ist ein bekannter englischer Behindertenaktivist .2 Geboren mit der hĂ€ufigsten Form von KleinwĂŒchsigkeit, Achondroplasie, einem Gendefekt auf dem vierten Chromosom, ist er aufgrund seiner KleinwĂŒchsigkeit hĂ€ufig Objekt von Schaulustigkeit . Manchmal macht er sich daraus einen Spaß und schneidet Kindern, wenn ihre MĂŒtter das nicht bemerken, Grimassen, um sie zu er-schrecken . Tom Shakespeare hat einen beruflichen Alltag, den er sich zu wei-ten Teilen selbst einteilen kann . So arbeitet er morgens oft zu Hause und geht nachmittags von da aus in sein BĂŒro in der UniversitĂ€t . Den Zeitpunkt des Wechsels von der Heim- zur ArbeitsstĂ€tte wĂ€hlt er bewusst . So vermeidet er es beispielsweise, nachmittags, wenn Schulkinder auf ihrem Heimweg sind, auf der Strasse gesehen zu werden, weil es ihn Ă€rgert, jeden Tag ange-starrt und ausgelacht zu werden .

Fall 2: Daniel ist ein junger Mann mit Down Syndrom,3 der lesen und schreiben kann, als KĂŒchenjunge arbeitet und in einer Wohngruppe einer Behinderteneinrichtung lebt . Er hat ein ausgezeichnetes rĂ€umliches Vorstel-lungsvermögen und ein gutes Musikgehör . Am liebsten hört er Schlagermu-sik oder besucht mit jemandem aus der Familie ein Fußballspiel . Seine Freunde sind die anderen Bewohner seiner Wohngruppe . Außerhalb der Wohngruppe und seiner eigenen Kernfamilie hat Daniel keine Freunde . Sein grĂ¶ĂŸter Wunsch ist es, Mitglied eines Karnevalsvereins zu werden und in diesem Glockenspiel zu spielen . Er hat sich bei verschiedenen Gruppen be-

2 Dieses Beispiel verdanke ich einem Interview mit Tom Shakespeare in der Zeitschrift NZZ Folio (Schneider 2002) sowie einer persönlichen Konversation Jonathan Wolffs mit Tom Shakespeare .

3 Dieses Beispiel beruht auf einer persönlichen Begegnung respektive einem langjĂ€hrigen Kontakt mit Daniel, der in Wirklichkeit anders heißt .

Behinderungsmodelle 61

worben . Bis auf eine haben ihn alle abgelehnt . Diese Gruppe hat sich offen gezeigt, ihn als Passivmitglied aufzunehmen . Als solches darf er eine Fahne tragen und die Gruppe bei UmzĂŒgen anfĂŒhren .

Fall 3: N .E . war eine junge, erfolgreiche Studentin der Architektur .4 Nach einem erfolgreich abgeschlossenen Grundstudium arbeitete sie zwei Jahre in einem ArchitekturbĂŒro und war gerade dabei, sich fĂŒr ein Hauptstudium vorzubereiten, als sie einen Motorradunfall erlitt, der sie mit einem schweren SchĂ€delhirntrauma zurĂŒck ließ . Nach ihrem Unfall und anschließendem Aufenthalt auf der Intensivstation einer Klinik verbrachte N . E . ungefĂ€hr ein Jahr in einer Rehabilitationsklinik, wo sie von Neuem lernen musste zu lau-fen, zu essen und fĂŒr ihre alltĂ€glichen Verrichtungen zu sorgen . Sie erhielt dazu verschiedene Therapien, unter anderem eine BeschĂ€ftigungstherapie, eine Sprechtherapie sowie Physiotherapie . N .E . wies nach ihrem Unfall kog-nitive Defizite und SchĂ€digungen des Neuroverhaltens auf, welche mit einer mittelschweren FrontalschĂ€delverletzung verbunden waren . Noch heute ist N .E . unaufmerksam, impulsiv und schnell gereizt . Sie hat MĂŒhe, klare, ge-zielte Gedanken zu formulieren und Aussagen sowie ihr Verhalten zu organi-sieren . Bei fast allen alltĂ€glichen Verrichtungen benötigt sie aufgrund ihrer geschĂ€digten exekutiven Hirnfunktionen Hilfe . Die Hirnverletzung hat auch zur Folge, dass sich N .E . ihrer Defizite nicht bewusst ist . Die Rehabilitation in einem therapeutischen Umfeld halfen ihr zwar, sich dieser bewusst zu werden und Strategien zu entwickeln, wie sie damit umgehen kann . Den-noch sind die BeeintrĂ€chtigungen zu schwerwiegend, um ohne Hilfe den Alltag bewĂ€ltigen zu können . Ein reduziertes Grundstudium in Psychologie bestand N .E . zwar mit Hilfe eines ganzen UnterstĂŒtzerteams . Ihr nach eige-nen Aussagen wichtigstes Ziel, an ihr ursprĂŒngliches Studium der Architek-tur anschließen zu können, erreichte sie aber nicht . Nach kurzer Zeit musste sie ein Programm, in das sie sich selbst eingeschrieben hatte, wieder verlas-sen . Diese Niederlage fĂŒhrte dazu, dass sich ihr subjektives Wohlbefinden stark reduzierte und ihre Grundstimmung von einem starken GefĂŒhl des Versagens und einem niedrigen Selbstbewusstsein begleitet war .

Fall 4: Sue Rubin ist eine junge Frau mit Autismus, die nicht sprechen kann .5 Sie kommuniziert mit anderen Menschen ĂŒber einen Computer, der unter-

4 Dieses Beispiel wird ausfĂŒhrlich beschrieben in Daniels et al . (2009) . Der Fall ist darin mit Akronymen beschrieben, die ich im Folgenden beibehalte .

5 Dieses Beispiel stammt aus dem fĂŒr einen Oscar nominierten Dokumentarfilm Autism is a World (USA 2004), welcher das Leben von Sue Rubin zeigt und von ihr selbst geschrie-ben wurde .

62 Inklusion und Gerechtigkeit

stĂŒtzte Kommunikation ermöglicht .6 Bis sie dreizehn war, gingen Therapeu-ten davon aus, dass Sue Rubin kognitiv schwer beeintrĂ€chtigt sei . Erst neue-re Tests an der Harvard UniversitĂ€t, angestrengt von der Mutter, die nicht glauben wollte, dass ihre Tochter geistig schwer beeintrĂ€chtigt sei, zeigten, dass Sue Rubin ĂŒberdurchschnittlich intelligent ist .

Heute studiert Sue Geschichte mit Spezialisierung in lateinamerikani-scher Geschichte . Sie kann nicht alleine leben und erhĂ€lt rund um die Uhr UnterstĂŒtzung von einem Betreuerstab . Wenn sie besonders nervös ist, fĂ€llt sie in repetitives Verhalten, spielt mit Löffeln am Wasserbecken oder wieder-holt minutenlang unverstĂ€ndliche Laute .

Behinderung als â€șthick moral conceptâ€č

Ein Modell von Behinderung, das fĂŒr die vorliegende Arbeit von Interesse ist, hat eine deskriptive und eine evaluative Seite . Damit gehe ich davon aus, dass Behinderung als ein dickes moralisches Konzept oder ein thick moral concept (vgl . Williams 1985, S . 141) betrachtet werden kann, Ă€hnlich wie Frei-heit, Gleichheit oder Gerechtigkeit .

Verschiedene Modelle von Behinderung unterscheiden sich hinsichtlich ihrer deskriptiven wie auch hinsichtlich ihrer evaluativen, normativen Di-mension . Viele Autoren gehen von zwei unterschiedlichen Modellen von Behinderung aus, einem medizinischen und einem sozialen . Die binĂ€re Dis-tinktion zwischen den beiden Modellen geht ursprĂŒnglich auf Gedanken des britischen Aktivisten und Wissenschaftlers Michael Oliver zurĂŒck, der in einem 1983 erschienen Buch ein individuelles einem sozialen Modell gegen-ĂŒberstellte (vgl . Oliver 1983) . Im Verlaufe der letzten rund dreißig Jahren wurden die beiden Modelle mit â€șmedizinischâ€č sowie â€șsozialâ€č ĂŒberschrieben . Das sogenannte soziale Modell von Behinderung wird in vielen Disziplinen, insbesondere der SonderpĂ€dagogik aber auch in Selbsthilfegruppen favori-siert und dem abgelehnten, als veraltet eingeschĂ€tzten medizinischen Modell gegenĂŒbergestellt . Nicht zuletzt aus der Kritik am medizinischen Modell entwickelte die WHO ihr bio-psycho-soziales Modell, die internationale Klassifikation der FunktionsfĂ€higkeit, Behinderung und Gesundheit, kurz

6 Dabei wird ihre Hand von einer Hilfsperson gefĂŒhrt, so dass es Sue Rubin möglich ist, die Worte in ihren kleinen Taschencomputer einzutippen . Sobald sich die Worte erahnen lassen, spricht sie die Hilfsperson aus und Sue bestĂ€tigt ihre Korrektheit mit einem Ni-cken .

Behinderungsmodelle 63

ICF (vgl . World Health Organization 2001) . Aber auch von Vertretern eines sozialen Modells mehrt sich Kritik an der Einseitigkeit der beiden Modelle respektive deren Ausrichtungen . Beide Modelle, so Tom Shakespeare (2006), beschrieben die Erfahrungen behinderter Menschen nur ungenĂŒgend . Ein drittes Modell sei daher vonnöten .

Im Folgenden werde ich, an Shakespeare anschließend, eine Ă€hnliche Richtung einschlagen . Dabei werde ich die jeweiligen Modelle vorstellen und kritisieren . Ich beginne mit dem medizinischen Modell .

3 .1 Das medizinische Modell von Behinderung

Das erste, von der SonderpĂ€dagogik sowie von Selbsthilfegruppen abgelehn-te Modell, das medizinische, ist von einer Schwierigkeit begleitet: Es wird nĂ€mlich auf der Theorie- oder Modellebene von fast niemandem vertreten und scheint daher oft den Charakter eines Strohmanns zu haben . Die Be-zeichnung â€șmedizinisches Modellâ€č geht, wie erwĂ€hnt, auf einen Text von Mi-chael Oliver zurĂŒck und dient Gegnern dieses Modells oft dazu, das eigene, soziale Modell zu legitimieren oder zu motivieren . Oft bleibt unklar, auf wen konkret sich die Kritik beziehen soll respektive von wem das medizinische Modell wirklich vertreten und wie es konkret begrĂŒndet wird .

Ein medizinisches Modell muss zudem von einer medizinischen Sicht-weise unterschieden werden (vgl . Wolff 2004) . Eine medizinische Sichtweise auf Behinderung hat vier Bereiche: Ätiologie, Symptomatik, Therapie und PrĂ€vention . Dabei ist die Medizin im Besonderen an der Ätiologie einer Stö-rung interessiert, denn ohne diese können die Pathogenese, die Symptoma-tik, und die Wiederholungswahrscheinlichkeit nicht verstanden und die PrĂ€vention (im Sinne einer Verhinderung von schĂ€digungsbedingten oder -assoziierten Komplikationen oder Erkrankungen) nicht adĂ€quat geplant werden . Die normative Problematik des falschen Schlusses wird bei einer medizinischen Sichtweise vermieden, indem die normative Bewertung von der deskriptiv-biologischen Frage getrennt wird . Das bedeutet, dass in der medizinischen Sichtweise aus einer deskriptiven Dimension kein normativer Schluss gezogen wird (oder zumindest werden muss) . Die normative Bewer-tung wird im Idealfall den Betroffenen ĂŒberlassen . Der Handlungsauftrag der Medizin ergibt sich aus dem subjektiven Leiden der Betroffenen, fĂŒr das die Medizin Maßnahmen zur Minderung zur VerfĂŒgung stellen kann . Dass

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es dabei in der Praxis zu VerstĂ¶ĂŸen gegen diesen Handlungsauftrag kommen kann, spricht nicht per se gegen die LegitimitĂ€t und Notwendigkeit einer medizinischen Sichtweise .7

Nimmt man aber an, dass ein medizinisches Modell existiert – und tat-sĂ€chlich gibt es Hinweise in der Bioethik, dass ein solches vertreten wird (vgl . Harris 2001, 2002) – dann fĂŒgt ein solches Modell einem rein biologischen Speziesnorm-Modell eine normative Dimension hinzu .

Die evaluative Seite interpretiert die Abweichungen von einer Norm so, dass sie annimmt, dass das Leben einer Person S aufgrund dieser Abwei-chung von der Norm schlechter ist und daher Grund gibt, diese Abweichung zu verhindern, zu bedauern oder zu korrigieren .

Das medizinische Modell besagt im Kern in seiner allgemeinen Form folgendes:

Eine Behinderung ist ein stabiles intrinsisches Merkmal, welches vom normalen Funktionieren einer Spezies abweicht und aufgrund dessen das Leben des Betroffenen schlechter macht .

Damit verordnet das medizinische Modell die normative Problematik einer Behinderung ursĂ€chlich und kausal in der individuellen Abweichung von ei-ner Norm . Soziale BezĂŒge spielen keine signifikante Rolle, zumindest nicht als Ursachenfaktoren, sondern höchstens im Rahmen sozialer Auswirkun-gen . So muss in einem medizinischen Modell von Behinderung zwar nicht abgestritten werden, dass SchĂ€digungen soziale Auswirkungen haben kön-nen, die ĂŒber eigentliche lebenspraktische BeeintrĂ€chtigungen hinausgehen, beispielsweise in Form sozialer AusschlĂŒsse . Es nimmt diese selbst aber nicht als Ursache oder konstitutives Element von Behinderung an .

Betrachtet man die vier beschriebenen FĂ€lle aus der Perspektive des me-dizinischen Modells, ließe sich die Behinderung der vorhin vorgestellten Per-sonen folgendermaßen beschreiben:

Fall 1: Tom Shakespeares Behinderung liegt in seiner KleinwĂŒchsigkeit . Die-se Abweichung von der biologischen Norm (eine bestimmte, statistisch als

7 Auch ist die biologisch-körperliche Dimension des Menschen ganz allgemein nicht zu ig-norieren . Es ist ein Faktum, dass Menschen körperliche Wesen sind . Das heißt, sie besitzen eine biologische Dimension und sind durch andere in der Welt durch ihre Körper identi-fizierbar . Sie sind auch Mitglieder einer biologischen Spezies, der homo sapiens, durch die sie evolutionĂ€r mit anderen, ihnen verwandten Wesen verbunden sind . Weil sie körperli-che, biologische Wesen sind, unterliegen sie natĂŒrlichen respektive biologischen Geset-zen .

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normal erachtete KörpergrĂ¶ĂŸe, von der Shakespeare signifikant abweicht) macht Shakespeares Leben schlechter .

Fall 2: Daniels Behinderung liegt in seiner fehlerhaften Gen-Ausstattung . Sein 21 . Chromosom ist statt zwei- dreifach vorhanden . Diese Abweichung fĂŒhrt zu einer Reihe von Schwierigkeiten, unter anderem einer geistigen Be-eintrĂ€chtigung . Diese sowie eine Reihe anderer Probleme (unter anderem Herzprobleme und Probleme beim Sprechen) machen Daniels Leben schlechter .

Fall 3: N .E .s Behinderung liegt in den mit der massiven Hirnverletzung ver-bundenen Problemen, ihre Gedanken sowie ihr Verhalten zu steuern, zu pla-nen und vorherzusehen .

Fall 4: Sue Rubins Behinderung liegt in ihrem stereotypen Verhalten, ihrer fehlenden Lautsprache und anderen, mit dem autistischen SchÀdigungsbild zusammenhÀngenden, BeeintrÀchtigungen im tÀglichen Leben .

Die Kritik am medizinischen Modell

Die Kritik am medizinischen Modell kann grundsĂ€tzlich drei Stoßrichtun-gen einnehmen . Erstens kann kritisiert werden, dass Behinderung eine kul-turelle, historische und soziale Dimension hat, welche das Modell nicht er-fasst . Zweitens kann bemĂ€ngelt werden, dass das Modell einen falschen Schluss aus einer statistischen oder biologischen Norm zieht . Drittens zeigt eine Kritiklinie, die vor allem von behinderten Menschen selbst geĂ€ußert wird, dass im medizinischen Modell geteilte soziale Erfahrungen, beispiels-weise bestimmte Formen sozialer Benachteiligung, keine oder höchstens eine indirekte Rolle spielen .

Die kulturelle, historische und soziale Dimension von Behinderung

Der Umgang mit Behinderung besitzt, so ein Kritikpunkt am medizinischen Modell, eine kulturelle und soziale Dimension, die im Modell meist unter-beleuchtet bleibt (vgl . Reinders 2000; Scully 2008) . Dies zeigt sich beson-ders deutlich in den FÀllen von Tom Shakespeare und Sue Rubin . Die sozia-le Reaktion, die Shakespeare erntet, und die ihn dazu bringen, das Haus nur zu bestimmten Zeiten zu verlassen, um nicht unter den sozialen Zuschrei-bungen zu leiden, ist keineswegs der SchÀdigung geschuldet . Sie ist vielmehr

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sozialen Ursprungs . Auch die mangelnden Bildungschancen, die Sue Rubin zugesprochen wurden, sind nicht der SchĂ€digung selbst zuzuschreiben, son-dern entspringen einer (sozialen) Fehldiagnose . Dies zeigt, dass die Behinde-rung nicht alleine durch die SchĂ€digungsdimension beschrieben werden kann, sondern vielmehr eine Dimension hat (oder zumindest haben kann), die genuin sozial ist und welche unter anderem in den Einstellungen zu Be-hinderung und behinderten Menschen begrĂŒndet ist .

Die kontingente strukturelle Dimension von Behinderung zeigt sich in der historischen, sozialen und kulturellen Dimension deutlich . So lĂ€sst sich nachweisen, dass verschiedene Kulturen und historische Epochen unter-schiedliche Vorstellungen darĂŒber haben und hatten, was eine Behinderung darstellt und was nicht .8 Aus diesen GrĂŒnden kommt den Umweltfaktoren, den Ressourcen wie auch der sozialen Struktur der Gesellschaft eine hohe Bedeutung in der Bildung, Wahrnehmung und Beeinflussung von Behinde-rung zu .

In einer Untersuchung, welche die Lebenslage und das Wohlbefinden von Paraplegikern in Sydney, Australien, und diejenige von Paraplegikern in abgelegenen Gebieten Kameruns erfragte und verglich, zeigte sich diese sys-tematische soziale und kulturelle Dimension besonders drastisch . WĂ€hrend die befragten Paraplegiker in Sydney in ihrer Paraplegie keine nennenswerte Behinderung sahen, sahen viele Paraplegiker in den abgelegenen Gebieten Kameruns das Leben mit ihrer BeeintrĂ€chtigung als nicht lebenswert an (vgl . Allotey et al . 2003) . Die Studie zeigt deshalb eindrĂŒcklich die hohe Bedeu-tung von Umweltfaktoren auf, weil sich die sozialen und kulturellen Bedin-gungen in beiden LĂ€ndern stark unterscheiden . WĂ€hrend auf einen Rollstuhl angewiesene Menschen in Sydney nicht zuletzt dank der ausgezeichneten modernen Infrastruktur der Stadt (unter anderem den komplett zugĂ€ngli-chen öffentlichen Verkehr) tatsĂ€chlich gegenĂŒber nicht beeintrĂ€chtigten Menschen keine nennenswerten LebenseinschrĂ€nkungen verspĂŒren, sind Rollstuhlfahrer in abgelegenen Gebieten Kameruns wĂ€hrend mehrerer Mo-nate im Jahr ans Haus gefesselt, da sie wĂ€hrend der Regenzeit aufgrund der schlechten Infrastruktur in den lĂ€ndlichen Gebieten ihr Haus nicht verlassen können . Auch haben nur wenige von ihnen ĂŒberhaupt einen Rollstuhl zur VerfĂŒgung . Ihre MobilitĂ€t ist in vielen FĂ€llen so stark eingeschrĂ€nkt, dass sie

8 So wurden beispielsweise psychische Erkrankungen sowie insbesondere auch Entstellun-gen und andere sichtbare körperliche SchĂ€digungen historisch sehr unterschiedlich beur-teilt (vgl . MĂŒller 1996) . Vgl . auch fĂŒr eine Thematisierung der Problematik aus kulturwis-senschaftlicher Sicht die Publikationen von Christian MĂŒrner (2003; MĂŒrner und Schönwiese 2006) .

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nahezu vollstĂ€ndig immobil sind und ihren Alltag weitgehend liegend im Bett verbringen mĂŒssen . Unter diesen UmstĂ€nden erstaunt es nicht, dass ein großer Teil der befragten Paraplegiker in diesen abgelegenen Gebieten Ka-meruns die eigene Lebenssituation als schlimmer als den Tod einschĂ€tzte .

Die unterschiedliche EinschĂ€tzung der eigenen Lebenssituation bei nota-bene gleichem SchĂ€digungsbild – so einsichtig sie angesichts der unter-schiedlichen LebensumstĂ€nde bei gleicher körperlicher SchĂ€digung auch ist – stellt ein Problem fĂŒr das medizinische Modell dar . Das Modell kann nĂ€m-lich die Unterschiede in der subjektiven Beurteilung der eigenen Lebensqua-litĂ€t nicht, oder zumindest nicht direkt, erklĂ€ren . Es verweist stattdessen auf die gemeinsame SchĂ€digungsbasis als Grundlage der Behinderung . Damit sind aber offensichtlich wichtige Informationen ausgeblendet, die ebenfalls und in direkter Weise normativ zu bewerten wĂ€ren .

Ein falscher normativer Schluss aus statistischen oder biologischen Normen

Ein weiteres Problem des medizinischen Modells besteht darin, dass es einen falschen Schluss aus den statistischen oder biologischen Normen zieht . Die Normen nÀmlich, auf welche der normative Schluss Bezug nimmt, sind sta-tistischer, biologischer und damit deskriptiver, aber nicht normativer Art . Aus den Fakten der Abweichung von einer biologischen oder statistischen Norm folgt noch lange kein Aufruf zum Handeln .

Eine Abweichung von einer statistischen oder biologischen Norm ist des-halb nicht normativ, weil keine intrinsische und kausale Verbindung zwi-schen Wohlergehen und normalem Funktionieren besteht . Dass aus der Ab-weichung von einer bestimmten statistischen oder biologischen Norm nicht direkt ein normativer Schluss gezogen werden kann, lĂ€sst sich durch zwei Beobachtungen aufzeigen: Vieles, was Menschen im Alter an Lebensein-schrĂ€nkungen aufgrund ihrer Gebrechlichkeit erleben, stellt keine Abwei-chung vom (statistisch wie biologisch) normalen Funktionieren der Spezies dar, da es zum Alterungsprozess von Menschen gehört, dass ihre Funktions-fĂ€higkeiten abnehmen . Dennoch stellen diese Altersgebrechen eine Ein-schrĂ€nkung des Wohlbefindens dar . Viele wĂŒrden daher sagen, im Alter an den Rollstuhl gefesselt, blind oder gehörlos zu sein, stellt fĂŒr den Betroffenen genauso eine Behinderung dar, wie fĂŒr jemanden, der aus anderen GrĂŒnden in jungen Jahren im Rollstuhl sitzt, blind oder gehörlos ist . Andere – statis-tisch wie biologisch gesehen – normale FĂ€higkeiten (beispielsweise die Zun-ge rollen oder mit den Ohren wackeln zu können) stellen fĂŒr Menschen,

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welche sie nicht ausfĂŒhren können, keinerlei EinschrĂ€nkung des Wohlbefin-dens dar . Wenn Abweichungen von einer statistischen oder biologischen Norm zu Reduktionen des Wohlbefindens fĂŒhren, dann nicht kausal des-halb, weil sie Abweichungen von der Norm sind, sondern aus anderen GrĂŒn-den .9

Lebensweltlich hat der falsche normative Schluss aus dem medizinischen Modell allerdings fĂŒr viele Menschen mit Behinderung fatale Folgen . Herrscht nĂ€mlich die Ansicht vor, dass ein Leben mit einer (negativen) Ab-weichung von einer biologischen Speziesnorm nur ein schlechtes Leben sein kann, prĂ€gt dies das Leben aller Menschen mit Behinderung negativ, und zwar schon bereits lebender wie auch zukĂŒnftig geborener . Denn sie werden in eine Kultur hineingeboren oder leben bereits in einer, in der behindertes Leben tendenziell abgewertet wird .

Die Ausblendung sozialer Erfahrungen

Als letztes kann auch kritisch beurteilt werden, dass die geteilte soziale Erfah-rung von Ausschluss und Benachteiligung in einem medizinischen Modell komplett ignoriert wird . Stattdessen wird auf die medizinische Dimension von Differenz fokussiert (vgl . Shakespeare 1999) . Diese wird dem Individu-um zugeschrieben und nicht den sozialen UmstĂ€nden oder der (mangeln-den) Übereinstimmung zwischen internen Vermögen oder FĂ€higkeiten (bei-spielsweise Intelligenz, Kraft oder KörpergrĂ¶ĂŸe), Ressourcen (beispielsweise Geld oder Macht) sowie der sozialen Struktur einer Gesellschaft mit ihren Annahmen ĂŒber Schönheit, körperliche Fitness oder normale Intelligenz . Alle weitergehenden EinschrĂ€nkungen werden im medizinischen Modell mit anderen Worten als quasi â€șnatĂŒrlicheâ€č Folgen der SchĂ€digung betrachtet (vgl . Maschke 2007, S . 300) . Die â€șLösungâ€č des Problems der Behinderung wird in Folge dessen vorwiegend in Rehabilitation und Kompensation gesehen . An-dere Maßnahmen, insbesondere solche, welche gesellschaftliche Institutio-nen wie die Schule oder den Arbeitsmarkt direkt in den Blick nehmen, sind dabei nicht von Interesse .

9 DarĂŒber hinaus gibt es noch andere GrĂŒnde, die zu einer Ablehnung eines normativen species norm account fĂŒhren . Vgl . beispielsweise die Kritikpunkte von Jeff McMahan (2002, 2005) oder Anita Silvers (2003) .

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3 .2 Das soziale Modell von Behinderung

Das zweite Modell kann als soziales Modell von Behinderung bezeichnet werden . Die Beschreibung dieses Modells hat gegenĂŒber der Beschreibung des medizinischen Modells die Schwierigkeit, dass es davon mehrere AusprĂ€-gungen gibt, die verschieden radikal ausfallen können . Gemeinsam ist allen AusprĂ€gungen, dass sie mit der Verbindung zwischen Behinderung und SchĂ€digung, letztere verstanden als negative Abweichung von einer biologi-schen Norm, brechen . Die Behinderung ist die Be-Hinderung durch die Ge-sellschaft und liegt nicht in irgendeiner SchĂ€digung . Radikale Formen des sozialen Modells gehen soweit, dass sie reklamieren, eine SchĂ€digung sei eine â€șsoziale Konstruktionâ€č (vgl . Goodley 2001; Hughes und Paterson 1997) .10

FĂŒr den vorliegenden Zusammenhang ist das soziale Modell unter ande-rem deshalb interessant, weil es der Idee nach enge Verbindungen zu Exklu-sion aufweist . Bestimmte Auslegungen des sozialen Modells könnten auch als Exklusionsmodell von Behinderung beschrieben werden . So lautet die De-finition von Behinderung der UPIAS (Union of Physically Impaired Against Segregation), einer der ersten Behindertenselbsthilfegruppen weltweit, fol-gendermaßen: »In our view, it is society which disables physically impaired people . Disability is something imposed on top of our impairments, by the way we are unnecessarily isolated and excluded from full participation in society« (UPIAS 1976) . Und der bereits erwĂ€hnte Michael Oliver schreibt: »It is not individual limitation, of whatever kind, which are the cause of the problem, but society’s failure to provide appropriate services and adequate ensure the needs of disabled people are fully taken into account in its social organisation« (Oliver 1996, S . 32) . Behinderung wird in beiden Aussagen ĂŒber Exklusion definiert .

Das soziale Modell besagt im Kern in seiner allgemeinen Form folgen-des:

Eine Behinderung ist ein stabiles intrinsisches Merkmal, welches vom normalen Funktionieren einer Spezies abweicht11 und dazu tendiert, das Wohlbefinden von S zu reduzieren, weil Angehörige der Spezies, zu der S gehört, Vorurteile gegenĂŒber einer Abweichung von dieser Norm ha-ben .

10 Vgl . zu sozialer Konstruktion die erhellenden AusfĂŒhrungen von Ian Hacking (1999) . 11 Auch möglich: Abweichung von einer statistischen Norm .

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In diesem Modell kann der deskriptive Teil des medizinischen Modells zwar beibehalten werden,12 der evaluative wird aber in jedem Fall respektive jeder Ausrichtung des Modells verÀndert . Die Behinderung liegt nicht in der SchÀdigung selbst, sondern in der Einstellung einzelner Menschen, einer so-zialen Gemeinschaft oder der ganzen Gesellschaft . Behinderung ist deshalb schlecht, weil sie als schlecht angesehen wird .

In seiner politischen Auslegung erhĂ€lt das soziale Modell eine politische Aussage: Die Gesellschaft soll sich Ă€ndern, nicht der einzelne Mensch mit einer SchĂ€digung oder BeeintrĂ€chtigung . Die Zielsetzung des sozialen Mo-dells ist in der Folge nicht die Erforschung â€șbehinderterâ€č Menschen, sondern die Behinderung als eine Form der – sozialen, gesellschaftlichen – Ausgren-zung (vgl . Felkendorff 2004) .

Betrachtet man die vier beschriebenen FĂ€lle aus der Perspektive eines so-zialen Modells, lĂ€sst sich die Behinderung der vorhin beschriebenen Perso-nen folgendermaßen beschreiben:

Fall 1: Nicht in der KleinwĂŒchsigkeit, sondern im Anstarren durch andere Menschen liegt Tom Shakespeares Behinderung .

Fall 2: Nicht sein Gendefekt, sondern die diskriminierende Einstellung der Gesellschaft gegenĂŒber Menschen mit Down Syndrom erschweren oder ver-unmöglichen es Daniel, aktives Mitglied eines Musikvereins zu werden . Die-se diskriminierenden Einstellungen sind Daniels Behinderung .

Fall 3: Nicht die SchĂ€digung selbst, sondern die diskriminierende Einstel-lung der Gesellschaft gegenĂŒber hirnverletzten Menschen stellen fĂŒr N .E . eine Behinderung dar .

Fall 4: Nicht der Autismus an sich, sondern die diskriminierende Einstellung gegenĂŒber Menschen mit Autismus und die vorherrschende Meinung, dass Menschen mit Autismus und im Speziellen Menschen ohne Lautsprache geistig beeintrĂ€chtigt seien, sind Sue Rubins Behinderungen .

Die Kritik am sozialen Modell

Auch das soziale Modell, obwohl es weit herum große Anerkennung genießt, ist der Kritik ausgesetzt . Diese kann drei Stoßrichtungen haben . Erstens kann kritisiert werden, dass die intrinsische Dimension, die Dimension der

12 Ausnahmen sind hier wie gesagt radikale Auslegungen des sozialen Modells .

Behinderungsmodelle 71

SchĂ€digung, ausgeblendet wird . Zweitens kann auf die sozialpolitisch schĂ€d-lichen Folgen eines solchen Modells hingewiesen werden . Und drittens kann kritisiert werden, dass das Modell offen lĂ€sst, wie Menschen – trotz Barrieren und Diskriminierung – handlungsfĂ€hig sein können .

Die Ausblendung der intrinsischen Dimension

Erstens scheint gerade eine radikale Auslegung des sozialen Modells nicht plausibel zu sein und/oder zu MissverstĂ€ndnissen und Ablehnung zu fĂŒh-ren .13 Soziale Modelle, insbesondere in der radikalen Auslegung, widerspre-chen den Intuitionen und Erfahrungen vieler – darunter auch selbst betroffe-ner – Menschen (vgl . Scully 2008; Shakespeare 2006) . Wenn beispielsweise dogmatisch festgelegt wird, dass Behinderung ausschließlich als soziales Konstrukt zu verstehen ist, dann werden die Erfahrungen von Menschen mit ihrem Körper und ihrer Psyche unwichtig . Dies schon aus systematischen GrĂŒnden, da sie gar nicht als zentrales Element einer Behinderung gesehen werden (vgl . Kuhlmann 2003) .

Das soziale Modell tendiert dazu, die Sichtweise derjenigen Menschen zu ignorieren, die sich mit den SchĂ€digungen, FunktionsausfĂ€llen und intrin-sisch als negativ erlebten Aspekten ihrer SchĂ€digungen, beispielsweise Schmer-zen, nicht anfreunden können . FĂŒr solche Menschen reicht es nĂ€mlich nicht, wenn die Gesellschaft (individuumsexterne) Barrieren beseitigt . Denn abfin-den kann man sich mit geschĂ€digten Körperfunktionen oder -strukturen nur, wenn diese, so Andreas Kuhlmann (ebd ., S . 157), »nicht stĂ€ndig Stör-feuer« aussenden .

Die NormativitĂ€t von SchĂ€digungen lĂ€sst sich denn auch nicht, oder nicht ausschließlich, auf soziale Reaktionen zurĂŒckfĂŒhren . So wenden Men-schen mit Behinderung selbst ein, dass ihre SchĂ€digung negative Folgen auf ihr Leben hat, die nicht aufgrund sozialer Reaktionen entstanden sind und die darauf hinweisen, dass etwas an der SchĂ€digung selbst als normativ nega-tiv bewertet werden kann . Genau dies ist in allen AusprĂ€gungen des sozialen

13 So richtet sich beispielsweise die Kritik von Becky Cox-White und Susanna Flavia Boxall (2008) gegen soziale VerstĂ€ndnisse von Behinderung, die der Gesellschaft unabhĂ€ngig von einer bestehenden SchĂ€digung eine kausale Verantwortung fĂŒr eine Behinderung zuwei-sen . Die Implikationen dieser Annahmen halten die Autorinnen nicht nur fĂŒr inkonsis-tent, sondern auch fĂŒr ungerecht, nicht zuletzt gegenĂŒber nicht behinderten Menschen, da in der mit sozialen Modellen verbundenen Gleichheitsforderung die Gefahr eines level-ling down, also einer Orientierung nach unten, bestehe . Vgl . auch die Selbstkritik von Vertretern des sozialen Modells, Ron Amundson und Shari Tresky (2007) .

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Modells aber ausgeschlossen . Jenny Morris beispielsweise drĂŒckt die Gren-zen des sozialen Modells so aus: »While environmental barriers and social attitudes are a crucial part of our experience of disability – and do indeed disable us – to suggest that this is all there is to it is to deny the personal ex-periences of physical and intellectual restrictions, of illness, of the fear of dying« (Morris 1972, S . 10) .

Tom Shakespeare, einst Vertreter eines radikalen sozialen Modells, for-muliert die Gefahr einer einseitigen Fokussierung auf soziale Faktoren so: »While attention to labelling and discourse is important, there is a danger of ignoring the problematic reality of biological limitation . Linguistic distan-cing serves as a subtle form of denial« (Shakespeare 2008, S . 238) . Ein per-sönliches Erlebnis hat Shakespeare zum Umdenken gefĂŒhrt . 1997 war er von so starken RĂŒckenschmerzen geplagt, dass er sein Bett ein halbes Jahr lang nicht verlassen konnte . Zuvor hatte er zwar gewusst, dass KleinwĂŒchsigkeit respektive die spezifische GenschĂ€digung, die das Knochenwachstum behin-dert, hĂ€ufig zu RĂŒckenproblemen fĂŒhren . Da er aber nie welche gehabt hat-te, sah Shakespeare seine Behinderung vor allem in der Ignoranz einer Mehr-heit der Gesellschaft gegenĂŒber seiner abweichenden KörpergrĂ¶ĂŸe . Erst als die schweren RĂŒckenprobleme ihn ans Bett fesselten, spĂŒrte Shakespeare nach eigenen Aussagen, dass diese nichts mit gesellschaftlichen Vorurteilen oder Diskriminierung zu tun hatten, sondern mit seinem Körper . Dieser Körper respektive die Schmerzen, die er verursachte, hatten keine gesell-schaftliche Quelle und waren auch nicht sozial geprĂ€gt . Es waren intrinsische Erfahrungen, die einen stark negativen Einfluss auf sein Leben hatten (vgl . Schneider 2002) .

Sozialpolitische Folgen

Die Ausblendung medizinischer Faktoren in sozialen Modellen hat auch so-zialpolitisch problematische Folgen . Erstens geraten Probleme, mit denen behinderte Menschen im Alltag konfrontiert werden, aus dem Blickfeld . So ist es zwar durchaus belastend und in bestimmten FĂ€llen auch demĂŒtigend, wenn man andere stĂ€ndig um Hilfe bitten muss . Besondere HilfebedĂŒrftig-keit aber abzustreiten, kann sich mit sozialer Ignoranz, die man ja gerade bekĂ€mpfen wollte, hinsichtlich spezieller Hilfeerfordernisse rĂ€chen .14 Wenn

14 Zudem geht sie an den Erfahrungen schwerbehinderter Menschen, welche offensichtlich hilfebedĂŒrftig sind, vorbei: »If the important thing to liberate me from social stigma is that I reclaim the authority over my own story, then this is a serious setback for those who

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zudem zweitens reale (körperliche oder psychische) BedĂŒrfnisse gar nicht betrachtet werden, muss man sich zudem fragen, auf welcher Grundlage Un-terstĂŒtzung durch die Gesellschaft im Sinne einer Solidargemeinschaft ein-gefordert werden kann . Drittens wird auch die eigene Familie, das eigene Heim, als konfliktgeladener Ort von Beziehungen, Hilfeleistungen und So-lidaritĂ€t ausgeblendet . Oftmals erbringen Angehörige einen Großteil der notwendigen UnterstĂŒtzungsarbeit und Hilfeleistung . Nicht nur die Hilfe-bedĂŒrftigkeit selbst wird ausgeblendet, auch die von (meist weiblichen) An-gehörigen erbrachten Hilfeleistungen geraten aus dem Blickfeld und tauchen höchstens noch in der SphĂ€re privater – aber eben nicht mehr gesellschaft-lich relevanter – Dienstleistungen auf .

Drittens, so Andreas Kuhlmann (2003, S . 158), ist auch die angemessene ReprĂ€sentanz von Menschen mit Behinderungen, beispielsweise in bioethi-schen Kommissionen, fragwĂŒrdig, wenn die damit Angesprochenen selbst nicht denken, dass sie von medizinischen Erkenntnissen und medizinischem Fortschritt auch profitieren können . Nach Ansicht Anita Silvers (2003, S . 476) mĂŒssen sich Vertreter eines radikalen Modells an dieser Stelle auch den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die eigenen Prinzipien kaum konse-quent leben, denn letztendlich wĂŒrden alle Betroffenen von medizinischen Erkenntnissen und neuen medizinischen Behandlungsmethoden profitieren wollen: »For whoever objects on the basis of principle to medical interventi-ons aimed at avoiding disability must for consistency’s sake eschew prophyl-actic medical treatment for all disabling conditions, both for themselves and their children . Yet there is no evidence that even the most ardent disability advocates are prepared to do so . Quite the contrary!«

Die spezifische Problemlage behinderter Menschen und ihre HandlungsfÀhigkeit trotz Barrieren

Das soziale Modell von Behinderung hat zudem zwei weitere SchwÀchen, welche oft fÀlschlicherweise als StÀrken gesehen werden . Diese sind gerade in Bezug auf eine ethisch-normative Reflexion von Inklusion oder Exklusion zentral . Erstens macht das Modell keinen Unterschied zwischen Arten und Auswirkungen von Exklusion auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen .

cannot possibly know what it is to have a story« (Reinders 2008, S . 26) . Hier wĂ€re es ge-rade wichtig, HilfebedĂŒrftigkeit anzuerkennen und Mittel und Wege zu finden, Hilfe menschenwĂŒrdig zu gestalten . Da diese HilfebedĂŒrftigkeit gerade auch von Selbsthilfe-gruppen manchmal zu wenig beachtet wird, finden sich schwerstbehinderte Menschen am untersten Ende der â€șBehindertenhierarchieâ€č (vgl . Gordon et al . 2004) .

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Dies erlaubt zwar in politischer Hinsicht eine sinnvolle VerknĂŒpfung und Solidarisierung mit anderen marginalisierten und exkludierten gesellschaftli-chen Gruppen, beispielsweise mit Frauen oder Homosexuellen . Die spezifi-schen Problemlagen von Menschen mit Behinderung geraten dabei in den Hintergrund . In den Vordergrund rĂŒcken geteilte Erfahrungen . Was in poli-tischem Kontext angebracht sein kann, gilt allerdings nicht fĂŒr eine wissen-schaftliche Herangehensweise . In einer solchen mĂŒssen gerade auch die spe-zifischen Lebenslagen von Menschen mit Behinderung eruiert und beleuchtet werden . Genau das kann ein rein soziales Modell aber nicht leisten, da die Verbindung zur HandlungsfĂ€higkeit von Individuen nicht gezogen wird . Ein Zugang, der nur die Barrieren betont, kann nĂ€mlich nicht nur wenig darĂŒber aussagen, inwiefern Menschen mit Behinderung spezifisch in ihrer HandlungsfĂ€higkeit betroffen sind – beispielsweise aufgrund von Auswir-kungen von SchĂ€digungen . Auch kann er keine Auskunft darĂŒber geben, wie betroffene Menschen selbst handeln können, um ihre Exklusion zu bekĂ€mp-fen und den notwendigen Wandel in der Gesellschaft voranzutreiben . Das soziale Modell bietet somit keine ErklĂ€rung fĂŒr die HandlungsfĂ€higkeit von Menschen mit Behinderung (vgl . Shakespeare 1999) . Es ist also gerade fĂŒr ein InklusionsverstĂ€ndnis, welches auch die HandlungsfĂ€higkeiten und -mög-lichkeiten von behinderten Menschen in Betracht ziehen will, zu eng . Auch die Betonung von Barrieren, so der zweite Kritikpunkt, kann sich als SchwĂ€-che entpuppen .

Die Notwendigkeit eines neuen Modells

Ein neues Modell von Behinderung, so Shakespeare (2008), muss intrinsi-sche Faktoren (wie Natur und Schweregrad einer SchĂ€digung, die Einstel-lung der Person ihr gegenĂŒber, persönliche QualitĂ€ten und FĂ€higkeiten, die Persönlichkeit als Ganzes und so weiter), kontextuelle, extrinsische Faktoren (Einstellungen und Reaktionen anderer Menschen, der Grad, zu welchem die Umwelt hinderlich oder förderlich ist sowie das weitere kulturelle, sozia-le und ökonomische Umfeld), aber auch wechselseitige Beeinflussungen (beispielsweise die Umwandlung von externen Mitteln in internes Vermö-gen) mit einbeziehen . Soziale Exklusion und Armut beispielsweise verstĂ€r-ken bereits existierende SchĂ€digungen und kreieren in vielen FĂ€llen neue SchĂ€digungen . Um diese ExklusionsvorgĂ€nge zu verstehen, muss man auch die intrinsische Dimension von SchĂ€digungen mit in die Überlegungen ein-beziehen . Denn in den meisten FĂ€llen erleben Menschen mit Behinderung

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die intrinsische Limitierung ihrer SchÀdigungen und die extrinsisch verur-sachten sozialen Benachteiligungen .

Ein neues Modell muss aber nicht nur die Fehler, Grenzen und Einseitig-keiten beider Modelle vermeiden . Es muss auch die PlausibilitĂ€ten beider Modelle einfließen lassen . Beim medizinischen Modell sind dies die SchĂ€di-gungen von Körperfunktionen und -strukturen, deren lebensweltliche Aus-wirkungen (beispielsweise große Schmerzen) nicht immer ausschließlich so-zialer Natur sind . Beim sozialen Modell schließlich ist es die Betonung der im weiteren Sinn sozialen Faktoren, welche einen wichtigen Teil der Erfah-rung einer Behinderung ausmachten . Ein Modell, das die StĂ€rken der beiden Modelle verbinden und die SchwĂ€chen vermeiden möchte, ist das Wohlbe-findensmodell von Behinderung . Es wurde von Guy Kahane und Julian Savu-lescu (2009) entwickelt und vorgestellt .

3 .3 Das Wohlbefindensmodell von Behinderung von Kahane und Savulescu

Unter Behinderung verstehen Kahane und Savulescu (2009) folgendes:

Eine Behinderung ist ein stabiles physisches oder psychisches Merkmal eines Subjekts S, das in UmstĂ€nden C zu einer Reduktion von Wohlbe-finden fĂŒhrt .

Die VerÀnderungen zum medizinischen und zum sozialen Modell von Behinderung

Das Modell unterscheidet sich vom medizinischen und vom sozialen Modell in vier Punkten: Erstens ist die Referenz zu einer statistischen oder biologi-schen Norm in diesem Modell der Beschreibung eines intrinsischen (physi-schen oder psychischen) Merkmals gewichen . Damit kommt der deskriptive Teil ohne Referenz zu NormalitÀt, sei sie nun biologischer oder statistischer Art, aus . Ob etwas eine Abweichung von einer statistischen oder biologi-schen Norm ist, gehört nicht zum intrinsischen Merkmal einer Person . Da Menschen sehr viele intrinsische, stabile, physische und psychische Merkma-le aufweisen, fallen unter das Wohlbefindensmodell im Prinzip sehr viele ZustÀnde: unter anderem Krankheiten, ausgesprochene Sturheit, mangeln-

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des Selbstvertrauen und so weiter . Viele dieser ZustÀnde werden gemeinhin nicht als Behinderung aufgefasst . Ich werde dazu weiter unten aufzeigen, inwiefern dieses sehr weite VerstÀndnis ein Vorteil des Modells sein kann, aber auch, wo die Gefahren einer solchen Ausrichtung liegen .

Zweitens hat das Modell eine intrinsische und eine instrumentelle nor-mative Dimension . Das intrinsisch Schlechte ist die Reduktion des subjekti-ven Wohlbefindens . Die instrumentelle Schlechtigkeit ist relativ zur Person und ihren UmstÀnden . Um den Schaden abzuwenden, kann man auch an den UmstÀnden etwas Àndern, nicht nur an der Person, wie es das medizini-sche Modell nahe legt .

Das Modell ist drittens personen- und kontextrelativ . Das heißt, es kann aufzeigen, weshalb dieselben physischen oder psychischen Merkmale eines Menschen in den einen Kulturen zu einer Behinderung fĂŒhren, wĂ€hrend sie in den anderen ohne Auswirkungen bleiben . So ist IlliteralitĂ€t in einer Ge-sellschaft von JĂ€gern und Sammlern keine Behinderung, in hoch technologi-sierten und entwickelten Gesellschaften aber schon . Dies, weil dasselbe phy-sische oder psychische Merkmal, beispielsweise eine leichte kognitive BeeintrĂ€chtigung, sich in unterschiedlichen historischen wie kulturellen UmstĂ€nden und Gesellschaften unterschiedlich auswirkt . Das Wohlbefin-densmodell kann, anders als beispielsweise das medizinische Modell, auch die sehr unterschiedlichen LebensqualitĂ€tseinschĂ€tzungen von Paraplegikern in Sydney zu solchen in abgelegenen Gebieten Kameruns erklĂ€ren . Im Wohl-befindensmodell von Behinderung gibt es daher keine kontextunabhĂ€ngige Behinderung wie im medizinischen Modell, da externe und interne Faktoren im Modell interagieren .

Viertens macht das Modell explizit Aussagen in Graden und legt keine Schwellen fest . Die dynamische Anbindung an Kontextfaktoren verhindert die Festlegung einer klaren Schwelle, denn dies wĂŒrde stabile intrinsische und extrinsische Faktoren voraussetzen . Dass es diese so nicht gibt, und dass diese Feststellung auch fĂŒr die Frage der Inklusion von Bedeutung ist, zeigen Erfahrungen von behinderten Menschen . So kann man durchaus in einem Kontext stĂ€rker behindert sein als im anderen . »Kaum ist die Sitzung vorbei und alle erheben sich von ihren StĂŒhlen, bin ich behindert .« Diese etwas paradox anmutende Aussage eines Politikers im Rollstuhl, die in einer per-sönlichen Konversation gefallen ist, macht Sinn . Die zuvor â€șvergesseneâ€č Be-hinderung, die aufgrund der sitzenden Lage aller nicht sichtbar war, rĂŒckt nach Ende der Sitzung wieder ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksam-keit . Die sozialen Reaktionen wie auch die Relevanz der Tatsache nicht ge-

Behinderungsmodelle 77

hen zu können, setzen an der Stelle ein, an der sich alle erheben . Sitzend war die Behinderung irrelevant und unsichtbar . Sie fĂŒhrte weder zu einer Ein-schrĂ€nkung der AktivitĂ€t oder der Partizipation, noch fĂŒhrte sie zu weiterge-hendem sozialem Ausschluss oder zu Stigmatisierung .

Das Wohlbefindenmodell geht davon aus, dass jeder Mensch bis zu ei-nem gewissen Grad eine Behinderung hat . Diese auf den ersten Blick sehr ungewohnte Schlussfolgerung verletzt aber die Intuitionen vieler . Zur Veran-schaulichung kann man sich folgendes Beispiel vor Augen fĂŒhren: Aufgrund eines operativen Eingriffs hat eine Person, die vor der Operation einen IQ von 180 hatte, nur noch einen IQ von 150 .15 Wenn man weiter annehmen wĂŒrde, dass ein möglichst hoher IQ ein Leben besser macht, wĂŒrde das be-deuten, dass eine Reduktion des Intelligenzquotienten das Leben des Betrof-fenen nicht nur schlechter macht, sondern dass dieser Mensch in der Folge behindert ist . Eine solche Schlussfolgerung erscheint aber auf den ersten Blick unplausibel .

Darauf kann mit zwei möglichen Antworten entgegnet werden . Die erste weist die Kritik teilweise zurĂŒck, die zweite spezifiziert die Kritik und fĂŒhrt weiter zu einer Anpassung des Modells . Die erste mögliche Reaktion ist eine RĂŒckfrage: Ist es wirklich schlimm, wenn laut diesem Modell jeder Mensch eine Behinderung hat? Oder wĂŒrde eine solche Erkenntnis nicht gerade dazu dienen, die von Menschen oft gefĂ€llte intuitive Unterscheidung in wir (die â€șNichtbehindertenâ€č) und die (die â€șBehindertenâ€č) ins Wanken zu bringen? Zu-dem wird die ungewohnte Sichtweise auch durch Forschungsresultate bestĂ€-tigt . Beispielsweise hat das Humangenomprojekt gezeigt, dass jeder Mensch Hunderte von Mutationen in seinem Genom hat, viele davon PrĂ€dispositio-nen fĂŒr Krankheiten oder SchĂ€digungen . Alle Menschen sind also in gewis-sem Sinne Mutanten . Die Tatsache, dass sich die meisten dieser Mutationen im Verlaufe des Lebens nicht zu SchĂ€digungen oder Krankheiten ausbilden, kann nur als GlĂŒck oder Zufall bezeichnet werden (vgl . Leroi 2005, S . 19) .

Zweitens kommt den UmstĂ€nden im Leben von Menschen im Wohlbe-findensmodell großes Gewicht zu . Diese verĂ€nderte Sichtweise hat weit rei-chende Folgen . Sie macht das Modell personenrelativ und damit personen-sensitiv . So kann ein hoch angesehener Mathematiker beim Verlust von 30 IQ Punkten tatsĂ€chlich in relevanter Hinsicht behindert sein . Denn seine

15 Dabei spielt es keine Rolle, ob man dem IQ adĂ€quate Aussagekraft fĂŒr Intelligenz zu-schreibt oder nicht . Es geht einzig um die Illustration eines relativen Verlusts internen Vermögens . Das Beispiel wĂŒrde somit beispielsweise auch mit Verlust an Körperkraft auf-grund eines Unfalls funktionieren .

78 Inklusion und Gerechtigkeit

beruflichen UmstĂ€nde sind so, dass er auf hohe Intelligenz angewiesen ist, um in seiner Disziplin bestehen zu können . Verliert er hier intrinsische Res-sourcen, wie es Intelligenz darstellt, kann dies fĂŒr ihn unter UmstĂ€nden den Verlust seiner Arbeitsstelle bedeuten .

Die zweite Antwort gibt zu, dass fĂŒr die vorliegenden Fragen eine sehr weite Definition von Behinderung fĂŒr ein normatives Unternehmen zu we-nig aussagekrĂ€ftig ist . Je weiter zudem der Kreis der Menschen mit Behinde-rung gezogen wird, desto grĂ¶ĂŸer ist die Gefahr, dass einige der Separationen, Benachteiligungen und AusschlĂŒsse politisch nicht mehr bekĂ€mpft werden können (vgl . Barnes, Mercer und Shakespeare 1999) . FĂŒr Fragen der Vertei-lungsgerechtigkeit beispielsweise, bei denen es also darum geht, benennen zu können, wer aus GerechtigkeitsgrĂŒnden legitime Anrechte auf einen be-stimmten Anteil an knappen GĂŒtern hat, mĂŒssen ZustĂ€nde benannt werden können, die eine bestimmte Dringlichkeit aufweisen . Dies ist aus normati-ven und in der Folge auch politischen GrĂŒnden notwendig . Damit ist die ZentralitĂ€t von AnsprĂŒchen gemeint . Das Modell muss sich vor allem aus pragmatischen GrĂŒnden auf signifikante Reduktionen des Wohlbefindens beschrĂ€nken .

Eine Anpassung des Wohlbefindensmodells

Wenn man zum Beispiel des Mathematikers zurĂŒck geht, zeigt sich, dass das eigentliche Problem bei genauerem Hinsehen nicht in erster Linie darin liegt, dass eine Schlechterstellung an sich schon eine Behinderung darstellt . Das Problem ist vielmehr, dass im genannten Beispiel bereits eine kompara-tive Sichtweise eingefĂŒhrt wurde . So ist die Reduktion des IQs einer Person von 180 auf 150 eine, gemessen am frĂŒheren Zustand, relative Schlechterstel-lung der Person . In den seltensten FĂ€llen wĂŒrde man allerdings davon ausge-hen, dass aus dieser komparativen Schlechterstellung eine Behinderung in absolutem Sinn erfolgte . Das Modell mĂŒsste also dahingehend angepasst werden, dass es statt sĂ€mtlicher relativer Schlechterstellungen vor allen Din-gen die nonkomparativen Schlechtstellungen in den Blick nimmt . Denn es sind vor allen Dingen diese absoluten, nonkomparativen Schlechtstellungen – menschliches Leiden mit anderen Worten – deren Vermeidungen aus Ge-rechtigkeitsgrĂŒnden an erster Stelle stehen sollten .

Ein angepasstes Modell kann beispielsweise die folgende Form anneh-men:

Behinderungsmodelle 79

Eine Behinderung ist ein stabiles physisches oder psychisches Merkmal eines Subjekts S, das in UmstĂ€nden C zu einer signifikanten Reduktion von Wohlbefinden fĂŒhrt .

Allerdings löst auch diese Anpassung das Problem nur vordergrĂŒndig . Denn was als signifikante Reduktion des subjektiven Wohlbefindens gilt, ist gerade Gegenstand berechtigter Auseinandersetzungen . Menschen scheinen diesbe-zĂŒglich sehr unterschiedliche Vorstellungen zu haben . Man benötigt mit an-deren Worten eine Vorstellung von menschlichem Leiden auf der einen und von menschlichem Wohlergehen auf der anderen Seite, um feststellen zu können, ob das Wohlbefinden von Menschen in signifikanter Weise getrĂŒbt ist .

Das Modell benötigt somit an zwei Stellen eine Modifikation . Erstens ist es unplausibel, jegliche Reduktionen von subjektivem Wohlbefinden in Be-tracht zu ziehen . Ja, es stellt sich gerade die Frage, ob ĂŒberhaupt subjektives Wohlbefinden oder nicht eher objektives Wohlergehen in Betracht gezogen werden soll . Zweitens scheint es ĂŒbertrieben zu sein, sĂ€mtliche stabilen psy-chischen oder physischen Merkmale in Betracht zu ziehen . WĂ€hrend ich zur ersten Kritik eine ausfĂŒhrliche BegrĂŒndung im nĂ€chsten Kapitel liefere und daher an dieser Stelle nur kurz darauf zu sprechen komme, gehe ich im Fol-genden ausfĂŒhrlicher auf die Verbindung zwischen SchĂ€digung und Wohler-gehen ein .

SchĂ€digungen, Übel, Wohlergehen

Es ist fĂŒr die EinschĂ€tzung von Gerechtigkeitsproblemen notwendig, die AnsprĂŒche, die sich ergeben, als dringend und schwerwiegend auszuweisen . Gerade letzteres ist aber nicht möglich, wenn jedes psychische und physische Merkmal, das zu einer Reduktion von Wohlbefinden fĂŒhrt, bereits ein Grund darstellt, eine Ungerechtigkeit zu reklamieren . Vielmehr sollten sich Gerech-tigkeitsĂŒberlegungen auf diejenigen FĂ€lle beschrĂ€nken, in denen jemand im Ausgang von einer SchĂ€digung eine Reduktion des Wohlergehens erlebt .

Diese EinschrĂ€nkung ist ihrerseits einer Kritik ausgesetzt . Die Kritik be-sagt, dass nicht jede SchĂ€digung bereits ein Übel oder eine EinschrĂ€nkung des Wohlergehens darstellt . Ihr kann aber entgegen getreten werden, wie Thomas Schramme (2003a, S .  184f .) aufzeigt . Denn oftmals steckt hinter der Gleichsetzung von SchĂ€digung mit einem Übel ein sogenannter kontra-diktorischer Kurzschluss, der sich folgendermaßen prĂ€sentiert: Die erste PrĂ€-

80 Inklusion und Gerechtigkeit

misse besagt, dass sich Gesundheit und Krankheit oder Behinderung wech-selseitig ausschließen . Mangelnde Gesundheit ist in diesem Denken gleich bedeutend mit Krankheit oder Behinderung . Die zweite PrĂ€misse versteht Gesundheit als Bestandteil menschlichen Wohls . Im normativen Schluss aus den beiden PrĂ€missen folgt, dass Behinderung oder Krankheit ein Übel sind . Versteckt darin ist eine dritte PrĂ€misse, die besagt, dass EinschrĂ€nkungen des Wohlergehens immer des Übels sind . Dies stimmt zwar in der einen Rich-tung, nĂ€mlich, dass mit einem Übel immer eine EinschrĂ€nkung des Wohler-gehens einhergeht . Allerdings stimmt der Umkehrschluss nicht . Dies kann an einem Beispiel gezeigt werden: Mir ginge es besser, wenn ich Lachsbröt-chen essen oder Prosecco trinken könnte . Der Umkehrschluss aber, dass es mir schlechter gehen wĂŒrde, wenn ich keine Lachsbrötchen essen oder Pro-secco trinken könnte, ist falsch . Dies wĂŒrde zwar vielleicht zutreffen, wenn man eine relative Perspektive, nicht aber, wenn man eine absolute Perspekti-ve einnimmt . Die Analogie gilt auch fĂŒr viele SchĂ€digungen . So ginge es ei-ner Person vielleicht besser – aus relativer Perspektive – ohne die SchĂ€digung der Körperstruktur oder -funktion . Es muss ihr deswegen aber noch lange nicht schlecht in einem absoluten Sinn gehen .

Man sollte also nach Thomas Schramme (ebd ., S .  185) adĂ€quater von Nachteil in komparativem und Leid in absolutem Sinne sprechen . Denn es ist nicht per se ein Leid, wenn man nicht das Bestmögliche fĂŒr sich und das eigene Leben erreicht .16 Wohl aber stellt es ein Leid dar, wenn einem lebens-wichtige Grundlagen fĂŒr ein gutes menschliches Leben, beispielsweise mini-male Gesundheitsversorgung, Bildung oder bestimmte materielle Ressour-cen, vorenthalten werden . Ein Modell von Behinderung sollte daher vor allen Dingen die Wichtigkeit solcher objektiv bedeutsamer GĂŒter betonen .

16 In der englischsprachigen Literatur besteht diesbezĂŒglich die Schwierigkeit, dass mit dem Begriff disadvantage oft auf absolute, nonkomparative, und relative, das heißt komparati-ve, Gesichtspunkte Bezug genommen wird . Vgl . diesbezĂŒglich beispielsweise das Buch von Jonathan Wolff und Avner De-Shalit (2007), in welchem beide Gesichtspunkte eine wichtige Rolle in der Theoriebildung spielen . Thomas Schramme hat in einem Vortrag auf diesen Punkt hingewiesen .

Behinderungsmodelle 81

3 .4 Das Wohlergehensmodell von Behinderung

Die Kritik am medizinischen, am sozialen sowie am Kahane und Savulescus Modell (2009) fĂŒhrt zur Entwicklung eines neuen, vierten Modells von Be-hinderung, das ich im Folgenden darlege und begrĂŒnde . Dieses Modell hat auf der deskriptiven Ebene große NĂ€he zur Internationalen Klassifikation der FunktionsfĂ€higkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltge-sundheitsorganisation WHO (2001)17, fĂŒgt diesem aber einen normativen Schluss hinzu .

Definiert werden können SchĂ€digungen wie in der ICF folgendermaßen: SchĂ€digungen sind BeeintrĂ€chtigungen von Körperfunktionen oder Körper-strukturen . Unter Körperfunktionen werden physiologische oder psycholo-gische Funktionen von Körpersystemen verstanden . Körpersysteme wieder-um sind anatomische Teile des Körpers, also Organe, Gliedmaßen sowie ihre Bestandteile (vgl . ebd ., S . 15) .

Die BeeintrĂ€chtigung eines Menschen kann sich laut ICF in zwei Berei-chen ergeben: Der Partizipation, also im Einbezogensein in Lebenssituatio-nen oder in der AktivitĂ€t und somit in den Schwierigkeiten bei der Durch-fĂŒhrung einer Handlung . Weiter ist eine Behinderung durch Kontextfaktoren geprĂ€gt . Das können einerseits personenbezogene Faktoren sein, also innere EinflĂŒsse von Merkmalen einer Person . Es können andererseits aber auch Umweltfaktoren sein, die von außen auf die Person einwirken, beispielsweise materiale, soziale oder einstellungsbezogene Faktoren . Damit liefert das ICF Modell jenen mehrperspektivischen Blickwinkel sowohl auf innere wie auch Ă€ußere Faktoren, wie sich aus der Kritik am medizinischen wie auch am so-zialen Modell ergeben haben .

Nun ist es aber fĂŒr die vorliegende Arbeit wichtig, dem deskriptiven Mo-dell der ICF einen normativen Schluss anzufĂŒgen . Denn erst so gelingt es, das Modell als Werkzeug fĂŒr das weitere ethisch-normative Unternehmen zu nutzen . Ein neues Modell muss daher die Frage beantworten können, was schlecht daran ist, eine Behinderung zu haben . Die Antwort darauf lautet – anders als beim Wohlbefindensmodell – nicht, dass das Schlechte die Reduk-tion des subjektiven Wohlbefindens ist . Sie lautet vielmehr, dass das Schlech-te einer Behinderung darin liegt, dass das objektive Wohlergehen von Menschen eingeschrĂ€nkt ist . Damit beschrĂ€nken sich die Überlegungen auf

17 Vgl . zum Zusammenhang von ICF, Behinderung und Inklusion insbesondere die Publika-tion von Judith Hollenweger (2006) .

82 Inklusion und Gerechtigkeit

signifikante EinschrÀnkungen, die (nicht nur subjektiv empfundenes) Lei-den verursachen .

Dadurch ist vor allen Dingen eine nonkomparative Sichtweise einge-nommen, allerdings nicht vollstĂ€ndig . Denn es wird zugegeben, dass sich bestimmte komparative Nachteile von Menschen in nonkomparative Leiden verwandeln können . Dies geschieht beispielsweise dann, wenn Menschen (trotz allgemein anerkannter, kultureller und sozialer Standards bezĂŒglich eines bestimmten Gutes) keinen Zugriff auf dieses haben und im Endeffekt Gefahr laufen, auch unter nonkomparativen Gesichtspunkten zu leiden .18

Das Wohlergehensmodell kann damit die vom sozialen Modell richtiger-weise betonten Folgen fĂŒr die individuelle IdentitĂ€t sowie das individuelle SelbstwertgefĂŒhl, welche durch soziale Ausgrenzungs- und Abwertungspro-zesse entstehen, bedenken . Damit ist es möglich, sozusagen als â€șKollate-ralschĂ€denâ€č (von Glasow und Dabrowska 2008, S . 71) entstehende Depres-sionen durch die Ablehnung von der Gesellschaft oder durch andere Menschen zu berĂŒcksichtigen und ins Behinderungsmodell zu integrieren . In einer solchen Sichtweise ist die SchĂ€digung zwar eine notwendige Bedin-gung fĂŒr das Vorliegen einer Behinderung . Aber erst die durch die Ableh-nung hervorgerufene Reaktion beim Individuum – die Depression – entsteht neben anderen LebenseinschrĂ€nkungen, die ebenfalls sozialer oder struktu-reller Art sein können, eine Behinderung im umfassenden Sinn .

Ein solches, nach diesen Überlegungen angepasstes, Wohlergehensmo-dell hat die folgende Form:

Eine Behinderung ist ein geschĂ€digtes, stabiles, physisches oder psychi-sches Merkmal eines Subjekts S, das in UmstĂ€nden C zu einer signifikan-ten Reduktion des Wohlergehens fĂŒhrt .

Eine Situation oder ein Prozess X ist also schĂ€dlich, falls er oder sie unter UmstĂ€nden C zu einer Reduktion des Wohlergehens von S fĂŒhrt . Das SchĂ€d-liche ist das, was zu Schaden fĂŒhrt, nĂ€mlich zur Reduktion des Wohlerge-hens .19

18 Aus diesen GrĂŒnden wird zumindest in westlichen, modernen Sozialstaaten die Menge und Art der Hilfe, die einem aus GerechtigkeitsgrĂŒnden zukommt, nicht auf das absolute Mindestmaß an BedĂŒrfnisbefriedigung beschrĂ€nkt, sondern bezieht auch Überlegungen komparativer Art ein .

19 Gewisse ZustÀnde sind, so habe ich aufgezeigt, sowohl schÀdlich als auch ein Schaden . Dazu gehören beispielsweise starke Schmerzen . Schmerzen sind intrinsisch schlecht (also ein Schaden) und instrumentell schlecht (also schÀdlich), weil sie mich von wichtigen Projekten und Zielen abhalten .

Behinderungsmodelle 83

3 .5 Fazit

Das Kapitel hat gezeigt, dass die beiden einander entgegengestellten Model-le – medizinisches und soziales Modell – zwar eine gewisse PlausibilitĂ€t be-anspruchen können, aber auch mit Schwierigkeiten verbunden sind . Diese Probleme kann auch ein Wohlbefindensmodell von Behinderung, welches von Kahane und Savulescu (2009) vorgestellt wurde, nicht lösen . Ich habe daher fĂŒr ein viertes Modell von Behinderung, das Wohlergehensmodell von Behinderung, argumentiert . Dieses nimmt vor allen Dingen die nonkompa-rativen Folgen von Behinderung in den Fokus . Und es konzentriert sich, anders als das Wohlbefindensmodell, auf SchĂ€digungen und nicht auf alle möglichen physischen und psychischen Merkmale von Menschen .

Damit schĂ€rft sich hinsichtlich der bis dann getĂ€tigten Überlegungen bereits Folgendes: In einer Interessentheorie, die ich vertrete und im siebten Kapitel inhaltlich wieder aufgreife, geht es darum, wichtige Interessen von Menschen zu schĂŒtzen . Die Bedeutung dieser Interessen zeigt sich an ihrem Beitrag fĂŒr menschliches Wohlergehen . Soweit diese Interessen nĂ€mlich wichtig sind fĂŒr menschliches Wohlergehen, gilt es, sie mit Rechten zu schĂŒt-zen .

Nun hat sich in diesem Kapitel gezeigt, dass die normative Problematik einer Behinderung darin liegt, dass – vor allem in nonkomparativer Hinsicht – menschliches Wohlergehen gefĂ€hrdet ist . Dies kann mit der SchĂ€digung in Zusammenhang stehen . Gewisse Aspekte von SchĂ€digungen sind intrinsisch schlecht, also mit Leiden verbunden und ein Übel . Zwei Beispiele dafĂŒr sind starke und anhaltende Schmerzen oder Todesangst angesichts eines bevorste-henden oder zu befĂŒrchtenden Sterbens . Diese Auswirkungen von SchĂ€di-gungen sind ohne gesellschaftliche Beeinflussung schlecht, sie mindern das Wohlergehen von Menschen und können in manchen FĂ€llen zu großem Leiden fĂŒhren .

FĂŒr viele Behinderungen respektive fĂŒr viele Aspekte von Behinderung gilt dies aber nicht . Sie erhalten ihre komparative wie auch ihre nonkompa-rative Bedeutung erst in Zusammenhang mit bestimmten Umweltaspekten . Diese können vielfĂ€ltig sein und von mangelnden Ressourcen – beispielswei-se fehlendem Geld – ĂŒber diskriminierenden Einstellungen bis hin zu schlechter ZugĂ€nglichkeit von GebĂ€uden vieles umfassen . Das Wohlergehen von Menschen mit Behinderung respektive der Grad und das Ausmaß ihrer Behinderung hĂ€ngen also in vielen FĂ€llen davon ab, wie diese Umweltbedin-gungen gestaltet sind . FĂŒr die Beantwortung der Frage nach einem Recht auf

84 Inklusion und Gerechtigkeit

Inklusion fĂŒr behinderte Menschen bedeutet dies, dass beide Aspekte – in-trinsische Aspekte und der heterogene Bereich der Umweltaspekte – wie auch die Dynamiken und Wechselwirkungen zwischen den unterschiedli-chen Aspekten respektive AusprĂ€gungen im Auge behalten werden mĂŒssen .

Das Fazit dieses Kapitels, wonach das, was eine Behinderung ausmacht, letztlich die Reduktion von Wohlergehen ist, wirft die Frage auf, was im vorliegenden Kontext unter Wohlergehen verstanden werden soll . Eine sub-jektive Theorie guten Lebens habe ich implizit bereits verworfen . Dennoch verbleiben mindestens drei mögliche Auslegungen einer objektiven Theorie – hedonistische Theorien, Wunschtheorien, objektive Theorien –, wobei ich nur die letzte, wie es der Name schon sagt, als genuin objektive Theorie ver-stehen möchte .20 Die möglichen TheoriezugĂ€nge zu menschlichem Wohler-gehen stehen im folgenden vierten Kapitel im Zentrum .

20 Peter Schaber (1998, S . 150) beispielsweise geht davon aus, dass die hedonistische Theorie eine Spielart der objektiven Theorie darstellt .

4 . Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben

Gemeinhin gehen die meisten Autoren1 davon aus, dass man drei ZugÀnge zu Fragen des guten Lebens2 unterscheiden kann:3 hedonistische Theorien,

1 Davon gehen beispielsweise Dagmar Fenner (2007), Holmer Steinfath (1998) und Derek Parfit (1984) aus . Parfit (1984, S . 493) spricht von hedonism, desire-fulfilment theories und objective list theories . Scanlon (1998) ersetzt die letzte Kategorie durch substantive good theories . Thomas Schramme (2008, S . 1501) hĂ€lt vor allem die letzte Kategorie bei beiden Autoren fĂŒr verwirrend . Eine objektive Theorie beispielsweise kann seiner Ansicht nach nicht nur einfach GĂŒter auflisten, sondern man muss sagen, warum ein Gut zum Wohler-gehen gehört . Daher sei Parfits Kennzeichnung dieser Theorien mit objectiv list theory missverstĂ€ndlich (vgl . Schramme 2003b, S . 188) .

2 Der philosophische Ausdruck â€șgutes Lebenâ€č hat einen perfektionistischen Anstrich . Eine perfektionistische Interpretation wĂŒrde demnach besagen, dass es ein â€șbestes Lebenâ€č gibt, eine mögliche Lebensform, die fĂŒr alle Menschen gut ist . Darum geht es im vorliegenden Zusammenhang aber nicht, zumindest nicht in einem starken, essentialistischen und de-terministischen Sinne . Im Zentrum der vorliegenden Überlegungen steht vielmehr, fĂŒr Ressourcen zu argumentieren, die Menschen dazu verhelfen, ein gutes Leben nach ihrer eigenen Wahl zu fĂŒhren . An dieser Stelle mĂŒssen somit zwei Fragen unterschieden werden: erstens die Frage, was ein gutes Leben ist; zweitens die Frage, was die Gesellschaft bereit-stellen muss, damit Menschen ein gutes Leben fĂŒhren können . Werden die zwei Fragen vermischt, könnte der Schluss aus der zweiten Frage nĂ€mlich so lauten, dass den BĂŒrgern einer Gesellschaft ein gutes Leben direkt geschuldet wird . Das wĂ€re aber offensichtlich eine zu starke Forderung . Im Folgenden konzentriere ich mich auf den Ausdruck â€șgutes Lebenâ€č, weil er in der Philosophie etabliert ist, verstehe ihn aber nicht in starkem Sinne perfektionistisch . Vor allem darf der Begriff des â€șguten Lebensâ€č einen schwachen Perfekti-onismus nicht mit einem Essentialismus verbinden, der besagt, dass es eine gute Lebens-form fĂŒr alle Menschen gibt .

3 Allerdings gehen andere Autoren, wie beispielsweise Peter Schaber (1998), davon aus, dass man von zwei Theorien des guten Lebens sprechen kann, nĂ€mlich von Wunschtheorien und objektiven Theorien . Die Kritik, dass man auch von zwei statt drei Theorien des guten Lebens sprechen kann, ist durchaus berechtigt . So sind erstens die ÜbergĂ€nge zwischen den einzelnen Theorien je nach Ausrichtung derselben fließend . Und zweitens kann man auch darauf hinweisen, dass es einen gemeinsamen Kern aller Theorien gibt . Die verschie-denen Theorien kommen nur aus unterschiedlichen GrĂŒnden dazu . Ich halte dennoch, aus pragmatischen GrĂŒnden, an der Dreiteilung fest, auch, um die GrĂŒnde aufzuzeigen, die fĂŒr eine objektive Theorie des guten Lebens sprechen .

86 Inklusion und Gerechtigkeit

Wunschtheorien und objektive Theorien des guten Lebens .4 Ich stelle diese Theorien im Folgenden vor und zeige GrĂŒnde auf, die fĂŒr eine objektive Theorie des guten Lebens sprechen .

4 .1 Hedonistische Theorien

Die hedonistische Vorstellung des guten Lebens ist die eines glĂŒcklichen Le-bens, wobei GlĂŒck als die Erfahrung von Lust und Freude interpretiert wird . Das gute Leben ist in diesem VerstĂ€ndnis ein glĂŒckliches, lustvolles Leben .5 Dabei kann nach Dagmar Fenner (2007, S . 31ff .) ein psychologischer Hedonis-mus von einem ethischen Hedonismus unterschieden werden . Der psychologi-sche Hedonismus ist oft das anthropologische Fundament fĂŒr die normative hedonistische Theorie, muss aber von dieser getrennt betrachtet werden . Der psychologische Hedonismus geht von der anthropologischen Annahme aus, wonach der Mensch ausschließlich nach Lustgewinn strebt .6

Der ethische Hedonismus wendet nun die Aussagen des psychologischen Hedonismus ins Normative . Er besagt im Kern, dass menschliches Handeln auf Lustgewinn abzielen soll . Ein antiker Vertreter eines ethischen Hedonis-

4 Es muss nach Thomas Schramme (2008, S . 1501) unterschieden werden, ob eine Theorie in ontologischem Sinne objektiv oder subjektiv ist sowie, ob sie in evaluativem Sinne ob-jektiv oder subjektiv ist . Aus diesen Unterscheidungen ergeben sich vier Möglichkeiten der Auslegung . Die erste Unterscheidung (die ontologische) fragt danach, ob Wohlergehen durch subjektive mentale Erlebnisse bestimmt wird oder nicht . Die zweite Unterschei-dung (die evaluative) fragt danach, ob man die Inhalte des Wohlergehens von subjektiven Bewertungen allein abhĂ€ngig machen soll, oder ob intersubjektive oder objektive Deter-minanten ins Spiel gebracht werden sollen . Als drittes könnte man thematisieren, ob sich eine Person ĂŒber ihr Wohl tĂ€uscht oder ob sie in jedem Fall als Experte fĂŒr ihr eigenes Wohlergehen gelten kann . Diese Unterscheidung könnte man epistemische Unterschei-dung nennen . Sie geht allerdings nach Schramme vollstĂ€ndig in den beiden anderen Ge-sichtspunkten auf und muss daher nicht eigens thematisiert werden . Damit ergeben sich vier Möglichkeiten einer Ausrichtung einer Wohlergehenstheorie: Erlebnistheorien, Da-seinstheorien, Wunschtheorien sowie Gattungs- oder Wesenstheorien . FĂŒr die vorliegende Arbeit ist diese Vierteilung aber meiner Meinung nach zu komplex . Zudem werden die verschiedenen Aspekte von mir in den drei ausformulierten TheoriezugĂ€ngen themati-siert .

5 Um die stark hedonistischen Konnotationen zu vermeiden, die mit dem â€șgutenâ€č Leben verbunden sind, wird zum Beispiel von Robert Spaemann (2006) der Begriff des â€șgelin-gendenâ€č Lebens gewĂ€hlt .

6 Ein Vertreter eines psychologischen Hedonismus ist Sigmund Freud .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 87

mus war Epikur, der die Forderung allerdings egoistisch auslegte . Erst die Utilitaristen entwickelten eine universalistische Spielart des ethischen Hedo-nismus . Zwei Annahmen zeichnen den ethischen Hedonismus, wie ihn der klassische Utilitarismus vertritt, aus: erstens, dass GlĂŒck messbar ist, zwei-tens, dass das Ziel der Moral sei, GlĂŒck zu maximieren . Verschiedene GlĂŒcks-zustĂ€nde können also nicht nur gemessen und hierarchisiert werden, sie stel-len auch das Ziel moralischen Handelns dar .

Kritik an der hedonistischen Theorie des guten Lebens

Hedonistisches Grundparadox

Am ethischen Hedonismus wurde von verschiedenen Seiten Kritik geĂŒbt . Erstens scheint es so etwas wie ein â€șhedonistisches Grundparadoxâ€č zu geben (vgl . Fenner 2007, S . 52): GlĂŒck lĂ€sst sich nicht erzwingen . GlĂŒck zeichnet sich im Gegenteil dadurch aus, dass es einem zufĂ€llt oder trifft . Nicht selten sind Versuche, das GlĂŒck krampfhaft zu erlangen, vom Ergebnis ĂŒberschat-tet, dass es genau aus diesem Grund nicht gelingt . Man denke nur an Versu-che, einen Menschen fĂŒr sich zu gewinnen, der einem diese Liebe nicht frei-willig erwidert .

GlĂŒck ist nicht das einzig Wichtige im Leben

Zweitens ist es fraglich, ob GlĂŒck das einzige Gut ist, wonach wir unser Le-ben ausrichten . HĂ€tten wir, so fordert uns Robert Nozick (1974) in einem Gedankenexperiment auf, die Möglichkeit, uns an eine GlĂŒcksmaschine an-zuschließen, die uns mit immerwĂ€hrenden GlĂŒcksgefĂŒhlen versorgt, wĂŒrden wir das tun?7 Nein, wĂŒrden mit Sicherheit die meisten Menschen sagen . Sie möchten ein Leben, das durch mehr geprĂ€gt ist als durch andauernde GlĂŒckszustĂ€nde . Beispielsweise wollen sie ein autonomes, selbst bestimmtes Leben fĂŒhren, eines, in dem sie eigene Entscheidungen treffen können . Und dies wollen sie nicht nur, weil sie davon ausgehen, dass ein autonomes Leben in jedem Fall glĂŒcksfördernd ist .

7 Interessanterweise dient das Beispiel der GlĂŒcksmaschine dazu, einerseits die inhĂ€rente Bedeutung von Freiheit aufzuzeigen, andererseits, um GlĂŒck als einziges Lebensziel zu re-lativieren . Das illusionĂ€re GlĂŒck ist nach Georg Henrik von Wright (1963) nicht nur deshalb ein philosophisches Problem, weil es eine Illusion ist, sondern weil es eine Unauf-richtigkeit sich selbst gegenĂŒber darstellt .

88 Inklusion und Gerechtigkeit

Ein Beispiel dafĂŒr ist Sigmund Freud, der in seinen letzten Lebensjahren an schwerem, unheilbarem Krebs und damit verbundenen großen Schmer-zen litt, die er mit starken Schmerzmitteln, beispielsweise Morphium, hĂ€tte lindern können .8 Freud aber verzichtete bewusst auf Schmerzmittel, um bei klarem Verstand bleiben und so weiter denken und arbeiten zu können . Nie-mand wĂŒrde sagen, die Schmerzen hĂ€tten fĂŒr Freud GlĂŒck bedeutet . Viel nahe liegender scheint die ErklĂ€rung zu sein, dass Freud klares Denken der Schmerzfreiheit vorgezogen hat . Der â€șhedonistische Fehlschlussâ€č in der Auf-fassung, GlĂŒck sei das einzige Lebensziel, scheint also der zu sein, dass aus der Tatsache, dass Menschen aus wertvollen TĂ€tigkeiten Freude und GlĂŒck erzielen, geschlossen wird, alle menschlichen TĂ€tigkeiten seien auf Lustge-winn ausgerichtet .

Nichtunterscheidung von wertvollen und nicht wertvollen GlĂŒckszustĂ€nden

Drittens scheinen bestimmte Auffassungen von Lustgewinn kaum vereinbar zu sein mit der Vorstellung von einem guten Leben . Ein Beispiel dafĂŒr ist DrogenabhĂ€ngigkeit, die kaum in Einklang mit einem guten Leben steht . Die hedonistische Theorie aber bietet keine Handhabung, diese GlĂŒckszu-stĂ€nde von anderen, â€șwertvollenâ€č, zu trennen . Sie wertet alle GlĂŒckszustĂ€nde gleich . GlĂŒck aufgrund eines Drogenschusses ist somit gleich wertvoll – und in der Folge in der normativen Wendung gleich erstrebenswert – wie andere Handlungen, von denen man gemeinhin davon ausgeht, dass sie wertvoll sind, beispielsweise den eigenen Freunden zu helfen oder sich um Notleiden-de zu kĂŒmmern .

Die Person rĂŒckt aus den Überlegungen

Ein vierter Kritikpunkt, der besonders an der klassisch-utilitaristischen Fas-sung des ethischen Hedonismus geĂŒbt wird, ist der, dass es nicht gelingt, die Person ins Zentrum zu rĂŒcken, sondern einzig das GlĂŒck selbst (vgl . Raz 2004, S . 269) . Personen, so die Kritik von Raz, gelangen nur aufgrund ihrer GlĂŒckszustĂ€nde in den Fokus hedonistischer Überlegungen, nicht aber als Personen mit BedĂŒrfnissen, Verpflichtungen, Zielen, PlĂ€nen und Werten . Damit sind offensichtlich verschiedene Dinge, beispielsweise nahe Bezie-hungen, ganz oder teilweise ausgeblendet . Denn Menschen empfinden ge-

8 Das Beispiel wird von James Griffin (1986, S . 28) verwendet .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 89

genĂŒber ihnen nahe stehenden Menschen Verpflichtungen, aber nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) deshalb, weil diese glĂŒcksfördernd wĂ€ren .

Fragmentierung des Lebens in einzelne GlĂŒckszustĂ€nde

Auch das hedonistische Vorhaben, verschiedene GlĂŒckszustĂ€nde zu addieren und in den summierten GlĂŒckszustĂ€nden ein gutes Leben zu sehen, scheint unplausibel zu sein . Ein gutes Leben wĂ€re dieser Logik nach nĂ€mlich eines, das aus vielen einzelnen GlĂŒcksmomenten bestehen wĂŒrde . So denken Men-schen aber nicht, wenn sie sich die Frage nach einem guten Leben stellen . Die Frage nach dem guten Leben bezieht sich vielmehr auf die »qualitative Ganzheit des Lebens« (vgl . Fenner 2007, S . 57) . Ein gutes Leben lĂ€sst sich nicht in einzelne GlĂŒcksmomente aufteilen, wie es hedonistische Theorien nahe legen .

4 .2 Wunschtheorien

Wunschtheorien des guten Lebens sind geprĂ€gt von der Auffassung, dass sich ein gutes Leben in Rekurs auf unsere kognitiven wie nonkognitiven Einstel-lungen, beispielsweise unsere WĂŒnsche, Überzeugungen oder GefĂŒhle, er-schließt . Menschen fĂŒhren dann ein gutes Leben, wenn sie es affektiv und/oder voluntativ bejahen: »Ein gutes Leben ist demnach ein gutes Leben, wenn es uns das gibt, was wir von einem Leben wollen, oder: wenn es die Anforderungen, die wir an ein Leben stellen, erfĂŒllt« (Stemmer 1998, S . 66) . Vertreter einer Wunschtheorie des guten Lebens sind James Griffin, Richard Hare oder Peter Singer .9

Die Kernaussage der Wunschtheorie besteht aus einer empirischen, zwei normativen PrĂ€missen sowie einer normativen Konklusion:Erstens: Der Mensch hat WĂŒnsche, zu denen er wertend Stellung nimmt (empirische PrĂ€misse) .

9 Gerade das Beispiel Peter Singers zeigt, dass erstens hedonistische Theorien nicht mit uti-litaristischen Theorien gleichgesetzt werden können und dass zweitens die ÜbergĂ€nge von hedonistischen Theorien zu Wunschtheorien fließend sind . In der Philosophie Singers werden WĂŒnsche als PrĂ€ferenzen gesehen, daher ist diese Ausrichtung, in Abgrenzung zum klassischem, gĂŒterbezogenen Utilitarismus, auch als prĂ€ferenzbezogener Utilitarismus be-kannt . Neben der Philosophie werden Wunschtheorien vor allem, wenig ĂŒberraschend, in Spielarten ökonomischer Entscheidungstheorien vertreten .

90 Inklusion und Gerechtigkeit

Zweitens: Diese WĂŒnsche sollen erfĂŒllt werden (normative PrĂ€misse) .Drittens: Die WunscherfĂŒllung gehört zum guten Leben (normative PrĂ€mis-se) .Viertens: Das gute Leben besteht in der ErfĂŒllung von WĂŒnschen (normati-ve Konklusion) .

Kritik an der Wunschtheorie des guten Lebens

Faktische WĂŒnsche als Gegenstand der Wunschtheorie

Die erste Kritik, die man an der Wunschtheorie ĂŒben kann, ist die, dass es unplausibel ist, alle faktischen WĂŒnsche einer Person zum Gegenstand der Reflexion eines guten Lebens zu machen . Dieser Kritik kann man aber rasch entgehen, indem man reflektierte WĂŒnsche zum Gegenstand der Wunsch-theorie macht und nicht faktische, da diese auch schĂ€dlich sein können . Beispielsweise kann es kaum Inhalt einer Wunschtheorie des guten Lebens sein, wenn jemand den Wunsch entwickelt, andere Menschen zu verletzen oder zu töten .

Statt eines einfachen Subjektivismus stehen daher die meisten Vertreter einer Wunschtheorie des guten Lebens zu einem reflektierten Subjektivis-mus .10 Der Maßstab dessen, woran sich die Kritik messen mĂŒsste, wĂ€re dann die Art und Weise, wie eine Person sich etwas wĂŒnscht und nicht, zumindest nicht in erster Linie, was sie sich wĂŒnscht . Die Forderung eines reflektierten Subjektivismus ist von einem seiner Vertreter folgendermaßen auf den Punkt gebracht worden: »Das Wollen sollte, was immer du vom Leben willst, auf-geklĂ€rt und nicht blind sein« (Stemmer 1998, S . 65) . Damit sind eine Reihe von sogenannt irrationalen WĂŒnschen, beispielsweise der Wunsch eines Dro-genabhĂ€ngigen nach neuem Stoff oder der Wunsch eines Mörders nach wei-teren Opfern, nicht Gegenstand einer modifzierten Wunschtheorie .

Erfahrungsbedingung

Selbst eine angepasste Wunschtheorie ist aber weiterhin der Kritik ausge-setzt . So scheint es beispielsweise notwendig zu sein, dass die WunscherfĂŒl-lung am subjektiven Zustand einer Person etwas Ă€ndert, um tatsĂ€chlich ei-

10 In der Tat ist es so, dass eine sogenannte »unrestricted actual desire theory« (Scanlon 1993, S . 186) heute von niemandem mehr vertreten wird .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 91

nen Beitrag zu ihrem guten Leben leisten zu können . Nun kann es aber sein, dass die WĂŒnsche einer Person in ErfĂŒllung gegangen sind, ohne dass sie von dieser WunscherfĂŒllung etwas erfĂ€hrt . Wie kann sich dadurch ihr Leben ver-bessern? Beispielsweise kann man sich vorstellen, dass sich jemand wĂŒnscht, eine Gruppe politischer Gefangener aus Tibet, die fĂŒr die Ablösung ihres Landesteiles von China kĂ€mpfen, wĂŒrde aus chinesischen GefĂ€ngnissen ent-lassen werden . Wenn diese nun tatsĂ€chlich freigelassen werden, die Person dies aber aufgrund einer Informationssperre des chinesischen Außenministe-riums nie erfĂ€hrt, ist es dann plausibel zu sagen, das Leben der Person sei besser als vorher? Offensichtlich nicht, denn sie hat nie von der ErfĂŒllung ihres Wunsches erfahren .

Auch haben verschiedene WĂŒnsche im Leben schlichtweg keinen Ein-fluss auf das Leben eines Menschen, so beispielsweise der Wunsch, dass der Uranus 29 und nicht 27 Monde hat . Die Wunschtheorie muss also durch eine Erfahrungsbedingung ergĂ€nzt werden . Eine Person muss von der ErfĂŒl-lung ihrer WĂŒnsche erfahren und die ErfĂŒllung muss etwas an ihrem Leben Ă€ndern . 11

Wunschkonflikte

Eine reflektierte Wunschtheorie muss somit gegenĂŒber einer, die sich an den faktischen WĂŒnschen von Menschen orientiert, durch zwei Bedingungen ein-geschrĂ€nkt werden: Erstens mĂŒssen die WĂŒnsche reflektiert sein und zwei-tens mĂŒssen die WĂŒnsche die Erfahrungsbedingung erfĂŒllen . Dennoch ist die Wunschtheorie auch nach diesen PrĂ€zisierungen weiter der Kritik ausge-setzt: Es gibt nĂ€mlich drittens auch Wunschkonflikte . Jemand kann beispiels-weise gleichzeitig zwei WĂŒnsche haben: mit dem Rauchen aufzuhören und eine Zigarette zu rauchen (vgl . Schaber 1998, S . 156) . Die Wunschtheorie bietet keine Handhabe, solche konkurrierenden WĂŒnsche zu gewichten .

WunschverÀnderungen

Viertens können sich WĂŒnsche auch verĂ€ndern . Alle Menschen wissen, dass die WĂŒnsche, die sie als Kinder hatten, nicht mehr denjenigen von Erwach-senen entsprechen . Muss man also den Wunsch eines Kindes, das mit fĂŒnf

11 Unter der Erfahrungsbedingung kann beides subsumiert werden, wie die unterschiedli-chen Interpretationen von Thomas Scanlon (1993, S . 186) und Peter Schaber (1998, S . 155) zeigen .

92 Inklusion und Gerechtigkeit

Jahren sagte: »Ich wĂŒnsche mir, mit fĂŒnfzig Jahren an meinem Geburtstag wieder in den Europapark zu gehen«, erfĂŒllen? Wohl kaum einzig aus dem Grund, weil sich dieser Mensch das einmal gewĂŒnscht hat . Eher ist anzuneh-men, dass die Person den Wunsch mit fĂŒnfzig nicht mehr hat, dass sich ihre WĂŒnsche also verĂ€ndert haben .

4 .3 Objektive Theorien

Objektive Theorien des guten Lebens schließen sich an die Kritik an der Wunschtheorie an . Zwar streiten sie die Bedeutung von WĂŒnschen fĂŒr das gute Leben nicht ab . Sie sind aber der Auffassung, dass mit der Aussage, â€șet-was ist wĂŒnschenswertâ€č auf etwas Bezug genommen wird, das unabhĂ€ngig von WĂŒnschen besteht . Und das sind Überzeugungen . WĂŒnsche sollten da-her nicht als Wert selbst gesehen werden, sondern als formale Aussage darĂŒ-ber, was als wertvoll angesehen wird (vgl . Schaber 1998, S . 162) .

Objektive Theorien des guten Lebens oder substantive good theories (Scan-lon 1993, S . 189) besagen im Kern folgendes: Es gibt Dinge im menschlichen Leben, die wir unabhĂ€ngig davon, ob jemand sie als gut oder schlecht befin-det, als gut oder schlecht einschĂ€tzen können . Schmerz ist ein Beispiel fĂŒr etwas, das man als intrinsisch schlecht einschĂ€tzt, Liebe etwas, das intrinsisch gut ist .12 Die Neigungen und WĂŒnsche einer Person mĂŒssen in einer objek-tiven Theorie des guten Lebens nicht irrelevant sein, man kann sogar sagen, dass nur das, was sich einer Person faktisch als Neigung und Vorliebe er-schließt, ihr auch zugĂ€nglich ist . Objektiv heißt nicht, dass das objektiv Gute völlig unabhĂ€ngig von den subjektiven Erfahrungen und WĂŒnschen von Menschen sein muss (vgl . Wolff 1998, S . 169) . Es wird einfach nicht gleich-gesetzt .13

12 Menschen können sich zwar zu ihren Empfindungen verhalten, das ist aber höchstens die sekundĂ€re Bedeutung bestimmter Empfindungen wie beispielsweise Hunger oder Schmerz . Die NegativitĂ€t dieser Empfindungen lĂ€sst sich durch die kognitive Einstellung nicht aufheben . Daher wĂ€re das Leben der betroffenen Menschen selbst dann schlecht, wenn sie das nicht so empfinden wĂŒrden .

13 Ein gutes Leben mag ein glĂŒckliches sein, aber die Übereinstimmung ist eine kontingente . Die meisten Menschen sind denn auch der Ansicht, dass ein gutes Leben nicht unbedingt jederzeit ein glĂŒckliches sein muss . Jemand kann glĂŒcklich sein, aber dieses GlĂŒck ist ein unreflektiertes GlĂŒck . Dann gibt es Menschen, von denen wir sagen wĂŒrden, sie hĂ€tten allen Grund glĂŒcklich zu sein, die es aber trotzdem nicht sind .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 93

Im Gegensatz zur hedonistischen Auffassung des guten Lebens sind ob-jektive Theorien der Ansicht, dass das gute Leben nicht ausschließlich aus vielen einzelnen glĂŒcklichen Momenten besteht, sondern von einer generel-len Einstellung des Betreffenden zu sich und seinem Leben, im Speziellen einer Bejahung seiner selbst und dessen, was er ist, abhĂ€ngt . Zweitens sind sie der Auffassung, dass sowohl glĂŒckliche Momente wie die generelle Ein-stellung zu sich selbst auf dem Glauben des Betreffenden beruhen, dass die Handlungen und Ereignisse, die er tĂ€tigt oder die ihm widerfahren, wertvoll sind . Damit nehmen Menschen in ihren Aussagen Bezug auf AktivitĂ€ten und ZustĂ€nde, von denen sie ausgehen, dass sie intrinsisch wertvoll sind .14

Die zentrale Aussage jeder objektiven Theorie ist folgende: Nicht, weil sich Menschen etwas wĂŒnschen, ist es gut, sondern weil es gut ist, wĂŒnschen sich Menschen dieses Gut .15 Die objektive Theorie geht davon aus, dass die GĂŒter, die sich jemand wĂŒnscht, Resultat objektiv informierter WĂŒnsche sind, dass sie also von Menschen gewĂŒnscht werden, wenn sie die Natur dieser GĂŒter und die Natur des Lebens kennen . Die Reihenfolge ist gegen-ĂŒber der Wunschtheorie eine andere (vgl . Scanlon 1993, S . 190) .

Das Gut wird gewĂŒnscht, weil es wertvoll ist und nicht umgekehrt . Dass etwas unabhĂ€ngig von den WĂŒnschen fĂŒr Menschen gut ist, heißt aber nicht, dass fĂŒr alle Menschen dieselben Dinge gut sind . Unterschiede in den FĂ€hig-keiten, den Biografien und dem sozialen Umfeld können dazu fĂŒhren, dass Menschen unterschiedliche Dinge als gut bewerten .

14 Damit macht aber nach Ansicht bestimmter Kritiker die Aussage â€șEin gutes Leben ist ei-nes, das gut ist fĂŒr Xâ€č keinen Sinn mehr respektive der Zusatz â€șfĂŒr Xâ€č ist ĂŒberflĂŒssig, da er keine neue Information hinzufĂŒgt . Trifft diese Kritik zu, ist man aber wieder bei einer utilitaristischen Konzeption gelandet, die ein gutes Leben einzig auf ZustĂ€nde und Aktivi-tĂ€ten zurĂŒckfĂŒhren möchte und die betroffene Person aus dem Fokus nimmt . Eine objek-tive Konzeption ist somit dazu verpflichtet, die Person ins Blickfeld zu nehmen, will sie nicht mit einer utilitaristischen Position, wie sie sowohl im Hedonismus als auch in der Wunschtheorie (zumindest in einer prĂ€ferenzutilitaristischen Ausrichtung) möglich ist, zusammenfallen . Ich verfolge die Kritik nicht weiter, da ich im Folgenden eine objektive Theorie vorstelle, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie das betroffene Individuum ins Blickfeld nimmt .

15 Wunschtheorien mĂŒssen sich immer auf die Aussage zurĂŒckziehen, dass der Grund dafĂŒr, dass etwas fĂŒr jemanden gut ist, der sei, dass die Person es sich wĂŒnscht, weil es einen Wunsch der Person befriedigt . Genau das lehnen objektive Theorien ab .

94 Inklusion und Gerechtigkeit

Zwei Vorteile objektiver Theorien

Objektive Theorien des guten Lebens haben gegenĂŒber den anderen beiden zwei entscheidende Vorteile: Erstens kommen sie unserer Intuition entge-gen, dass das Gutsein unseres Lebens und auch unsere Zufriedenheit mit dem Leben zu einem signifikanten Teil davon abhĂ€ngen, wie unser Leben tatsĂ€chlich objektiv aussieht . Dies gilt, auch wenn das subjektive Zufrieden-sein mit dem Leben und das objektive Gutsein des Lebens wechselseitig kei-ne Surrogate sind (vgl . Brock 1993) . Zweitens können objektive Theorien paradoxe FĂ€lle, in denen Menschen hohe Zufriedenheit bei objektiv gesehen schlechten LebensumstĂ€nden Ă€ußern, besser erklĂ€ren . Oft schĂ€tzen nĂ€mlich Menschen mit Behinderung verglichen mit nicht behinderten Menschen ihre LebensqualitĂ€t ĂŒberdurchschnittlich hoch ein, weshalb dieses adaptive Verhalten oft auch als disability paradox bezeichnet wird (vgl . Rapley 2003, S . 31) .16 WĂŒrde man die faktischen Aussagen dieser Menschen als einzige Entscheidungsbasis fĂŒr die Beurteilung ihrer LebensqualitĂ€t nehmen, hĂ€tte das zumindest in einem politischen und praktischen Kontext fatale Folgen, vor allem dann, wenn es um Verteilungsfragen geht . Menschen, die eine hohe Lebenszufriedenheit Ă€ußerten, bekĂ€men dann – selbst wenn sie unter objektiv schlechten Lebensbedingungen leben wĂŒrden – weniger GĂŒter zu-gewiesen als andere, die niedrigere subjektive Zufriedenheit Ă€ußern, obwohl sie objektiv gesehen ein gutes Leben fĂŒhren .

Das, womit man sich – insbesondere auch unter (sonder-)pĂ€dagogischen Gesichtspunkten – beschĂ€ftigen sollte, sind aber nicht subjektive GlĂŒckszu-stĂ€nde (zumal nicht als einzigen Parameter des guten Lebens) und auch nicht WunscherfĂŒllung, sondern vielmehr mit der Frage, was Menschen in ihrem Leben tun und sein können . Was nach Ansicht Amartya Sens (1999a) letzt-

16 Adaptation oder Adaption bezeichnet das PhĂ€nomen einer Erwartungsreduktion als Folge einer Kluft zwischen BewĂ€ltigung von Aufgaben respektive Leistungen und den Erwartun-gen an diese . Die Spannung wird reduziert, indem die Erwartungen gesenkt werden . Die-ses PhĂ€nomen kann laut Dan W . Brock (1993) sowohl ein Akt der Selbstbestimmung, also des Lernens oder der Erfahrung oder aber ein sour grapes PhĂ€nomen (vgl . Elster 1985) und somit ein Akt der Resignation sein . Oft werden PrĂ€ferenzen nach unten korrigiert, indem die unerreichbaren Optionen vom Radar des Angestrebten gestrichen werden . Das ist die externe Charakterisierung . Die interne Charakterisierung beleuchtet den Prozess der For-mierung von WĂŒnschen und PrĂ€ferenzen . Die Annahme ist, dass im Adaptationsprozess das gefĂŒhlte Wohlbefinden steigt, allerdings auf Kosten der Autonomie, welche sinkt . An-passung und psychische Konditionierung haben laut Sen (1999a) bei dauerhaft Benachtei-ligten oft zur Folge, dass sie sich ihrer Situation anpassen . Eine solche Form von Adaption kann von einem Sozialstaat nicht als Ziel anvisiert werden .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 95

lich im Vordergrund stehen muss, ist das Leben, das Menschen fĂŒhren kön-nen sowie die Freiheit, ein Leben ihrer Wahl zu fĂŒhren . Damit rĂŒckt das Leben, das Menschen fĂŒhren, selbst in den Fokus der Überlegungen . Und auf diese Weise geraten auch die GĂŒter, die Menschen erhalten, die Struktur der Gesellschaft sowie die Freiheiten, die Menschen genießen, ins Blickfeld . Fragen, die sich aus einem solchen Zugang zum Wohlergehen ergeben, lau-ten dann beispielsweise: Welche Möglichkeiten hat der Mensch ĂŒberhaupt? Kann er wĂ€hlen? Was kann er tun und sein? Letztlich sind damit auch die Bedingungsfaktoren angesprochen, unter denen ein gutes Leben stattfinden kann .

Ein objektiver Ansatz, der die oben genannten Fragen ins Zentrum stellt, ist der Capability-Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum . Diesen werde ich im Folgenden vorstellen .

4 .4 Der Capability-Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum

Der Capability-Ansatz wurde in unterschiedlicher Form und AusprĂ€gung vom indischen Ökonomen Amartya Sen und der us-amerikanischen Philo-sophin Martha Nussbaum entwickelt .17 Die wichtigste Unterscheidung oder

17 Sein kritisches Profil gewinnt der Ansatz vor allen Dingen in seiner Kritik am Utilitaris-mus und – allerdings schwach und meiner Ansicht nach weniger ĂŒberzeugend – an der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls . Die am Utilitarismus geĂŒbte Kritik betrifft die konsequentialistische Grundlage des Utilitarismus . Erstens kann die Ausrichtung einer solchen Theorie des guten Lebens, einzig auf die Konsequenzen von Handlungen zu schauen, kritisiert werden . Indem ZustĂ€nde von Personen als Ziele angesehen werden, sind die TĂ€tigkeiten oder Prozesse selbst nĂ€mlich unterbeleuchtet . Genau darauf sollte man aber in FĂ€llen von Verteilungsgerechtigkeit schauen, denn oft ist der Prozess der Ver-teilung bereits ungerecht . Zweitens kann der Wohlfahrtsgedanke, der Rechte und Pflich-ten nicht unmittelbar, sondern nur hinsichtlich ihrer Konsequenzen beleuchtet, kritisiert werden . Der Utilitarismus vernachlĂ€ssigt damit Rechte, Pflichten und Freiheiten sowie andere, nicht den Nutzen betreffende, Belange . Drittens kann der Summierungsgedanke kritisiert werden, weil er nicht beachtet, wie sich die Gesamtmenge an GĂŒtern auf die In-dividuen verteilt . Damit ist der Ansatz in der Konsequenz Verteilungsfragen gegenĂŒber indifferent, und zwar hinsichtlich der betroffenen Individuen wie auch hinsichtlich der Vorteile-BĂŒrden Verteilung (vgl . Nussbaum 2006b) . Sein kritisches Profil gewinnt der Capability-Ansatz zudem neben seiner Kritik an den konsequentialistischen Grundlagen im Allgemeinen hauptsĂ€chlich durch die ZurĂŒckweisung der utilitaristisch geprĂ€gten Ideologie des homo oeconomicus . Diese unterstellt, dass Menschen rationale Akteure sind,

96 Inklusion und Gerechtigkeit

Terminologie des Ansatzes ist die Unterscheidung zwischen capabilities (Ver-wirklichungschancen) und functionings (Funktionen) .

4 .4 .1 Verwirklichungschancen und Funktionen

Das Wohlergehen von Menschen sollte nach Sen daran gemessen werden, was Menschen in ihrem Leben tun oder sein können, an ihren Funktionen also: »Functionings represent parts of the state of a person – in particular the various things that he or she manages to do or be in leading a life« (Sen 1993, S . 31) . Functionings oder Funktionen können beispielsweise sein genĂŒgend zu essen zu haben, Bildung genießen zu können oder mobil sein zu kön-nen .

WĂ€hrend functionings oder Funktionen AktivitĂ€ten, die eine Person aus-ĂŒbt, und ZustĂ€nde, in denen sie sich befindet, kennzeichnen, nennt man die Gesamtheit der Funktionen, die eine Person p zu einem bestimmten Zeit-punkt t verwirklicht, Funktionenset . Das Funktionenset beschreibt die fakti-sche Lebenssituation dieser Person und somit die Gesamtheit dessen, was die Person sein und tun kann .

Capabilities oder Verwirklichungschancen widerspiegeln demgegenĂŒber die alternativen Kombinationen von Funktionen, welche die Person errei-

die als Ziel Eigennutzoptimierung anstreben . Amartya Sen (1977) hat dafĂŒr den Ausdruck rational fools geprĂ€gt . Gegen dieses Bild wendet sich der Capability-Ansatz und steht da-mit den kritischen Intentionen des politischen Liberalismus sehr nahe . Vor allem die ver-einfachte Vorstellung menschlicher Handlungsmotivation wird von Sen wie auch dem großen Vertreter des politischen Liberalismus der letzten Jahre, John Rawls, zurĂŒckgewie-sen . Die Kritik besagt konkret, dass der Utilitarismus die Bedeutung von Verpflichtungen, Bindungen und sozialen Engagements, die Menschen eingehen, unterschlĂ€gt . Viele Ver-pflichtungen und Bindungen gehen Menschen nicht aus rationalem Eigeninteresse ein . Das Verhalten einer Mutter oder eines Vaters gegenĂŒber einem Kind sind typische Beispie-le fĂŒr solche Arten von Verpflichtungen und Bindungen, die Handlungen und Verhaltens-weisen zur Folge haben, die Menschen nicht aus reinem Eigeninteresse tĂ€tigen . Diese Be-reiche der menschlichen Handlungsmotivation umfasst Sen mit dem Begriff des commitments . Eine Gerechtigkeitstheorie sollte aus diesen GrĂŒnden ein reiches und vor allem realistisches Bild des Menschen zeichnen, nicht nur das eines rationalistischen Nut-zenmaximierers . Weiter ist der Umstand, frei handeln zu können, im Utilitarismus selbst egoistischer Nutzenkalkulation unterworfen . WĂŒnsche und subjektive PrĂ€ferenzen aber sind keine sicheren Indikatoren fĂŒr die wahren BedĂŒrfnisse einer Person . Vielmehr muss man davon ausgehen, dass sich die PrĂ€ferenzen und Interessen von Menschen immer schon nach den Lebenslagen und Lebensbedingungen richten, in denen sie sich befinden . PrĂ€ferenzen wie Interessen sind, subjektiv verstanden, adaptiv . Das Problem der adaptiven PrĂ€ferenzen kann im Utilitarismus nicht angemessen beurteilt und gelöst werden .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 97

chen kann: »The capability of a person reflects the alternative combinations of functionings the person can achieve, and from which he or she can choo-se one collection« (Sen 1993, S . 31) . Capabilities oder Verwirklichungschan-cen sind somit »notions of freedom, in the positive sense: what real opportu-nities you have regarding the life you may lead« (Sen 1987, S . 36) .

Ingrid Robeyns (2000, S . 5f .) schildert den Unterschied in den Betrach-tungen von Funktionen oder FĂ€higkeiten und Verwirklichungschancen an-schaulich am Beispiel des Fahrradfahrens . Das Fahrrad ist ein Gegenstand mit der Eigenschaft, dass man sich mit ihm schneller bewegen kann . Kann man Fahrradfahren, hat man diese FĂ€higkeit oder Funktion, das functioning mit anderen Worten . Die Verwirklichungschance oder capability kann nun die Möglichkeit sein, Fahrradfahren zu erlernen . Diese ist von bestimmten Voraussetzungen abhĂ€ngig, körperlichen wie auch sozialen (beispielsweise der Erlaubnis der Eltern, das Fahrradfahren zu erlernen oder auch dem Vor-handensein eines Fahrrades) . Diese beiden Voraussetzungen bilden die Kon-versions- oder Umwandlungsfaktoren von Möglichkeiten in tatsĂ€chliches Vermögen oder Können .

Zwei mögliche Interpretationen von Verwirklichungschancen

Es sind zwei Interpretationen von Verwirklichungschancen möglich: Erstens kann man sie als ein Set alternativer Funktionen sehen, das eine Person hĂ€tte erreichen können, ihre möglichen Lebensalternativen also . Die Verwirkli-chungschancen einer Person umfassen damit alle hypothetischen Lebenssi-tuationen, die im Wahlbereich der betreffenden Person liegen (vgl . Crocker 1995) . Zweitens können Verwirklichungschancen als Wertung positiver Frei-heit gesehen werden . Der Zugang zu Wohlergehen basiert in diesem Ver-stĂ€ndnis auf der FĂŒlle und QualitĂ€t zugĂ€nglicher, bewerteter LebensentwĂŒrfe – ZustĂ€nde wie AktivitĂ€ten –, unter denen die Person tatsĂ€chlich auswĂ€hlen kann .18 Verwirklichungschancen reprĂ€sentieren nach dieser Verwendungs-weise Freiheiten, können aber nicht mit diesen gleichgesetzt werden (vgl . Sen 1993, S . 33) . Freiheit ist weiter gefasst und umfasst auch soziale Ziele, die nicht mit dem eigenen Leben verbunden sind . Den objektiven Zug ge-

18 Vgl . fĂŒr einen solchen Zugang beispielsweise Alkire (2002) .

98 Inklusion und Gerechtigkeit

winnt der Verwirklichungschancenansatz durch die GrĂŒnde, die eine Person hat, bestimmte ZustĂ€nde oder TĂ€tigkeiten als gut zu erachten .19

Interne FÀhigkeiten und externe Möglichkeiten

Interne FĂ€higkeiten und externe Möglichkeiten sind beim Capability-Ansatz auf zweierlei Arten miteinander verbunden: Erstens sind die FĂ€higkeiten, Fertigkeiten, aber auch die Interessen von Menschen als menschliche Wesen von basalen (wie Gesundheits- und ErnĂ€hrungsbedĂŒrfnissen) bis zu komple-xen (wie dem AusĂŒben praktischer Vernunft und dem Leben in Selbstach-tung in einer Gesellschaft) an einen gemeinschaftlichen oder gesellschaftli-chen Rahmen gebunden . Zweitens hĂ€ngen die Möglichkeiten und Freiheiten, die Menschen haben, Funktionen und FĂ€higkeiten zu erwerben, auszuĂŒben und zu erweitern, ihrerseits von den Freiheiten ab, die ihnen andere Men-schen, Gemeinschaften, aber auch die Gesellschaft (beispielsweise ĂŒber poli-tische Entscheidungen) zubilligen . Damit ist ein komplexer Wechselwir-kungsprozess zwischen Ermöglichungen von und zu Freiheit und dem Erlernen und AusĂŒben von FĂ€higkeiten in der menschlichen Entwicklung angesprochen .

Die Informationen, die der Capability-Ansatz liefert

Das, was beim Capability-Ansatz der Wertung unterliegt, sind die realisier-ten Funktionen (also das, was eine Person tatsĂ€chlich tun oder sein kann) und die Menge der Verwirklichungschancen respektive verfĂŒgbarer Alterna-tiven (ihre wirklichen Chancen) . Beide liefern unterschiedliche Arten von Informationen: im ersten ĂŒber Dinge, die jemand tun und sein kann, im zweiten ĂŒber Dinge, die jemand zu tun oder zu sein substanziell frei ist . Auch Chancen, die nicht ergriffen werden, können so prinzipiell bewertet werden . Der Handlungsspielraum einer Person, der sich durch die Menge an Ver-wirklichungschancen ergibt, lĂ€sst sich nicht direkt empirisch erfassen, son-

19 Dieser objektive Zug und die strukturelle Anbindung an BegrĂŒndung und Vernunft sind besonders auffĂ€llig in Sens jĂŒngster Publikation (2009) . Hier lautet die Definition von capability folgendermaßen: »A person’s capability can be characterized as well-being free-dom (reflecting the freedom to advance one’s own well-being), and agency freedom (con-cerned with the freedom to advance whatever goals and values a person has reason to ad-vance (Hervorhebung FF)« (Sen 2009, S . 288f .) .

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dern nur das realisierte BĂŒndel von Funktionen . Verwirklichungschancen respektive der Handlungsspielraum werden daher immer konstruiert respek-tive geschĂ€tzt (vgl . Sen 1992, S . 52) . Die Menge an Verwirklichungschancen bestimmt sich einerseits durch die Menge an Ressourcen, die eine Person hat, andererseits auch durch die individuellen Verwendungsmöglichkeiten .

Nun ist der Capability-Ansatz aber trotz der intuitiv einleuchtenden Grundstruktur mit Schwierigkeiten konfrontiert, auf die ich im Folgenden eingehen werde .

4 .4 .2 Die Schwierigkeiten des Capability-Ansatzes

Gemeinhin werden dem Capability-Ansatz vier Punkte vorgeworfen: erstens Schwierigkeiten mit der objektiven Grundstruktur des Ansatzes, zweitens methodologische Schwierigkeiten, drittens Schwierigkeiten mit der aristote-lischen Grundstruktur, speziell dem Essentialismus und dem Perfektionis-mus, der dem aristotelischen Zugang entspricht, und viertens begriffliche Schwierigkeiten . WĂ€hrend ich die ersten zwei Schwierigkeiten entkrĂ€fte, hal-te ich die letzten beiden fĂŒr schwerwiegende EinwĂ€nde, auf die eingegangen werden muss . Ich werde anschließend eine modifizierte Version des Capabi-lity-Ansatzes verteidigen, welche die SchwĂ€chen des ursprĂŒnglichen Ansat-zes vermeiden kann . Diese Vorstellung von Wohlergehen ist dann fĂŒr den weiteren Verlauf der Arbeit tragend .

Schwierigkeiten mit der objektiven Grundstruktur des Ansatzes

Die erste Kritik am Capability-Ansatz richtet sich an seine objektive Grund-struktur . In Verbindung mit einer Art epistemologischem Individualismus wird von liberaler Seite Skepsis gegenĂŒber Theorien des Guten angebracht . Diese Skepsis besagt, dass die GĂŒte eines Lebens vom Individuum abhĂ€ngt, welches dieses Leben lebt . Daher sollte alleine das Individuum ĂŒber die Qua-litĂ€t seines Lebens Auskunft geben . Diese Kritik geht also davon aus, dass ein Individuum am besten entscheiden kann, was gut ist fĂŒr das eigene Leben . Eine Theorie, die objektiv vorschreibt, welche Elemente ein gutes Leben hat, ist antiliberal und setzt eine bestimmte Konzeption des guten Lebens als die richtige und wahre .

Auf diese Kritik haben Martha Nussbaum und Amartya Sen (1993) selbst drei Entgegnungen angebracht . Erstens kann der Capability-Ansatz nach

100 Inklusion und Gerechtigkeit

Ansicht der beiden Autoren mit seiner analytischen Aufteilung in Funktio-nen und Verwirklichungschancen die Gleichheit von Verwirklichungschan-cen fordern und gleichzeitig bei den Funktionen Pluralismus walten lassen . Dies tut er, indem er offen lĂ€sst, was BĂŒrger mit ihren Verwirklichungschan-cen anfangen . Zweitens kann der Capability-Ansatz die Bedeutung basaler Verwirklichungschancen wie angemessener ErnĂ€hrung, Gesundheit, Erzie-hung, sozialer Anerkennung oder politischer Partizipation betonen, ohne eine bestimmte Konzeption des Guten vorauszusetzen . Auf die Bedeutung dieser Verwirklichungschancen können sich ganz unterschiedliche Richtun-gen und Menschen einigen . Drittens mĂŒssen und können Funktionen und Verwirklichungschancen immer konkret interpretiert werden, da sie auch an kulturelle, historische und lokale Kontexte gebunden sind . Diese Kontext-sensitivitĂ€t bedeutet nicht, dass die Werte selbst relativ wĂ€ren . Damit respek-tiert eine objektive Theorie des guten Lebens, wie sie der Capability-Ansatz vertritt, Pluralismus in Form unterschiedlicher Vorstellungen eines guten Lebens .

Martha Nussbaum wie Amartya Sen (1993) bauen Respekt fĂŒr Pluralis-mus auf verschiedene Arten in ihre Konzeption ein . Erstens, indem sie die multiple Realisierbarkeit von Funktionen betonen . Die konkrete Ausgestal-tung der jeweiligen Funktionen und Verwirklichungschancen ist dabei von kulturellen, historischen und lokalen Gegebenheiten abhĂ€ngig . Zweitens, indem sie klar machen, dass die Verwirklichungschancen und nicht die Funktionen in einer Umsetzung zentral sind . Gerade in der Auslegung von Sen sind die Freiheitsaspekte besonders betont . Drittens weisen beide darauf hin, dass Werte wie Autonomie selbst universelle Werte sind . Damit etwas universell wertvoll ist, muss es aber nicht ĂŒberall und von allen geschĂ€tzt werden . Behauptet wird im Capability-Ansatz nur, dass Menschen ĂŒberall GrĂŒnde hĂ€tten, etwas als Wert zu sehen (vgl . Sen 1999b, S . 349) .

Methodologische Schwierigkeiten

Ein zweiter Kritikpunkt am Capability-Ansatz richtet sich an seine metho-dologische Struktur . So kann dem Ansatz beispielsweise vorgeworfen wer-den, er beschreibe die Interdependenzen zwischen verschiedenen Funktio-nen und Verwirklichungschancen nur ungenĂŒgend . Der Besitz der einen Freiheit kann die Realisierung einer anderen negativ beeinflussen oder aus-schließen . Beispielsweise kann der Ă€rztliche Rat fĂŒr einen Asthmatiker, einen Kurort in den Bergen aufzusuchen und dort zu leben, zu einem Verlust an

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 101

wertvollen Beziehungen fĂŒr eine Person fĂŒhren, die ihr ganzes Leben in der Großstadt verbracht und dort ein dichtes Netz an Beziehungen hat (vgl . Dietrich 2000, S . 122; Williams 2000) . Was also soll die Person nun tun? Wie sind die verschiedenen Funktionen oder Verwirklichungschancen, bei-spielsweise Freundschaften und Gesundheit, zu gewichten? Der Ansatz gibt darauf keine Antwort .

Auch stellt die Erfassung sĂ€mtlicher möglicher Verwirklichungschancen jeden, der den Ansatz operationalisieren und anwenden möchte, vor große methodologische Probleme . Verzichtet beispielsweise ein vielversprechender Jungforscher auf seine Karriere, um Zeit fĂŒr seine Familie zu haben, könnte man zwar sagen, dass er zugunsten seiner Familie auf seine Karriere verzich-tet und damit die Funktion, eine Familie zu haben, zugunsten einer anderen möglichen Option gewĂ€hlt hat . Vielleicht aber wĂ€re der junge Mann auch ein erfolgreicher Schauspieler geworden (vgl . Cohen 1995) . Man weiß also, mit anderen Worten, wenig ĂŒber die potenziellen, aber nicht verwirklichten Chancen und Möglichkeiten eines Menschen .

Die Kritik fehlender Operationalisierbarkeit richtet sich vor allem gegen Sens Konzeption und wird insbesondere von ökonomischer Seite (vgl . Sud-gen 1993) geĂŒbt, sie wird aber auch von Vertretern des Ansatzes als Schwie-rigkeit gesehen (vgl . Wolff und De-Shalit 2007) . Martha Nussbaum bei-spielsweise (2000, S . 13) wirft Sen vor, er sei Distributionsfragen gegenĂŒber inhaltlich unbestimmt . Diese Unbestimmtheit stellt laut Nussbaum ein Pro-blem fĂŒr Fragen von Verteilungsgerechtigkeit in der realen Welt dar . Die GewĂ€hrleistung effektiver Freiheiten mĂŒsse angesichts knapper Ressourcen mit der Verteilungsfrage verknĂŒpft werden . Der sozialtheoretischen Frage-stellung fehle aber ohne inhaltliche Ausgestaltung ein entscheidendes Ele-ment . Angesichts von Ressourcenknappheit gelingt es nĂ€mlich nur, eine be-schrĂ€nkte Anzahl von FĂ€higkeiten bei einer begrenzten Zahl von Individuen zu fördern (vgl . Dietrich 2000, S . 123) . Daher muss man benennen können, um welche es sich dabei handelt, und zwar hinsichtlich der Individuen, die im Fokus der Überlegungen stehen, wie auch hinsichtlich deren FĂ€higkeiten oder Fertigkeiten .

Sieht man den Ansatz aber als inhaltlich beschrĂ€nktes Unternehmen (beispielsweise auf Fragen der Behinderung) und vor allen Dingen als Heu-ristik oder methodologisches Werkzeug, dann können sich die vermeintli-chen SchwĂ€chen des Ansatzes aber auch als StĂ€rken herausstellen . Denn be-grenzt man die in Frage kommenden capabilities oder Verwirklichungs- chancen auf bestimmte, begrĂŒndete und realiter erreichbare Möglichkeiten,

102 Inklusion und Gerechtigkeit

dann erlaubt der Ansatz ein realistisches Betrachten der capabilities oder Möglichkeiten in Bezug zu aktual vorhandenen functionings oder Funktio-nen . Der Betrachtungsfokus liegt nĂ€mlich so auf der LĂŒcke zwischen mögli-chen und tatsĂ€chlichen ZustĂ€nden, Fertigkeiten oder FĂ€higkeiten, eine gera-de fĂŒr sonderpĂ€dagogische Belange hilfreiche Betrachtungsweise der lebensweltlichen Probleme behinderter Menschen bezĂŒglich Zugehörigkeit und Teilhabe . Und selbstverstĂ€ndlich kann man auch zugestehen, dass es insbesondere in der Arbeit und Begegnung mit Menschen mit Behinderung gefĂ€hrlich ist, diesen Bereich des Möglichen, des BegrĂŒndeten, der erreich-baren Chancen eng zu fassen und tendenziell diskriminierenden oder abwer-tenden BeschrĂ€nkungen zu unterliegen . Die gerade in der Arbeit mit Men-schen in AbhĂ€ngigkeitsverhĂ€ltnissen vorhandene Machtdimension muss denn auch immer wieder kritisch hinsichtlich ihrer freiheitseinschrĂ€nkenden Wirkung befragt werden .

Schwierigkeiten mit der aristotelischen Grundstruktur

Eine weitere Kritik, welche sich an die Kritik an der objektiven Grundstruk-tur anschließt, aber spezifisch an den – vor allen Dingen von Nussbaum vertretenen – Aristotelismus richtet, fokussiert auf die Grundlagen des Capa-bility-Ansatzes, welche essentialistisch und perfektionistisch seien (vgl . Gose-path 1998, S . 187f .) . Die Kritik geht dahin, dass insbesondere essentialisti-sche Aussagen oder Stoßrichtungen entweder umstritten oder trivial seien . Trivial seien sie, wenn sie Bezug auf eine geteilte BedĂŒrfnisstruktur des Men-schen nehmen wĂŒrden, darĂŒber hinausgehend umstritten, weil sie nicht mehr von allen Menschen mit guten GrĂŒnden geteilt werden könnten oder sich auf einen metaphysischen Realismus bezögen .

Diese hĂ€ufig geĂ€ußerte Kritik lĂ€sst sich allerdings meiner Ansicht nach in ihrer PauschalitĂ€t nicht halten . So kann man zwar mit Gosepath durchaus der Ansicht sein, dass Hinweise auf die universelle BedĂŒrfnisstruktur des Menschen trivial seien, sie mĂŒssen deswegen aber nicht gehaltlos sein . Gera-de weil nĂ€mlich bestimmte BedĂŒrfnisse auf den ersten Blick grundlegend und daher nicht erwĂ€hnenswert erscheinen, sind Missachtungen, beispiels-weise in Form eines Vorenthaltens von oder einer Nichtversorgung mit zen-tralen GĂŒtern zu ihrer Befriedigung, schwerwiegend . RĂŒckgriffe auf die uni-verselle BedĂŒrfnisnatur des Menschen sind also nur scheinbar trivial . In Wahrheit sind sie respektive ihre Befriedigung so grundlegend, dass sie oft nicht mehr erwĂ€hnenswert erscheinen . Dass zumindest einige BedĂŒrfnisse

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 103

auch umstritten sind, zeigt zudem nur, dass sich die Inhalte und die Art der Befriedigung derselben nur ĂŒber KĂ€mpfe gewinnen lassen (vgl . Schramme 2006, S . 225) .

In der Kritik am Capability-Ansatz muss daher zwischen der berechtig-ten Kritik an essentialistischen Annahmen und nicht berechtigter Kritik an einer schwach perfektionistischen Auslegung unterschieden werden . Denn erst in einer stark essentialistischen Auslegung wird der Capability-Ansatz, zumindest aus moderner, liberaler Sichtweise unplausibel . Dies vor allem aus folgendem Grund: Aristoteles, auf den sich Martha Nussbaum (1990) be-zieht, ging davon aus, dass jedes Wesen und jeder Gegenstand ein ergon hat, einen bestimmten Zweck, nach dem dieses streben wĂŒrde . Ein Messer bei-spielsweise hat das ergon zu schneiden . Sein Zweck liegt darin, schneiden zu können (vgl . Aristoteles 1969, Buch I) .

Nun mag die Frage nach dem ergon eines Messers noch vergleichsweise trivial sein, die Beantwortung der Frage nach dem ergon des Menschen aber gestaltet sich schwierig und fĂŒhrt zu antiliberalen Folgerungen, die zudem gerade in Bezug auf Menschen mit Behinderung fatale Folgen haben kön-nen . Denn es ist beispielsweise offen, was mit denjenigen Wesen geschieht, welche die ErfĂŒllung des ergons nicht erreichen .

Insbesondere Martha Nussbaum (1992) hat in ihren Publikationen das Problem des Essentialismus thematisiert und sich fĂŒr bestimmte Annahmen ĂŒber die menschliche BedĂŒrfnisnatur ausgesprochen, die Hilary Putnam (1980, S .  80; 1992, S .  30ff .) als â€șinternen Realismusâ€č bezeichnet . Putnam spricht sich gegen einen metaphysischen Realismus aus, insbesondere die Annahme desselben, dass es genau eine wahre und vollstĂ€ndige Beschreibung des Seins in der Welt gĂ€be . Er postuliert demgegenĂŒber, dass es möglich sei, Aussagen ĂŒber die menschliche BedĂŒrfnisnatur zu machen, die zwar kultu-rell geprĂ€gt seien, aber in ihrem Kern dennoch kulturell unabhĂ€ngig . Die essentialistischen Aussagen einer Theorie des guten Lebens mĂŒssen sich da-her auf die Ebene der menschlichen GrundbedĂŒrfnisse beschrĂ€nken . Ob eine solche Theorie aber noch als essentialistisch bezeichnet werden kann, ist fraglich, denn ein Essentialismus behauptet ja im Kern, der Mensch habe eine Zweckbestimmung, ein ergon .

Die Kritik am Capability-Ansatz greift nun nicht gleichermaßen bei der perfektionistischen Ausrichtung des Ansatzes . Hier zeigt sich, dass zumin-dest eine schwache – oder in Thomas Schrammes Worten20 negative – Ausle-gung unverzichtbar und auch plausibel ist . Der negative Perfektionismus

20 FĂŒr diese wichtige KlĂ€rung bedanke ich mich bei Thomas Schramme .

104 Inklusion und Gerechtigkeit

stellt die Frage ins Zentrum, was ein schlechtes Leben sei . Er geht damit von der Grundannahme aus, dass vor allen Dingen vermieden werden muss, dass Menschen ein schlechtes Leben fĂŒhren, wĂ€hrend ĂŒber sicherlich weiterfĂŒh-rende Forderungen eines guten Lebens Dissens bestehen kann . Ein schlech-tes Leben ist nicht nur eines, in welchem bestimmte menschliche Grundbe-dĂŒrfnisse nicht gedeckt sind, sondern auch eines, in dem Menschen keine PlĂ€ne und Ziele verfolgen können, weil ihnen die Verwirklichungschancen dazu fehlen . Damit weist dieser Ansatz auf die Minimalbedingungen eines gelingenden Lebens hin und bestimmt diese in einem ĂŒbergreifenden Ver-stĂ€ndnis des Menschen als entwicklungsfĂ€higes Wesen, dessen Grundlagen der Selbstentwicklung nicht geschĂ€digt werden dĂŒrfen . Ein solcher Ansatz ist konsensunabhĂ€ngig respektive objektiv, da die Bedeutung solcher Ent-wicklungsbedingungen von allen anerkannt werden kann .

Die Notwendigkeit zumindest schwacher perfektionistischer Annahmen zeigt sich insbesondere in der pĂ€dagogischen Ausrichtung respektive in der Anwendung der Frage nach der Gestalt und dem Inhalt menschlichen Wohl-ergehens . Denn ein perfektionistischer Ansatz ist immer auch prospektiv . Das heißt, er nimmt Ziele menschlicher Entwicklung in den Fokus (vgl . Jentsch 2010, S . 782) . Eine solche Fokussierung ist pĂ€dagogischen Theorien nicht nur nicht fremd (vgl . Hanselmann 1941), es setzt sie geradezu voraus, denn Bildung und Erziehung setzen einerseits an bestimmten anthropologi-schen Grundannahmen an und sind andererseits selbst zielorientiert . Damit ergibt sich ein – wenn auch schwacher – pĂ€dagogischer Perfektionismus zwangslĂ€ufig .

Die berechtigte Kritik an einer essentialistischen Auslegung des Capabi-lity-Ansatzes fĂŒhrt also zur Einsicht, dass nur eine schwache perfektionisti-sche Grundstruktur behalten werden darf, welche Ziele und GĂŒter impli-ziert, die Menschen nicht vorenthalten werden dĂŒrfen . Damit vermeidet man eine unplausible Auslegung des essentialistischen Aristotelismus respek-tive des metaphysischen Realismus . Eine ĂŒberzeugende Auslegung des Capa-bility-Ansatzes trifft daher zwar Annahmen bezĂŒglich einer universalistischen BedĂŒrfnisstruktur des Menschen und nimmt einen schwach perfektionalisti-schen Zug an, vermeidet aber einen Essentialismus in starker Form .

Begriffliche Schwierigkeiten

Die begrifflichen Schwierigkeiten des Ansatzes, welche wiederum konzepti-onelle Probleme auslösen, beruhen auf der Verwendung des Begriffes capabi-

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 105

lity in seiner englischsprachigen Originalversion . Erstens stĂŒtzt sich dieser nĂ€mlich auf die alltagssprachliche Verwendung von capability (auf Deutsch: FĂ€higkeit), weicht dann aber im Gebrauch innerhalb der theoretischen Kon-zeption von diesem AlltagsverstĂ€ndnis deutlich ab . Damit verĂ€ndert sich die Bedeutung des Begriffs gegenĂŒber der Alltagsverwendung . Diese VerĂ€nde-rung kann in einer deutschen Übersetzung durch den Kunstbegriff Verwirk-lichungschancen gut gekennzeichnet werden . In der englischen Originalfas-sung aber wird die Doppeldeutigkeit beibehalten . Damit wird einer sehr heterogenen, uneinheitlichen Verwendung des Konzepts, auch bei seinen zwei Hauptvertretern Martha Nussbaum und Amartya Sen, Vorschub geleis-tet .21 Denn beide Vertreter sind in der Verwendung der Begriffe inkonsistent und tragen die inhĂ€rente Doppeldeutigkeit gegenĂŒber der Alltagsverwen-dung weiter, statt sie begrifflich zu klĂ€ren .

So zeigt eine Analyse, dass Nussbaum wie Sen drei verschiedene Bedeu-tungen von capability verwenden: capability als FĂ€higkeit22, capability als Po-tential23 und capability in einem aristotelischen VerstĂ€ndnis als ergon oder Funktion .24 Diese unterschiedlichen VerstĂ€ndnisse werden meistens durch einen Freiheitsaspekt ergĂ€nzt, der wiederum sehr unterschiedlich akzentuiert sein kann . So spricht Sen in der Umschreibung von capabilities abwechs-lungsweise von »social opportunities« oder sozialen Möglichkeiten (1993, S . 33), »choice« oder Wahl (ebd ., S . 31), »freedom to choose a certain lifestyle« oder Freiheit einen bestimmten Lebensstil zu wĂ€hlen (1999a, S . 75), »real opportunities« oder echten Möglichkeiten (2009, S . 231) sowie »actual free-dom« oder aktueller Freiheit (1990, S . 114) . In der Folge ergeben sich grund-sĂ€tzlich viele verschiedene Möglichkeiten, capability zu definieren . Die ge-naue Begriffsverwendung respektive das damit verbundene Konzept bleiben damit diffus .

Im Folgenden möchte ich fĂŒr eine komplexere, aber auch genauere Ver-wendungsweise von capabilities oder Verwirklichungschancen plĂ€dieren . Diese beruht auf einem Vorschlag von Jonathan Wolff und Avner De-Shalit

21 Teilweise werden die beiden Termini auch verwechselt . So schreibt Martha Nussbaum beispielsweise an einer Stelle in ihrem Buch Women and Human Development (2000, S . 5), Verwirklichungschancen oder capabilities bezeichneten das, »what people are actually able to do and be .« Diese Definition ist aber diejenige von Funktionen oder functionings .

22 Beispielsweise in Sen (1993, S . 30 und 33) . 23 Dies wird sichtbar in Nussbaums VerstĂ€ndnis von basic capabilities (vgl . Nussbaum 2000,

S . 84) . Sen vertritt diese Sichtweise nicht . 24 Dies wird vor allem in Nussbaums AusfĂŒhrungen zu den aristotelischen Grundlagen des

Ansatzes deutlich (vgl . beispielsweise Nussbaum 1990) .

106 Inklusion und Gerechtigkeit

(2007; Wolff 2009), die von genuine opportunities for secure functioning spre-chen, also substanziellen Möglichkeiten, sichere Funktionen oder FÀhigkei-ten erreichen zu können .

4 .4 .3 Ein modifizierter Capability-Ansatz

Der modifizierte Ansatz geht von folgenden Annahmen aus: Die Möglich-keiten, die ein Mensch in seinem Leben hat, sind von drei verschiedenen Faktoren abhĂ€ngig – internen Ressourcen (oder internen Vermögen und FĂ€-higkeiten), externen Ressourcen (GĂŒtern im umgangssprachlichen Sinn) so-wie der sozialen, kulturellen und materiellen Struktur der Gesellschaft, in der sich dieser Mensch befindet (vgl . Wolff 2009) . Eine Behinderung, wie ich sie im Wohlergehensmodell entwickelt habe, bedeutet erstens eine SchĂ€-digung der internen Ressourcen respektive der Körperfunktionen und Kör-perstrukturen, die zu BeeintrĂ€chtigungen der Partizipation und AktivitĂ€t fĂŒhren können, zweitens – hinzukommend – fehlende oder inadĂ€quate Möglichkeiten (UmstĂ€nde), die drittens in der Folge zu einer Reduktion des objektiven Wohlergehens fĂŒhren . Fehlende oder geschĂ€digte interne Res-sourcen in Verbindung mit inadĂ€quaten oder fehlenden externen Ressourcen und mangelhaften beziehungsweise fehlenden Strukturen behindern das Le-ben dieser Menschen und können zu einer Reduktion ihres Wohlergehens fĂŒhren .

Der Capability-Ansatz ermöglicht nun eine Analyse des Wohlergehens, einerseits in Hinblick auf die Verwirklichungschancen oder Freiheitsgrade von Menschen, andererseits dahingehend, was sie tun und sein können, ih-ren Funktionen . Besonders der Frage, welche Möglichkeiten oder Chancen respektive welche substanziellen Freiheiten Menschen haben, kommt dabei eine große Bedeutung zu . Was an dieser Stelle interessiert, sind nĂ€mlich die wirklichen, genuinen Möglichkeiten, nicht bloß die formalen (vgl . Wolff 2009, S . 119) . Dahingehend, die substanziellen Freiheiten von Menschen zu betonen, muss der Capability-Ansatz also erstens revidiert werden . Freiheit wird damit an eine objektive Theorie des guten Lebens gebunden . Im Blick-winkel ist die Vermeidung von Leiden, die mit der NichterfĂŒllung von sub-stanziellen Freiheiten zwangslĂ€ufig einhergeht .

Zweitens muss der Capability-Ansatz noch in anderer Hinsicht revidiert werden . Um nÀmlich zu sehen, welches die wirklichen, genuinen Möglich-keiten von Menschen sind, muss man auch verstehen, welchen Risiken Men-

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 107

schen ausgesetzt sein können . Nach Wolff und De-Shalit (2007) können drei verschiedene Arten von Risiken unterschieden werden: Risiken spezifi-scher Funktionen, Übertragungsrisiken (cross-category risks) sowie umgekehr-te Übertragungsrisiken (inverse-cross-category risks). Die Risiken und ihre Bedeutung fĂŒr das Leben von Menschen mit Behinderung können exempla-risch aufgezeigt werden .25

Risiken spezifischer Funktionen

Menschen mit Behinderung haben erstens Risiken spezifischer Funktionen, beispielsweise das Risiko, dass sich ihr Zustand verschlechtert oder dass neue Komplikationen bei ihren SchÀdigungen hinzukommen .26 Dieses Risiko ist bedeutend höher als bei nicht behinderten Menschen, einerseits, weil bereits eine SchÀdigung vorhanden ist, andererseits, weil viele Krankheiten und Be-hinderungen chronisch sind und die Möglichkeit der Verschlechterung des Gesundheitszustandes in sich bergen .

Übertragungsrisiken

Zweitens sind Menschen mit Behinderung VerĂ€nderungen in der Umwelt stĂ€rker ausgesetzt als nicht behinderte Menschen . So schildert Anita Silvers (1998, S . 107ff .), dass die Umstellung von Microsoft von DOS auf Windows fĂŒr viele blinde Menschen bedeutete, dass sie nicht mehr mit dem Computer arbeiten konnten, zumindest so lange nicht, bis blindengerechte Vorlesesys-

25 Die Risiken, dass Menschen, die bereits gefĂ€hrdet sind oder die bereits wenig haben, ten-denziell stĂ€rker weiteren GefĂ€hrdungen ausgesetzt sind, ist auch unter dem Namen Matil-da-Effekt bekannt (vgl . Rossiter 1993) . Menschen, die ĂŒber einen eingeschrĂ€nkten Zugang zu FĂ€higkeiten verfĂŒgen, sind sozial verwundbar . Arbeitslose Menschen beispielsweise bauen oft auch aus dem Grund FĂ€higkeiten ab, weil ihre IdentitĂ€t beschĂ€digt ist und sie die (nicht nur Ă€ußeren, sondern auch inneren) Voraussetzungen zur Kultivierung und dem Erhalt von FĂ€higkeiten nicht mehr mitbringen . Der Matilda-Effekt kann zudem stĂ€rker da einsetzen, wo Menschen bereits gesellschaftlich unter EinschrĂ€nkungen sozialer Wert-schĂ€tzung leiden, wie dies bei behinderten Menschen oft der Fall ist (vgl . Sedmak 2011, S . 33) .

26 So sind beispielsweise Tom Shakespeares RĂŒckenschmerzen Folge seiner SchĂ€digung des Erbguts, die das Knochenwachstum behindert . N .Es Verhaltens- und Konzentrationspro-bleme sind Folgen ihrer schweren SchĂ€del-Hirn-Verletzung .

108 Inklusion und Gerechtigkeit

teme entwickelt wurden . Risiken können sich also von einem Bereich (Tech-nik) auf andere Bereiche ĂŒbertragen (Arbeit) und sich auch verstĂ€rken .

Besonders auf die spezifischen VerstĂ€rkungsprozesse bei Behinderung weisen zahlreiche Studien hin . So haben Menschen mit Behinderung ein deutlich höheres Risiko, arm zu werden, ihre Arbeit zu verlieren oder Opfer von Gewalt zu werden . Dabei sind die Beziehungen Ă€ußerst komplex, wie an einigen Studien exemplarisch gezeigt werden kann: Beispielsweise kann Ar-mut eine Ursache von Behinderung, aber auch umgekehrt Behinderungen eine Ursache von Armut sein . Einerseits kann Armut eine Ursache von Be-hinderung sein, weil arme Menschen einer Reihe von schĂ€dlichen Umwelt-faktoren und psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind, denen Menschen, die nicht arm sind, nicht ausgesetzt sind . Armut ist zudem ein Risikofaktor fĂŒr FrĂŒhgeburten sowie geringes Geburtsgewicht . Diese stellen ihrerseits wiederum Risikofaktoren fĂŒr Behinderungen dar . Andererseits fĂŒhrt die Hil-fe fĂŒr und Pflege eines Angehörigen mit Behinderung zu unterschiedlichen Kosten fĂŒr die Familien (vgl . Emerson 2007) . Zu Armut können erstens die direkten Kosten fĂŒr Rehabilitationen, Therapien, Hilfsmittel, Transport und Reisen fĂŒhren . Zweitens entstehen indirekte Kosten fĂŒr diejenigen, welche nicht direkt betroffen sind, in der Regel Angehörige . Diese meist weiblichen Angehörigen erleben nicht selten aufgrund der Zeit, welche die Pflege und Betreuung ihres Familienmitgliedes in Anspruch nimmt, Ausschluss aus dem oder zumindest Reduktion des Erwerbslebens . Drittens können auch Op-portunitĂ€tskosten wegen des Einkommensverlustes aufgrund der Behinde-rung zu Armut fĂŒhren (vgl . Department for International Development 2000; Emerson 2007) . Menschen mit Behinderung sind damit nicht nur hĂ€ufiger von Armut betroffen, weil sie weniger oft Arbeit haben, ihr Bedarf an materiellen und anderen Ressourcen ist zudem auch grĂ¶ĂŸer als der von nicht behinderten Menschen . Dies, weil Menschen mit Behinderung mehr Ressourcen und Hilfe benötigen, um denselben Lebensstandard zu erreichen wie Menschen ohne Behinderung . Von diesen Faktoren betroffen sind, wie bereits erwĂ€hnt, in der Regel auch Angehörige, da sie Hilfe, Zeit und andere Ressourcen aufwenden, um ihren Familienmitgliedern ein gutes Leben zu ermöglichen .

Die sich wechselseitig verstĂ€rkenden Faktoren sozialen Ausschlusses zei-gen sich auch im Arbeitsmarkt . In einer Studie mit 2000 Befragten mit Be-hinderung fĂŒhrte ĂŒber ein Viertel der Befragten, die ihre Arbeit aufgrund der Behinderung verloren hatten, aus, es wĂ€re fĂŒr sie möglich gewesen, ihre Ar-beit behalten und weiterhin ausfĂŒhren zu können, wenn Anpassungen am

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 109

Arbeitsplatz vorgenommen worden wĂ€ren . Weniger als ein FĂŒnftel der Be-fragten aber gab an, dass ihnen ein solches Angebot fĂŒr Anpassungen ge-macht worden wĂ€re (vgl . Meager et al . 1998) . In derselben Studie sagten 16% der arbeitslosen Befragten mit Behinderung, sie hĂ€tten Diskriminierungen und unfaire Behandlungen am Arbeitsplatz erlebt . Die hĂ€ufigsten Formen unfairer Behandlung waren dabei: die Vorannahme, sie könnten die Arbeit weniger gut als eine Person ohne Behinderung erledigen sowie eine starke Fokussierung auf die BeeintrĂ€chtigung statt auf die FĂ€higkeiten der Person .

Bereits eine Arbeit zu finden ist fĂŒr Menschen mit Behinderung schwie-riger als fĂŒr nicht behinderte Menschen . Ein Drittel aller, die eine Arbeit finden, so eine britische Studie, verliert sie im selben oder folgenden Jahr wieder (vgl . Burchardt 2000b) . Zwar sind die personellen und arbeitscharak-teristischen Merkmale Ă€hnlich wie bei anderen marginalisierten Gruppen, sie treten aber bei Menschen mit Behinderung schĂ€rfer zu Tage . Letztere verlieren ihre Arbeit schneller und haben grĂ¶ĂŸere MĂŒhe, neue Arbeit zu fin-den . Eine ebenfalls von Tania Burchardt (2005) in Großbritannien durchge-fĂŒhrte Studie zeigte, dass Jugendliche mit wie ohne Behinderung im Allge-meinen sehr Ă€hnliche Erwartungen betreffend Berufsvorstellungen und -aussichten Ă€ußerten . Bei beiden Gruppen waren diese WĂŒnsche stark beein-flusst durch den Bildungs- und Klassenhintergrund der Eltern . Mit 26 aber waren die jungen Erwachsenen mit Behinderung viermal hĂ€ufiger arbeitslos als ihre nicht beeintrĂ€chtigten Altersgenossen . 39% der Menschen mit Be-hinderung waren unterhalb des Levels, den sie zehn Jahre zuvor angestrebt hatten, verglichen mit 28% der nicht behinderten jungen Erwachsenen . Der Einfluss dieser frustrierten Erwartungen war dabei signifikant: Die jungen Menschen mit Behinderung hatten weniger Vertrauen in die eigene Leis-tung, waren hĂ€ufiger krank, hatten ein geringeres subjektives Wohlbefinden und weniger Glauben an die Möglichkeiten, im Leben etwas selbst bestim-men zu können .

Zahlen aus Deutschland (sowie anderen westeuropĂ€ischen LĂ€ndern) zeichnen ebenfalls ein dĂŒsteres Bild, was die Eingliederung behinderter Menschen in die Arbeitwelt betrifft . Trotz der gesetzlichen BeschĂ€ftigungs-pflicht ging in Deutschland die BeschĂ€ftigungsquote behinderter Menschen von den 1980-er Jahren bis ins Jahr 2000 stetig zurĂŒck . Heute ist die Arbeits-losenquote schwer behinderter Erwerbspersonen in Deutschland etwa dop-pelt so hoch wie diejenige nicht behinderter Erwerbspersonen . Das grĂ¶ĂŸte Risiko, keine Arbeit zu finden, haben Menschen mit kognitiven Behinde-

110 Inklusion und Gerechtigkeit

rungen, psychisch Kranke und Menschen mit schweren mehrfachen Behin-derungen (vgl . Maschke 2003, S . 169) .

Das Risiko einer GefĂ€hrdung oder des Verlusts einer bestimmten Funk-tion springt dabei, wie die Studien zeigen, auf andere Funktionen ĂŒber und gefĂ€hrdet diese ebenfalls . Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine bestehende BeeintrĂ€chtigung das Risiko ansteigen lĂ€sst, arm zu werden . In der Folge sind nicht nur Körperfunktionen und -strukturen gefĂ€hrdet, son-dern auch die materielle Sicherheit .

Umgekehrte Übertragungsrisiken

Drittens können die BemĂŒhungen, eine Funktion zu sichern, eine andere gefĂ€hrden . Eine Person, die sich tagtĂ€glich den Diskriminierungen am Ar-beitsplatz aussetzt, riskiert psychische Folgen, die sie vermeiden könnte, wenn sie zu Hause bliebe . Diejenigen, welche sich in der Verrichtung der alltĂ€glichen Arbeiten von anderen abhĂ€ngig machen, riskieren die Möglich-keit, ausgenĂŒtzt zu werden . In Tom Shakespeares Fall gefĂ€hrdet das stĂ€ndige Anstarren und Auslachen durch andere Menschen sein psychisches Wohlbe-finden . Dieser GefĂ€hrdung kann er sich entziehen, indem er zu gewissen Zeiten nicht aus dem Haus geht . Dies aber bedeutet eine EinschrĂ€nkung seiner Bewegungsfreiheit .

Der Fokus der BemĂŒhungen um Verwirklichungschancen

Man weiß also erst dann, welches die wirklichen, genuinen Möglichkeiten von Menschen sind, wenn man auf die Kosten schaut, welche Menschen auf-grund des WĂ€hlens haben . Diese Kosten sind die Risiken . Genuine Möglich-keiten fĂŒr sichere Funktionen sind somit solche, bei denen Menschen kei-nem außergewöhnlichen Risiko im Erwerb oder der AusĂŒbung bestimmter Funktionen ausgesetzt sind . Genau darauf sollte das geschĂ€rfte Konzept von Verwirklichungschancen fokussieren .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 111

4 .5 Fazit

Das Kapitel hat die sich bereits im dritten Kapitel abzeichnende Feststellung, dass die Problematik von Behinderung in der Reduktion von objektivem Wohlergehen und nicht subjektivem Wohlbefinden liegt, geschĂ€rft, vertieft und begrĂŒndet . Der BegrĂŒndungsweg hat mich dabei ĂŒber die Ablehnung von hedonistischer Theorie und Wunschtheorie des guten Lebens hin zu ei-ner objektiven Theorie gefĂŒhrt . Als bestimmte Auslegung einer solchen ob-jektiven Theorie kann der Capability-Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum gesehen werden . Dieser sieht in den Verwirklichungschancen, den capabilities, die Freiheiten von Menschen, dasjenige Leben zu wĂ€hlen, das sie mit guten GrĂŒnden verfolgen möchten . Der objektive Zug der Theo-rie besteht in den GrĂŒnden, die man fĂŒr den Vorzug einer bestimmten Lebensweise anbringen kann . Mit Hilfe der Verwirklichungschancenorien-tierung gerĂ€t die Handlungsfreiheit von Menschen ins Zentrum der Über-legungen . Dies ist insbesondere bei Menschen mit Behinderung wichtig, welche oft unter EinschrĂ€nkungen ihrer Selbstbestimmung leiden . Eine Ein-schrĂ€nkung zeigt sich beispielsweise daran, dass ihre BedĂŒrfnisse zwar ge-deckt sein können, sie aber aufgrund fehlender Freiheiten darin einge-schrĂ€nkt sind, eigene PlĂ€ne und Ziele zu entwickeln und umzusetzen .

Berechtigte Kritik am Capability-Ansatz hat weiter gezeigt, dass nur eine Auslegung, welche einen Essentialismus weitgehend vermeidet, nur schwach perfektionistisch argumentiert und deren VerstĂ€ndnis des Begriffs capability geschĂ€rft werden kann, plausibel ist . Die Kritik, wonach der Ansatz auf-grund seiner ObjektivitĂ€t abzulehnen sei, kann aber mit guten GrĂŒnden wi-derlegt werden . Der Ansatz kann nĂ€mlich Pluralismus in seiner Auslegung zugestehen . Er kann auch offen lassen, was Menschen mit ihren Verwirkli-chungschancen tatsĂ€chlich anfangen, und er kann historisch und kulturell sensitiv interpretiert werden . Auch die methodologischen Schwierigkeiten können beseitigt werden, solange man den Ansatz als methodologische Heu-ristik und nicht als Rezeptbuchsammlung versteht .

Der modifizierte Capability-Ansatz, welcher auf die begrĂŒndete Kritik antwortet, grenzt die Verwirklichungschancen auf substanzielle ein, die ge-messen werden an Vorstellungen menschlichen Leidens . Nach dem ange-passten Ansatz mĂŒssen vor allen Dingen drei Risiken vermieden werden: erstens Risiken, die in bestimmten SchĂ€digungen und BeeintrĂ€chtigungen selbst liegen . Zweitens mĂŒssen Risiken vermieden werden, die man als Über-tragungsrisiken von bestimmten Funktionen auf andere verstehen kann .

112 Inklusion und Gerechtigkeit

Diese können, und das kennzeichnet ein drittes Risiko, auch umgekehrt ver-laufen . Menschen mit Behinderung, so zeigen empirische Studien, leiden unter allen drei Risikoprozessen stÀrker und in anderer Form als Menschen ohne Behinderung .

Menschen mit Behinderung leiden, und das ist im Kern ihre Behinde-rung, an einer Reduktion des (objektiven) Wohlergehens . Es ist aber an die-ser Stelle wichtig zu betonen, dass das nun nicht bedeutet, dass Wohlergehen gesamthaft fĂŒr behinderte Menschen reduziert wĂ€re oder dass Wohlergehen gar nicht mehr möglich wĂ€re . Es heißt somit beispielsweise nicht, dass ihr Leben nutzlos wĂ€re, im Gegenteil . Ein Leid fĂ€llt aber auch nicht einfach weg, wenn es einem in vielen Hinsichten gut geht (vgl . Schramme 2003a, S . 188) . Leiden und damit die Reduktion des Wohlergehens kann vielmehr partiku-lar sein und nur bestimmte objektiv wichtige Aspekte des menschlichen Le-bens betreffen – beispielsweise Kommunikation, MobilitĂ€t oder Wahrneh-mungsfĂ€higkeit – es ist aber nichts desto trotz ein Leid, das es ernst zu nehmen und zu bekĂ€mpfen gilt .

Mit diesen Überlegungen ist der Grundstein fĂŒr das eigentliche Haupt-stĂŒck der Arbeit gelegt . Der begriffliche Werkzeugkasten, der dafĂŒr notwen-dig ist, ist vorhanden . Ich habe im Zuge meiner Überlegungen geklĂ€rt, was ein moralisches Recht ist, was die normative Problematik an einer Behinde-rung ist und was man unter menschlichem Wohlergehen verstehen soll . Be-vor ich zum zweiten Teil der Arbeit ĂŒbergehe, welcher die Struktur und die normative Relevanz von Inklusion zum Inhalt hat, möchte ich noch einmal den bisherigen Erkenntnisstand zusammenfassen .

Die formalen Überlegungen zum Begriff und der Struktur von morali-schen Rechten haben gezeigt, dass mit Rechten wichtige Interessen von Menschen respektive menschliches Wohlergehen geschĂŒtzt werden . Diese Interessen umfassen einerseits menschliche BedĂŒrfnisse, andererseits PlĂ€ne und Ziele von Menschen . Das dritte Kapitel hat gezeigt, dass die normative Problematik, der Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind, darin besteht, dass ihr Wohlergehen gefĂ€hrdet ist . Der Capability Ansatz hat diese Aus-gangslage nochmals geschĂ€rft . Was also im Zentrum steht, ist die GefĂ€hr-dung der Deckung von BedĂŒrfnissen und damit menschlicher, universell geteilter Grundvoraussetzungen fĂŒr menschliches Leben . Und zweitens sind auch PlĂ€ne und Ziele – und damit freiheitsrelevante Aspekte des menschli-chen Lebens – gefĂ€hrdet . Insbesondere Menschen mit Behinderung sind hier diversen Risiken ausgesetzt . Unter anderem ist dies deshalb der Fall, weil ihnen interne Ressourcen, externe Ressourcen und/oder soziale, kulturelle

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 113

oder materielle Strukturen fehlen, die sie fĂŒr ihr Wohlergehen benötigen wĂŒrden .

Die Herausforderung des zweiten Teils der Arbeit liegt darin, aufzuzei-gen, in welcher Verbindung diese Risiken zu Inklusion stehen . Zuerst aber gilt es, den Inklusionsbegriff zu klÀren (Kapitel 5) . In der Frage der normati-ven Relevanz von Inklusion (Kapitel 6) werden dann die FÀden, die ich bis dahin zu stricken begonnen habe, wieder aufgenommen und weiter getra-gen .

Teil II: Inklusion

Einleitung

Der zweite Teil der Arbeit widmet sich dem Konzept von Inklusion . In der AusfĂŒhrung trenne ich die Struktur von Inklusion (Kapitel 5) von ihrer nor-mativen Relevanz (Kapitel 6) . Die Trennung der deskriptiven von der nor-mativen Ebene hat neben der Reduktion von KomplexitĂ€t vor allem den Vorteil, dass es so möglich ist, in der normativen Analyse RĂŒckgriff auf die Struktur zu nehmen .

Die Trennung ist im Besonderen bei sogenannt dicken moralischen Be-griffen wie Inklusion wichtig . Solche Begriffe haben sowohl deskriptiven wie auch normativen Gehalt . Exemplarisch lĂ€sst sich die Bedeutung dieser Tren-nung am Aspekt der Anerkennung als Element von Inklusion zeigen . Aner-kennung kann als soziale Reaktion auf individuelle ZugehörigkeitsgefĂŒhle sowohl deskriptiv als auch normativ verstanden werden . In einem deskripti-ven Sinn meint sie Identifikation, in einem normativen Sinn recognition .1 Mit Identifikation ist zunĂ€chst nur gemeint, dass man jemanden als zu einer Gemeinschaft zugehörig identifiziert, ohne allerdings – wie bei Anerken-nung im Sinne von recognition – diese Zugehörigkeit moralisch zu bewerten . Das erste, Identifikation, ist zweifelsohne Voraussetzung fĂŒr das zweite, die eigentliche normative Anerkennung, welche meint, dass eine Person nicht nur als etwas erkannt, sondern auch an-erkannt, das heißt positiv bestĂ€tigt wird .2

1 Da die deutsche Sprache nur einen Begriff kennt, der sowohl die deskriptive wie auch die normative Verwendungsweise abdeckt, nÀmlich Anerkennung, benutze ich zur Kenn-zeichnung des normativen Gehalts an dieser Stelle den englischen Begriff recognition .

2 Eine moralische Bewertung, die ĂŒber Identifikation hinausgeht, könnte die LegitimitĂ€t der Zugehörigkeit oder die LegitimitĂ€t der Kriterien zur Zugehörigkeit umfassen .

118 Inklusiion und Gerechtigkeit

Vorgehen

Die nĂ€chsten beiden Kapitel nehmen in ihren Ausgangspunkt in Annah-men, die ich anschließend unter BerĂŒcksichtigung verschiedener theoreti-scher AnsĂ€tze ausfĂŒhre . Damit wĂ€hle ich ein anderes Vorgehen als in den letzten Kapiteln, das sich vorwiegend direkt an Theorien und Debatten ori-entierte . So galt es beispielsweise bei der Frage danach, was man unter Behin-derung in normativem Sinn verstehen soll, die gĂ€ngigen Diskussionen um medizinische und soziale Modelle zu untersuchen . Diese fĂŒhrten von der Feststellung, dass beide ZugĂ€nge fĂŒr den vorliegenden Zusammenhang un-genĂŒgend sind, hin zur Entwicklung eines an die ICF angelehnten normati-ven Wohlergehensmodells von Behinderung .

Ein Vorgehen anhand bereits bestehender DiskursstrÀnge ist aber in der Analyse der Struktur und der normativen Relevanz von Inklusion nicht mit diesem direkten Zugang möglich . Dies, weil sich in den in Frage kommen-den Disziplinen, insbesondere der SonderpÀdagogik, bislang keine relevante Diskussion zur Struktur und zum normativen Gehalt von Inklusion gebildet hat, die der Analyse des Begriffs besondere Beachtung hÀtte zukommen las-sen .3

FĂŒr die vorliegende Arbeit gewinnbringende ZugĂ€nge zum Konzept und zur normativen Bedeutung von Inklusion finden sich aber in zwei anderen Disziplinen, der Soziologie und der Philosophie . Beide Disziplinen legen dabei ein unterschiedliches Schwergewicht, das mit ihren Ausrichtungen zu tun hat . WĂ€hrend sich die Soziologie vor allen Dingen als deskriptiv-be-schreibende Wissenschaft versteht, wĂ€hlt die Philosophie, insbesondere die Ethik als Teildisziplin der Philosophie, oft eine normative Herangehenswei-se . Beide ZugĂ€nge sind fĂŒr den vorliegenden Zusammenhang brauchbar, allerdings auch mit Schwierigkeiten verbunden .

Der philosophische Zugang verwendet das Konzept von Inklusion meist nur implizit, in Verbindung mit anderen Werten, deren normative Gehalte

3 Damit setze ich zweifelsohne eine sehr hohe Messlatte in punkto BegrĂŒndung der Struktur und der normativen Relevanz von Inklusion . Es ist ja beispielsweise nicht so, dass in der sonderpĂ€dagogischen Debatte Inklusion nicht definiert wĂŒrde . Meist aber stellen die De-finitionen – intuitiv einsichtige – Annahmen dar und werden nicht weiter begrĂŒndet . In-klusion ist in der SonderpĂ€dagogik mittlerweile ein konsensueller Containerbegriff und als solcher oft auch unhinterfragt . Insbesondere werden die Definitionen von Inklusion nicht auf ihre normativen Konsequenzen hin befragt . Die kategoriale Analyse, darunter auch die Herleitung der normativen Implikationen des Begriffs, steht aber im Folgenden im Zent-rum .

Inklusion: Einleitung 119

die Autoren eruieren möchten . Anders als bei anderen dicken moralischen Begriffen wird aber der deskriptive Gehalt von Inklusion selbst selten offen gelegt .4 In der Soziologie wiederum ist es umgekehrt . Zwar wird der deskrip-tiven und vor allen Dingen empirischen Dimension von Inklusion viel Raum gewidmet, die normative Relevanz von Inklusion aber ist nicht – oder zu-mindest nicht direkt – Gegenstand soziologischer Untersuchungen .

Der Inklusionsbegriff in der Philosophie

Ist in philosophischen ZusammenhĂ€ngen von Inklusion die Rede, werden die Struktur und die Relevanz des Konzepts meist erst durch die BezĂŒge zu anderen Konzepten, beispielsweise Anerkennung, Gleichheit oder Freiheit, deutlich . Dies ist zwar bei dicken moralischen Begriffen, wie es Inklusion zweifelsohne darstellt, ĂŒblich . Das Problem ist daher nicht, dass die norma-tive Relevanz von Inklusion nur indirekt ersichtlich wird . Das Problem ist vielmehr, dass der Begriff und die Struktur von Inklusion – und damit die deskriptive Dimension des Konzepts – unterbeleuchtet bleiben .

Ein gutes Beispiel fĂŒr einen solchen impliziten Zugang zu Inklusion ist die Monografie Deprivation and Freedom von Richard Hull (2007) . Darin argumentiert Hull, dass das Problem mangelnder Inklusion fĂŒr viele Men-schen darin besteht, dass sie keinen effektiven Gebrauch ihrer theoretisch zugesicherten Freiheit machen können . Dies geschieht nach Ansicht von Hull beispielsweise dadurch, dass ihnen der Zugang zu bestimmten GĂŒtern faktisch verwehrt bleibt, obwohl sie theoretisch die Freiheit dazu genießen könnten, beispielsweise, indem sie ein Recht auf das Gut haben . Menschen, denen Ressourcen wie Zeit oder elementare GĂŒter wie Bleistifte oder BĂŒcher fehlen, können vom Gut der Bildung trotz formalem Recht darauf keinen Gebrauch machen . Indem der Zugang zu GĂŒtern wie Bildung faktisch nicht gewĂ€hrleistet ist, ist laut Hull die gewĂ€hrte Freiheit nur eine formal-theore-tische und keine inhaltlich-substanzielle .

4 Eine einzige von mir eruierte Ausnahme stellt der philosophische Text von Heikki IkĂ€-heimo (2009) dar . In diesem fokussiert IkĂ€heimo insbesondere auf die Struktur und die Bedeutung von Anerkennungsprozessen fĂŒr Inklusion, dargestellt am Beispiel Behinde-rung . Beispiele philosophischer Denker, die indirekt die Struktur und Bedeutung von Inklusion analysieren, sind Elizabeth Anderson (1999), Allen Buchanan (1993), Richard Hull (2007), Martha Nussbaum (2006a), Hans Reinders (2000) und Iris Marion Young (2000) .

120 Inklusiion und Gerechtigkeit

Die Argumentation von Richard Hull ist ĂŒberzeugend . Die BegrĂŒndung, und das ist der Punkt, lĂ€uft aber nicht ĂŒber Inklusion, sondern ĂŒber zwei andere normative Konzepte: Deprivation und Freiheit . In diesen liegt die eigentliche BegrĂŒndungsleistung und hierin lĂ€sst sich auch die – implizite – Verbindung zu Inklusion sehen . Hull liefert aber keine Elaboration und Dis-kussion des Konzepts Inklusion als solches, vor allen Dingen nicht hinsicht-lich seines deskriptiven Gehalts . Die vorliegende Untersuchung will in diesem Punkt weiter gehen und die konstitutiven Elemente von Inklusion ebenso wie die normative Relevanz von Inklusion beleuchten . Dies erscheint mir deshalb notwendig, weil damit sowohl der deskriptive Beschreibungsge-halt wie auch der normative Bedeutungsgehalt eruiert werden können . Es ist so möglich, Inklusionsprozesse und -zustĂ€nde einerseits deskriptiv zu be-schreiben, andererseits auch normativ zu bewerten .

Der philosophische Zugang ist gewinnbringend, vor allen Dingen, wenn es, wie im sechsten Kapitel, um die normative Relevanz von Inklusion geht . Er kann aber nicht der einzige sein, sondern muss durch einen anderen Zu-gang ergÀnzt werden . Insbesondere in der Ausdifferenzierung der Struktur von Inklusion nehme ich daher Bezug zur soziologischen Diskussion um Inklusion .

Der Inklusionsbegriff in der Soziologie

In der Soziologie nimmt der Inklusionsbegriff, anders als in der Philosophie, einen zentralen Platz ein . In der Disziplin können mindestens zwei ZugĂ€nge zum Inklusionsbegriff unterschieden werden . Ein Teil der Soziologie, der sich in Anlehnung an Niklas Luhmann systemtheoretisch versteht, unter-sucht das PhĂ€nomen unter strikt deskriptiven, systemischen Gesichtspunk-ten (vgl . Luhmann 2003; Merten und Scherr 2004; Nassehi 1997, 2003; Peters 1993; Stichweh 2009; Wilke 2000) .5 Vereinfachend gesagt fokussiert der systemtheoretische Zugang den Ein- respektive Ausschluss aus gesell-schaftlichen Teilsystemen . Nach Luhmann (2003) lĂ€sst sich das gesamte mo-derne Gesellschaftssystem aus einzelnen, funktional differenzierten Teilsyste-men beschreiben . Beispiele solcher Teilsysteme sind Gesundheit, Ökonomie,

5 In der sozialen Arbeit wird der systemtheoretische Zugang neben anderen von Heiko Kle-ve, Albert Scherr, Peter Fuchs oder Roland Merten vertreten . In der SonderpĂ€dagogik ist vor allem Vera Moser zu nennen, die diesen Zugang fĂŒr die Professionalisierungsdebatte in der SonderpĂ€dagogik fruchtbar macht .

Inklusion: Einleitung 121

Erziehung, Wissenschaft, Kunst, Religion, Politik oder Recht . Inklusion und Exklusion kennzeichnen Zugehörigkeit oder Ausschluss aus solchen Teilsys-temen . Beide Begriffe sind also in der systemtheoretischen Zugangsweise termini technici, welche beschreiben, wie Systeme und insbesondere die Be-dingungen des Ein- und Ausschlusses funktionieren . Indem diese Funkti-onslogiken differenziert und deskriptiv analysiert werden, ist der systemthe-oretische Zugang zweifelsohne auch von Interesse fĂŒr die Fragen der GrĂŒnde und Wirkungsweisen des Ein- oder Ausschlusses behinderter Menschen .

Zwei Punkte sind nun aber an der systemtheoretischen Herangehenswei-se fĂŒr die vorliegende Arbeit von Nachteil: erstens die explizit nicht-norma-tive Verwendungsweise von Inklusion und Exklusion, zweitens die Tatsache, dass im systemtheoretischen Zugang nur ein â€șDrinnenâ€č oder â€șDraußenâ€č mög-lich ist, nicht aber ein â€șmehr oder weniger drinnen oder draußenâ€č (vgl . Wan-sing 2009, S . 67) . Genau um dieses Mehr oder Weniger geht es aber in der realen Lebenswelt behinderter Menschen oft .6

Die reine, explizit nicht normative Beschreibung ist zumindest fĂŒr die vorliegende Hauptfrage des Rechts auf Inklusion fĂŒr behinderte Menschen problematisch, denn unter einer konsequent systemtheoretischen Perspekti-ve ist Einschluss oder Ausschluss weder gut noch schlecht . Es sind rein de-skriptive Begriffe .7 Das Problem ist nun aber, dass Inklusion und Exklusion gut oder schlecht fĂŒr jemanden sind, und zwar fĂŒr bestimmte Individuen .8

6 Genau aus diesem Grund ist es auch nicht zutreffend, Inklusion als Gegenbegriff zu Ex-klusion zu verstehen . Denn realiter geht es meist nicht darum, drinnen oder draußen zu sein, sondern beispielsweise darum: Mehr oder weniger dazu zu gehören, das GefĂŒhl zu haben, nicht mithalten zu können oder subtile Ausgrenzungen zu erfahren . Solche Vor-gĂ€nge aber befinden sich auf einem Kontinuum zwischen Ausgrenzung und Einschluss und sind keine Frage von entweder/oder .

7 Dies, obwohl Niklas Luhmann selbst gesehen hat, dass in seiner Theorie normativer Ge-halt impliziert ist (vgl . Luhmann 1998, S . 630f .) .

8 Gerade fĂŒr Disziplinen wie die SonderpĂ€dagogik sind daher die normativen Gehalte res-pektive die moralischen Implikationen von Inklusion oder Exklusion fĂŒr die Betroffenen relevant (vgl . Liesen 2004, S . 79) . Vgl . auch die in der deskriptiven Darstellung von Inklu-sion und der Systemtheorie Luhmanns gewinnbringende Dissertation von Karsten Exner (2007), die allerdings in ihren Schlussfolgerungen fĂŒr Disziplinen wie die SonderpĂ€dago-gik oder die soziale Arbeit meiner Ansicht nach keine neuen Erkenntnisse bringt . So lautet das Fazit Exners, dass Exklusion fĂŒr behinderte Menschen kein Problem darstelle, da die Systemtheorie Luhmanns ja gerade zeige, dass sie zu verschiedenen gesellschaftlichen Sys-temen dazu gehören wĂŒrden respektive totale Exklusion nicht vorkomme (vgl . ebd ., S . 31f .) . Damit ist meiner Ansicht nach die soziale Situation der Betroffenen ungenĂŒgend analysiert . Ja, es zeigt sich gerade die Grenze des systemtheoretischen Ansatzes in der Luh-mannschen Auslegung fĂŒr die Analyse der lebensweltlichen Lage behinderter Menschen,

122 Inklusiion und Gerechtigkeit

Aus diesem Grund muss nach einer normativ fruchtbar zu machenden Zu-gangsweise zu Inklusion und Exklusion gesucht werden, die ÜbergĂ€nge und Phasen von Ein- und Ausschluss thematisieren kann .

Ein solcher Zugang findet sich in dem Teil der Soziologie, welcher den Exklusionsbegriff als wichtige sozialwissenschaftliche Kategorie zur Analyse der sogenannten â€șsozialen Frageâ€č versteht (vgl . Castel 2000; Kronauer 2010) . Die gesellschaftsanalytische Kategorie der â€șsozialen Frageâ€č misst sich an der Feststellung, dass die Bedeutung von Teilhabe und Zugehörigkeit im 20 . Jahrhundert, unter anderem aufgrund der historischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, gestiegen ist . So zeigte sich, dass persönliche und politi-sche Rechte durch materielle und soziale Teilhabe abgesichert werden mĂŒs-sen, um ĂŒberhaupt Demokratie zu ermöglichen . Erfahrungen von Massen-arbeitslosigkeit sowie zunehmend prekĂ€re ErwerbsarbeitsverhĂ€ltnisse, Folgen von Emigration und Immigration oder mangelnder Bildung haben zudem gezeigt, dass bestimmte Personen oder Gruppen der Gesellschaft offensicht-lich an den Rand der Gesellschaft gedrĂ€ngt werden und unter erheblicher sozialer Ungleichheit leiden .

Soziale Exklusion tritt in diesen soziologischen Analysen als komplexer Sammelbegriff fĂŒr eine ganze Reihe gezielter Ausgrenzungen, formaler Aus-schlĂŒsse sowie existenziell empfundener ÜberflĂŒssigkeit in der Gesellschaft auf (vgl . Bude und Willisch 2006, S . 8) . Cornelia Bohn (2006, S . 7) schreibt dazu: »In den letzten Dekaden hat sich ein Feld intensiver Forschung zum Problem der Inklusion und Exklusion etabliert . Die Konzepte allerdings werden in höchst unterschiedlichen theoretischen und empirischen Kontex-ten und deshalb nicht einheitlich verwendet . Auch liegen der aktuellen De-batte in der wissenschaftlichen Forschung und in der politischen Öffentlich-keit eine Vielzahl unterschiedlicher Beobachtungen zugrunde [
] . Je nach kategorialem Hintergrund und den zugrunde liegenden Annahmen ĂŒber Strukturen und Operationsweisen der Gegenwartsgesellschaft stehen, so die Untersuchungen, gesellschaftliche Integration, gesellschaftsweite SolidaritĂ€t und das Herausfallen aus gesellschaftlichen AnerkennungsverhĂ€ltnissen bzw . aus den multiplen ZugĂ€ngen zur relevanten gesellschaftlichen Kommunika-tion auf dem Spiel .«

Es zeigt sich, dass sowohl die Analysekategorien dieses Teils der Soziolo-gie (vgl . Bude und Willisch 2006; Castel 2000; Kronauer 2010) wie auch der politischen Philosophie (vgl . Honneth 1994; Wolff 2008; Young 2000) fĂŒr

da dieser Zugang die soziale und ethisch relevante Problematik, um die es gerade geht, nicht erfassen kann .

Inklusion: Einleitung 123

die Darlegung der Struktur und normativen Bedeutung von Inklusion fruchtbar gemacht werden können . Der Ausgang der Überlegungen beruht auf Annahmen, fĂŒr die ich im Folgenden in einem ersten Schritt Plausibili-sierungsgrĂŒnde anbringen werde .

Zwei Annahmen betreffend Inklusion als Ausgangslage

»Im Zentrum des Begriffspaars [Inklusion und Exklusion, FF] stehen gesell-schaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe, somit aber auch: die sozialen Grund-lagen einer demokratischen Gesellschaft« (Kronauer 2007, S .  4) . So um-schreibt der deutsche Soziologe Martin Kronauer die Begriffe Inklusion und Exklusion . Insbesondere weist Kronauer auf zwei Aspekte des Konzepts In-klusion hin: Zugehörigkeit und Teilhabe .

Zugehörigkeit kann sich in gesellschaftlicher Arbeitsteilung wie auch in zwischenmenschlichen, sozialen Netzen zeigen . Teilhabe hat BezĂŒge zu Par-tizipation und sozialem Handeln und zeigt sich in materieller, politischer, kultureller und sozialer Hinsicht . Zugehörigkeit und Teilhabe können sich dabei in verschiedenen SphĂ€ren manifestieren: Als Partizipation ĂŒber den BĂŒrgerstatus, als wechselseitige AbhĂ€ngigkeiten oder Interdependenzen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sowie als ReziprozitĂ€tsverhĂ€ltnisse in zwischenmenschlichen Beziehungen (vgl . ebd ., S . 4ff .) . Heinz Bude und An-dreas Willisch (2006, S . 14f .) machen in RĂŒckgriff auf die begriffsgeschicht-liche Einbettung des Exklusionskonzepts in die Programmatik des Wohl-fahrtsstaates folgende zentrale Kriterien des Exklusionsbegriffs aus, nach denen sich ihrer Meinung nach auch Kriterien eines positiven Inklusionsbe-griffs ableiten lassen: Agency (Handlung, EigentĂ€tigkeit, Empowerment), KohĂ€sion (SolidaritĂ€t, sozialer Zusammenhalt) und Anschluss (an verschie-dene Kontexte oder Systeme wie Familie, Bildung oder Arbeit) .

Die von Kronauer (2007) sowie Bude und Willisch (2006) gewĂ€hlten ZugĂ€nge zu Exklusion und Inklusion lassen sich, auch wenn die Begriffe unterschiedlich verwendet werden, folgendermaßen synthetisieren . Inklusi-on ist durch zwei Elemente gekennzeichnet: erstens durch Zugehörigkeit und zweitens durch soziales Handeln, das sich in sozialer IntentionalitĂ€t zeigt . Inklusion kann sich zudem in zwei SphĂ€ren manifestieren: in einer gesellschaftlichen und in einer gemeinschaftlichen .

Das erste Element, Zugehörigkeit – in bestimmter, relevanter und noch zu bestimmender Weise dazuzugehören – muss sozial gespiegelt werden und

124 Inklusiion und Gerechtigkeit

zwar in Form von Anerkennung, welche unterschiedliche Formen anneh-men kann . DarĂŒber hinaus muss Zugehörigkeit von Menschen erlebt wer-den können . Das zweite Element von Inklusion geht von der Annahme aus, dass Inklusion mehr ist als ein bloß zufĂ€lliges Zusammensein verschiedener Menschen, beispielsweise in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Einkaufszen-tren . Inklusion kennzeichnet nicht isoliertes, individuelles Handeln, son-dern kollektives oder geteiltes, soziales Handeln, welches sozial gerichtete Zie-le und Intentionen impliziert .

Die den zwei Elementen von Inklusion – Zugehörigkeit und soziales Handeln respektive soziale IntentionalitĂ€t – ĂŒbergreifende Differenzierung ist die soziologisch gelĂ€ufige Unterscheidung in Gemeinschaft und Gesell-schaft . Diese Unterscheidung, die beispielsweise Max Weber in seinem Stan-dardwerk Wirtschaft und Gesellschaft (1922) vorgenommen hat, unterscheidet zwischen Kontexten, in denen sich Zugehörigkeit zuvörderst ĂŒber affektive ZugehörigkeitsgefĂŒhle zeigt (Gemeinschaften), und solchen, die zumindest nicht ĂŒber diese konstituiert werden und in denen vielmehr Interessenver-bindungen und ZweckrationalitĂ€t von zentraler Bedeutung sind . Diese fun-damentale Unterscheidung hat, wenn auch in RealitĂ€t meist beide SphĂ€ren ĂŒberlappen, große Auswirkungen auf AnerkennungsvorgĂ€nge und auf die Aspekte sozialen Handelns . Aus diesen GrĂŒnden will ich in Punkt 5 .1 vertief-ter auf diese Unterscheidung eingehen .

Ausgehend von den zwei Annahmen betreffend Inklusion lĂ€sst sich wei-ter fragen, worin die Verbindungen zwischen Zugehörigkeit und sozialem Handeln oder sozialer IntentionalitĂ€t bestehen . Daran anbindend werden eine Reihe von weiteren Fragen aufgeworfen, unter anderem folgende: Wie hĂ€ngt soziale Anerkennung mit der Handlungs- und Zieldimension von In-klusion zusammen? In welchem VerhĂ€ltnis stehen Zugehörigkeit und Aner-kennung? Inwiefern ist die soziale Zielgerichtetheit des Handelns notwen-dig, um von Inklusion sprechen zu können und wie drĂŒckt sich diese Zielorientierung sozialen Handelns aus?

Teilweise weisen diese Fragen ĂŒber die Struktur bereits auf die normative Relevanz von Inklusion . So zeigt sich beispielsweise bei Anerkennung in ei-nem normativen Sinn die Art und Weise, wie und in welchen Kontext jemand inkludiert wird: als geliebter Partner, als Person mit gleichen Rechten, als Arbeitskollegin, die sozial wertgeschĂ€tzt wird, und so weiter . Gerade in dem fĂŒr den vorliegenden Zusammenhang so wichtigen intrapersonalen Aspekt von Inklusion, nĂ€mlich der subjektiv empfundenen Zugehörigkeit, wird deutlich, dass Anerkennung eine Voraussetzung fĂŒr das positive Selbstver-

Inklusion: Einleitung 125

hĂ€ltnis von Personen ist (vgl . Honneth 1994) . Die in der Struktur von Inklu-sion erarbeiteten Aspekte weisen damit auf die normative Relevanz von In-klusion hin, die sich durch die Bedeutung der einzelnen Elemente fĂŒr das gute Leben von Menschen ergibt .

Aufbau der beiden Kapitel

Um auf die genannten Fragen Antworten liefern zu können, gehe ich folgen-dermaßen vor: Als erstes liefere ich eine erste mögliche Strukturierung von Inklusion, welche die herausgeschĂ€lten Elemente aufnehmen kann . Die die beiden Elemente ĂŒbergreifende Strukturierung ist dabei eine Unterschei-dung in gemeinschaftliche und gesellschaftliche Kontexte von Inklusion . FĂŒr das erste als wichtig erachtete Moment der Zugehörigkeit bedeutet die Tren-nung in gemeinschaftliche und gesellschaftliche Kontexte folgendes: WĂ€h-rend gemeinschaftliche Kontexte zentral auf interpersonaler Zugehörigkeit und Anerkennung von konkreten Anderen beruhen, weisen gesellschaftliche Kontexte auf abstraktere Sozialgebilde hin, welche sich durch Abstraktion von interpersonaler Zugehörigkeit auszeichnen . Damit nimmt Zugehörig-keit in gemeinschaftlichen Kontexten eine konkrete, interpersonale Form an, wĂ€hrend sie in der gesellschaftlichen SphĂ€re nur noch abstrakt erscheint . Was das genau bedeutet, wird sich in Abschnitt 5 .1 zeigen .

Dasselbe gilt fĂŒr die soziale Anerkennung . In der gemeinschaftlichen SphĂ€re werden konkrete Andere in Form von Liebe, RĂŒcksicht, Umsicht oder sozialer WertschĂ€tzung anerkannt . Anteilnahme, FĂŒrsorge, SolidaritĂ€t und Beistand denen gegenĂŒber, mit denen wir gemeinschaftlich verbunden sind, beschreiben dabei den Bereich der konkreten Anderen . In der gesell-schaftlichen SphĂ€re werden abstrakte Andere, BĂŒrger, anerkannt, indem ih-nen beispielsweise Rechte verliehen werden . FĂŒr die Anerkennung im inter-personalen Nah-Bereich sind GefĂŒhle – beispielsweise der SolidaritĂ€t, der Freundschaft oder der Liebe – eine notwendige Bedingung, wĂ€hrend sie das in der gesellschaftlichen nicht sind .

Das zweite Element, das ich vertiefen möchte, betont das Motiv der Handlung als soziales In-Beziehung-Setzen zwischen Menschen – einerseits als interpersonales Moment, andererseits zwischen Menschen als BĂŒrgern zu der Gesellschaft, in der sie leben . Dies geschieht einmal hinsichtlich der Be-ziehung zwischen BĂŒrgern als RechtstrĂ€ger zueinander und einmal als BĂŒr-ger hinsichtlich ihres VerhĂ€ltnisses zum Staat oder anderen Institutionen

126 Inklusiion und Gerechtigkeit

oder Organisationen .9 Der von mir vertretene Begriff sozialen Handelns ist dabei weit zu verstehen und umfasst neben TĂ€tigkeiten auch Denken und GefĂŒhle10 . Handeln ist nach Max Weber (1922) dann soziales Handeln, wenn es in seinem Sinn wechselseitig auf das Handeln anderer bezogen ist und sich in seinem Prozess und Verlauf auch danach ausrichtet . Bestandteil sozialen Handelns ist daher, dass Erwartungen hinsichtlich eines bestimm-ten subjektiv sinnhaften Verhaltens anderer Menschen gegenĂŒber gehegt werden .11 Soziales Handeln zeigt sich damit in der IntentionalitĂ€t, den Zie-len also, die mit dem Handeln verbunden sind und die auf andere Menschen gerichtet sind . Die normative und entwicklungspsychologische Relevanz so-zialer Handlungen respektive sozialer IntentionalitĂ€t zeigt sich im sechsten Kapitel .

Weiter zeigt sich im folgenden fĂŒnften Kapitel, dass Inklusion sowohl in ihrer gemeinschaftlichen wie ihrer gesellschaftlichen Dimension eine aktive wie eine passive Form annehmen kann . So sind Menschen in Gemeinschaf-ten einerseits aktiv sozial Handelnde, andererseits auch passiv Partizipieren-de . Die passive Form gemeinschaftlicher Inklusion ist dabei eine Antwort auf die Herausforderung, die Kleinkinder, demente Menschen, aber auch Menschen mit schwerer Behinderung an Inklusion stellen . Denn damit In-klusion fĂŒr diese Menschen möglich ist, mĂŒssen sich andere ihnen aktiv zu-wenden, ohne dass im Gegenzug eine (eng verstandene) ReziprozitĂ€t erwar-tet werden kann .12 Ich werde zeigen, dass IntentionalitĂ€t Menschen auch bei epistemischer Unsicherheit ĂŒber ihr tatsĂ€chlich faktisches Vorhandensein zu-geschrieben werden kann . Das heißt, der Sinn eines bestimmten gezeigten Verhaltens kann auch dann zugeschrieben werden, wenn eine Person selbst nicht ĂŒber die Sinnhaftigkeit ihres Verhaltens Auskunft geben kann, bei-spielsweise, weil sie nicht sprechen kann und in ihren kommunikativen Aus-drucksmöglichkeiten eingeschrĂ€nkt ist . Eine Zuschreibung ist deshalb sinn-

9 Rechtlich finden beide Gesichtspunkte ihren Ausdruck in unterschiedlichen Bereichen des Rechts . Öffentliches Recht regelt das VerhĂ€ltnis zwischen BĂŒrger und Staat, wĂ€hrend das Privatrecht das VerhĂ€ltnis von BĂŒrgern eines Staates untereinander zum Inhalt hat .

10 Letzteres impliziert eine kognitive Emotionstheorie, wie sie beispielsweise von Martha Nussbaum (2003) vertreten wird . Dieser Ansatz geht davon aus, dass GefĂŒhle ĂŒber Kog-nitionen gebildet werden, indem beispielsweise enttĂ€uschte oder erfĂŒllte PlĂ€ne und Ziele von Menschen ein notwendiges Element von Emotionen sind .

11 Luhmann (2008, S . 38) spricht hierbei von Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen . 12 Vgl . hierzu fĂŒr die philosophische Problematik um die Grenzziehung zwischen Menschen

und Personen sowie die Bedeutung der Inklusion aller Menschen in eine Moraltheorie die AusfĂŒhrungen von Sabine Jentsch (2010) .

Inklusion: Einleitung 127

voll, weil IntentionalitĂ€t eine hohe Bedeutung fĂŒr das Auslösen von Ent- wicklungsprozessen hat .

In der normativen Wendung dieser Zuschreibung zeigt sich dann die Bedeutung von IntentionalitĂ€t fĂŒr menschliche Entwicklungsprozesse und ihrer Voraussetzung fĂŒr ein gutes menschliches Leben . Insofern man bei den meisten Menschen – Ausnahmen sind FĂ€lle, bei denen dies erwiesenermaßen nicht der Fall ist13 – von EntwicklungsfĂ€higkeit ausgehen kann, ist die Zu-schreibung intentionalen Verhaltens eine notwendige Bedingung fĂŒr die Entwicklung von Menschen . Besonders deutlich zeigt sich dies zu Beginn jedes menschlichen Lebens . Menschen sind nĂ€mlich nur aufgrund dieser Zuschreibung sozialer IntentionalitĂ€t in der Lage, bestimmte FĂ€higkeiten und Fertigkeiten – beispielsweise Sprache – zu erlernen .

Auch in der gesellschaftlichen SphĂ€re zeigt sich eine aktive wie eine pas-sive Form von Inklusion . Die aktive Form zeigt sich am deutlichsten im politischen Bereich, in welchem – zumindest in einem deliberativen Ver-stĂ€ndnis von Demokratie – Menschen als aktive BĂŒrger Demokratie mitge-stalten . Das passive VerstĂ€ndnis gesellschaftlicher Inklusion zeigt sich zuvör-derst im Sozialstaat, in welchem BĂŒrger nach Maßgabe deklarierter BedĂŒrf- nisse EmpfĂ€nger sozialstaatlicher Leistungen werden können .

Die normative Relevanz von Inklusion, der sich das sechste Kapitel wid-met, nimmt RĂŒckgriff auf die Struktur von Inklusion . Ich werde dabei aus-gehend von der Überlegung, dass Inklusion wichtige Interessen von Men-schen abdeckt, folgende Aspekte besonders vertiefen: erstens Inklusion als Bedingung, Voraussetzung und Folge der (vor allen Dingen geistigen und sozialen) Entwicklung von Menschen, zweitens Inklusion als Bedingung, Voraussetzung und Folge der Freiheit von Menschen, drittens Anerkennung als Bedingung, Voraussetzung und Folge von Inklusion . Die jeweils gewĂ€hl-ten Beispiele verdeutlichen die Problematik fĂŒr die Thematik der Behinde-rung . Insbesondere auf der Negativfolie zeigen sich die wechselseitigen Beein-flussungen von Entwicklung, Freiheit und Anerkennung fĂŒr die Inklusion von Menschen, insbesondere auch fĂŒr behinderte Menschen, da diese Pro-zesse aufgrund verschiedener – interner wie externer – Faktoren bedroht sind . Vor dem Hintergrund der Annahme, dass alle diese Werte auch Bedin-

13 Beispiele dafĂŒr sind hirntote Menschen . Allerdings ist bei der Bestimmung, ob eine Person noch HirnaktivitĂ€t aufweist oder nicht, allerhöchste Vorsicht angebracht (vgl . Pidd 2009) . Vgl . die soziologisch sehr interessanten Untersuchungen von Gesa Lindemann (2002), die den Umgang des Ärzte- und Pflegepersonals mit hirntoten Menschen zum Inhalt hat .

128 Inklusiion und Gerechtigkeit

gungen und Voraussetzungen fĂŒr ein gutes menschliches Leben sind, erhĂ€lt Inklusion ihre hohe normative Relevanz .

5 . Die Struktur von Inklusion

Inklusion ist immer soziale Inklusion und meint im vorliegenden Kontext Einbindung in zwischenmenschliche, soziale ZusammenhĂ€nge (vgl . IkĂ€-heimo 2009) .1 Diese ZusammenhĂ€nge können partikulare Gruppen wie Familien, aber auch grĂ¶ĂŸere Gebilde wie eine Gesellschaft sein . Inklusion meint in einem noch nĂ€her zu bestimmenden Sinn: dazugehören, eingebun-den sein (vom lateinischen Verb includere = einschließen) .2

Mit dem Konzept der Inklusion ist immer auch Exklusion mitgedacht . Das bedeutet, dass, wenn von Inklusion gesprochen wird, nicht nur Aussa-gen darĂŒber gemacht werden, wer dazu gehört, sondern auch, wer nicht dazu gehört und somit exkludiert ist . Zudem nimmt man Bezug auf ein Gebilde, das grĂ¶ĂŸer ist als die Summe der Elemente der Inkludierten . Mit der Aussa-ge, wer oder was dazu gehört, ist daher immer auch – allerdings oft nur im-plizit – die Aussage verbunden, was oder wer eben nicht dazu gehört .3 Lo-

1 Man kann einwenden, dass es auch so etwas wie strukturelle Inklusion gibt . Gesellschaft-liche Rahmenbedingungen, wie sie sich etwa in der technischen Infrastruktur zeigen kön-nen, sind beispielsweise nicht in engerem Sinne sozial . Sie beziehen sich allerdings letzt-endlich auch auf soziale BezĂŒge, wenn sich diese auch auf gesellschaftlicher Ebene befinden und nur noch abstrakt erscheinen .

2 Damit wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass ich einen dichteren, umfassenderen In-klusionsbegriff begrĂŒnden und vertreten möchte, als dies in der SonderpĂ€dagogik – insbe-sondere in der empirisch ausgerichteten – der Fall ist, wo meistens ein dĂŒnner, technischer und â€șphysischerâ€č Inklusionsbegriff gewĂ€hlt wird . Bei der Inklusion eines Kindes mit son-derpĂ€dagogischem Förderbedarf in eine Regelschule wird beispielsweise unter Inklusion meist die physische Anwesenheit eines betreffenden Kindes in einer Regelschulklasse ver-standen, jedenfalls wird nur dieser dĂŒnne Begriff operationalisiert . Ich vertrete dem gegen-ĂŒber einen Inklusionsbegriff, der zwar physische Anwesenheit implizieren kann, nicht aber muss und insbesondere nicht in dieser aufgeht .

3 In den meisten FĂ€llen hat dies keine erwĂ€hnenswerte normative Relevanz . Wenn man beispielsweise von allen Sternen des Sonnensystems spricht und dazu ĂŒbergeht zu sagen, die Sonne sei ins Sonnensystem inkludiert, nimmt man damit nicht nur Bezug auf ein grĂ¶ĂŸeres Ganzes (das eben grĂ¶ĂŸer ist als das Element Sonne), sondern auch darauf, dass es Dinge jenseits des Sonnensystems gibt . Dinge also – andere Sterne vielleicht –, die nicht zu unserem Sonnensystem gehören .

130 Inklusion und Gerechtigkeit

gisch und begrifflich gesehen ist mit einer Aussage betreffend Inklusion daher immer auch eine Aussage betreffend Exklusion verbunden und umge-kehrt (vgl . Kastl 2010, S . 178) .

Zwei SphÀren von Inklusion

Auch wenn Inklusion in lebensweltlichen Kontexten unzĂ€hlige verschiedene konkrete Formen annehmen kann, ist es möglich, auf einer abstrakten Ebe-ne erste grobe Unterscheidungen einzufĂŒhren . Nicht alle Formen sozialer Inklusion haben nĂ€mlich dieselbe Grundstruktur . Vielmehr können, wie sich oben bereits gezeigt hat, zwei SphĂ€ren unterschieden werden, eine zwi-schenmenschliche und eine gesellschaftliche, welche sich nicht auf interper-sonale BezĂŒge reduzieren lĂ€sst .4 In der ersten SphĂ€re befinden sich Beziehun-gen mit – nĂ€herem oder weiterem – zwischenmenschlichem Kontakt, beispielsweise in der Familie oder in Vereinen . In der anderen, der gesell-schaftlichen SphĂ€re ist der Einzelne Teil eines grĂ¶ĂŸeren, gesellschaftlichen Ganzen . Menschen erscheinen hier als verallgemeinerte, abstrakte Andere .

Die beiden SphÀren treten in eine komplexe Beziehung zueinander . So beeinflusst die interpersonale, zwischenmenschliche SphÀre die gesellschaft-liche SphÀre und umgekehrt . Beispielsweise prÀgen interpersonal geprÀgte

4 Karl Heinz Wisotzki (2000, S . 32) spricht im selben Zusammenhang von â€șzwei RĂ€umenâ€č von Inklusion und schreibt dazu: »Auf der einen Seite haben wir einen Bereich, in dem die interpersonalen Beziehungen besonders zum Tragen kommen . Das ist fĂŒr jeden Menschen zunĂ€chst einmal seine Familie und mit zunehmendem Alter die sich jeweils bildenden Peer-Groups . Auf der anderen Seite haben wir einen Bereich, der irgendwie dem ersten ĂŒbergestĂŒlpt ist und in dem ein grĂ¶ĂŸerer Abstand zwischen dem Einzelnen und den ande-ren Mitgliedern der Gemeinschaft besteht . Das sind die verschiedenen staatlichen Organi-sationen, die von der Wohngemeinde bis hin zum Gesamtstaat reichen . Der personale Abstand wird hier immer grĂ¶ĂŸer . Beide RĂ€ume sind miteinander verflochten . Der kleinere Raum ist dadurch gekennzeichnet, dass bei den einzelnen Mitgliedern unmittelbare, inter-personale und emotionale moralische Verbindungen bestehen [
] . Der grĂ¶ĂŸere Raum dagegen ist durch ein System von rechtlichen Regelungen strukturiert .« Ähnlich auch Otto Speck (1995), der die erste Form von Inklusion mit primĂ€rer Inklusion, die zweite mit gesellschaftlicher Inklusion ĂŒberschreibt: »WĂ€hrend innerhalb der kleineren und intimeren Gruppe die Zugehörigkeit des Einzelnen mehr von unmittelbaren, interpersonalen und emotionalen moralischen AnsprĂŒchen und Verbindlichkeiten bestimmt wird, man könnte auch vom sozialen Gewissen reden – bedarf es auf der gesellschaftlichen SphĂ€re rechtlich geregelter Strukturen . [
] . Diese sind zwar nötig, sichern aber noch nicht unbedingt die persönliche Zugehörigkeit« (ebd ., S . 93) . Und auf die persönliche Zugehörigkeit kommt es nach Speck schließlich an .

Die Struktur von Inklusion 131

Rollenvorstellungen gegenĂŒber Menschen mit Behinderung und Erwar-tungshaltungen an sie die institutionelle Struktur demokratischer Prozesse, indem sich individuelle und interpersonale Verhaltensweisen und Einstel-lungen in gesellschaftlich-kollektive SphĂ€ren hinein verlĂ€ngern . Am besten kann dies an den Resultaten demokratischer Abstimmungen gezeigt werden . Möchte die Mehrheit der Stimmberechtigten eines Landes keine ausgeprĂ€g-ten Gleichstellungsgesetze und lehnt diese an der Urne ab, weil sie im tĂ€gli-chen Leben keine Beziehungen zu behinderten Menschen pflegt, prĂ€gt dies das Leben der betroffenen Menschen in der individuellen wie der interper-sonalen SphĂ€re . Auch prĂ€gen institutionelle Rahmenbedingungen interper-sonale BezĂŒge, etwa in Form von UnterstĂŒtzung fĂŒr bestimmte Gemein-schaftsformen wie der Familie . Selbst wenn interpersonale Beziehungen die gesellschaftliche SphĂ€re nicht konstituieren, spielen sie insofern eine Rolle, als auch gemeinschaftliche Lebensbereiche – beispielsweise Familien – gesell-schaftlich gerahmt sind . Dies geschieht etwa ĂŒber bestimmte, gesellschaftlich perpetuierte, Vorstellungen, was eine â€șrichtigeâ€č Familie ist und welche For-men von Familien gesellschaftliche UnterstĂŒtzung genießen sollen: Patch-workfamilien, Alleinerziehende mit Kindern, homosexuelle Paare mit Kin-dern und/oder klassische Zweieltern-Familie? Die beiden SphĂ€ren sind aus diesen GrĂŒnden nicht als hermetisch abgeschlossene Bereiche menschlichen Lebens zu verstehen .

Die Bedeutung von Zugehörigkeit – das Beispiel von Anna und Bertha

Wenn man sich fragt, was das zentrale Moment an Inklusion ist, drĂ€ngt sich â€șZugehörigkeitâ€č auf . Inklusion wĂ€re dann vorhanden, wenn jemand zu ei-nem bestimmten Kontext dazu gehören wĂŒrde . Was aber ist mit â€șZugehörig-keitâ€č gemeint?

In einer ersten AnnĂ€herung kann man sich dazu folgende zwei FĂ€lle vor-stellen: In einem Fall ist eine Frau namens Anna Ehrenmitglied eines Ge-sangsvereins . Sie ist weit ĂŒber 80 und hat seit rund 20 Jahren an keiner Sit-zung des Vereins mehr teilgenommen . Wenn es die Gesundheit erlaubt, nimmt sie einmal pro Jahr an der ordentlichen Generalversammlung teil . Alle Vereinsmitglieder freuen sich, wenn sie an dieser anwesend ist, selbst wenn niemand sie mehr aus der aktiven Zeit kennt . Sie begrĂŒĂŸen sie, spre-chen mit ihr und erkundigen sich angeregt, wie es ihr geht und was sie so tut .

132 Inklusion und Gerechtigkeit

In einem anderen Fall ist eine andere Frau, Bertha, ebenfalls Mitglied desselben Gesangsvereins . Sie nimmt an jeder Sitzung teil, wird aber von den anderen konstant ignoriert . Niemand grĂŒĂŸt sie, niemand geht auf sie ein, niemand mag sie . Wenn sie etwas sagen möchte, schweifen die Blicke ĂŒber ihren Kopf hinweg, man ignoriert sie . Im besten Fall gibt man ihr höflicher-weise einige Augenblicke Zeit etwas zu sagen, um dann wieder zum â€șordent-lichenâ€č GeschĂ€ft ĂŒberzugehen . Welche dieser zwei Personen, Anna oder Ber-tha, ist in den Gesangsverein inkludiert?

Es fĂ€llt uns nicht schwer, Anna als inkludiert zu bezeichnen, wĂ€hrend Bertha in höchstem Maß exkludiert erscheint . Das Beispiel zeigt, dass es bei Inklusion weniger um die physische PrĂ€senz als um die emotionale Einbin-dung, das Eingehen auf jemanden sowie um die WertschĂ€tzung geht .5 Damit scheint Inklusion letztendlich eine Form der Anerkennung im Sinne affektiv erteilter beziehungsweise empfundener WertschĂ€tzung zu sein .

Dieser Schluss aber ist vorschnell und zwar deshalb, weil meine zwei Bei-spiele wichtige Vorannahmen bereits getroffen oder stillschweigend voraus-gesetzt haben . Erstens habe ich ignoriert, wie die Person selbst sich fĂŒhlt . Damit ist die Bedeutung der intrapersonalen Wahrnehmung angesprochen . Die auf die Person gerichteten GefĂŒhle von Anerkennung mĂŒssen zweifels-ohne von den von der Person selbst empfundenen GefĂŒhlen der Zugehörig-keit unterschieden werden respektive sie fallen nicht mit diesen zusammen .

Diese PrĂ€zisierung löst allerdings das Problem nicht, denn WertschĂ€t-zung wĂ€re immer noch ein ausschließlich affektives PhĂ€nomen . Eine solche Auslegung greift aber zu kurz, denn Inklusion, verstanden als subjektiv er-lebte Zugehörigkeit, muss von echten GefĂŒhlen der Anerkennung begleitet werden . Andernfalls wĂ€re auch jemand inkludiert, der sich ĂŒber die Aner-kennung durch andere Menschen tĂ€uscht .6

5 Einer solchen Lesart schließt sich auch Otto Speck an . Der Einzelne kann »auf der Basis formaler Regelungen integriert arbeiten, es kommt aber in seiner Arbeitsgruppe nicht zu einer persönlichen Akzeptation . Dies bedeutet, dass es bei der ethischen Maxime der sozi-alen Integration nicht nur um formale Mitgliedschaft, sondern um die QualitĂ€t von Menschlichkeit [Hervorhebung FF] geht« (Speck 1995, S . 93f .) .

6 Damit ist zumindest der Anspruch verbunden, von bestimmten nahestehenden Personen und in wichtigen Situationen nicht bewusst getĂ€uscht zu werden . Dies schließt viele FĂ€lle des tĂ€glichen Lebens aus, in denen Menschen aus Regeln des Anstandes, der Höflichkeit und des reibungslosen zwischenmenschlichen Umgangs andere tĂ€uschen . Solche meist harmlosen zwischenmenschlichen LĂŒgen fĂŒhren zweifellos in den seltensten FĂ€llen zu dra-matischem gemeinschaftlichem wie gesellschaftlichem Ausschluss . Eine LĂŒge oder TĂ€u-schung ist vielmehr dann schlimm, wenn zwei Werte verletzt werden: erstens die Verlet-zung der Achtung der Freiheit und der Autonomie von Personen sowie zweitens die

Die Struktur von Inklusion 133

Aber auch ohne diese Qualifikation ist fraglich, ob subjektiv erlebte Zu-gehörigkeit in Form von GefĂŒhlen in jedem Fall ein notwendiges Kriterium fĂŒr Inklusion ist .

Es zeigt sich zweitens, dass man auch den Kontext von Inklusion betrach-ten muss . Ich habe in meinem Beispiel bereits einen Kontext unterstellt, bei dem es mit großer Wahrscheinlichkeit um affektive Zugehörigkeit und inter-personale Anerkennung geht, nĂ€mlich einen Gesangsverein . Ein solcher Ver-ein, bei dem sich die Mitglieder nicht wechselseitig interpersonal als Mitglie-der anerkennen, ist schwer vorstellbar . Ein Gesangsverein ist denn auch ein Beispiel fĂŒr einen gemeinschaftlichen Kontext .7

Es gibt jenseits dieser gemeinschaftlichen Kontexte auch solche, die ganz anderer Art sind . So ist eine Person beispielsweise in die Marktwirtschaft inkludiert, wenn sie wirtschaftliche Potenz aufweist . Dieses Spiel aber zeich-net sich durch wechselseitige Interessenlagen aus und nicht durch affektiv empfundene Zugehörigkeit . Zwar kann sich jemand von marktwirtschaftli-chen Kontexten ausgeschlossen fĂŒhlen, sich auch zu einem gewissen Grad selbst daraus ausschließen – beispielsweise, indem er oder sie sich marktwirt-schaftlichem Konsumdenken radikal versagt –, aber das schmĂ€lert die Tatsa-che nicht, dass diese Kontexte nicht ĂŒber GefĂŒhle der Zugehörigkeit konsti-tuiert werden . Vielmehr werden solche Kontexte durch die Interessen und PrĂ€ferenzen der Beteiligten gebildet .

Bereiche solcher zweiter Art kann man als gesellschaftliche SphĂ€ren be-zeichnen . Gesellschaftliche SphĂ€ren zeichnen sich dadurch aus, dass der Ein-zelne Teil eines gesellschaftlichen, ĂŒbergreifenden Ganzen ist . Dieses Ganze ĂŒbergreift damit auch gemeinschaftliche Bereiche wie beispielsweise Vereine . In diesen gesellschaftlichen Bereichen sind zwischenmenschliche GefĂŒhle zwar nicht abwesend, aber sie konstituieren diese Kontexte nicht . Aus gesell-schaftlichen Kontexten ist jemand nicht aufgrund affektueller Zugehörigkeit

Verletzung von Vertrauen . Schwerwiegend ist eine LĂŒge insbesondere dann, wenn die Beziehungen von einem starken zwischenmenschlichen VertrauensverhĂ€ltnis geprĂ€gt sind . In ihnen sind die Dichte des Vertrauens sowie die Bedeutung fĂŒr das SelbstverstĂ€ndnis von Individuen besonders hoch . Dementsprechend schlimm kann in engen zwischenmensch-lichen Beziehungen, beispielsweise in Liebesbeziehungen, eine Verletzung durch eine LĂŒge sein (vgl . Schmetkamp 2010) .

7 Dies gilt zumindest fĂŒr einen prototypischen Verein wie beispielsweise einen kleinen Turn-verein . Hat der Verein aber verschiedene Abteilungen, beispielsweise eine Handball-, eine Basketball- und eine Badmintonabteilung, kann diese Anerkennung sehr schwach sein, da die Mitglieder mit Ausnahme der formalen Zugehörigkeit zum selben Verein wenig ver-binden mag .

134 Inklusion und Gerechtigkeit

oder interpersonaler Anerkennung ein- oder ausgeschlossen, sondern aus an-deren GrĂŒnden, auf die ich noch zu sprechen kommen werde .

Damit zeichnet sich ein Inklusionsbegriff ab, der in den zwei SphĂ€ren jeweils eine unterschiedliche Form von Inklusion bezeichnet: Eine Inklusion im Nahbereich respektive auf gemeinschaftlicher Ebene, in welcher sich Menschen als konkrete Andere wechselseitig anerkennen, sowie eine Inklu-sion auf gesellschaftlicher Ebene, in welcher Menschen einander als abstrak-te Andere, als BĂŒrger, gegenĂŒbertreten und deren Anerkennungsdimension einerseits ĂŒber diesen Status, andererseits auch ĂŒber Organisationen sowie Institutionen laufen kann .

Wechselseitige Beeinflussungen der SphÀren

Ich habe bereits erwĂ€hnt, dass die SphĂ€ren Gemeinschaft oder Gesellschaft nicht trennscharf sind . So kann man sich erstens in vielen FĂ€llen darĂŒber streiten, inwiefern Kontexte eine gemeinschaftliche oder eine gesellschaftli-che Struktur aufweisen . Dies gilt im Besonderen fĂŒr Kontexte, die man der Zivilgesellschaft zuordnen kann, beispielsweise Kirchen oder politische Parteien . Zweitens beeinflussen gemeinschaftliche und gesellschaftliche Prozesse sich wechselseitig . Ist jemand beispielsweise aus gesellschaftlichen Zusammen-hĂ€ngen weitgehend exkludiert, hat dies auch Einfluss auf seine Inklusion in Gemeinschaften und umgekehrt . Insbesondere fĂŒr Menschen mit Behinde-rung zeigt sich, dass die wechselseitige Beeinflussung gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher SphĂ€ren erstens ihren Ausschluss aus gesellschaftlichen Kontexten befördert und zweitens in vielen FĂ€llen ultimativ dazu fĂŒhrt, dass sich zum GefĂŒhl, in konkrete Gemeinschaften nicht inkludiert zu sein, ein umfassendes LebensgefĂŒhl, gesellschaftlich nicht inkludiert zu sein, gesellt . Dieses GefĂŒhl kann dann beispielsweise in einer Aussage wie â€șIch gehöre ja sowieso nirgends dazuâ€č Ausdruck finden . Es kann sich aber auch in Scham fĂŒr den eigenen Körper, seinen Ausdrucksweisen und Begrenzungen, zeigen und zu massiven sozialen Problemen der Selbstausgrenzung und Vermeidung zwischenmenschlicher Kontakte fĂŒhren .

Die Unterscheidung zwischen gemeinschaftlichen, â€șprimĂ€renâ€č und gesell-schaftlichen Kontexten ist eine zentrale Unterscheidung in der soziologi-schen Tradition nach Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies und Max Weber und eine wichtige soziologische Grundkategorie . Die Unterscheidung nimmt das zentrale Moment – Kontexte, die vor allen Dingen ĂŒber affektive Zuge-

Die Struktur von Inklusion 135

hörigkeit konstituiert werden und in denen folgerichtig GefĂŒhle der Zuge-hörigkeit und interpersonale Beziehungen eine wichtige Rolle spielen, und Kontexte, in denen sie zwar eine Rolle spielen können, nicht aber ĂŒber diese konstituiert werden – auf und qualifiziert sie . Ich werde im Folgenden in diese soziologische Diskussion einfĂŒhren und dabei auch das Beispiel der Schule einbringen . In diesem zeigt sich, dass viele Kontexte Elemente beider SphĂ€ren aufweisen und damit einen Schnittbereich zwischen gesellschaftli-cher und gemeinschaftlicher SphĂ€re bilden .

5 .1 Gemeinschaftliche versus gesellschaftliche Inklusion

Die Unterscheidung zwischen Kontexten, in denen Zusammengehörigkeits-gefĂŒhle eine konstitutive Rolle spielen und solche, in denen sie nicht konsti-tutiv sind, kennzeichnet die soziologisch gelĂ€ufige Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft .8

Bei der Unterscheidung in gesellschaftliche und gemeinschaftliche Kon-texte können soziologisch betrachtet grob soziale Beziehungen, die sich zweckrational formieren (gesellschaftliche SphĂ€re), von solchen, die nicht zureichend ĂŒber ZweckrationalitĂ€t verstanden werden (gemeinschaftliche SphĂ€re), unterschieden werden . Letztere beruhen nicht zuletzt unter ande-rem auf ZusammengehörigkeitsgefĂŒhlen von Individuen . Solche Zusam-mengehörigkeitsgefĂŒhle prĂ€gen soziale Beziehungen wie Freundschaften oder Liebesbeziehungen und andere zwischenmenschliche Sozialbeziehun-gen (vgl . Scherr 2006) . Sie zeichnen sich gegenĂŒber Nicht-Nah-Beziehungen durch ein dichtes, unbedingtes Vertrauensmuster aus, wĂ€hrend andere sozi-ale Beziehungen auf der gesellschaftlichen Ebene zumeist ein basales, so ge-nannt dĂŒnnes Vertrauen kennzeichnet .

Gesellschaft wĂ€re allerdings unzureichend beschrieben als ein Beziehungs-geflecht zwischen Individuen oder verschiedenen Sozialbeziehungen, bei-spielsweise Formen ökonomischer, rechtlicher und politischer, zweckra tional ausgerichteter Beziehungen . An gesellschaftlichen Prozessen sind nĂ€mlich nicht nur Individuen, sondern auch Organisationen und der Staat als Insti-tution der Gesellschaft beteiligt . Diese allerdings können nicht einzig ĂŒber die Ansammlung einzelner Individuen beschrieben werden . Zwar stehen

8 Nach Martin Hollis (1977) kennzeichnet diese Unterscheidung gar die GrĂŒndungslinien der Soziologie und des VerstĂ€ndnisses von Menschen in sozialen BezĂŒgen .

136 Inklusion und Gerechtigkeit

sich auf gesellschaftlicher Ebene auch Individuen gegenĂŒber, nĂ€mlich als BĂŒrger . Die BĂŒrger stehen aber auf gesellschaftlicher Ebene auch Institutio-nen – beispielsweise dem Staat – und Organisationen gegenĂŒber .

Teilbereiche des Sozialen

Die zentrale Frage im soziologischen Diskurs ist nun folgende: Wie stehen Teilbereiche des Sozialen zueinander? Welche Verflechtungen, AbhĂ€ngigkei-ten und wechselseitigen Einflussnahmen existieren beispielsweise in der Po-litik, der Wirtschaft, dem Recht, den Massenmedien, der Kunst, dem Sport, in der Religion, im Alltagsleben oder in der schulischen oder außerschuli-schen PĂ€dagogik? Eine weitere zentrale Unterscheidung zur Beantwortung dieser Fragen ist dabei die Unterscheidung zwischen Individuum und Ge-sellschaft .9 Gesellschaften sind nicht auf direkte persönliche Beziehungen zwischen Individuen reduzierbar . Was aber sind sie?

Um dies zu klĂ€ren, unterscheidet der Soziologe Max Weber zwischen Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung und greift damit auf die klassi-sche Unterscheidung von Ferdinand Tönnies, einem der GrĂŒndervĂ€ter der Soziologie, zurĂŒck .

Man sollte die Unterscheidung an dieser Stelle in den Blick nehmen, denn sie ist fĂŒr die Beantwortung der Frage nach der genauen Ausformulie-rung von Anerkennung, Zugehörigkeit und sozialer IntentionalitĂ€t von gro-ßer Bedeutung . So wird sich beispielsweise zeigen, dass insbesondere Inklu-sion in Gemeinschaften fĂŒr Menschen mit Behinderung eine Herausforderung ist, da ihnen oft die notwendige interpersonale Anerkennung verweigert wird . Diese Schwierigkeit besteht auch dann, wenn ihr Status als gleichbe-rechtigte BĂŒrger in einer Gesellschaft faktisch anerkannt ist .

9 Vgl . fĂŒr den Gesellschaftsbegriff in der Philosophie beispielsweise die Schriften von John Rawls . Nach Rawls (1993, S .  23ff .) kann eine Gesellschaft als ein umfassendes, relativ selbstĂ€ndiges soziales Gemeinwesen beschrieben werden, das aus einer Vielzahl kleinerer sozialer Einheiten besteht und dies vermittels einer institutionellen Ordnung zu einem weitgehend selbstgenĂŒgsamen und in sich abgeschlossenen Gesamtsystem menschlicher Koexistenz zusammenfasst . In der gesellschaftlichen SphĂ€re ist Handeln und Verhalten unpersönlich und allgemein und lĂ€sst sich nicht mehr auf die Summe einzelner Akteure reduzieren . Aus diesem Grund kommt der Frage nach Institutionen auf der Ebene gesell-schaftlicher Inklusion eine so hohe Bedeutung zu .

Die Struktur von Inklusion 137

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft

FĂŒr Ferdinand Tönnies (2005)10 konstituiert sich Gesellschaft ĂŒber Tausch-akte . Gesellschaft beginnt fĂŒr ihn mit der Moderne und dem Kapitalismus . Sie ist gekennzeichnet durch einen rationalen, bewussten KĂŒrwillen11 . Mit KĂŒrwillen meint Tönnies (ebd ., S . 91ff .) die Form des Willens, mit deren Hilfe der Einzelne sich anderer in instrumenteller Weise zu eigenen Zwecken bedient . Beispiele eines solchen Gesellschaften auszeichnenden KĂŒrwillens sind Aktiengesellschaften oder der moderne Staat . Beziehungen in Gemein-schaften demgegenĂŒber beruhen auf ReziprozitĂ€t . Sie sind keine vertragli-chen TauschverhĂ€ltnisse, sondern grĂŒnden auf gegenseitiger supererogatori-scher StĂŒtzung und Hilfe . Charakterisiert wird die Gemeinschaft von einem gefĂŒhlten, unbewussten Wesenswillen (vgl . ebd ., S .  73ff .) . Hier fĂŒhlt sich nach Tönnies der Einzelne als Teil eines grĂ¶ĂŸeren Ganzen, und er orientiert sein Handeln an den ĂŒbergeordneten Zielen der Gemeinschaft . Die Rezip-rozitĂ€t in der gegenseitigen StĂŒtzung und Hilfe kann durchaus im Ungleich-gewicht, asymmetrisch, sein, sie ist aber nach Tönnies (ebd ., S . 11) nie einsei-tig .

Die Familie ist fĂŒr Tönnies die primĂ€re, prototypische Gemeinschaft . Fa-milien sind Gemeinschaften von â€șBlut und Bodenâ€č12 (vgl . ebd ., S . 12f .) . In-nerhalb der Familie existieren drei Gemeinschaftskerne . In ihnen kann eine Abfolge von stĂ€rkerem zu schwĂ€cherem Zusammenhalt festgestellt werden: erstens die Mutter-Kind-Beziehung . Diese ist zuerst eine körperliche, spĂ€ter eine geistige Verbindung . Zweitens gibt es nach Tönnies die Mann-Frau-Beziehung, welche gekennzeichnet ist durch Instinkt – Anziehung – und Gewöhnung . Und drittens existiert die Gemeinschaftsbeziehung der Ge-schwisterbeziehung, welche durch gemeinsame Erinnerungen konstituiert ist . Neben dieser primĂ€ren, prototypischen Gemeinschaft unterscheidet Tönnies Gemeinschaften des Geistes (Freundschaften) und Gemeinschaften des Ortes (Nachbarschaften) (vgl . ebd ., S . 12f .) .

10 Die erste Herausgabe des Buches â€șGemeinschaft und Gesellschaftâ€č von Tönnies geht auf das Jahr 1887 zurĂŒck . WĂ€hrend die erste Ausgabe noch weitgehend unbeachtet blieb, Ă€n-derte sich das bei der zweiten 1912 . Die letzte und gegenwĂ€rtig einzig erhĂ€ltliche Ausgabe stammt aus dem Jahr 2005 .

11 Bei Max Weber (1922) heißt das spĂ€ter Zweck- und WertrationalitĂ€t . 12 Insbesondere daran war eine damals sehr verbreitete völkische Ideologie anschlussfĂ€hig .

Dies, obwohl sich Tönnies nie als Deutschnationaler verstand und die verschiedenen Aus-gaben seines Werkes auch jeweils mit einem kritischen Vorwort zur gesellschaftlich-politi-schen Lage versah und dabei auf einschlÀgige Zeitdiskussionen Bezug nahm .

138 Inklusion und Gerechtigkeit

Kritik an Tönnies

Tönnies wurde fĂŒr seine Konzeption von Gemeinschaft frĂŒh kritisiert, bei-spielsweise von Emile Durkheim, Max Weber oder Talcott Parsons (vgl . Opielka 2006, S . 11) . Die Kritik bezog sich dabei vor allem auf drei Punkte (vgl . Scherr 2006, S . 57): Erstens verwendet Tönnies geschlechtsbezogene Stereotype, indem er Gesellschaft als mĂ€nnliches und Gemeinschaft als weibliches Prinzip bezeichnet . Zweitens sind im Tönnies’schen VerstĂ€ndnis gemeinschaftliche Beziehungen vor- oder außergesellschaftlich und in ihrer Struktur nicht von gesellschaftlichen Strukturen und Dynamiken beein-flusst . Damit sind wechselseitige Beeinflussungen und Durchdringungen der SphĂ€ren bei Tönnies nicht mitgedacht . Drittens wird die quasi-natĂŒrliche Zugehörigkeit von Individuen zu allen Arten von Gemeinschaften nicht problematisiert .13 Die Zugehörigkeit zur Familie, aber auch zu Nation und Volk wird bei Tönnies zwar beschrieben, die kritischen Dimensionen, bei-spielsweise AbhĂ€ngigkeiten und mangelnde Freiheiten von Individuen, aber nicht ausgeleuchtet .

Max Weber: â€șVergemeinschaftungâ€č und â€șVergesellschaftungâ€č

Aufbauend auf den Überlegungen und kritischen Anmerkungen an Tönnies’ Konzeption entwickelte Max Weber in â€șWirtschaft und Gesellschaftâ€č ein neues VerstĂ€ndnis der Unterscheidung Gemeinschaft-Gesellschaft, die er mit den Begriffen â€șVergemeinschaftungâ€č und â€șVergesellschaftungâ€č als soziale Prozes-se zu fassen versucht . »â€șVergemeinschaftungâ€č soll eine soziale Beziehung hei-ßen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns [
] auf subjektiv gefĂŒhlter (affektualer oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteilig-ten beruht« (Weber 1922, Art . 9) . Der â€șVergemeinschaftungâ€č steht der Pro-zess der â€șVergesellschaftungâ€č gegenĂŒber, den Weber folgendermaßen um-schreibt: »â€șVergesellschaftungâ€č soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweck-rational) motivierten Interessensausgleich oder auf ebenso motivierter Inter-essenverbindung beruht« (ebd .) . Die reinsten Typen der â€șVergesellschaftungâ€č sind nach Weber der zweckrationale, freie Tausch auf dem Markt, der frei

13 Vor allem der letzte Punkt ist angesichts der zu Lebzeiten Tönnies entwickelnden national-sozialistischen Ideologie einer Volksgemeinschaft, welcher Tönnies entschieden ablehnend gegenĂŒber stand, erstaunlich .

Die Struktur von Inklusion 139

handelnde Zweckverein (eine hinsichtlich Zweck und Mittel auf die Verfol-gung sachlicher Interessen der Mitglieder ausgerichtete Verbindung) und der wertrational motivierte Gesinnungsverein, die sogenannte â€șrationale Sekteâ€č . Den Prozess der â€șVergemeinschaftungâ€č versteht Weber demgegenĂŒber offe-ner . Er umfasst die sogenannte BrĂŒdergemeinde, erotische Beziehungen, die nationale Gemeinschaft und die Familie . Neu gegenĂŒber Tönnies ist insbe-sondere die Feststellung, dass die große Mehrzahl der Beziehungen sowohl den Charakter von â€șVergemeinschaftungâ€č wie von â€șVergesellschaftungâ€č trĂ€gt .

Die praktische Bedeutung der Unterscheidung fĂŒr das Thema Behinderung

Ökonomische, rechtliche und politische Beziehungen, so hat sich gezeigt, sind nicht allein ĂŒber Individuen beschreibbar, sondern umfassen auch Or-ganisationen und Institutionen, die in gewissem Sinne ĂŒberindividuell, das heißt nicht durch die Summe aller Individuen substituierbar, sind .

Praktisch bedeutsam wird diese Feststellung fĂŒr das Leben von Menschen mit Behinderung vor allem aus zwei GrĂŒnden: Erstens prĂ€gen gesellschaftli-che Institutionen und Organisationen ihr Leben in besonderem Maß, bei-spielsweise durch gesellschaftlich bereitgestellte Mittel der Hilfe und Unter-stĂŒtzung im Falle von BerufsunfĂ€higkeit, aber auch ĂŒber Bildung und Erziehung, welche sich ebenfalls ĂŒber staatliche Mittel finanziert . Diese ge-sellschaftlichen Institutionen und Organisationen beeinflussen auch den Grad und die Art ihrer gemeinschaftlichen Inklusion, etwa in konkreten Ar-beits- oder Bildungsgemeinschaften, zu denen Menschen mit Behinderung Zugang haben . Zweitens kann man mit Ferdinand Tönnies darauf hinwei-sen, dass gemeinschaftliche Beziehungen wechselseitig sein mĂŒssen, dass die BeitrĂ€ge der Einzelnen aber durchaus im Ungleichgewicht sein können . Das bedeutet, eine Beziehung kann reziprok sein, ohne dass beide Seiten qualita-tiv wie quantitativ denselben Beitrag leisten . Es wird, mit anderen Worten, keine strenge ReziprozitĂ€t erwartet . Damit ist es erstens möglich, die soziale Inklusion von Menschen mit schweren Behinderungen – die nicht in dem-selben Maß zu einem gemeinsamen Unternehmen beitragen können – zu beschreiben .14 Und zweitens wird es möglich, auf die Bedeutung von Zu-

14 Meiner Ansicht nach ist das entscheidende Kriterium daran, dass man glaubt, die eigene IntentionalitĂ€t mache beim Anderen â€șeinen Unterschiedâ€č . Der Sinn dieser Zuschreibung liegt darin, dass sie Entwicklungsprozesse auslöst, die ohne diesen Vertrauensvorsprung

140 Inklusion und Gerechtigkeit

wendung und Hinwendung in Entwicklungsprozessen hinzuweisen . Denn Eltern wenden sich in der Erziehung ihrer Kinder deren BedĂŒrfnissen nach Zuwendung und Vertrauen zu, ohne dass sie eine aktuale Gegenleistung er-warten . Im Gegenteil: Die bedingungslose Zuwendung ist Voraussetzung fĂŒr die gedeihliche Entwicklung von SĂ€uglingen und Kleinkindern (vgl . Brazel-ton und Greenspan 2002) .15

Im Folgenden möchte ich dazu ĂŒbergehen, die beiden SphĂ€ren Gemein-schaft und Gesellschaft zu klĂ€ren und zu erlĂ€utern . FĂŒr die gemeinschaftliche wie die gesellschaftliche SphĂ€re werde ich die beiden Annahmen – Zugehö-rigkeit respektive Anerkennung (im Sinne einer Identifikation) sowie soziale IntentionalitĂ€t respektive soziales Handeln – erlĂ€utern und exemplifizieren . Ich beginne mit der SphĂ€re der gemeinschaftlichen Inklusion .

5 .2 Gemeinschaftliche Inklusion

Masons Gemeinschaftsbegriff

In der Gesellschaft und ihren Verbindungen interagieren Menschen auf kon-traktualer Basis, um ihre Selbstinteressen durchzusetzen . Eine Gemeinschaft demgegenĂŒber kann laut Andrew Mason (2000)16 als eine Gruppe von

nicht in Gang gesetzt wĂŒrden . Dies zeigt sich auch eindrĂŒcklich in Beziehungen zu Men-schen im Koma . So wenden sich Angehörige diesen erfahrungsgemĂ€ĂŸ so lange zu, wie sie davon ausgehen, dass sie von der Ansprache etwas mitnehmen . Vgl . dazu das ausfĂŒhrlich und interessant beschriebene Fallbeispiel von Steve durch Simo Vehmas (2010) . Erfahrun-gen von Eltern mit schwerstbehinderten, nicht lebensfĂ€higen SĂ€uglingen bestĂ€tigen darĂŒ-ber hinaus diese Erfahrungen . Auch zeigen soziologische Untersuchungen, dass vor allem diese Ansprache, das Wahrnehmen von Leben, entscheidend ist fĂŒr die Zuschreibung von IntentionalitĂ€t (vgl . Lindemann 2002, 2010) .

15 Allerdings muss diese Zuwendung zumindest von der Hoffnung getragen sein, dass die Zuwendung in Zukunft einmal erwidert wird . Erfahrungen von Angehörigen, die Men-schen betreuen, von denen keine Lebensreaktion erwartet werden kann, zeigen, dass die vollstÀndige NichtreziprozitÀt von Zuwendung auf Dauer psychisch meist nicht ertragen werden kann .

16 Gemeinschaft ist ein wichtiger Begriff in der Diskussion zwischen Liberalen und soge-nannten Kommunitaristen . Letztere betonen den Wert von Gemeinschaft und kritisieren an liberalen Theorien, dass Gemeinschaften und vor allen Dingen der Wert von Gemein-schaft vernachlĂ€ssigt wĂŒrde (vgl . Buchanan 1989; Kymlicka 2002; MacIntyre 1985) . Aller-dings ist es dem Kommunitarismus nach Ansicht Wolfgang Kerstings (1997, S . 406) bis heute nicht gelungen, den Gemeinschaftsbegriff zu definieren . Ähnlicher Meinung ist

Die Struktur von Inklusion 141

Menschen verstanden werden, die erstens gemeinsame Werte und zweitens einen gemeinsamen Lebensstil teilen, in der drittens eine Identifikation mit der Gruppe und ihren Praktiken stattfindet und deren Mitglieder sich viertens wechselseitig als Mitglieder anerkennen: Beim gemeinsamen Handeln sind die gemeinsamen Ziele und Interessen nicht reduzierbar auf die der einzelnen Mitglieder .17

In der RealitĂ€t ĂŒberlappen sich beide Gesichtspunkte respektive beide SphĂ€ren zweifelsohne . So kann eine Firma, deren Arbeiter auf kontraktualer Basis interagieren, in dem hier vorliegenden Sinn als Gesellschaft bezeichnet werden, denn es sind vordringlich die von Weber und Tönnies genannten zweckrationalen Kriterien, an denen sich die Zugehörigkeit misst . Der Ein-zelne ist hier â€șArbeiterâ€č . DarĂŒber hinaus ist er aber, sobald sich der Fokus auf den gemeinschaftlichen Charakter – nĂ€mlich eine bestimmte Arbeitsgruppe – richtet, Teil einer Gemeinschaft . Hier wird dann der Arbeiter als Kollege oder Kumpel wahrgenommen . Der Punkt ist vor allem der, dass in beiden SphĂ€ren – die, wie das Beispiel des Arbeitsplatzes zeigt, auch ĂŒberlappend sein können – unterschiedliche Modi von Zugehörigkeit und Anerkennung konstitutiv sind . Und auf diese Modi kommt es in der Analyse der normati-ven Relevanz von Inklusion insbesondere an .

Eine Gemeinschaft als spezifische Art von Gruppe hat zentrale Werte und Ziele . Diese umfassen laut Andrew Mason auch regelgeleitete Praktiken . Ein gemeinsamer Lebensstil bestimmt die zentralen Bereiche der sozialen,

Udo Tietz (2006, S . 48), der moniert, der Kommunitarismus habe »bisher keine Konzep-tion der Gemeinschaft vorgelegt, die den eigenen Themenbereich der sozialen und politi-schen Integration in einer Weise fasst, dass er mit dem Themenbereich der praktischen Verwirklichung des Liberalismus, der Stabilisierung und Kontinuierung liberaler, demo-kratischer Gesellschaften, kompatibel wĂ€re .« Mason ist daher meines Wissens einer der wenigen Autoren, der in der Debatte eine explizite Definition von Gemeinschaft geliefert hat .

17 Vertritt man keinen stark normativen Gesellschaftsbegriff, wie das beispielsweise im Kom-munismus der Fall ist, ist eine Gesellschaft nicht gleichzeitig auch eine Gemeinschaft . Denn nur eine Gesellschaft, in welcher der Einzelne im kollektiv geteilten Gemeinwohl aufgeht, kann auch als Gemeinschaft bezeichnet werden . Dies ist aber in modernen Ge-sellschaften und Demokratien nicht der Fall, zumal es in zunehmend globalisierten Gesell-schaften noch viel weniger zutrifft . Zwar ist die gewĂŒnschte Beziehung zwischen BĂŒrgern in einer wohlgeordneten Gesellschaft, wie sie beispielsweise John Rawls (1993) vertritt, eine Auffassung von Gesellschaft, die getragen ist von gegenseitiger WertschĂ€tzung der BĂŒrger untereinander und der wechselseitigen BestĂ€tigung der BefĂ€higungen derselben . Von Rawls (2003, S . 300) wird aber bestritten, dass die wohlgeordnete Gesellschaft eine Gemeinschaft sei, und zwar aus dem Grund, weil ihre BĂŒrger keine umfassende Lehre teilen .

142 Inklusion und Gerechtigkeit

politischen oder ökonomischen AktivitĂ€ten . Die Identifikation mit der Ge-meinschaft und ihren Praktiken beinhaltet normalerweise das Vorantreiben gemeinsamer Praktiken und Interessen, um sich der Gemeinschaft und ihren Handlungen zugehörig zu fĂŒhlen . Das setzt voraus, dass die Mitglieder die Gemeinschaft und ihre Ziele und Praktiken als wertvoll ansehen mĂŒssen .18 Eine Gemeinschaft setzt zu guter Letzt auch wechselseitige Anerkennung voraus, welche in einem nichtnormativen Sinne zunĂ€chst einmal als wechsel-seitige (gegenĂŒber einer personalen) Identifikation dahingehend verstanden werden kann, dass andere Gruppenmitglieder als Mitglieder identifiziert werden .

Konflikte in der wechselseitigen Anerkennung können auftreten, wenn Uneinigkeit darĂŒber besteht, ob jemand die Kriterien fĂŒr die Mitgliedschaft erfĂŒllt oder wenn (implizite oder explizite) Uneinigkeit ĂŒber die Kriterien selbst besteht .19

Je nach AusprĂ€gungen dieser Elemente lassen sich laut Mason nun ganz verschiedene Gemeinschaften identifizieren . WĂ€hrend einige Gemeinschaf-ten in ausgeprĂ€gtem Maße gemeinsame Werte und Ziele, einen gemeinsa-men Lebensstil sowie eine hohe Identifikation mit der Gemeinschaft verlan-gen, tun dies andere nur in sehr schwacher Weise . Ein typisches Beispiel fĂŒr Gemeinschaften mit hoher Wert- und Lebensstilorientierung sowie einem hohen Maß an Identifikation sind orthodoxe religiöse Gemeinschaften, wie sie unter anderen die Amischen oder streng orthodoxe Juden in besonders deutlicher AusprĂ€gung darstellen .

Kritik an Masons Gemeinschaftsbegriff

Der von Mason vertretene Gemeinschaftsbegriff ist allerdings sehr eng und daher abzulehnen . Dies zeigt sich bereits in seiner eigenen Auslegung der vier Elemente, die so schwach ausgeprĂ€gt sein können, dass ihr Status als Kriteri-um hinfĂ€llig wird . So schreibt Mason (ebd ., S . 39), dass sich die Mitglieder

18 Das bedeutet nicht, dass sie wertvoll sein mĂŒssen . Die Identifikation kann auch auf einer Illusion beruhen (vgl . Williams 1995) .

19 Die Annahmekriterien in eine Gemeinschaft können formell oder informell sowie freiwil-lig (und damit wĂ€hlbar) oder nicht freiwillig sein . Formelle Aufnahmekriterien sind bei-spielsweise PrĂŒfungen, die man bestehen muss, um in einem Kontext wie einem Gymna-sium aufgenommen zu werden . Ein Beispiel fĂŒr ein unfreiwilliges Aufnahmekriterium ist die Geburt in die eigene Herkunftsfamilie.

Die Struktur von Inklusion 143

in Gemeinschaften nicht zwangslĂ€ufig kennen mĂŒssten und daher auch Na-tionen als Gemeinschaften bezeichnet werden könnten .20

Werden aber Nationen als Gemeinschaften bezeichnet, ist fraglich, was mit â€șgemeinsamem Lebensstilâ€č gemeint ist . Zweifelsohne pflegen Menschen in den Nationen, in denen sie leben, mit Ausnahme streng diktatorischer und abgeschotteter Nationen wie Nordkorea ganz unterschiedliche Lebens-stile . Masons Meinung ist mit Bestimmtheit nicht, dass nur Nationen wie Nordkorea als Gemeinschaften gelten können . Allerdings: Gelten Nationen generell als Gemeinschaften und will man darĂŒber hinaus einen plausiblen Begriff von Lebensstil vertreten, stellt sich die Frage, inwiefern ein gemeinsa-mer Lebensstil eine notwendige Bedingung von Gemeinschaft sein kann .

In gewissem Sinn gilt diese Kritik fĂŒr alle von Mason identifizierten Ele-mente von Gemeinschaft: Sind sie alle notwendige Bedingungen dafĂŒr, als Gemeinschaft gelten zu können, wĂŒrden wohl nur noch wenige Gruppen als Gemeinschaften gelten . Dies trĂ€fe dann beispielsweise noch auf enge, relativ kleine, orthodox religiöse Gruppen oder enge Freundschaften zu, denn nur bei ihnen kann man von der ErfĂŒllung aller vier Kriterien ausgehen .

Der Begriff der Gemeinschaft muss also deutlich schwĂ€cher respektive weiter ausfallen . Entgegen der Definition von Mason gehe ich davon aus, dass Gemeinschaften durch Identifikation mit der Gruppe (von Seiten der einzelnen Mitglieder) und von wechselseitiger Anerkennung geprĂ€gt sind, die zwei anderen Elemente (gemeinsame Werte und gemeinsamer Lebens-stil) aber wegfallen können . DafĂŒr gibt es zwei GrĂŒnde . Den ersten habe ich bereits genannt: Die Definition umfasst, bei ĂŒberzeugender Auslegung der einzelnen Elemente, zu wenige PhĂ€nomene und fĂŒhrt dazu, dass die SphĂ€re der Gemeinschaft kaum mit derjenigen der Gesellschaft kontrastiert werden kann . Zweitens können sowohl die Bedingung der geteilten Werte wie auch die Bedingung des gemeinsamen Lebensstils in ihrer plausiblen Auslegung unter die anderen zwei Bedingungen (Identifikation und wechselseitige An-erkennung) substituiert werden . Wie sich spĂ€ter noch genauer zeigen wird, ist nĂ€mlich sowohl in der Identifikation mit der Gemeinschaft als auch durch die wechselseitige Anerkennung bereits impliziert, dass zumindest gewisse Werte geteilt werden, nĂ€mlich diejenigen Werte, die bereits Grundlage dafĂŒr sind, dass wechselseitige Anerkennung und Identifikation ĂŒberhaupt geleis-

20 Allerdings ist bei solchen Gemeinschaften immer die Gefahr der Entfremdung gegeben . Eine Beziehung zwischen Menschen, die sich nicht kennen, muss daher immer vermittelt sein . So erkennen sich Gemeinschaften wie die Juden auf der ganzen Welt an bestimmten Attributen der Kleidung und des Aussehens als Ausdruck ihres religiösen Glaubens (vgl . Mason 2000, S . 39) .

144 Inklusion und Gerechtigkeit

tet wird . Widmet sich beispielsweise die Gemeinschaft eines Fanclubs der gemeinsamen Fanarbeit, dann ist es naheliegend, davon auszugehen, dass sich die einzelnen Mitglieder wechselseitig vor allem darin anerkennen, wie sich dieser geteilte Wert, das Fansein, ausdrĂŒckt . In diesem scheiden sich dann die â€șwahrenâ€č oder â€șrichtigenâ€č von den â€șfalschenâ€č oder bloß â€șhalbherzi-genâ€č Fans .

Die Konstituierung von Gemeinschaften

Die Identifikation von Gruppen als Gemeinschaften ist die eine Seite einer Deskription von Gemeinschaft . Die andere betrifft die Frage, wie sich Ge-meinschaften konstituieren . Damit wird der Prozess der Werdung einer Ge-meinschaft beleuchtet . Die Beantwortung der Frage, wie sich Gemeinschaf-ten bilden, hat Auswirkungen darauf, wie die einzelnen Elemente, welche eine Gemeinschaft ausmachen, ausgeprĂ€gt sind . Bildet sich beispielsweise eine Gemeinschaft dadurch, dass unterschiedliche Menschen ein bestimmtes Interesse teilen, sei dies das gemeinsame Interesse an einem KĂŒnstler oder ein Hobby wie Fußballspielen, ist es naheliegend anzunehmen, dass in solchen Gemeinschaften die Identifikation sowie die wechselseitige Anerkennung zum grĂ¶ĂŸten Teil ĂŒber dieses freiwillig gewĂ€hlte gemeinsame Interesse geht . In anderen Gemeinschaften, die sich ĂŒber die ErfĂŒllung bestimmter objekti-ver Kriterien (Alter, geographisches Einzugsgebiet) konstituieren, lĂ€uft die Anerkennung ĂŒber die ErfĂŒllung dieser objektiven Zugangsbedingungen . Es ist daher möglich und sinnvoll, unterschiedliche Gemeinschaften nicht nur dahingehend zu unterscheiden, wie einzelne Elemente in ihnen ausgeprĂ€gt sind, sondern, damit verbunden, auch hinsichtlich der Art und Weise, wie sie sich konstituieren .

Ich schlage vor, Gemeinschaften in dieser Hinsicht auf einem Kontinu-um einzuordnen . Dieses Kontinuum ist am einen Ende partizipativ, am an-deren Ende exklusiv .21 Dabei sind exklusive Gemeinschaften tendenziell ĂŒber formelle Anerkennungsprozeduren gekennzeichnet, wĂ€hrend sich par-tizipative durch informelle Selbstzuschreibung konstituieren . Die zwei Pole von Gemeinschaften schĂ€rfen die erste Intuition, wonach Inklusion mit Zu-gehörigkeit zu tun hat, fĂŒr den gemeinschaftlichen Bereich .

21 Dabei sind beide Formen Idealtypen und in der RealitÀt kaum so anzutreffen . Es geht also weniger darum, ob eine Gemeinschaft partizipativ oder exklusiv ist, sondern um die Frage, welches Motiv vor- respektive nachgelagert ist .

Die Struktur von Inklusion 145

5 .2 .1 Partizipative versus exklusive Grundstrukturen von Gemeinschaften

Gemeinschaften können tendenziell partizipativ und inkludierend sein, sie können aber auch exklusiv und damit tendenziell ausschließend sein . Dass beide nicht in Reinform existieren, sondern Idealtypen entsprechen, hat mit der Struktur von Inklusion zu tun . Wie ich bereits erwĂ€hnt habe, ist bei In-klusion immer auch komplementĂ€r Exklusion mitgedacht . Mit anderen Worten: Wer von einer Gemeinschaft spricht, also von â€șwirâ€č, setzt damit nicht nur eine partizipative Struktur, sondern auch die Grenzen dieser Ge-meinschaften und meint auch ein â€șSieâ€č als Unterscheidungsmoment zum â€șWirâ€č . Die Grenze trennt die Mitgemeinten (wir), die Mitglieder der Ge-meinschaft, von den Ausgeschlossenen, den â€șAnderenâ€č (vgl . Tietz 2002) . Eine partizipative Seite von Gemeinschaft hat, mit anderen Worten, also auch immer eine exklusive Seite und macht Aussagen darĂŒber, oft nur impli-zit, wer nicht dazu gehört .22 Wer â€șwirâ€č sagt, impliziert also zugleich mit der Struktur immer die Geltung von Zugehörigkeitsbedingungen oder Kriteri-en, welche eine bestimmte Auswahl von Individuen zum â€șWirâ€č machen .23 Diese Anwendungskriterien können bewusst und explizit sein, mĂŒssen es aber nicht .24

22 Dabei muss man zwar nicht alle Mitgemeinten in einer Gemeinschaft kennen, denn diese kann durchaus sehr groß sein . Man braucht aber eine Vorstellung derer, die dazu gehören und derer, die ausgeschlossen sind .

23 Die der partizipativen Seiten entgegen gestellte exklusive Seite bedeutet zwar nicht, dass die meisten aus einem partizipativen Kreis ausgeschlossen wĂ€ren . Selbst wenn aber unter â€șwirâ€č ein universelles â€șWirâ€č gemeint ist, beispielsweise die Gemeinschaft aller Menschen, unterstellt man Kriterien dafĂŒr, wer â€șalleâ€č sind . Alle Lebewesen beispielsweise schließt alle Nicht-Lebewesen wie Steine oder HĂ€user aus . In sonderpĂ€dagogischem Zusammenhang wird dieser Aspekt selten beleuchtet . Auf diesen Punkt hat unter anderem John Wilson (1999) kritisch hingewiesen . Seiner Meinung nach macht es keinen Sinn, von Inklusion zu sprechen, wenn man nicht gleichzeitig Kriterien benennt, nach denen jemand inkludiert ist .

24 Explizite Kriterien kommen beispielsweise in PrĂŒfungsreglementen zum Ausdruck . Benö-tigt jemand einen bestimmten Notendurchschnitt, um in eine nĂ€chste Schulstufe ĂŒberzu-treten, sind dies explizite Kriterien . Ist beispielsweise ein Notendurchschnitt von 5 (im Schweizer Notensystem) Voraussetzung zum Besuch eines Gymnasiums, heißt das, dass bei unparteilicher Anwendung dieser Aufnahmeregel alle Mitglieder der Klassengemein-schaft diese Bedingung zur Aufnahme erfĂŒllten und daher rechtmĂ€ĂŸig Mitglieder der Klassengemeinschaft sind . Diese expliziten Kriterien kennzeichnen eine exklusive Ge-meinschaft, in diesem Fall die SchĂŒlerschaft eines Gymnasiums .

146 Inklusion und Gerechtigkeit

Zwei Pole von Gemeinschaften

In der Struktur von Gemeinschaften lassen sich also zwei Pole identifizieren, die das VerhĂ€ltnis der beiden Momente kennzeichnen: Die eine Seite der exklusiven Gemeinschaft beschreibt die Mitgliedschaft in der vorgĂ€ngigen ErfĂŒllung bestimmter exklusiver Zugehörigkeitsbedingungen . â€șWirâ€č heißt in diesem Fall, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft dieselben Zugehörig-keitsbedingungen erfĂŒllen . Dies können unter anderem Eigenschaften, Qua-litĂ€ten oder Verhaltensweisen sein . Zum â€șWirâ€č eines Opernorchesters gehö-ren beispielsweise alle, welche eine AufnahmeprĂŒfung oder ein Aufnahme- verfahren bestanden haben und ein bestimmtes, im Orchester benötigtes, Instrument hinreichend gut beherrschen .

Die andere Seite des Pols versteht die partizipative Selbstzuschreibung als primĂ€r . Zu â€șwirâ€č gehören also alle, die sich dem â€șWirâ€č zugehörig fĂŒhlen oder fĂŒhlen wollen . Was â€șunsâ€č zu einem â€șWirâ€č macht, sind also nicht irgendwelche Eigenschaften oder QualitĂ€ten, sondern die Tatsache, dass die einzelnen Mitglieder sich selbst zur Gemeinschaft zugehörig fĂŒhlen . Damit sind in ei-nem partizipativen GemeinschaftsverstĂ€ndnis die ZugehörigkeitsgefĂŒhle der einzelnen Mitglieder zentral . Wer sich nicht zur Gemeinschaft zugehörig fĂŒhlt und/oder von dieser nicht als zugehörig erlebt wird, gehört nicht dazu . Und im Gegenzug gehören diejenigen dazu, welche sich der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern zugehörig fĂŒhlen .25 Beispielsweise kann sich ein Ju-gendlicher in einer Skateboarder-Clique zugehörig fĂŒhlen und dieses GefĂŒhl ĂŒber Freundschaft konstituieren . Maßgeblich ist in diesem Fall dann nicht, dass alle in dieser Clique Skateboard fahren können (selbst wenn es so sein sollte), sondern dass sie sich als ein Miteinander in der Freundschaft verste-hen .

Ein exklusiver Gemeinschaftsbegriff setzt Exklusion hierarchisch vor Par-tizipation . Er fokussiert darauf, dass â€șwirâ€č diejenigen umfasst, welche die gel-

25 Ein typisches Beispiel fĂŒr eine solche partizipative Gemeinschaft ist ein Fanclub . Ihm ge-hören in der Regel diejenigen an, die sich ihm zugehörig fĂŒhlen . So ist es absurd zu bestrei-ten, jemand sei kein Fan, wenn sich dieser selbst als solcher fĂŒhlt . Allenfalls könnte man einwenden, er wisse nicht, was dazu gehöre, ein Fan zu sein . Auch ist es möglich, jeman-den, der den jĂ€hrlichen Vereinsmitgliederbeitrag nicht bezahlt, formell aus dem Fanclub (als organisierte Vereinigung) auszuschließen . Dann allerdings streitet man sich nicht ĂŒber die Tatsache des Fanseins an sich, sondern um eine angemessene Beurteilung dessen, wann und wodurch man sich zugehörig fĂŒhlen kann und formell dazu gehört . Unumstritten scheint daher im Falle eine Fanclubs die Selbstzuschreibung das entscheidende Kriterium einer Mitgliedschaft in der Gemeinschaft zu sein .

Die Struktur von Inklusion 147

tenden Zugehörigkeitsbedingungen erfĂŒllen . Die dabei unterstellte Selbst zu-schreibung grĂŒndet in einer vorgĂ€ngigen ErfĂŒllung der exklusiven Zugehörig- keitsbedingungen . Die Mitglieder der Gruppe teilen bestimmte Eigenschaften objektiver Art . Die subjektiv empfundene Gemeinsamkeit und Zugehörig-keit auf Seiten der Individuen hat ihren Ursprung in einer die relevanten Kriterien betreffenden, objektiven Gleichheit . Das Bewusstsein, eine Ge-meinschaft zu sein, weist dabei auf die Zugehörigkeitsbedingungen, es schafft sie aber nicht . Eine so verstandene Inklusion kann man sich wie die Zugehö-rigkeit zu einem exklusiven Club vorstellen, in welchem die Aufnahme auf-grund festgelegter, objektiver Kriterien erfolgt . Anerkennung wie auch Zu-gehörigkeitsgefĂŒhle sind dem nachgelagert, indem die Zugehörigkeit ĂŒber die objektive Gleichheit verstanden wird .26

DemgegenĂŒber steht ein partizipativer Gemeinschaftsbegriff . Hier folgen die exklusiven Zugehörigkeitsbeschreibungen den partizipatorischen Selbst-zuschreibungen . Mitglied der Gemeinschaft sind all diejenigen, welche sich dem â€șWirâ€č zugehörig fĂŒhlen . Es ist also die subjektive Selbstzuschreibung, welche die Grenze zwischen den Inkludierten und den Exkludierten festlegt . Die Selbstzuschreibung oder Identifikation mit der Gemeinschaft kann die Grenzen auch unabhĂ€ngig von den sich in der sozialen Wirklichkeit beob-achtbaren Grenzen gemeinschaftlicher TĂ€tigkeit bilden . Jemand kann in die-sem VerstĂ€ndnis zu einer Gemeinschaft dazu gehören, obwohl er nie an einer GruppenaktivitĂ€t teilnimmt . Im Gegenzug kann jemand nicht zur Gemein-schaft gehören, obwohl er an sĂ€mtlichen AktivitĂ€ten der Gemeinschaft teil-nimmt . In einem eher partizipativ geprĂ€gten Wir-VerstĂ€ndnis kann man sich selbst aus der Gemeinschaft ausschließen, indem man sich der Gemeinschaft nicht mehr zugehörig fĂŒhlt .27 Da in einem partizipativen Gemeinschaftsver-stĂ€ndnis kein vorgĂ€ngiges, exklusives und objektives Fundament bestimmter vorzuweisender Eigenschaften oder QualitĂ€ten notwendig ist, ist die Mit-

26 Hierbei zeigt sich auch ein Großteil der Problematik fĂŒr behinderte Menschen . Erstens, indem sie oft aufgrund bestimmter SchĂ€digungen respektive deren lebenspraktischer Aus-wirkungen in Form von BeeintrĂ€chtigungen der Partizipation und AktivitĂ€t die exklusiven Aufnahmebedingungen in viele Gemeinschaften nicht erfĂŒllen . Zweitens damit verbun-den auch, indem ihnen oft die notwendigen FĂ€higkeiten und Fertigkeiten abgesprochen werden, selbst wenn sie diese erfĂŒllen wĂŒrden . Drittens kommt noch hinzu, dass die Legi-timitĂ€t des Kontextes selbst in vielen FĂ€llen nicht hinterfragt wird . Damit geht man still-schweigend davon aus, dass die Spielregeln, die ĂŒber Zugang oder Ausschluss entscheiden, selbst gut, gerecht und nicht verĂ€nderbar sind . Auf diese komplexe Problematik, welches sie â€șDilemma der Differenzâ€č nennt, hat Martha Minow (1990) hingewiesen .

27 So kann sich beispielsweise ein Fan, der die Kunstwerke eines bestimmten KĂŒnstlers nicht mehr als gut befindet, aufhören, Mitglied eines Fanclubs zu sein .

148 Inklusion und Gerechtigkeit

gliedschaft in dieser Gemeinschaft direkt an die wechselseitige Anerkennung und die Identifikation geknĂŒpft und wird nicht ĂŒber die vorgĂ€ngige ErfĂŒl-lung objektiver Kriterien vermittelt .

Im Beispiel von Anna und Bertha haben sich beide Aspekte gezeigt . Bei-de Frauen erfĂŒllen die exklusiven Zugehörigkeitsbedingungen, welche den Verein offensichtlich auszeichnen . Aber nur Anna wird von den anderen Mitgliedern auch als partizipativ zum Gesangsverein zugehörig verstanden . Die Anerkennung lĂ€uft also in diesem Gesangsverein ĂŒber die vorgĂ€ngige ErfĂŒllung objektiver Kriterien, wie auch – wenn auch erst in zweiter Linie – ĂŒber die partizipative Selbst- und Fremdzuschreibung .

Die beiden Momente – exklusives wie partizipatives – bedingen sich so-mit wechselseitig und stehen gleichzeitig in einem SpannungsverhĂ€ltnis . Es sind zusammengehörende GegensĂ€tze auf einem Kontinuum, innerhalb des-sen ein Moment besonders ausgeprĂ€gt sein kann . Nie aber wird nur eines von beiden Momenten in seiner Ausschließlichkeit anwesend sein . Das heißt, Gemeinschaften, die ausschließlich auf ZugehörigkeitsgefĂŒhlen basie-ren, existieren realiter genauso wenig wie Gemeinschaften, die rein exklusiv sind und bei denen ZugehörigkeitsgefĂŒhle vollstĂ€ndig abwesend sind . Dass die ÜbergĂ€nge fließend sind, zeigt sich zudem auch an Beispielen wie der Gemeinschaft der Skateboardfahrer: Das Skateboardfahren (exklusiv) könn-te der Beginn der Freundschaft (partizipativ) sein respektive von diesem ab-gelöst werden, beispielsweise dann, wenn sich die Mitglieder selbst dann noch als Gemeinschaft fĂŒhlen, wenn sie sich bereits einem anderen Hobby zugewandt haben und gar nicht mehr Skateboard fahren .

Das Beispiel Schulklasse

An der Gemeinschaft der Schulklasse lassen sich beide Momente nochmals deutlich veranschaulichen .28 Zudem lÀsst sich daran auch zeigen, dass in

28 DarĂŒber hinaus ist die Schule als Institution von Bildung auch ein interessantes Beispiel, als sich in ihr auch gesellschaftlich komplexe Dimensionen bemerkbar machen . Bildung ist nĂ€mlich ein gesellschaftlicher Auftrag und bildet nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht . Insofern ist es den Einzelnen bei prekĂ€rer gemeinschaftlicher Stellung nur schwer möglich, sich Bildung in der Schulklasse ganz zu entziehen, da sie ja nicht – wie bei anderen gesellschaftlichen Rechten – auf die AusĂŒbung des Rechts verzichten können . Als einzige Möglichkeit bleibt solchermaßen sozial gestellten Menschen nur, den Bildungs-kontext zu wechseln .

Die Struktur von Inklusion 149

Gemeinschaften beide Momente gleichzeitig anwesend sind, selbst wenn das eine dem anderen – beispielsweise in zeitlicher Hinsicht – vorgelagert ist .

Zwar ist jede Schulklasse in ihrer Grundform tendenziell eine exklusive Gemeinschaft . Meistens spielen – auf jeden Fall in Bezug auf die öffentliche Regelbeschulung – Kriterien wie Alter und geographisches Einzugsgebiet die wichtigste Rolle bezĂŒglich Auswahl der SchĂŒlerschaft .29 Ist die Schulklasse aber erst einmal aufgrund dieser Kriterien konstituiert, muss sie sich als par-tizipative Gemeinschaft formieren, da nĂ€mlich nur so ein gedeihliches, un-terstĂŒtzendes Klassenklima erwartet werden kann . Die SchĂŒler also, wiewohl aufgrund objektiver Kriterien in diese Schulklasse gekommen, sollen sich fortan nicht nur bezĂŒglich dieser Kriterien wechselseitig anerkennen, son-dern sich darĂŒber hinaus auch partizipativ selbst zur Gemeinschaft zuschrei-ben und sich in ihrer Besonderheit und in den besonderen BeitrĂ€gen, die jeder zum gelingenden Ganzen liefert, anerkennen .

FĂŒr Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung können nun folgen-de Probleme auftauchen: Erstens kann schon bezweifelt werden, dass sie be-rechtigter Teil der exklusiven Gemeinschaft einer Schulklasse sind . Beispiels-weise kann bestritten werden, dass sie die objektiven Aufnahmekriterien in die Gemeinschaft erfĂŒllen . So kann zwar unangefochten sein, dass sie das notwendige Lebensalter fĂŒr eine Aufnahme in die Regelschulklasse erfĂŒllen wĂŒrden, es kann aber bezweifelt werden, – beispielsweise im Falle einer geis-tigen Behinderung – dass sie das notwendige Entwicklungsalter besitzen . Noch brisanter wird der Fall, wenn, wie bei sogenannten VerhaltensauffĂ€lli-gen, angezweifelt wird, dass eine partizipative Selbstzuschreibung ĂŒberhaupt möglich ist . VerhaltensauffĂ€lligkeit wird nĂ€mlich oft so verstanden und ko-diert, dass sie sich in der Abweichung von Regeln und Praktiken des zwi-schenmenschlichen Benehmens zeigt und auch dadurch konstituiert wird . Die Schnur, an welcher sich Zweifel einer legitimen Zugehörigkeit messen, sind die (gesellschaftlich vorgegebenen) Lernziele, welche alle SchĂŒler errei-chen mĂŒssen . Damit kann erstens bezweifelt werden, dass ein Kind mit Be-eintrĂ€chtigung diese Lernziele ĂŒberhaupt erreichen kann . Oder es kann zweitens, und dies ist faktisch oft der Fall, bezweifelt werden, dass die ande-ren SchĂŒler die gesellschaftlich vorgegebenen Lernziele unter den gegebenen UmstĂ€nden erreichen . Damit wird eine GefĂ€hrdung der MitschĂŒler auf-grund der Anwesenheit eines Einzelnen befĂŒrchtet . In der Folge findet eine AbwĂ€gung respektive Verrechnung der Interessen desjenigen, der zu einem

29 Vgl . hierzu die Analyse von John Wilson (2000), in dem er die Bedeutung der Kriterien respektive deren Konstituierung im pÀdagogischen Kontext hervorhebt .

150 Inklusion und Gerechtigkeit

Kontext dazugehören möchte, mit den Interessen derjenigen statt, welche sich bereits im Kontext befinden . Und in der Gewichtung ist es in der Folge oft so, dass zugunsten der Interessen der Mehrheit, welche sich schon im Kontext befindet, entschieden wird .

Aber auch wenn anerkannt wird, dass das zu inkludierende behinderte Kind30 die notwendigen objektiven Aufnahmekriterien erfĂŒllt und daher le-gitimes Mitglied der exklusiven Gemeinschaft ist, können sich die anderen Mitglieder der Schulklasse weigern respektive nicht bereit sein, sich dem betroffenen Kind in affektueller Weise zuzuwenden . Damit wĂ€re dem betrof-fenen Kind zwar nicht die LegitimitĂ€t der Anwesenheit in der exklusiven Gemeinschaft abgesprochen, aber der Zutritt zu den partizipativen Dimen-sionen der Gemeinschaft verweigert .

Letzteres Problem der Verweigerung affektueller Zuwendung ist zwar nicht ausschließlich das Problem behinderter Kinder und Jugendlicher, es betrifft alle Menschen, die irgendwo dazu gehören möchten . Der Unter-schied aber ist bei vielen Menschen mit Behinderung, dass sie aufgrund von GrĂŒnden, die mit ihrer Behinderung zu tun haben, ausgeschlossen sind . Diese im weiteren Sinne sozialen Vorurteile und Diskriminierungen können sich beispielsweise im Widerstand gegenĂŒber der Inklusion eines behinder-ten Kindes in die Regelschule zeigen . Meist wird damit nĂ€mlich nicht be-zweifelt, dass andere Kinder dem betroffenen Kind affektuelle Zuneigung entgegen bringen könnten, sondern es wird aufgrund eines exklusiven Ver-stĂ€ndnisses von Gemeinschaft angezweifelt oder bestritten, dass das Kind ein legitimes Recht auf die Anwesenheit in dieser Schulklasse hat .31

Wird dieses Recht – sofern es denn eines ist – durchgesetzt, liegt zudem die BegrĂŒndungslast, dass Inklusion â€șfunktioniertâ€č, schon zur GĂ€nze beim betroffenen Individuum, welches dann beweisen muss, dass seine Anwesen-heit gerechtfertigt respektive legitim ist .

30 Es zeigt sich ja gerade in den Zuschreibungspraxen respektive den AbklĂ€rungsverfahren, dass in der Zuschreibung einer Behinderung, eines besonderen UnterstĂŒtzungs- oder För-derbedarfs bereits unabhĂ€ngig von individuellen FĂ€higkeiten der betroffenen Kinder po-tenziell inkludierende oder exkludierende Umweltfaktoren einwirken . Dies impliziert, dass potenzielle Exklusion oder Separation nicht unabhĂ€ngig von der zugeschriebenen Behinderung des Lernens oder der Entwicklung gesehen werden kann .

31 Die Fachstelle fĂŒr die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und Diskriminie-rungsschutz in der Schweiz, EgalitĂ© Handicap, beispielsweise nennt auf ihrer Homepage mehrere FĂ€lle, in denen der Ausschluss von Kindern oder Jugendlichen mit Behinderung aus der Regelschule mit Hinweisen auf fehlendes VerstĂ€ndnis, Geduld und Vertrauen sei-tens Betroffener oder derer Angehöriger begrĂŒndet wird . Vgl . dazu www .egalitĂ©-handicap .ch .

Die Struktur von Inklusion 151

Die positive Bedeutung der Unterscheidung fĂŒr behinderte Menschen

FĂŒr behinderte Menschen liegt die positive Bedeutung der Unterscheidung in partizipative und exklusive Gemeinschaften darin, dass partizipative Ge-meinschaften tendenziell offener sind als exklusive . Denn aufgrund des Kri-teriums der Selbstzuschreibung ist es leichter möglich, in solche Gemein-schaften inkludiert zu sein, man muss sich nur zugehörig fĂŒhlen . Zwar ist in solchen Gemeinschaften noch lange keine interpersonale Anerkennung ga-rantiert, sie ist aber leichter möglich als in exklusiven Gemeinschaften, in denen Menschen oft an zweierlei Anforderungen scheitern: erstens am ErfĂŒl-len der Zugehörigkeitskriterien selbst, zweitens am Unwillen derjenigen, die sich bereits in Gemeinschaften befinden, die Zugangskriterien zu Ă€ndern respektive möglicherweise bestehende HĂŒrden des Zugangs zu senken oder zu beseitigen .

Zwischenfazit

Das Kontinuum zwischen partizipativen und exklusiven Gemeinschaften hat die erste Intuition, wonach Inklusion mit Zugehörigkeit zu tun hat, in gemeinschaftlicher Hinsicht geschĂ€rft . WĂ€hrend partizipative Gemeinschaften ĂŒber ein subjektiv verstandenes ZugehörigkeitsgefĂŒhl zu einer Gemeinschaft gebildet werden, sind exklusive Gemeinschaften ĂŒber exklusive Zugangsbe-dingungen gekennzeichnet . Dies wird besonders deutlich bei Gemeinschaf-ten, in denen die Mitgliedschaft selbst eine Auszeichnung ist, beispielsweise die Mitgliedschaft im Orchester des Opernhauses ZĂŒrich .

Anerkennung im Sinne einer Identifikation impliziert im Fall exklusiver Gemeinschaften die Anerkennung, dass jemand diese Zugangsbedingungen erfĂŒllt und legitimes Mitglied der Gemeinschaft ist, wĂ€hrend dies im Fall partizipativer Gemeinschaften deutlich schwĂ€cher ausgeprĂ€gt ist . Im ersten Fall erfĂŒllt Anerkennung ein â€șmeritokratisches Idealâ€č, sie muss, insofern sie auf exklusiven Zugehörigkeitsbedingungen beruht, verdient werden .

Nachdem nun die erste Intuition geschĂ€rft wurde und sich gezeigt hat, dass sich die Zugehörigkeit in Gemeinschaften auf einem Kontinuum zwi-schen partizipativer und exklusiver Zugehörigkeit bewegt, gehe ich nun zur zweiten Intuition ĂŒber, wonach Inklusion mit sozialem Handeln zu tun hat . Dabei gehe ich davon aus, dass sich der soziale Sinn einer geteilten Hand-lung in der IntentionalitĂ€t des Handelns zeigt . Nachfolgend will ich zeigen,

152 Inklusion und Gerechtigkeit

was damit gemeint ist und inwiefern es bei gemeinschaftlicher Inklusion eine Rolle spielt .

5 .2 .2 Gemeinschaftliche Inklusion und die Bedeutung von IntentionalitÀt

Die zweite Intuition, die ich zum Ausgang meiner Überlegungen gemacht habe, ist die, dass Inklusion mit sozialem Handeln zu tun hat . Ich habe dabei das Beispiel einer Zugfahrt angefĂŒhrt . Demnach liegt Inklusion dann gerade nicht vor, wenn das – physische – Zusammentreffen von Menschen rein zu-fĂ€llig ist, wenn das Zusammentreffen oder -sein also nicht bezweckt ist . Wenn ein Mensch beispielsweise zusammen mit anderen Zugspassagieren jeweils morgens um sieben den Zug von ZĂŒrich nach Bern besteigt, wĂŒrde niemand von diesem Zugspassagier automatisch sagen, er sei in die Gemein-schaft der Zugspassagiere inkludiert .32 Vielmehr wĂ€re dies ein paralleles Handeln, im Gegensatz zu einem fĂŒr Inklusion relevanten geteilten oder kollektiven Handeln . Die Zugspassagiere fahren zufĂ€lligerweise miteinander Zug, sie haben vielleicht sogar dasselbe Reiseziel, aber sie teilen dieses nicht, jedenfalls nicht in einem normativ anspruchsvollen Sinn .

Verhielte sich der Fall aber so, dass sich eine bestimmte Gemeinschaft – beispielsweise ein Arbeitsteam – jeden Morgen um sieben im Speisewagen des Zuges trifft, kann man durchaus von der sozialen Inklusion der einzelnen Teammitglieder in eine Gemeinschaft sprechen . Die Vermutung liegt also nahe, in dieser sozialen Handlung respektive der sozialen Zielorientierung, gemeinsam den Speisewagen zu besuchen, ein wichtiges Element von Inklu-sion zu sehen . Es wĂ€re, mit anderen Worten, gemeinsames Handeln in nor-mativ anspruchsvollem Sinn . Was aber zeichnet gemeinschaftliches Handeln aus? Und inwiefern unterscheidet es sich von individuellem Handeln?

Soziales Handeln

Handeln in Gemeinschaften unterscheidet sich von individuellem Handeln . Im Unterschied zu individuellem Handeln ist es von zwei Eigenschaften ge-

32 Allenfalls kann man, wie sich spÀter noch zeigen wird, sagen, er sei gesellschaftlich inklu-diert, da es ihm finanziell möglich ist, Zug fahren zu können, der Mann in Bern eine Ar-beitsstelle hat und so weiter .

Die Struktur von Inklusion 153

prĂ€gt: Subjekte sind erstens nicht mehr Individuen, sondern in einem be-stimmten Sinn die Gemeinschaft oder das â€șWirâ€č .33 Das Handeln ist damit soziales Handeln . Zweitens reicht es nicht aus, dass mehrere Individuen am Zustandekommen einer sozialen Handlung irgendwie beteiligt sind . Sie mĂŒssen dies in einer Art und Weise tun, dass klar wird, dass sie ein gemein-sames Ziel verfolgen . Selbst wenn mehrere Individuen fĂŒr sich gesehen das-selbe Ziel verfolgen, liegt noch keine soziale Handlung vor . So können zwar mehrere Menschen qualitativ dasselbe Ziel verfolgen, beispielsweise mit dem Zug von ZĂŒrich nach Bern zu fahren . Das genĂŒgt aber weder zum Vorliegen eines gemeinsamen Ziels noch als Kennzeichnung einer sozialen Handlung . Beides liegt erst dann vor, wenn alle Teilnehmenden weder viele verschiedene noch viele gleiche, sondern ein und dasselbe gemeinsame Ziel verfolgen (vgl . Schmid 2007) . Das kollektive Handlungssubjekt existiert somit nur, weil und insofern die beteiligten Individuen der Überzeugung sind, dass die Ge-meinschaft existiert und ihr Handeln danach ausrichten .

Das Beispiel Daniel

Um die Bedeutung sozialen Handelns fĂŒr die Inklusion aufzuzeigen, möchte ich auf Daniel eingehen, den jungen Mann mit Trisomie 21 oder Down Syndrom, den ich bereits eingangs der Arbeit und im dritten Kapitel kurz vorgestellt habe . Daniels grĂ¶ĂŸtes Hobby besteht darin, in einer Karnevals-gruppe Glockenspiel zu spielen . Nach einigen Absagen ist er seit geraumer Zeit Passivmitglied einer schweizerischen Karnevalsgruppe, die sich im Win-terhalbjahr einmal pro Woche trifft, um die Lieder fĂŒr den bevorstehenden Karneval zu ĂŒben . In dieser Karnevalsgruppe darf Daniel zwar in den Proben Glockenspiel spielen, nicht aber bei den Auftritten, in denen er FahnentrĂ€ger ist . Mit der Fahne des Vereins fĂŒhrt er die UmzĂŒge seiner Gruppe an . Daniel hat in dieser Gemeinschaft eine Sonderstellung: Er ist offiziell nur Passivmit-glied . In den meisten FĂ€llen bedeutet der Status eines Passivmitglieds, dass jemand mit dem Spenden von Geld oder anderen materiellen Ressourcen die TĂ€tigkeit der Gemeinschaft zwar unterstĂŒtzt, nicht aber aktiv an diversen AnlĂ€ssen teilnimmt . Nun hat Daniel aber zweifelsohne eine Zwischenposi-tion inne: Einerseits ist er insofern Aktivmitglied, als er an den diversen Ak-

33 Handelnde sind damit Ich-Subjekte in einem â€șWirâ€č, sie können sich sowohl als â€șichâ€č als auch als â€șwirâ€č oder besser gesagt, als zugehörig zu einem â€șWirâ€č verstehen (vgl . Honneth 2010) .

154 Inklusion und Gerechtigkeit

tivitĂ€ten teilnehmen darf, andererseits aber dahingehend Passivmitglied, als er keine selbst gewĂ€hlte Rolle in der Gemeinschaft einnehmen darf . Bei-spielsweise darf er nicht, wie von ihm gewĂŒnscht, Glockenspiel spielen, son-dern nur die Fahne tragen .

FĂŒr Daniel gelten einerseits die gleichen Regeln wie fĂŒr alle anderen Ge-meinschaftsmitglieder . Beispielsweise darf er den Proben nicht fernbleiben . Andererseits ist er offensichtlich Sonderregelungen unterstellt . Die Vor-schrift, die ihm verbietet, an den UmzĂŒgen Glockenspiel zu spielen, ist nur eine davon . Wie Daniel selbst meint, ist er nicht sicher, ob er im Takt respek-tive schnell genug spielen kann und auch nicht, ob er die FĂ€higkeit hat, so viele StĂŒcke auswendig zu lernen . Dennoch ist fĂŒr ihn die momentane Situ-ation subjektiv unbefriedigend . Nicht nur hat Daniel den offiziellen Status eines Passivmitglieds inne, er ist auch weit davon entfernt, sein großes Ziel, neben den Proben auch an den Auftritten Glockenspiel spielen zu können, zu erreichen . Daniel fĂŒhlt sich mit anderen Worten nicht als vollwertiges Mitglied anerkannt, mit denselben Rechten und Pflichten . Insofern ist die Intuition, Daniel sei â€șnicht ganz inkludiertâ€č, begrĂŒndet .

Worin aber bestĂŒnde seine â€șvollstĂ€ndigeâ€č Inklusion? Und welches speziel-le Moment kommt durch die Gruppenmitglieder und die gemeinsamen AuffĂŒhrungen im Fall der Karnevalsmusikgruppe hinzu? Ich werde nachfol-gend dafĂŒr argumentieren, dass es die geteilte IntentionalitĂ€t der Gemein-schaftsmitglieder ist .34 Diese wĂŒrde sich daran zeigen, dass sowohl Daniel wie auch die anderen Mitglieder der Karnevalsgemeinschaft ihr Handeln so-zial aneinander ausrichten wĂŒrden und dieses soziale Handeln auch Daniel mit seinen BedĂŒrfnissen, Zielen, PlĂ€nen und Möglichkeiten umfassen wĂŒr-de . Das muss nun nicht heißen, dass sich die Ausrichtung der Ziele und PlĂ€ne nach den Möglichkeiten und FĂ€higkeiten von Daniel ausrichten muss, denn damit wĂ€re zumindest im Hinblick auf den Zweck der Gemeinschaft, Musik zu spielen, eine Orientierung nach unten verbunden . Wohl aber könnte das beispielsweise bedeuten, dass die Möglichkeiten, BedĂŒrfnisse, PlĂ€ne und Ziele von Daniel angemessen in Betracht gezogen werden . Im End-effekt könnte dies zwar immer noch heißen, dass Daniel an den UmzĂŒgen bloß die Fahne trĂ€gt . Man wĂŒrde ihm aber – anders als dies aktuell der Fall ist – dieses Vorgehen erklĂ€ren und begrĂŒnden sowie Mittel und Wege su-

34 IntentionalitĂ€t ist ein philosophischer Kunstbegriff, der NĂ€he zum Alltagsbegriff der Ab-sicht hat, allerdings mehr meint als Absicht . IntentionalitĂ€t umfasst auch WĂŒnsche, Über-zeugungen und GefĂŒhle . Absichten sind damit nur eine Form von IntentionalitĂ€t (vgl . Schmid und Schweikard 2009) .

Die Struktur von Inklusion 155

chen, ihn auf dem Weg hin zu seinem Ziel ein StĂŒck weit zu unterstĂŒtzen . Damit wĂ€re fĂŒr Daniel ein Möglichkeitenraum – im Sinne des Capability- Ansatzes sind Verwirklichungschancen gemeint – eröffnet .

Die Bedeutung partizipatorischer Intentionen

Bloß â€șzufĂ€lligeâ€č Anwesenheit mehrerer Menschen konstituiert noch keine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft .35 Genauso wenig gilt dies fĂŒr das (be-obachtbare) Verhalten der einzelnen Individuen . Das Verhalten mag in zwei FĂ€llen dasselbe sein, der â€șsubjektiv gemeinte Sinnâ€č (vgl . Weber 1922) ist aber ein anderer . Wie ich zeigen werde, sind es die Motive, welche Inklusion oder Exklusion konstituieren . Christopher Kutz (2000) spricht in diesem Zusam-menhang von partizipatorischen Intentionen . Diese sind Funktionen des Bei-trags der eigenen Handlung zu einem kollektiven Resultat . Erst darin zeigt sich, mit anderen Worten, das â€șIchâ€č im â€șWirâ€č (vgl . Honneth 2010) . Jede Form sozialen Handelns weist dieses Element in Form ĂŒberlappender Intentionen auf .

Dabei können die Intentionen auch von außen gebildet oder vorgegeben werden, beispielsweise in Form von objektiven Zugehörigkeitsbedingungen und Erwartungen an und in der Gemeinschaft . Ob ein Handeln ein soziales Handeln ist, zeigt sich also weder am Verhalten noch am Kontext, sondern am Sinn hinter dem Handeln . Dieser Sinn hinter dem Handeln oder die par-tizipatorischen Intentionen also machen Handeln erst zu einem sozialen Handeln .

Praktische, kognitive und affektuelle Intentionen

Hans Bernhard Schmid (2005) unterscheidet folgende Arten von partizipa-torischen Intentionen: praktische Intentionen, kognitive Intentionen sowie affektuelle Intentionen . Unter praktischen Intentionen kann man Absichten oder Vorhaben verstehen, wie beispielsweise der Wille, jeden Freitagabend mit anderen Mitgliedern der Gruppe StĂŒcke fĂŒr die KarnevalsumzĂŒge einzu-

35 Es kann gerade die physische Abwesenheit oder die Nicht-Interaktion sein, welche Zuge-hörigkeitsgefĂŒhle auslösen kann, etwa dann, wenn ein lange verheiratetes Paar von sich selbst sagt, eine physische Trennung durch lange Abwesenheit eines Partners hĂ€tte sie wie-der nĂ€her zusammengebracht .

156 Inklusion und Gerechtigkeit

studieren . Unter kognitiven Intentionen fasst Schmid Meinungen und Über- zeugungen . Darunter könnte beispielsweise in meinem Beispiel die Meinung fallen, dass es fĂŒr die QualitĂ€t der einstudierten StĂŒcke gut und wichtig ist, dass im Minimum einmal pro Woche geprobt wird .

Affektuelle Intentionen schließlich umfassen GefĂŒhle wie Liebe, Hass oder WertschĂ€tzung . So kann das Proben in der Karnevalsmusik von GefĂŒh-len der WertschĂ€tzung fĂŒr die Proben und die einzelnen Mitglieder getragen sein . Intentionen können sich somit auf mehreren Ebenen (kognitiv, prak-tisch oder affektuell) bewegen und mĂŒssen sich gegenseitig nicht ausschlie-ßen . Im Gegenteil: Im Normalfall scheinen alle drei Arten von Intentionen gemeinschaftsbildend zu sein .

TĂ€tigkeits-, Erlebens- und FĂŒhlensgemeinschaften

Nicht alle Gemeinschaften sind in einem ersten Sinn TĂ€tigkeitsgemeinschaf-ten, denn es geht nicht in jeder Form gemeinschaftlichen Miteinanders dar-um, etwas gemeinsam zu tun respektive auf etwas hinzuarbeiten . Vielmehr sind viele Gemeinschaften in einem zweiten Sinn Erlebensgemeinschaften oder in einem dritten Sinn FĂŒhlensgemeinschaften .

FĂŒhlensgemeinschaften wie auch generell affektuelle Intentionen geraten bei der Betrachtung von Gemeinschaften oft aus dem Blickfeld . Dies, weil der ausschließliche Fokus vieler Theorien auf die Absichten von Handelnden die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen oft unterschĂ€tzt . Gerade GefĂŒhle spielen aber fĂŒr die ErklĂ€rung gemeinsamen Handelns als Element von Inklusion eine bedeutende Rolle . Denn gewisse gemeinsame Handlun-gen erfolgen nicht oder nicht ausschließlich aus dem Grund, ein gemeinsa-mes Ziel hervorzubringen . Sie erfolgen vielmehr auch, um die Beziehung selbst, die zwischen den betreffenden Personen besteht und welche von ih-nen wertgeschĂ€tzt wird, zum Ausdruck zu bringen (vgl . Betzler 2007) . Dies wird besonders deutlich bei bestimmten, stark durch GefĂŒhle und IntimitĂ€t geprĂ€gten Beziehungen wie beispielsweise Freundschaften .

In einer Freundschaft wird nicht nur der Freund als Person als wertvoll erlebt, sondern auch die Beziehung als solche .36 FĂŒr Aristoteles (1969, Buch

36 Beziehungen dieser Art sind fĂŒr die Beteiligten aus deren Perspektive aber nur dann wert-voll, wenn beide explizit oder implizit wissen, was es heißt, den Wert einer solchen Bezie-hung zu realisieren . Wertvolles Engagement in diesen Beziehungen kann nur dann entste-hen, wenn sich die Personen wechselseitig auf angemessene Art aufeinander beziehen . Es genĂŒgt deshalb nicht, wenn eine Person zusammen mit anderen Erfahrungen macht . Die-

Die Struktur von Inklusion 157

VIII) ist daher die Freundschaft um des unersetzbaren Anderen willen – ne-ben der Freundschaft zum gegenseitigen Nutzen und der Freundschaft um des Angenehmen willen – auch die ideale Form von Freundschaft . In ihr wird der Andere um seiner selbst willen geschĂ€tzt . Freundschaften sind des-halb wichtig fĂŒr ein menschliches Leben, weil sie zentraler Bestandteil eines guten Lebens sind und zudem Möglichkeiten bieten, unserer affektuellen Seinsdimension Ausdruck zu verleihen . Sie sind damit eine wichtige Quelle fĂŒr menschliches GlĂŒck .

Die Herausforderung schwerer Behinderung

Der fĂŒr gemeinschaftliche Inklusion zentrale Aspekt der geteilten Intentio-nalitĂ€t wirft die Frage auf, wie fĂŒr diejenigen Menschen Inklusion möglich ist, die aufgrund einer schweren Behinderung nicht oder nur in einge-schrĂ€nktem Maße in der Lage sind, soziale Intentionen zu teilen, zumal nicht in einem normativ anspruchsvollen reziproken, also wechselseitigen, Sinn . Menschen mit schweren geistigen Behinderungen beispielsweise, die wegen einer SchĂ€digung ihrer kognitiven FĂ€higkeiten Schwierigkeiten ha-ben, PlĂ€ne und Ziele zu entwickeln und mit anderen zu teilen, werfen die Frage auf, ob hier gemeinschaftliche Inklusion – und zwar in ihrem exklusi-ven wie auch in ihrem partizipativen VerstĂ€ndnis – ĂŒberhaupt möglich ist .

Bei exklusiven Gemeinschaften besteht die Herausforderung im vorgĂ€n-gigen ErfĂŒllen exklusiver Zugangsbedingungen . Dies ist gerade fĂŒr Men-schen mit schweren Behinderungen in vielen FĂ€llen nicht möglich . Exklusive Gemeinschaften bleiben ihnen somit, wie ich oben bereits angesprochen habe, oft verschlossen . Aber auch bei partizipativen Gemeinschaften, die sich ĂŒber Selbstzuschreibung bilden, besteht die Herausforderung in der ErfĂŒl-lung der Bedingung, sich selbst zugehörig zu fĂŒhlen respektive diese Zuge-hörigkeit zeigen zu können, die ja meist in affektueller, praktischer und kog-nitiver Hinsicht gewĂŒnscht ist . Gibt es also eine Form von Inklusion, die auch fĂŒr Menschen mit schweren Behinderungen möglich ist? Und wie mĂŒsste eine solche Form von Inklusion interpretiert werden?

se sind nicht hinreichend, um den Wert solcher Beziehungen zu realisieren . Das Gemein-schaftliche muss einen unabhĂ€ngigen intrinsischen oder gar ultimativen Wert erhalten und darf nicht bloß instrumentell sein .

158 Inklusion und Gerechtigkeit

Ich bin der Meinung, dass es diese Form von Inklusion gibt und schlage vor, dass man sie als passive oder indirekte Partizipation verstehen sollte .37 Diese passive oder indirekte Form von Inklusion grenzt sich ab von einer aktiven, direkten Partizipation, die man mit sozialem Handeln respektive sozialer IntentionalitÀt in reziprokem, normativ anspruchsvolleren Sinn meint .

Passive Partizipation zeigt auf, dass auf Seiten Dritter IntentionalitĂ€t auch zugeschrieben werden kann . Dies selbst dann, wenn sie beim GegenĂŒber (noch) nicht vorhanden sein sollte .38

5 .2 .3 Passive Partizipation als Form von Inklusion

Da Inklusion in ihrer Struktur an soziales Handeln gebunden ist, stellt sich die Frage, ob Menschen, die keine sozialen Handlungen im Sinne einer af-fektiven, praktischen oder kognitiven IntentionalitĂ€t ausfĂŒhren können, ebenfalls in Gemeinschaften inkludiert sein können . Damit ist nicht in ers-ter Linie die Frage nach der faktischen Möglichkeit einer solchen Art gemein-schaftlicher Inklusion gemeint . Denn ganz offensichtlich sind Menschen auch dann – physisch wie emotional – in Gemeinschaften inkludiert, wenn sie keinen erkennbaren intentionalen Handlungsbeitrag leisten . Beispiels-weise sind schwer behinderte Menschen in ihre Familien inkludiert und zwar in Form von interpersonaler Liebe und Zuwendung, nicht bloß in Form rĂ€umlicher Anwesenheit . Auch Menschen mit Demenz werden in der Regel, trotz weitgehendem Verlust ihrer SelbstĂ€ndigkeit, von ihren Familien weiter-hin geliebt und unterstĂŒtzt . Inklusionen in solch enge Gemeinschaften sind also zu beobachten, selbst wenn die Behinderung der Betreffenden so groß ist, dass unklar ist, ob und worin ihr intentionaler Beitrag zur Gemeinschaft besteht .

37 Ich gehe davon aus, dass der Partizipationsbegriff gegenĂŒber dem Inklusionsbegriff vor allem die Handlungsdimension betont, also beispielsweise eine konkrete TĂ€tigkeit, ein Gedanke oder ein gezeigtes GefĂŒhl .

38 Hier ist besondere Vorsicht angebracht . Denn oft irrt man sich im Zuschreiben respektive im Absprechen von IntentionalitĂ€t . Dies hat fĂŒr die Betroffenen fatale Folgen, unter ande-rem kann das Absprechen von IntentionalitĂ€t dazu fĂŒhren, dass man den Betroffenen sterben lassen möchte, weil er angeblich â€șvon der Welt nichts mehr mitkriegtâ€č . Vgl . fĂŒr ein aktuelles und eindrĂŒckliches Beispiel Celeste Biever (2009) und Manfred Dworschak (2010) .

Die Struktur von Inklusion 159

Eine solche Form sozialer Inklusion wirft allerdings die Frage auf, wes-halb sie möglich ist respektive was ihr Sinn ist . Beruht sie auf einem Selbst-betrug dieser Familien, die meinen, ihre Angehörigen wĂŒrden sozial intenti-onal handeln, obwohl dies in EinzelfĂ€llen vielleicht gar nicht der Fall ist? Oder ist es umgekehrt so, dass das Element sozialen Handelns respektive sozialer IntentionalitĂ€t gar keine notwendige Bedingung fĂŒr Inklusion ist?

Beide Interpretationen sind meiner Ansicht nach falsch . Es ist weder Selbstbetrug noch ist gemeinschaftliche Inklusion ohne soziale Intentionali-tĂ€t möglich . Vielmehr können Menschen, so meine These, auch passiv parti-zipieren . Die Leistung einer im weiteren Sinne sozialen Handlung respektive von sozialer IntentionalitĂ€t wird in einem solchen Fall von Drittpersonen geleistet .39 Der Grund hierfĂŒr ist, dass es nicht nur möglich, sondern unter entwicklungspsychologischen (und damit letztlich auch biologischen oder bedĂŒrfnisbegrĂŒndeten) Gesichtspunkten gerade sinnvoll ist, soziale Intentio-nalitĂ€t zuzuschreiben . Diese Zuschreibung von sozialer IntentionalitĂ€t ist nĂ€mlich bedeutsam fĂŒr das Auslösen von Entwicklungsprozessen, wie zahl-reiche psychologische Studien eindrĂŒcklich belegen (vgl . BrandtstĂ€dter 2001; Tomasello 2006, 2009; Tomasello und Rakoczy 2009) . Der Sinn liegt in der Förderung und Anregung von Entwicklung, die eine solche Form von ge-meinschaftlicher Inklusion erbringen kann . Die LĂŒcke zwischen faktischem (Noch-)Nichtvorhandensein sozialer IntentionalitĂ€t und gleichzeitig not-wendiger Bedingung fĂŒr soziale Inklusion kann durch die Zukunftsgerich-tetheit der Entwicklungsperspektive, die man einnimmt, ĂŒberbrĂŒckt wer-den . Das bedeutet, die Zuschreibung wird mit der Hoffnung verbunden, dass sich die soziale IntentionalitĂ€t durch die Zuwendung zum Anderen herausbildet . Dieser Vorgang ist, wenn er auch auf den ersten Blick exotisch klingen mag, normaler Teil jeder Erziehung von Kleinkindern . Denn selbst Babys spricht man mit komplexen SĂ€tzen und Inhalten an, obwohl man

39 Damit wird an dieser Stelle eine vage, weite Bedeutung von sozialer Handlung respektive sozialer IntentionalitĂ€t vertreten, denn die IntentionalitĂ€t ist bei sehr schwer behinderten Menschen oft nicht in streng ĂŒberlappendem Sinne möglich . Allerdings wird diese Über-lappung zugeschrieben, das heißt, der Sinn einer bestimmten Handlung wird adĂ€quat gedeutet, selbst wenn sie vom Handlungssubjekt aus betrachtet intentionslos war . Solche IntentionalitĂ€tszuschreibungen zeigen sich auch am Verhalten von Eltern gegenĂŒber Neu-geborenen . Eine ziellose Handlung wird als absichtsvoll gedeutet, indem das wilde Fuch-teln mit den HĂ€nden beispielsweise folgendermaßen gedeutet wird: »Ah, du wolltest dem Grosspapa auf Wiedersehen winken .«

160 Inklusion und Gerechtigkeit

weiß, dass sie die Aussagen in ihrem vollen Bedeutungsgehalt (noch) nicht verstehen können .40

Um zu veranschaulichen, was ich mit passiver Partizipation meine, greife ich ein Beispiel von Georg Feuser (1989) auf, interpretiere es allerdings an-ders als der Autor . Feusers eigenes VerstĂ€ndnis von Inklusion lĂ€sst sich als das einer aktiven Partizipation, also einer im engeren Sinn aktiv sozial handeln-den Form von Inklusion, beschreiben, zu der er auch ein didaktisches Ver-stĂ€ndnis entwickelt hat, die so genannte â€șentwicklungslogische Didaktikâ€č und das â€șLernen am gemeinsamen Gegenstandâ€č .

Gemeinsames Kochen einer GemĂŒsesuppe

Die Szene, die ich aufgreifen möchte, wird von Feuser (1989) folgenderma-ßen beschrieben: In einer Regelschulklasse befindet sich ein Junge mit schwe-rer mehrfacher cerebraler Behinderung, der in einem Liegerollstuhl in der Klasse anwesend ist . Er benötigt stĂ€ndige Hilfe und auch Pflege, da er nicht in der Lage ist, dies selbst zu tun . Sein Blick ist statt auf die anderen Klassen-kameraden an die Decke gerichtet, da er aufgrund der sehr starken Spasmen im Liegerollstuhl sein muss . Er kann nicht lesen oder schreiben und auch nicht sprechen, wobei man allerdings nicht weiß, wie viel er selbst von der Kommunikation um sich herum versteht und mit Hilfe seiner Möglichkei-ten, beispielsweise LautĂ€ußerungen, Lachen oder Weinen, auf diese reagiert . Mit anderen Worten: Man weiß nicht, ob seine Äußerungen intentional so-zial auf den Vorgang und seine Klassenkameraden gerichtet sind oder nicht .

Nun soll die Klasse, in welcher der Junge ist, eine GemĂŒsesuppe kochen . Feuser ist der Ansicht, dass es bei der TĂ€tigkeit am gemeinsamen Gegenstand in diesem Beispiel nicht darum gehe, das GemĂŒse zu rĂŒsten oder im Topf zu rĂŒhren, sondern um den Umwandlungsprozess der einzelnen Bestandteile zu einem Ganzen, der GemĂŒsesuppe . Insofern eine Person, selbst wenn sie schwer behindert ist, diesen Transformationsprozess mitbekomme, sei sie in-kludiert (wobei das nicht als deskriptive Beschreibung, sondern als normati-ve Forderung verstanden wird) . In der KĂŒche, so Feuser, ist es auch möglich, den schwer behinderten Jungen in die Arbeit mit einzubeziehen, und zwar durch die Musik, wenn das Radio eingeschaltet wird, durch die GerĂŒche,

40 Man könnte also sagen, diese Zuschreibung von IntentionalitÀt sei von ihrem Ziel her performativ, und zwar insofern, als man die IntentionalitÀt durch Zuschreibung in ihrer Entwicklung anregen und hervorholen möchte .

Die Struktur von Inklusion 161

welche die GemĂŒsesuppe verströmt, und die WĂ€rme, welche die heiße Suppe ausstrahlt . Die Kooperation mit den anderen Kindern hat nach Feuser einen â€șnĂŒtzlichen Endeffektâ€č, fĂŒr ihn wie auch seine Klassenkameraden .

Der Junge im genannten Beispiel ist insofern nicht in der Lage, zum Kochen der GemĂŒsesuppe beizutragen, weil er im Liegerollstuhl liegend kei-ne notwendige TĂ€tigkeit ausfĂŒhren kann . Da aber fĂŒr eine soziale Handlung in meinem VerstĂ€ndnis auch keine TĂ€tigkeit im engeren Sinne notwendig ist, wĂ€re es fĂŒr den Jungen auch möglich, soziale IntentionalitĂ€t in anderer Weise als in ausgedrĂŒckter TĂ€tigkeit zu zeigen, nĂ€mlich ĂŒber praktische, ko-gnitive oder affektuelle partizipatorische Intentionen . So könnte er beispiels-weise Anweisungen geben, wie das GemĂŒse zu rĂŒsten sei . Oder er könnte seine Freude darĂŒber, dass man gemeinsam eine GemĂŒsesuppe kocht, sprach-lich Ă€ußern . Nun ist aber unklar oder unsicher, ob der Junge im Rollstuhl ĂŒberhaupt soziale IntentionalitĂ€t in einem normativ anspruchsvollen Sinn zeigen kann . Inwiefern also beschreibt das Beispiel soziales Handeln, das auch den Jungen einschließt?

Feuser scheint zudem davon auszugehen, dass die Anwesenheit der ande-ren Klassenkameraden einen Mehrwert fĂŒr den betreffenden Jungen hat . Worin aber liegt dieser Mehrwert?

Ein alternatives Szenarium

Um diese Fragen respektive die damit verbundenen Probleme nochmals deutlicher zu veranschaulichen, kann man sich folgendes alternatives Szena-rium vorstellen: Derselbe Junge mit schwerer cerebraler BeeintrĂ€chtigung liegt immer noch im Liegerollstuhl in einem Raum, diesmal aber nicht um-geben von seinen Klassenkameraden, sondern vor ein Radio gesetzt, welches entspannende Musik von sich gibt sowie von einem DampfgerĂ€t besprayt, welches den Duft von GemĂŒsesuppe versprĂŒht und zwar direkt in das Ge-sicht des Jungen im Rollstuhl . Durch die halb geöffnete TĂŒr sind zudem ab und zu Stimmen der Klassenkameraden zu hören . Ansonsten aber befindet sich der Junge ganz alleine im Raum .

Dabei bestehen in beiden Szenarien folgende Gemeinsamkeiten: In bei-den FĂ€llen sind die sensorischen EindrĂŒcke fĂŒr den Jungen dieselben . Es riecht an beiden Orten nach GemĂŒsesuppe, die GesprĂ€che der Klassenkame-raden und die Musik sind in beiden FĂ€llen zu hören, und in beiden Beispie-len trĂ€gt die Person nicht mit einer TĂ€tigkeit zum Ergebnis der GemĂŒsesuppe

162 Inklusion und Gerechtigkeit

bei . Zudem ist in beiden FÀllen unklar, ob der Junge soziale Intentio nalitÀt zeigen kann .

Was unterscheidet die beiden FĂ€lle? Was, mit anderen Worten, macht die Anwesenheit des Jungen in der Klasse im ersten Beispiel ĂŒberhaupt zu einer Form von Inklusion? Liegt diese in seiner bloßen physischen Anwesenheit? WĂ€re passive Partizipation – sofern sie ĂŒberhaupt als Form von Inklusion bezeichnet werden kann – dasselbe wie bloße physische Anwesenheit eines Menschen in einer Gemeinschaft? Wohl kaum, denn physische Anwesenheit ist gerade keine Bedingung fĂŒr gemeinschaftliche Inklusion, zumindest keine notwendige . WĂ€re dies der Fall, dann wĂ€re auch das zufĂ€llige Zusammensein mehrerer Zugpassagiere, ja generell jede Form zufĂ€lligen Zusammentreffens von Menschen eine Form von Inklusion . Eine solche Definition von Inklu-sion ist aber zweifelsohne zu weit und trifft zudem kaum den sozialen Kern von Inklusion, der sich eben gerade dadurch auszeichnet, dass das Zusam-mentreffen von Menschen nicht zufĂ€llig ist .

Der zentrale Unterschied: die Möglichkeit der Zuschreibung von IntentionalitÀt

Der zentrale Unterschied in den beiden Beispielen ist, dass im ersten Beispiel fĂŒr seine Klassenkameraden die Möglichkeit besteht, auf den Jungen in sozi-aler Weise Bezug zu nehmen, wĂ€hrend dies im zweiten nicht möglich ist . Der Junge im ersten (wie auch im zweiten) Beispiel kann zwar nicht im en-geren, körperlich-tĂ€tigen Sinn mitkochen und es mag vielleicht auch zweifel-haft sein, ob er ĂŒberhaupt in relevanter Hinsicht IntentionalitĂ€t zeigen kann und damit zu sozialem Handeln fĂ€hig ist . Aber es ist anderen Menschen – seinen Klassenkameraden oder seiner Lehrerin – möglich, intentional auf ihn Bezug zu nehmen, auf ihn einzugehen und damit vielleicht Intentionali-tĂ€t in Form gerichteter GefĂŒhle in ihm zu erkennen oder zu wecken .41

Der große und wichtige Unterschied zwischen beiden Beispielen ist so-mit, dass nur im ersten Fall substanzielle Möglichkeiten vorhanden sind, aktiv auf den Jungen einzugehen . Damit erst ist Anerkennung im Sinne ei-nes â€șEr ist einer von unsâ€č möglich . Sitzt der Junge nĂ€mlich alleine in einem abgetrennten Zimmer, ist direkter Kontakt von ihm zu anderen wie auch – und vielleicht angesichts seiner starken körperlichen BeeintrĂ€chtigung, wich-

41 Vgl . hierzu insbesondere zum Zusammenspiel von Kognition und Emotion in der Moral-entwicklung von Menschen die Analyse von Monika Keller (2005) .

Die Struktur von Inklusion 163

tiger – das Eingehen und Bezugnehmen der anderen auf ihn gar nicht mög-lich .

Dabei geht es nicht zwangslĂ€ufig darum, dass das Eingehen auf ihn be-reits solidarisch und damit moralisch wĂŒnschenswert ist, es kann im Gegen-teil auch von Ablehnung und Ausschluss gekennzeichnet sein . Der Punkt an dieser Stelle ist nur der, dass ihm im einen Fall die genuine Möglichkeit zu einer, wenn auch eventuell passiven Teilnahme in einer Gemeinschaft offen steht, wĂ€hrend sie ihm im zweiten Fall verschlossen bleibt . Der Kern einer passiven Teilnahme, die ebenfalls eine Form von Inklusion darstellt, ist also, dass so Kontaktfenster offen sind, wĂ€hrend sie im anderen Fall geschlossen sind . Damit sind im einen Fall die TĂŒren zu aktiver Partizipation offen, wĂ€h-rend sie im anderen Fall bereits blockiert sind .

Die passive Form von Inklusion hat allerdings auch gezeigt, dass sie in hohem Maß von der Bereitschaft anderer Menschen abhĂ€ngig ist, soziale IntentionalitĂ€t trotz eventuell fehlender Belege zuzuschreiben . Im nĂ€chsten Kapitel, welches sich der normativen Relevanz von Inklusion widmet, wird sich zeigen, inwiefern diese Form von Inklusion fĂŒr die Entwicklung und das gute Leben von Menschen wichtig ist, worin also gute GrĂŒnde bestehen, sie zu ermöglichen und zu fördern .

Nachdem ich diesen Grenzfall gemeinschaftlicher Inklusion in Form pas-siver Partizipation geklĂ€rt habe, möchte ich die gemeinschaftliche SphĂ€re verlassen . Ich wende mich im Folgenden der zweiten SphĂ€re – der gesell-schaftlichen – zu .

5 .3 Gesellschaftliche Inklusion

Es scheint unumstritten zu sein, dass Menschen nicht nur in interpersonale BezĂŒge zu â€șkonkreten Anderenâ€č, also in Gemeinschaften, inkludiert sind, sondern dass sich Inklusion auch in einer gesellschaftlichen SphĂ€re manifes-tiert . Dies kann man nun in zweierlei Hinsicht verstehen: als soziale Bedin-gung fĂŒr gemeinschaftliche Formen von Inklusion sowie als – in direktem Sinne – Inklusion in gesellschaftliche BezĂŒge, die sich nicht gemeinschaft-lich verstehen lĂ€sst .

Erstens bestimmen bis zu einem gewissen Grad gesellschaftliche Rah-menbedingungen wie beispielsweise Gesetze, Verordnungen oder Normen die Freiheitsgrade von Menschen und damit die Möglichkeiten zu partizipie-

164 Inklusion und Gerechtigkeit

ren und inkludiert zu werden . Wenn beispielsweise eine gesetzliche Ver-pflichtung besteht, öffentliche GebĂ€ude auch fĂŒr Rollstuhlfahrer und gehbe-hinderte Menschen zugĂ€nglich zu machen, sind institutionelle Bedingungen fĂŒr Inklusion angesprochen . Rampen, Lifte, bei denen sich die TĂŒren nach beiden Seiten öffnen, Lautsprach- und schriftliche AnkĂŒndigungen in öf-fentlichen Verkehrsmitteln sind einige Beispiele technischer Art, welche die Inklusion fĂŒr behinderte Menschen erleichtern und in einigen FĂ€llen erst ermöglichen . Ohne diese gesellschaftliche Seite von Inklusion ist auch ge-meinschaftliche Inklusion fĂŒr behinderte Menschen in vielen FĂ€llen nicht oder nur sehr schwer möglich . Auch werden bestimmte gemeinschaftliche Kontexte – man denke da an die Familie oder bestimmte Verbindungen wie kleine Gemeinschaftszentren in StĂ€dten – gesellschaftlich gefördert oder un-terstĂŒtzt . Damit beeinflussen die Strukturen gesellschaftlicher Inklusion auch die Ermöglichungsbedingungen gemeinschaftlicher Inklusion .

Zweitens gibt es gesellschaftliche Einflussbereiche, die sich nicht gemein-schaftlich beschreiben lassen . Diese im weiteren Sinne öffentlichen SphĂ€ren betreffen Institutionen des Staates, beispielsweise das Gesundheitswesen, das Bildungswesen oder – zumindest ĂŒber bestimmte, gesetzliche Bestimmun-gen – die Arbeitswelt . Zwar ĂŒberschneiden sich an diesen Stellen interperso-nale und gesellschaftliche BezĂŒge, so dass die Trennung zugegebenermaßen kĂŒnstlich ist . Der Punkt ist aber, dass sie sich als gemeinschaftliche BezĂŒge alleine nicht angemessen beschreiben lassen .42 FĂŒr behinderte Menschen ist diese SphĂ€re von besonderer Bedeutung . Insbesondere fallen hierin die sozi-alstaatlichen Leistungen, die viele Menschen mit Behinderung in Anspruch nehmen mĂŒssen .

Gesellschaftliche Inklusion beeinflusst gemeinschaftliche Inklusion, kann aber nicht auf sie reduziert werden . Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass die Strukturmerkmale, die ich anhand zweier Intuitionen entwickelt habe, auch auf gesellschaftliche Inklusion ĂŒbertragen lassen, in dieser allerdings einen anderen Charakter annehmen .

42 Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass sich nicht alle Kontexte im Leben gemeinschaft-lich verstehen lassen . Tut man das, vertritt man ein Gesellschaftsbild, das rĂŒckwĂ€rtsge-wandt ist, indem es eine Gesellschaft als Sozialverband beschreibt, in dem prinzipiell jeder mit jedem verbunden ist . Das trifft heute nur noch auf relativ kleine Stammesgesellschaf-ten zu, nicht aber auf hochindustrialisierte, komplexe Gesellschaftssysteme mit ihren viel-fĂ€ltigen Interdependenzen, Institutionen und Organisationen, die auch eine ĂŒberindivi-duelle Dimension haben . Eine solche Gesellschaft wurde im Zuge der Industrialisierung und der sie begleitenden politischen Prozesse Wirklichkeit . Ein Konzept von Inklusion muss diese Wirklichkeit angemessen berĂŒcksichtigen .

Die Struktur von Inklusion 165

Die erste Intuition, die ich verfolgt habe, ist das Motiv der Zugehörig-keit, die sich in der gesellschaftlichen SphĂ€re eben nicht wie in der gemein-schaftlichen SphĂ€re ĂŒber (auch) affektive Zugehörigkeit zeigt, sowie soziale Anerkennung, die abstrakten Anderen, BĂŒrgern, entgegen gebracht wird . So zeigt sich, dass die Gesellschaft nicht in engerem Sinne Menschen anerkennt, sie verkörpert vielmehr Anerkennung ĂŒber ihre Institutionen . Institutionen bringen damit auf indirektem Weg Anerkennungsmodi zum Ausdruck . Pa-radigmatisch geschieht dies ĂŒber Rechte .

Die zweite Intuition betraf das Motiv sozialen Handelns respektive sozi-aler IntentionalitĂ€t . Die IntentionalitĂ€t, welche gemeinschaftsbildend ist, macht den Kern gemeinschaftlicher Inklusion aus . Aber auch IntentionalitĂ€t lĂ€sst sich auf gesellschaftliche Inklusion ĂŒbertragen . Hierin spielt das Kon-zept von Demokratie eine tragende Rolle . Es kann nĂ€mlich gezeigt werden, dass Inklusion erstens konstitutiv ist fĂŒr moderne, liberale und demokrati-sche Gesellschaften, insofern das Funktionieren moderner Demokratien auf die Inklusion ihrer BĂŒrger angewiesen ist . Zweitens ist Inklusion auch ein Zweck von Demokratie, denn ĂŒber demokratische Beteiligung werden die BĂŒrger in den kollektiven Willensbildungsprozess einbezogen . Durch Inklu-sion werden somit Demokratie oder demokratische Resultate erreicht . Drit-tens stellt Inklusion, oder besser mangelnde Inklusion oder gar Exklusion, auch ein Problem fĂŒr jede Demokratie dar .43 Exklusionsprozesse finden ins-besondere oft in der Gesellschaft – und somit in demokratischen, auf Inklu-sion der BĂŒrger ausgerichteten Systemen – statt (vgl . Castel 2008; Kronauer 2010) .

Die Inklusion in verschiedene Teilsysteme modernen Lebens

In modernen Gesellschaften sind Individuen in verschiedene gesellschaftli-che Teilsysteme inkludiert: in das Wirtschaftssystem beispielsweise ĂŒber ih-ren Beruf oder als Kunden von Dienstleistungen und Waren; in das Rechts-system als TrĂ€ger von individuellen Rechten respektive als Rechtspersonen; in das politische System beispielsweise als WĂ€hler, Abgeordnete oder ander-weitig aktiv politisch TĂ€tige; ĂŒber das Gesundheitssystem beispielsweise als

43 Zwar ist die Inklusion der Menschen auch Ziel totalitĂ€rer Gesellschaften, hier allerdings nicht als BĂŒrger, sondern als eingeschrĂ€nkte TrĂ€ger bestimmter, gesellschaftlich fix zuge-schriebener Rollen . Die Inklusion der BĂŒrger ist somit eine Zwangsinklusion und steht der fĂŒr Inklusion zentralen Bedeutung von Freiheit entgegen, wie das nĂ€chste Kapitel noch vertiefter zeigen wird .

166 Inklusion und Gerechtigkeit

Kranke, als Ärzte; sowie ĂŒber das Bildungssystem beispielsweise als SchĂŒler oder Lehrer . Dies sind nur einige Beispiele der dominantesten gesellschaftli-chen Subsysteme, in die Menschen inkludiert sind und in denen sie verschie-dene Rollen (beispielsweise Patient, Arzt oder SozialhilfeempfĂ€nger) inneha-ben .

Diese modernen, multiplen Inklusionen werfen einerseits ein Licht auf Individuen als freie Wesen . Menschen sind heute, anders als in frĂŒheren Ge-sellschaften, in liberalen politischen Systemen nicht mehr in ihrer ganzen Existenz von einem System, beispielsweise der Familie, abhĂ€ngig . Anderer-seits sind Individuen heute gegenĂŒber frĂŒheren Gesellschaften auch abhĂ€n-giger von diesen unterschiedlichen Gesellschaftssystemen, weil differenzierte, funktionale AbhĂ€ngigkeiten zwischen ihnen bestehen .44 So sind beispiels-weise das Bildungs- und das Arbeitssystem in komplexer Weise aneinander gebunden . Eine gute Ausbildung erhöht die Chancen auf einen besseren Arbeitsplatz, und geringe Ausbildungsqualifikationen reduzieren Berufschan-cen massiv (vgl . Solga 2005) .

Zwei Bereiche gesellschaftlicher Inklusion: sozialer und politischer Bereich

Ich möchte, an Thomas Schramme (2006, S . 193ff .) anschließend, zwei Be-reiche gesellschaftlicher Inklusion unterscheiden: den sozialen Bereich mit seiner materiellen und soziokulturellen Dimension sowie den politischen Bereich mit seiner aktiven und passiven Bedeutung .

Im sozialen Bereich sind vor allem die Grundlagen und Leistungen der Institutionen des Sozialstaates zu erwĂ€hnen, welche die gesellschaftliche In-klusion aller BĂŒrger ermöglichen . Im politischen Bereich wiederum werden Menschen mit den Möglichkeiten und Rechten ausgestattet, KĂ€mpfe um Inklusion zu fĂŒhren . Das heißt, sozialstaatliche Leistungen und politische Rechte werden in diesem Bereich gesellschaftlicher Inklusion ĂŒberhaupt erst oder wieder erkĂ€mpft .

44 Diese vielfĂ€ltigen systemischen AbhĂ€ngigkeiten aufgezeigt zu haben, darin liegt ein großer Gewinn der Systemtheorie, insbesondere in der Ausrichtung von Niklas Luhmann .

Die Struktur von Inklusion 167

Die Problematik fĂŒr Menschen mit Behinderung

Die Problematik fĂŒr Menschen mit Behinderung besteht fĂŒr beide Bereiche darin, dass sie oft aus den genannten gesellschaftlichen Systemen – Gesund-heitsversorgung, Arbeitswelt oder Politik – ausgeschlossen sind oder sich tendenziell an deren RĂ€ndern befinden . So ist nur ein verschwindend kleiner Teil der politisch tĂ€tigen Personen selbst behindert . In der schweizerischen Politik beispielsweise sind aktuell nur zwei Personen mit Behinderung im nationalen Parlament und nur wenige weitere zeichnen sich durch aktives Engagement in behindertenpolitischen Themen aus .45 Angesichts der sozial-politischen Bedeutung des Themas sowie der zahlenmĂ€ĂŸigen ReprĂ€sentanz – man geht von rund 10 % der Bevölkerung aus – ist dies ein verschwindend kleiner Teil .

Aber auch auf sozialer Ebene fĂŒhrt die oft prekĂ€re materielle und finanzi-elle Lage dazu, dass sich Menschen mit Behinderung viele mit finanziellen Ausgaben verbundenen sozialen Kontexte – beispielsweise Ferien zusammen mit anderen, Restaurant- oder Kinobesuche – nicht oder nur selten leisten können .

Diese sich oft ĂŒber mehrere Bereiche verstĂ€rkenden AusschlĂŒsse können auch ĂŒber die Zuweisung von sozialstaatlichen Leistungen nicht umfassend abgefangen werden, da sie oftmals nur den Minimalbereich eines guten Le-bens abdecken . Zudem besteht die Problematik, dass sich Menschen mit Behinderung mit der Nutzung sozialstaatlicher Leistungen bereits in der Pas-sivrolle der Leistungsabnehmer befinden . Diese Rolle und mit ihr die Leistun-gen, welche die Personen erhalten, sind mit potenzieller Stigmatisierung und möglichem Ausschluss verbunden . Sie sind zumindest unbestritten ambiva-lent . Die Institutionen â€șinkludierender Exklusionâ€č, wie sie Rudolf Stichweh (2009) unter anderem in der institutionalisierten Behindertenhilfe sieht,

45 Im Schweizer Parlament befinden sich momentan zwei Personen mit (bekannter) Behin-derung . Der eine ist der StĂ€nderat Luc Recordon, der andere der Nationalrat Christian Lohr . Dasselbe gilt in Ă€hnlicher Weise fĂŒr den deutschen Bundestag . Der einzige Minister mit sichtbarer und bekannter Behinderung ist aktuell der deutsche Bundesfinanzminister Wolfgang SchĂ€uble, welcher seit einem Attentat im Jahre 1990 vom dritten Brustwirbel abwĂ€rts gelĂ€hmt ist . Der erste Abgeordnete mit Behinderung im deutschen Landtag war der querschnittgelĂ€hmte Jurist Horst Frehe . In Österreich sind vor allem der Nationalrat, Germanist und GrĂŒnder des Wiener KrĂŒppelKabaretts Franz-Joseph Huainigg sowie die gehörlose NationalrĂ€tin Helene Jarmer als Politiker mit Behinderung bekannt . In Groß-britannien ist der blinde Politiker und Mitglied des Unterhauses, David Blunkett, be-kannt . Seine jeweils aktuellen Blindenhunde Ruby, Teddy, Offa, Lucy und Sadie, waren oder sind der britischen Öffentlichkeit wohl bekannt .

168 Inklusion und Gerechtigkeit

versuchen zwar die Ausgeschlossenen oder von Ausschluss bedrohten Men-schen in die Gesellschaft zurĂŒckzufĂŒhren, dies allerdings zum Preis einer sozialen Stigmatisierung und der Zuweisung von Sonderrollen .

Die LegitimitĂ€t des Anspruchs sozialstaatlicher Leistungen muss zudem immer mit der potenziellen oder bereits eingetretenen GefĂ€hrdung von In-klusion und LebensqualitĂ€t erwiesen sein . Damit wird Inklusion mit dem Preis von – wenn auch oft in Form von Risiken – Exklusion erkauft .46

5 .3 .1 Inklusion in den Sozialstaat

Die Institutionen des Sozialstaates sind heute, zumindest was demokratische Gesellschaften betrifft, inklusiv . Das bedeutet erstens, dass sie niemanden prinzipiell ausschließen . Das heißt mit anderen Worten, dass die Leistungen und Hilfen, die der Sozialstaat bereitstellt, allen BĂŒrgern des Staates im Be-darfsfall zukommen .47 Zweitens wenden sich sozialstaatliche Hilfen an alle BĂŒrgerinnen und BĂŒrger und bedĂŒrfen daher prinzipiell auch der Zustim-mung aller . Dies ist nicht zuletzt der Grund, weshalb die genauen Inhalte, Ziele und Mittel sozialstaatlicher Hilfe stĂ€ndig umstritten und umkĂ€mpft sind und auch der dauernden Diskussion bedĂŒrfen .

46 Dies zeigt sich deutlich auf der rechtlichen Ebene . ErhĂ€lt hier jemand das rechtliche Eti-kett eines â€șBehindertenâ€č, hat dies zwar sozialen Schutz zur Folge, fĂŒhrt aber auch zu poten-zieller institutioneller – und nicht nur zwischenmenschlicher – Stigmatisierung . Das Di-lemma respektive die Ambivalenz lĂ€sst sich aber nicht lösen, sondern ist diesem Bereich inhĂ€rent eingebrannt . Auch zeigt sich die Grenze sozialstaatlicher Intervention da, wo private oder halbprivate Unternehmungen oder Institutionen exkludierend wirken . Im-mer wieder zeigt sich beispielsweise der Unwille von Arbeitgebern, â€șbekanntermaßenâ€č be-hinderte Menschen als Arbeitnehmer einzustellen . So stellte sich in einer Schweizer Unter-suchung heraus, dass viele Arbeitgeber lieber faule, unmotivierte Arbeitnehmer anstellen als solche mit einer – in diesem Fall – psychischen Behinderung . Die fiktiven Bewerber hatten dabei – bis auf einen Fall – eine chronische Krankheit mit unklarer Prognose, waren aber dank Behandlung und Medikamenten stabil, zu 100 % arbeitsfĂ€hig sowie gut qualifi-ziert . Nur einer der neun Bewerber war gesund, aber im Gegensatz zu den acht anderen Bewerbern mit Behinderung weder besonders zuverlĂ€ssig noch ausnehmend leistungsbe-reit . Es zeigte sich, dass in den meisten FĂ€llen der Job an den gesunden, aber faulen und unmotivierten Bewerber gegangen wĂ€re . Dies galt fĂŒr alle Branchen, die an der Befragung teilgenommen hatten, und war unabhĂ€ngig von Alter, Geschlecht, Ausbildung oder ande-ren Merkmalen des ausfĂŒllenden Personalverantwortlichen (vgl . Baer 2007) .

47 DarĂŒber hinaus kommt jedem Menschen in einer Notlage soziale Nothilfe zu, also auch Menschen, die nicht BĂŒrger des Landes sind, in denen sie sich in dieser Notlage befinden . Ein Beispiel dafĂŒr sind Asylsuchende .

Die Struktur von Inklusion 169

Die Aufgaben des Sozialstaates: Sicherheit und BefÀhigung

Die zwei Hauptaufgaben des Sozialstaates können nach Thomas Schramme (2006, S . 198) in der Sicherheit und der BefĂ€higung der BĂŒrger eines Staates gesehen werden . Unter Sicherheit fallen beispielsweise PrĂ€vention und Kom-pensation, letzteres vor allem fĂŒr die unverdienten Folgen von Arbeitslosig-keit, Krankheit, Behinderung oder Alter . Verschiedene Institutionen des Sozialstaates, beispielsweise die Invalidenversicherung in der Schweiz, die Krankenversicherung oder die Unfallversicherung, haben die Aufgabe, die sozialen Folgen von Behinderung (aber auch Krankheit, Unfall oder Alter) zu bearbeiten . Die Aufgaben des Sozialstaates fallen zweitens in den Bereich der BefĂ€higung . Diese Aufgabe betrifft hauptsĂ€chlich die Bereiche Bildung und Erziehung .

Das Beispiel Bildung

Bildung kommt deshalb eine solch hohe Bedeutung im Bereich sozialer ge-sellschaftlicher Inklusion zu, weil Bildung fĂŒr den Einzelnen zunĂ€chst Er-werb von Grundkompetenzen und persönlichem Eigenwert ist, darĂŒber hi-naus aber auch mit sozialen und gesellschaftlichen Folgen und Chancen verbunden ist .48

In gesellschaftlicher Hinsicht ist soziale Inklusion das Ziel von Bildungs-prozessen und wird ausgedrĂŒckt in der Weitergabe von kulturellen und sozi-alen Normen und kollektiven Ressourcen . Zur gesellschaftlichen Funktion von Bildung zĂ€hlt denn auch zentral ihre integrative Funktion, insbesondere die kollektive, oft staatlich geplante Weitergabe von Wissen und Kompeten-zen . Auch die Sozialisation in die Gesellschaft und in Gemeinschaften gehört dazu . Das Bildungssystem dient somit nicht nur der Vorbereitung auf das spĂ€tere Leben, sondern bietet selbst Gelegenheit fĂŒr praktische Inklusion . Bildung ĂŒbt insofern eine Querschnittfunktion in gesellschaftlich-sozialer Hinsicht aus, weil Bildung gesellschaftliche Inklusion mehrdimensional zu leisten vermag . Bildung trĂ€gt nachweislich zur Erhöhung von Chancen in verschiedenen Bereichen, unter anderem zu besserer Gesundheitsversorgung,

48 Man kann also sagen, dass Bildung selbst eine Gatekeeping-Funktion hat, indem sie nicht nur den Erwerb von FĂ€higkeiten und Qualifikationen ermöglicht, sondern ebenfalls Vor-aussetzung fĂŒr den Erwerb von weiteren FĂ€higkeiten und Qualifikationen darstellt .

170 Inklusion und Gerechtigkeit

besseren Berufschancen, höherer sozialer und politischer Beteiligung sowie dichteren sozialen Netzwerken bei (vgl . Hillmert 2009; Marmot 2006) .49

Unterschiedliche Akzentuierungen der Aufgaben

Je nachdem, welche Zielsetzungen Institutionen des Sozialstaates konkret verfolgen, können die beiden Aufgaben – Sicherheit und BefĂ€higung – un-terschiedlich akzentuiert sein . Renten beispielsweise werden aus dem Grund der Aufgabe der Sicherheit zugeordnet, weil sie staatlich zugesicherte Leis-tungen im Bedarfsfall darstellen . Damit schĂŒtzen sie die Betroffenen davor, aufgrund einer Notlage in Armut zu geraten . Sie entlasten die betroffenen Menschen davon, fĂŒr den eigenen Lebensunterhalt wirtschaftlich tĂ€tig und kooperationsfĂ€hig sein zu mĂŒssen . Bei der Zusprache der Leistungen wird angenommen, dass die Notlage und deren Folgen unverdient sind und daher gesellschaftlicher und nicht nur individueller Bearbeitung bedĂŒrfen .

Das gilt fĂŒr alle Bereiche sozialstaatlicher Hilfe . Die Basisannahme fĂŒr die Hilfe ist folgende: Der Erfolg der individuellen Lebenskarrieren und -aussichten ist ungleich und zwar teilweise unverdienterweise ungleich . Er ist abhĂ€ngig von den Voraussetzungen, die Menschen in ihrem Leben vorfin-den . Diese Voraussetzungen sind nicht vollumfĂ€nglich ihren eigenen Ent-scheidungen geschuldet . Dies gilt vor allem fĂŒr das, was Menschen zu Be-ginn ihres Lebens vorfinden, beispielsweise, ob sie mit einer SchĂ€digung auf die Welt kommen oder nicht .

Dasselbe gilt aber neben dem natĂŒrlichen Schicksal auch fĂŒr das soziale Schicksal, das Menschen nicht gleich behandelt . Beispielsweise entspricht es dem sozialen Schicksal, in welche Familie man hineingeboren wird . Dieses soziale Schicksal prĂ€gt zweifelsohne die Ausgangslagen und Aussichten von Menschen, ist aber nicht gleichzeitig ein Element der Ausstattung an natĂŒr-licher Begabung . Der Konsens in liberalen demokratischen Gesellschaften geht denn auch dahin, nicht einfach der gesellschaftlichen Entwicklung zu ĂŒberlassen, was Menschen an natĂŒrlicher Begabungsausstattung und an Zu-fĂ€lligkeit der Herkunft mitbringen . Sowohl Begabung wie auch Herkunft dĂŒrfen sich zumindest nicht ohne Schutzmechanismen in den gesellschaftli-

49 Damit kommt bei einer Schulklasse zur erwÀhnten hybriden Form von exklusiver und partizipativer Gemeinschaft hinzu, dass Bildung ein gesellschaftliches Gut darstellt und damit die in einer Schulklasse umgesetzte Bildungsarbeit einem gesellschaftlichen Auftrag entspricht . Schule befindet sich somit, je nach Betrachtung, in der gesellschaftlichen oder in der gemeinschaftlichen SphÀre .

Die Struktur von Inklusion 171

chen Bereich hinein verlĂ€ngern und dort fĂŒr massive – mit Leiden verbun-dene – Nachteile sorgen .

5 .3 .2 Inklusion in den politischen Bereich

Inklusion in den politischen Bereich verweist auf eine aktive und direkte Inklusion der BĂŒrger qua BĂŒrgerstatus . Politische Inklusion impliziert daher den Kampf um einen gleichberechtigten Status innerhalb einer Gesellschaft . KĂ€mpfe um Inklusion sind aus diesem Grund oft auch KĂ€mpfe um die Zugangsbedingungen zu bestimmten Institutionen oder Ressourcen (vgl . Schramme 2006, S . 201) .

Es erstaunt nicht, dass Inklusion, Demokratie und die zentralen Ideen des liberalen Kanons – insbesondere die Freiheit der Person und die Rechts-staatlichkeit – sich gegenseitig stĂŒtzen . Mit anderen Worten: Demokratie ist als Idee der Inklusion verpflichtet (vgl . Taylor 2001, S . 30) . Demokratien behandeln ihre BĂŒrger als Freie und Gleiche . Dies wird unter anderem da-durch ausgedrĂŒckt, dass ihre Normen und Werte allen gegenĂŒber gerechtfer-tigt werden und dass ein System von Grundfreiheiten und politischen Parti-zipationsrechten allen offen stehen soll (vgl . Rawls 1993, S . 81) .

Zwei Modelle von Demokratie

Nach gĂ€ngiger moderner politischer Theorie kann man zwei Modelle demo-kratischer Entscheidungsprozesse unterscheiden: ein aggregatives und ein de-liberatives Modell (vgl . Young 2000) . Das erste Modell sieht Demokratie vor allem als Prozess der Aggregation der Interessen von Individuen . Eine zent-rale Annahme des Modells ist, dass Individuen respektive deren Interessen als gegeben angenommen werden . Ob diese PrĂ€ferenzen valide sind, ob sie aus egoistischen oder altruistischen Quellen entstammen, ist dabei nicht von Interesse . Das aggregative Modell nimmt an, dass Ziele und Werte subjektiv, nicht rational und exogen zum politischen Prozess sind und dass demokrati-sche Politik im Kern ein Kampf zwischen unterschiedlichen privaten Inter-essen ist (vgl . ebd ., S . 22) .

In den letzten Jahrzehnten sind Stimmen laut geworden, die argumentie-ren, dass Demokratie nicht ausschließlich als Prozess der Aggregation von Interessen verstanden werden sollte, sondern auch Aussagen ĂŒber die delibe-

172 Inklusion und Gerechtigkeit

rative Transformation von Interessen beinhalten sollte .50 Ein solches delibe-ratives Modell versteht Demokratie oder demokratische Prozesse als Ent-scheidungsprozesse (vgl . Elster 1998, S . 8) . Es geht in diesem Modell also weniger darum, welche Interessen Menschen haben respektive welche Inter-essen von den meisten BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern geteilt werden, sondern darum, welche Interessen durch die besten GrĂŒnde gestĂŒtzt werden (vgl . Young 2000, S . 23) . WĂ€hrend das aggregative Modell ein Demokratiever-stĂ€ndnis vertritt, in welchem das Zustandekommen der Interessen neben-sĂ€chlich ist, liegt in diesem gerade die zentrale Botschaft des deliberativen Modells .

Das deliberative Modell basiert auf zwei Annahmen . Erstens: Je mehr Menschen in einen demokratischen Deliberationsprozess inkludiert sind, desto besser funktioniert Demokratie . Zweitens: Diejenigen, die momentan aus dem deliberativen Prozess ausgeschlossen sind, sollen von denjenigen inkludiert werden, die bereits am demokratischen Prozess teilnehmen . Die Sprache von Inklusion setzt voraus, dass sozusagen von innen nach außen einbezogen und erweitert wird . Der Rahmen derjenigen, welche in demo-kratischen Prozessen Beachtung finden, erweitert sich daher stĂ€ndig . Aber nicht nur der Kreis von Personen erweitert sich, auch die Rechte, welche diesen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zugesprochen werden, ent-wickeln sich weiter (vgl . Marshall 1992) .

Das deliberative Modell von Demokratie betont also, anders als das ag-gregative Modell, sowohl den Prozess wie auch das Ergebnis demokratischer BemĂŒhungen . Die Bedeutung dieser beiden Aspekte ist fĂŒr die Frage der Inklusion von behinderten Menschen von entscheidender Bedeutung . In den meisten FĂ€llen ist nĂ€mlich weniger das Problem, dass Menschen mit Behinderung am Ausgang demokratischer BemĂŒhungen keine offizielle Mit-sprache hĂ€tten . Dass sie dies haben, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der nun-mehr seit vier Jahrzehnten existierenden Selbstvertretung behinderter Men-schen in zahlreichen BetroffenenverbĂ€nden und politischen Organen . Das Problem scheint vielmehr oft zu sein, dass in demokratischen Prozessen selbst subtile Formen interner Exklusion eine Rolle spielen . Beispielsweise zeigt sich in vielen politischen Prozessen, dass die Voten behinderter Men-

50 Der berĂŒhmteste Vertreter eines solchen deliberativen Modells ist zweifelsohne JĂŒrgen Ha-bermas .

Die Struktur von Inklusion 173

schen weniger ernst genommen werden oder dass mit ScheineinwĂŒrfen und -argumenten auf diese reagiert wird .51

Gesellschaftliche Exklusion als Herausforderung fĂŒr Demokratien

Inklusion ist nicht nur ein wichtiger Aspekt und Zweck einer Demokratie . Sie ist auch eines der grĂ¶ĂŸten Probleme . Die Frage des Einbezugs von Grup-pen und Einzelnen hat die Demokratie seit ihrem Anbeginn verfolgt (vgl . Held 1987) . Die Geschichte von Demokratie kann daher auch als Geschich-te von Exklusion beschrieben werden . So wurden Menschen beispielsweise immer wieder mit der BegrĂŒndung ausgeschlossen, sie seien nicht â€șfitâ€č fĂŒr die Demokratie, entweder, weil sie die FĂ€higkeiten, die als zentral fĂŒr eine Teil-nahme am politischen Prozess erachtet wurden, nicht erfĂŒllten (beispielswei-se RationalitĂ€t oder Vernunft) . Oder weil sie die zentralen Werte der Demo-kratie (beispielsweise Freiheitsrechte) nicht unterschreiben wollten . Die Geschichte der Demokratie kann daher immer auch als Kampf um Inklusion oder als Kampf gegen Exklusion beschrieben werden .

Die Verbindung von Exklusion und Demokratie lĂ€sst sich auf zweierlei Weisen verstehen: Erstens ist die Erfahrung von Exklusion an Erfahrung von Missachtung gebunden, insofern Exklusion, sofern sie unbegrĂŒndet oder willkĂŒrlich erfolgt, Missachtung und DemĂŒtigung ausdrĂŒckt . Dies ist aber mit den Werten von Demokratien, die auf Gleichheit und Freiheit ihrer BĂŒrger setzen, nicht vereinbar . Damit ist das Ziel von Demokratie angespro-chen . Zweitens sind Menschen von vielen Entscheidungen des öffentlichen Lebens in einem Maß abhĂ€ngig, dass sich unter ungĂŒnstigen UmstĂ€nden ihre gesellschaftliche Exklusion weiter verstĂ€rken kann . Damit ist der Prozess von Demokratie angesprochen sowie die Art und Weise, wie demokratische Entscheidungen zustande kommen .

Bei behinderten Menschen zeigt sich die Verbindung von Demokratie und Exklusion oder Inklusion beispielsweise an der Art und Weise, wie ge-

51 Beispielsweise wird auch in reichen StĂ€dten oder Nationen oft schnell mit (zu) knappen Ressourcen argumentiert, wenn es um die Verbesserung der gesellschaftlichen Lage behin-derter Menschen geht, dies auch dann, wenn sich nicht nachweisen lĂ€sst, dass massive Ressourcenknappheit besteht . FrĂŒhzeitig bedacht, betrĂ€gt der zusĂ€tzliche Investitionsauf-wand fĂŒr bauliche Anpassungen beim barrierefreien Bauen beispielsweise meist unter 3% der Bausumme . Zudem ist nur ein Drittel dieser Maßnahmen, beispielsweise Treppenlife, speziell fĂŒr behinderte Menschen . Der Rest kommt nicht behinderten Menschen genauso zu (vgl . Rau 2008) .

174 Inklusion und Gerechtigkeit

sellschaftliche Hilfe und UnterstĂŒtzung geleistet wird und wie die Entschei-dungen darĂŒber zustande kommen . Es macht fĂŒr das Leben behinderter Menschen etwa einen großen Unterschied, ob sie die Wahl haben, in einer Institution der Behindertenhilfe oder mit Hilfe einer persönlichen Assistenz in den eigenen vier WĂ€nden zu leben . Die Entscheidung, ob es diese Wahl gibt, ist aber abhĂ€ngig von einem demokratischen Willensbildungsprozess . Auch der technische oder technologische Wandel in einer Gesellschaft – der sich beispielsweise darin zeigen kann, ob Verkehrsmittel auch fĂŒr Menschen im Rollstuhl zugĂ€nglich und die Meldungen in öffentlichen Verkehrsmitteln auch fĂŒr taube oder blinde Menschen hör- oder lesbar sind – drĂŒckt demo-kratische Willens- und Sensibilisierungsprozesse aus . Insbesondere Men-schen mit Behinderung sind verletzlich dahingehend, dass ihr Status in der Gesellschaft davon abhĂ€ngt, inwieweit ihnen die Gesellschaft Hilfen und UnterstĂŒtzung zugesteht, wie sie das tut und wie Entscheidungen darĂŒber zustande kommen . Hier ist es von zentraler Bedeutung, dass behinderte Menschen selbst aktiv an den demokratischen Willensbildungsprozessen be-teiligt werden und ihren BedĂŒrfnissen, Zielen und PlĂ€nen Ausdruck verlei-hen können . Dies ist insbesondere in den Bereichen notwendig, denen eine sogenannte Gatekeeping-Funktion zukommt . Dies ist beispielsweise bei Mo-bilitĂ€t und der ZugĂ€nglichkeit von GebĂ€uden und Dienstleistungen der Fall . Denn oftmals ist MobilitĂ€t eine Voraussetzung fĂŒr das Erreichen anderer GĂŒter, beispielsweise einer Theatervorstellung oder der öffentlichen Schule . Dasselbe gilt auch fĂŒr GebĂ€ude und Dienstleistungen selbst . Denn in vielen FĂ€llen ist der Zugang zu GebĂ€uden und Dienstleistungen eine Vorausset-zung dafĂŒr, die damit verbundenen GĂŒter ĂŒberhaupt erreichen und in An-spruch nehmen zu können .

Zwei Formen von Exklusion

Vor allem im Prozess der Demokratie zeigen sich die Aspekte von Exklusion . Dabei können nach Iris Marion Young (2000, S . 53ff .) zwei Formen von Exklusion unterschieden werden: eine externe und eine interne . Externe Ex-klusion zeichnet sich nach Young dadurch aus, dass bestimmte Individuen oder Gruppen von der Debatte oder Meinungsbildungs- und Entschei-dungsprozessen ausgeschlossen sind oder ihnen Wahlrechte abgesprochen werden .

Die Struktur von Inklusion 175

Obwohl ein Großteil der Demokratien in ihrer Praxis alles andere als perfekt ist, ist die externe Exklusion fĂŒr die meisten Menschen in heutigen Gesellschaften kein faktisches Problem mehr . Sie fallen mit anderen Worten nicht â€șausâ€č der Gesellschaft, sondern werden â€șinâ€č der Gesellschaft an den Rand gedrĂ€ngt und haben dort eine marginalisierte Position . Das von vielen Menschen mit Behinderung erlebte und erfahrene Übergangen- und Margi-nalisiertwerden in politischen Prozessen ist in den meisten FĂ€llen denn auch keine externe, sondern eine interne Exklusion . Damit kann man diese Form von Exklusion auch als indirekte Exklusion bezeichnen, denn aus gesellschaft-licher Sicht ist sie ja nicht direkt intendiert . Sie ergibt sich vielmehr indirekt aus den Folgen demokratischer Entscheidungsprozesse, in denen behinderte Menschen hĂ€ufig ĂŒbergangen werden . Indirekt ist diese Form auch deshalb, weil den betroffenen Menschen die effektiven Möglichkeiten fehlen, Einfluss auf die Entscheidungsprozesse anderer BĂŒrger zu nehmen, selbst wenn sie formal Zugang zu den Foren und Prozeduren der Entscheidung haben .

Exklusion vollzieht sich damit, anders als in historisch frĂŒheren Gesell-schaften, in denen die Exklusion von Menschen sich vorgĂ€ngig ĂŒber gemein-schaftliche Exklusion vollzog, zu nicht unwesentlichen Teilen in der Gesell-schaft und ihren Subsystemen . Exklusion ist dabei kein Prozess des Aus- schlusses aus der Gesellschaft, sondern vielmehr ein Prozess, der in der Gesellschaft stattfindet . Die Betroffenen fallen damit nicht, wie das nĂ€chste Kapitel noch vertiefter zeigen wird, aus der Gesellschaft heraus, sondern aus der Wechselseitigkeit von – auch moralisch-rechtlichen – Anerkennungsver-hĂ€ltnissen, die in der Gesellschaft stattfinden . Dieses Herausfallen aus der Wechselseitigkeit von AnerkennungsverhĂ€ltnissen respektive dem Verwei-gern oder Nichtzugestehen von Anerkennung hat zur Folge, dass die Betrof-fenen zwar Teil der Gesellschaft sind, nicht aber an den Möglichkeiten und wechselseitigen sozialen Beziehungen oder Institutionen der Gesellschaft teilhaben können (vgl . Kronauer 2007, S . 10) .

Diese subtilere Form von Exklusion kann sich beispielsweise dadurch auszeichnen, dass Menschen kein Gehör geschenkt wird, ihnen nicht ge-glaubt wird, ihre Perspektive nicht ernst genommen wird . Iris Marion Young (2000, S . 55) beschreibt dies folgendermaßen: »[
] others ignore or dismiss or patronize their statements and expressions . Though formally included in a forum or process, people may find that their claims are not taken seriously and may believe that they are not treated with equal respect . The dominant mood may find their ideas or modes of expression silly or simple, and not worth of consideration . They may find that their experiences relevant to the

176 Inklusion und Gerechtigkeit

issues under discussion are so different from others’ in the public that their views are discounted .«

Prozesse interner Exklusion sind ungleich schwieriger zu fassen und zu beschreiben als expliziter Ausschluss . In der Erfahrung der Betroffenen tau-chen sie oft als Ungewissheit ĂŒber die eigene Stellung und den eigenen Status auf (vgl . Stichweh 2009, S . 31) . Diese interne Form von Exklusion ist, gerade weil sie subtiler und daher schwieriger zu belegen ist, auch ungleich an-spruchsvoller zu bekĂ€mpfen .52

Die Problematik fĂŒr Menschen mit Behinderung

Bei behinderten Menschen lĂ€sst sich diese Form indirekter oder gesellschafts-interner Exklusion in vielerlei Formen und Facetten beobachten . Die Exklu-sion kann sich beispielsweise dadurch Ă€ußern, dass die Meinungen behinderter Menschen in der Hinsicht nicht ernst genommen wird, dass ihre Sichtweisen als kindlich und nicht entwickelt wahrgenommen werden und ihnen in der Folge (in umfassender Weise) kindliche BedĂŒrfnisse und Interessen zuge-schrieben werden . Gerade im gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung lĂ€sst sich dies besonders hĂ€ufig beobachten . Es zeigt sich beispielsweise, wenn Menschen mit geistiger Behinderung das BedĂŒrfnis nach SexualitĂ€t und intimen zwischenmenschlichen Beziehungen nicht zu-gesprochen und in der Folge auch nichts unternommen wird, Möglichkeiten zu schaffen, diese BedĂŒrfnisse decken zu können .53 In Schweizer Behinder-tenheimen waren beispielsweise bis vor wenigen Jahren oft nur Mehrbett-zimmer zu finden . Dass auch Menschen mit geistiger Behinderung RĂŒck-zugsmöglichkeiten und Chancen zur AusĂŒbung und Gestaltung von IntimitĂ€t brauchen, wurde nicht gesehen und daher wurden auch keine Maßnahmen ergriffen, RĂ€ume dafĂŒr zu schaffen . FĂŒr die Entscheidungsfindung wurden die betroffenen Menschen zudem gar nicht befragt .

52 Vgl . hierzu die ausfĂŒhrliche Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth zu diesem Thema (vgl . Fraser und Honneth 2003) .

53 Zu fatalen Folgen hat dieses Nichternstnehmen der EinschĂ€tzungen und Meinungen be-hinderter Menschen in einem aktuellen Fall in der Schweiz gefĂŒhrt . So konnte ein Sozial-therapeut ĂŒber 30 Jahre lang unbehelligt ĂŒber 120 Menschen mit Behinderung sexuell missbrauchen, ohne dass Behörden oder Heimverantwortliche darauf aufmerksam wur-den . Dies, auch wenn bereits in frĂŒheren Jahren behinderte Menschen den Sozialtherapeu-ten des Missbrauchs beschuldigt hatten .

Die Struktur von Inklusion 177

In diesem Beispiel zeigt sich, dass die betroffenen Menschen nicht als das (an-)erkannt wurden, was sie sind, nĂ€mlich als Menschen mit den gleichen und besonderen Interessen wie andere Menschen auch . Stattdessen reagierte man entweder aus der Erst-Person-Perspektive und ĂŒberstĂŒlpte behinderten Menschen die eigenen BedĂŒrfnisse, Ziele und PlĂ€ne . Oder aber man meinte aus einer Dritt-Person-Perspektive zu wissen, was ein Mensch mit Behinde-rung braucht, was zu paternalistischen Folgen fĂŒhrte . Gefragt wĂ€ren zwei-felsohne – in gesellschaftlicher wie gemeinschaftlicher Hinsicht – die Ein-nahme einer Zweit-Person-Perspektive und damit ein richtiges Ernstnehmen der betroffenen Person mit ihren eigenen BedĂŒrfnissen, PlĂ€nen und Zie-len .54

Dass sich auch gesellschaftliche Exklusion auf einem Kontinuum zwi-schen drinnen und draußen bewegt, hat insbesondere der französische So-ziologe Robert Castel aufgezeigt .

Drei Zonen von Inklusion und Exklusion

Robert Castel (2008) unterscheidet drei Zonen von Inklusion und Exklusi-on . Die erste Zone ist die Zone der Integration, die ich Zone der Inklusion nennen möchte . In dieser gibt es ein hohes Maß an sozialer StabilitĂ€t, die beispielsweise ĂŒber Arbeitsplatzsicherheit, tragfĂ€hige soziale Beziehungen und FreirĂ€ume in der individuellen Lebensgestaltung gekennzeichnet ist . Die zweite Zone ist die Zone der Verwundbarkeit. In dieser ist die weitgehen-de StabilitĂ€t und Sicherheit in verschiedenen Bereichen des Lebens nicht mehr gegeben . Stattdessen sind einer oder mehrere der Bereiche von Unsi-cherheit geprĂ€gt: berufliche Unsicherheit, unsichere private Netze, enge fi-nanzielle Möglichkeiten, die verhindern, einen Teil der individuellen Le-bensplĂ€ne umzusetzen, und so weiter . Das Leben in dieser Zone ist weniger planbar als in der ersten und von stĂ€ndigen UnwĂ€gbarkeiten geprĂ€gt . Die dritte Zone schließlich wird von Castel als Zone der Ausgrenzung bezeichnet . In dieser sind Menschen dauerhaft von verschiedenen Bereichen des Lebens ausgeschlossen, beispielsweise von der Erwerbsarbeit oder von gesellschaft-lich anerkannten Rollen (beispielsweise als Eltern oder als Liebespartner) .55

54 FĂŒr diesen wichtigen Hinweis danke ich Susanne Schmetkamp . 55 Letzteres muss zwar nicht in jedem Fall negativ respektive bereits normativ bewertet sein,

es zeigt sich aber, dass der Ausschluss von oder Mangel an sozial als positiv bewertete Chancen bereits an sich benachteiligend ist . Es findet, mit anderen Worten, unabhÀngig von einer ethisch-normativen Bewertung eine faktisch-gesellschaftliche Bewertung statt .

178 Inklusion und Gerechtigkeit

Soziale Beziehungen schrumpfen und beschrÀnken sich auf Menschen in Àhnlich prekÀrer Lage oder auf professionelle Helfer . Menschen sind im schlimmsten Fall sozial isoliert und haben keine Kontakte zu anderen Men-schen . An die Stelle der zwischenmenschlichen Einbindung in wechselseitige Sozialbeziehungen tritt die AbhÀngigkeit von institutioneller Hilfe, die mit Sanktionsgewalt ausgestattet ist .

Zweifelsohne ist das Leben vieler Menschen mit Behinderung von diesen multiplen wechselseitigen Exklusionsbeeinflussungen und -vorgĂ€ngen, wie sie die dritte Zone bezeichnet, geprĂ€gt . Gerade bei Menschen mit Behinde-rung kommt es verstĂ€rkt zu Exklusionsverkettungen oder Kumulationen von Exklusionen in verschiedenen Bereichen . Die Exklusionsketten, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind, sind unter UmstĂ€nden sehr lang und können sich auch in den gemeinschaftlichen Bereich hinein verlĂ€ngern . Menschen mit schwacher gesellschaftlicher Stellung, unter ihnen auch Men-schen mit Behinderung, sind denn nicht selten auch in gemeinschaftlicher Hinsicht schlechter gestellt . Sie haben beispielsweise weniger Freunde und allgemein gesprochen ein weniger dichtes – qualitativ wie quantitativ – sozi-ales Netz (vgl . Todd, Evans und Beyer 1990) . Exklusionsverkettungen kön-nen zudem so funktionieren, dass sie Behinderung erst schaffen oder noch verstĂ€rken . In der Analyse dieser Exklusionsverkettungen zeigt sich, dass ge-sellschaftlichen Institutionen, beispielsweise der Bildung, bei diesen Prozes-sen eine besondere Bedeutung zukommt . Ich möchte daher abschließend auch hier exemplarisch auf den Bildungsbereich zu sprechen kommen .

Die â€șProduktionâ€č von Behinderung im Kontext Schule

Besonders im Kontext von Schule und Bildung lĂ€sst sich nĂ€mlich empirisch zeigen, dass durch bestimmte Zuschreibungen, beispielsweise â€șSonderschĂŒ-lerâ€č, Behinderungen oft erst geschaffen oder zumindest verstĂ€rkt werden . Sonderschulen selbst können daher als gesellschaftliche Orte der Bildung zu Orten des â€șBehindert-Werdensâ€č werden (vgl . Powell 2007, S . 321) .

Entscheidend und prĂ€gend daran ist, dass das in den Schulen vermittelte kulturelle Kapital, insbesondere in Form von Wissen und BildungsabschlĂŒs-sen als institutionalisierte Ausweise des kulturellen Kapitals, ĂŒber weitere Chancen im Leben entscheidend ist . Und gerade fehlende AbschlĂŒsse ver-schließen im Falle von AbgĂ€ngern von Sonderschulen oft viele TĂŒren . Heike Solga (2005) beispielsweise hat die Schwierigkeiten des Abgangs von der

Die Struktur von Inklusion 179

Schule sowie des Übergangs ins Berufsleben fĂŒr AbgĂ€nger von Sonderschu-len sowie ihr Scheitern in erwarteten â€șNormalbiografienâ€č eindrĂŒcklich aufge-zeigt . Insbesondere fĂŒr AbgĂ€nger der Sonderschule zeigt sich in ihrer Unter-suchung, dass diese in zirka 80 % der FĂ€lle ohne Hauptschulabschluss entlassen werden . An diese Jugendlichen richtet sich aber nun – wie auch an die Jugendlichen mit Hauptschulabschluss – die Normerwartung, dass sie eine unbefristete VollerwerbstĂ€tigkeit im ersten Arbeitsmarkt wahrnehmen können . Diese Erwartung kann aber meistens in dreierlei Hinsicht nicht erfĂŒllt werden . Erstens ist zwar ein fehlender Schulabschluss an sich noch kein Ausschlusskriterium fĂŒr eine regulĂ€re Berufsausbildung . Oft hat aber der »amtliche Stempel des DefizitĂ€ren« (ebd ., S . 208f .) faktisch zur Folge, dass die Chancen markant sinken . Dies vor allem aufgrund von zwei Prozes-sen: einmal aufgrund einer VerdrĂ€ngung durch diejenigen mit Schulab-schluss (VerdrĂ€ngungsaspekt), und einmal durch die Skepsis von Betrieben, auch diejenigen ohne gute Schulkarriere einzustellen (Diskreditierungsas-pekt) .

Zweitens landen diese Jugendlichen oft in der MĂŒhle von Sozialmaßnah-men und damit direkt in weiterhin segregierenden Formen von Bildung . Sie sind damit wieder unter sich. Mit ihrer institutionellen Ausgliederung aber erhöht sich die bereits bestehende Stigmatisierungsgefahr . Der internen Ex-klusion wird damit Vorschub geleistet . Die Erwartung an eine Bildungs- und Ausbildungslaufbahn, die diese Jugendlichen nicht erfĂŒllen, setzt sie zudem einem auch individuell empfundenen Scheitern und Versagen aus, was wei-tere Demotivationsprozesse zur Folge haben kann .56

Drittens tragen die Betroffenen, selbst wenn sie eine Ausbildung absol-vieren können, ein deutlich höheres Risiko, arbeitslos zu werden, als andere . Eine Ursache sieht Heike Solga (ebd ., S . 213) darin, dass diejenigen Berufe, die behinderten Menschen meist noch offen stehen, zu den besonders be-schĂ€ftigungsinstabilen, schrumpfenden und stĂ€rker von Arbeitslosigkeit be-troffenen Berufen gehören .

Damit ergibt sich fĂŒr viele Menschen mit Behinderung eine prekĂ€re Le-benslage, und zwar aufgrund einer sozialen Situation und der Einbindung in

56 Untersuchungen beispielsweise zeigen, dass die deutlich geringere Quote von SchulabgĂ€n-gern ohne SchulabschlĂŒsse in regulĂ€ren Ausbildungskontexten nicht nur das Ergebnis von Fremd-, sondern auch von Selbstselektionsprozessen ist . So antworteten in einer im Okto-ber 2001 in Deutschland durchgefĂŒhrten Befragung von nicht vermittelten Ausbildungs-stellensuchenden ohne Schulabschluss 49 % auf die Frage, warum sie keine Lehre machen wĂŒrden, dass ihre schulische Vorbildung nicht ausreichend sei und 14 %, dass sie keine Chance sehen wĂŒrden, sich erfolgreich zu bewerben (vgl . Solga 2005, S . 211) .

180 Inklusion und Gerechtigkeit

bestimmte gesellschaftliche Subsysteme, beispielsweise die Schule oder den Arbeitsmarkt, die ihre Behinderung verstÀrken und in vielen FÀllen gerade erst hervorrufen . Die gesellschaftliche und in der Folge auch gemeinschaftli-che Produktion und VerstÀrkung von Behinderung darf also nicht unter-schÀtzt werden . Versteht man nÀmlich Behinderung, wie ich das im vierten Kapitel vertreten habe, vor dem Hintergrund einer GefÀhrdung von Lebens-qualitÀt, steht nichts weniger als das gute Leben von Menschen mit Behin-derung auf dem Spiel .

5 .4 Fazit

In der KlÀrung der Struktur von Inklusion bin ich von zwei Annahmen aus-gegangen . Erstens: Inklusion hat mit Zugehörigkeit zu tun, die sozial durch Anerkennungsprozesse gespiegelt wird . Und zweitens: Inklusion hat mit so-zialer Handlung oder sozialer IntentionalitÀt zu tun . Zudem können bei In-klusion zwei SphÀren unterschieden werden: eine gemeinschaftliche und eine gesellschaftliche .

Die beiden SphĂ€ren sind nicht trennscharf, vielmehr gibt es viele Lebens-bereiche, die durch beide SphĂ€ren geprĂ€gt sind . Paradigmatisch gilt das fĂŒr die Schule .

Die Unterscheidung in gemeinschaftliche und gesellschaftliche Inklusion geht auf Soziologen wie Ferdinand Tönnies oder Max Weber zurĂŒck und kennzeichnet eine gelĂ€ufige Unterscheidung in der soziologischen Theorie-bildung . Sie geht davon aus, dass es Lebensbereiche gibt, in denen Menschen auf interpersonaler Ebene miteinander verkehren, wĂ€hrend es andere gibt (gesellschaftliche), die sich nicht auf interpersonale Beziehungen und daher auch nicht auf ZugehörigkeitsgefĂŒhle reduzieren lassen . In Bezug auf ge-meinschaftliche Inklusion, die gerade fĂŒr Menschen mit Behinderung be-sonders gefĂ€hrdet ist, zeigte sich, dass man Inklusion in Gemeinschaften auf einem Kontinuum zwischen exklusiv und partizipativ einordnen kann . Auch hier gilt, dass realiter beide Momente anwesend sind . Die analytische Unter-scheidung zeigt aber, dass es Kontexte gibt, zu denen sich Menschen tenden-ziell selbst zuschreiben können, die also partizipatorisch sind . Ein Beispiel ist ein Fanklub . Daneben gibt es Kontexte, die eher exklusiv sind, und zu deren Zugehörigkeit man vorgĂ€ngig Zugangskriterien erfĂŒllen muss . Ein gutes Beispiel dafĂŒr ist die Mitgliedschaft in einem Opernhausorchester . Die In-

Die Struktur von Inklusion 181

tentionen, die auf Gemeinschaften gerichtet sind, können Absichten oder Vorhaben (praktische Intentionen), Meinungen oder Überzeugungen (kog-nitive Intentionen), aber auch GefĂŒhle (affektuelle Intentionen) beinhalten . Gerade affektuelle soziale Intentionen geraten oft aus dem Blickfeld .

In der gesellschaftlichen SphĂ€re kann ein sozialer und ein politischer Be-reich unterschieden werden . In ihr und insbesondere im politischen Bereich hat sich die Bedeutung von Demokratie fĂŒr die Inklusion von Menschen gezeigt . Denn erst durch die BefĂ€higung, politische KĂ€mpfe um Inklusion fĂŒhren zu können, ist es tatsĂ€chlich möglich, sich auch faktisch Gehör zu verschaffen . Genau aber das kennzeichnet eines der grĂ¶ĂŸten Probleme bei der Inklusion behinderter Menschen . Sie haben wenig Macht und Gehör in gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen . Sie sind damit, wie Martin Kro-nauer (2010) betont, vor allen Dingen Exklusionsprozessen in der Gesell-schaft besonders stark ausgesetzt . Diese Exklusionsprozesse können sich nach Robert Castel (2008) auch bereits im Übergang von einer Zone der Inklusion hin zu einer Zone der Verwundbarkeit ergeben .

Damit ist das, was bereits Jonathan Wolff und Avner de-Shalit (2007) in Bezug auf den Capability-Ansatz betont haben, nochmals hinsichtlich In-klusion geschĂ€rft . Denn bei Inklusion geht es nicht um entweder-oder, son-dern um ein mehr oder weniger Drinnen oder Draußen sein, das sich je nachdem, wieviel man in den jeweiligen Gemeinschaften oder Gesellschaf-ten tun und sein kann, unterschiedlich zeigt . Und dieses weniger Drinnen oder mehr Draußen, in gesellschaftlicher wie gemeinschaftlicher Hinsicht, ist durch erhöhte Risiken, beispielsweise in der GefĂ€hrdung bestimmter Funktionen, geprĂ€gt . Wer beispielsweise morgens jeweils stundenlang damit beschĂ€ftigt ist, das Bett verlassen zu können, sich zu duschen und anzuzie-hen, weil er eine schwere körperliche BeeintrĂ€chtigung hat, hat zweifelsohne weniger Zeit und wohl auch weniger Energie, sich tagsĂŒber oder abends so-zialen AktivitĂ€ten zu widmen . Oder anders gesagt: Die sozialen AktivitĂ€ten sind mit einem hohen Aufwand psychischer, physischer oder organisatori-scher Art verbunden, der dann an einem anderen Ort wieder fehlt . Gerade im Falle psychischer Behinderung zeigen sich die Risiken, die mit den Be-mĂŒhungen, sozial doch noch Anschluss zu finden, verbunden sind, beson-ders deutlich . Denn oftmals steht der Wunsch dazuzugehören sowohl einem hohen intrapersonalen Preis (beispielsweise Kraft und Mut, sich anderen Menschen zu stellen) als auch zusĂ€tzlicher sozialer Stigmatisierung gegen-ĂŒber . Damit tritt ein potenzieller Teufelskreis zwischen dem GefĂŒhl, nicht dazuzugehören, und der sozialen Reaktion der Missachtung oder Stigmati-

182 Inklusion und Gerechtigkeit

sierung ein . Solche Prozesse zeigen sich zudem nicht nur auf zwischen-menschlicher Ebene, im Kontakt zwischen Menschen also, sondern auch auf gesellschaftlich-abstrakter Ebene . Wie sich beispielsweise im Zuge der soge-nannten â€șScheininvalidendebatteâ€č57 in der Schweiz gezeigt hat, wird man-gelnde Inklusion – beispielsweise in den Arbeitsbereich – besonders oft Menschen mit unklarer medizinischer Indikation (wie beispielsweise De-pressionen oder Schmerzerkrankungen) individuell als Versagen angelastet, was ihre prekĂ€re soziale Lage weiter verstĂ€rkt .

Auch wenn analytisch die beiden SphĂ€ren Gemeinschaft und Gesellschaft getrennt betrachtet wurden, zeigt sich gerade am Beispiel Behinderung, dass die beiden SphĂ€ren im Lebensvollzug der betroffenen Menschen in einen oft unheilvollen Zusammenhang treten . Dies ist der Fall, indem mangelnde ge-meinschaftliche Inklusion zu GefĂ€hrdungen der gesellschaftlichen Inklusion fĂŒhrt und umgekehrt instabile gesellschaftliche Inklusion zu GefĂ€hrdungen der gemeinschaftlichen Inklusion .

Das nĂ€chste Kapitel beleuchtet nun die in diesem Kapitel gewonnen Er-kenntnisse auf normativer Ebene . Konkret frage ich nach der normativen Relevanz von Inklusion . Damit verbunden ist auch folgende Frage: Welche normativen Voraussetzungen und Bedingungen mĂŒssen gegeben sein, damit Inklusion gewĂ€hrleistet werden respektive stattfinden kann?

Im sechsten Kapitel zeigen sich die Verbindungen zwischen Inklusion und Entwicklung . Diese Verbindung geht einerseits zurĂŒck auf die Überle-gungen zur Bedeutung sozialer IntentionalitĂ€t fĂŒr Inklusion und andererseits auf die dem Capability-Ansatz inhĂ€rente Entwicklungsorientierung im Hin-blick auf die Frage, was Menschen tun und sein können . Weiter beleuchte ich die Verbindung zwischen Anerkennung – die ich im vorliegenden Kapitel noch deskriptiv im Sinne einer Identifikation verstanden habe – und Inklu-sion . Als letztes kommt die Sprache auf Freiheit – insbesondere die Freiheit, sozial gerichtete PlĂ€ne und Ziele umzusetzen . Hier nehme ich insbesondere die Idee des Capability-Ansatzes wieder auf, der davon ausgeht, dass Men-schen – vor allen Dingen positive – Freiheit benötigen, das sein und tun zu können, was sie mit guten GrĂŒnden anstreben .

57 Hierbei hat eine politische Partei, die Schweizerische Volkspartei (SVP), damit geworben, die Schweizerische Invalidenversicherung wĂ€re zu sanieren, wenn man allen Menschen, die nur vorgĂ€ben, eine Behinderung zu haben, eine Rente verweigern wĂŒrde . Suggeriert wurde damit, dass ein bedeutender Teil derjenigen BĂŒrgerinnen und BĂŒrger, welche aktu-ell Renten erhalten, eigentlich BetrĂŒger sozialstaatlicher Leistungen seien .

6 . Die normative Relevanz von Inklusion

Das vorangehende Kapitel ist von zwei Elementen von Inklusion ausgegan-gen: Zugehörigkeit, die in Form von Anerkennung sozial erwidert wird, so-wie soziales Handeln respektive soziale IntentionalitĂ€t . Die Elemente von Inklusion, die sich in den beiden SphĂ€ren jeweils unterschiedlich zeigen und und die die Struktur von Inklusion ausmachen, sollen nun im vorliegenden Kapitel auf ihre normative Relevanz hin befragt werden . Damit verbunden ist auch die Frage, welche normativen Bedingungen und Voraussetzungen gewĂ€hrleistet sein mĂŒssen, damit Inklusion stattfinden kann . Eine weitere Frage lautet, was daraus nun fĂŒr Gerechtigkeitsfragen, genauer fĂŒr morali-sche Rechte, folgt . Diese letztgenannte Frage aber muss fĂŒr den Moment offen bleiben . Sie wird im siebten Kapitel beantwortet . Das Kapitel hat denn auch die Antwort auf die Hauptfrage der ganzen Arbeit zum Inhalt .

Der Aufbau des Kapitels

Das vorliegende Kapitel steht unter dem Aspekt des Beitrags von Inklusion zu menschlichem Wohlergehen . Damit Inklusion aber normativ an Überle-gungen zu menschlichem Wohlergehen angebunden werden kann, möchte ich erstens auf die Verbindung von Inklusion zu menschlichem Wohlerge-hen eingehen respektive genauer auf den Wert, den Inklusion fĂŒr ein gutes menschliches Leben hat . Dabei beleuchte ich insbesondere nochmals die Unterscheidung zwischen BedĂŒrfnissen, PlĂ€nen und Zielen . In dieser Unter-scheidung wird sich neben der normativen die hohe entwicklungspsycholo-gische Bedeutung von Inklusion fĂŒr das menschliche Leben andeuten . Wei-ter zeigt sich, dass Menschen fĂŒr die DurchfĂŒhrung von PlĂ€nen und Zielen, die mit Inklusion verbunden sind, Freiheit benötigen . Freiheit hat damit enge Verbindungen zu Inklusion, auch wenn sie selbst kein Element von Inklusion ist .

184 Inklusion und Gerechtigkeit

Nach einer EinfĂŒhrung, welche die Verbindung von Inklusion zu mensch-lichem Wohlergehen aufzeigt, soll die normative Relevanz anhand der Bezie-hungen zu Entwicklung (hierin ist besonders die entwicklungspsychologi-sche Bedeutung von IntentionalitĂ€t als Element von Inklusion zentral), zu Anerkennung (hier wird der Anerkennungsbegriff normativ gefĂŒllt) und Freiheit aufgezeigt werden .

Erstens ist Inklusion bedeutsam, weil sie fĂŒr menschliche Entwicklungs-prozesse, insbesondere in kognitiver und sozialer Hinsicht, von großer B edeutung ist . Die Voraussetzung von Inklusion fĂŒr die menschliche Ontoge-nese zeigt sich dabei insbesondere in nahen zwischenmenschlichen Gemein-schaftsbeziehungen, beispielsweise in Familien . Umgekehrt zeigt sich auch, dass Entwicklung respektive ein bestimmter Entwicklungsstand eine wichtige Voraussetzung fĂŒr weiterfĂŒhrende Inklusion ist . So ist beispielsweise das Errei-chen eines bestimmten Alters (bei dem man normalerweise die mit dem Be-griff MĂŒndigkeit verbundene FĂ€higkeit, Verantwortung fĂŒr das eigene Han-deln zu ĂŒbernehmen, voraussetzen kann) und eines bestimmten kognitiven Entwicklungsstandes notwendig fĂŒr die Verleihung eines Wahlrechts .

Mit der Verbindung zu menschlicher Entwicklung deute ich das im fĂŒnften Kapitel erarbeitete Moment sozialen Handelns respektive sozialer IntentionalitĂ€t normativ und zeige insbesondere dessen entwicklungspsy-chologische Bedeutung auf . Die normative Wendung des entwicklungspsy-chologischen Ansatzes ergibt sich vor dem Hintergrund der impliziten A nnahme, dass be stimmte Entwicklungsprozesse, beispielsweise die Ent-wicklung sozialer IntentionalitĂ€t, wichtig sind fĂŒr das gute menschliche Le-ben . Dies, weil sie Voraussetzungen fĂŒr das Erlernen und Anwenden zahl-reicher wichtiger menschlicher FĂ€higkeiten und Fertigkeiten sind, wie die empirischen Befunde des Entwicklungspsychologen Michael Tomasello (2006, 2009; Tomasello und Rakoczy 2009) zeigen . Diese FĂ€higkeiten ha-ben damit selbst eine SchlĂŒsselfunktion .

Zweitens zeigen sich wechselseitige Beziehungen zwischen Inklusion und Freiheit . Menschen benötigen insbesondere dann Freiheit, wenn sie sich in diejenigen Kontexte inkludieren möchten, die mit ihren PlĂ€nen und Zielen verbunden sind . Hierin zeigt sich die Bedeutung von Freiheit, verstan den als Verwirklichungschancen, fĂŒr die Inklusion von Menschen . Inklusion ist aber umgekehrt auch wichtig fĂŒr Freiheit . Dabei kann man negative und positive Freiheit unterscheiden . Negative Freiheit wird als Abwesenheit bestimmter BeschrĂ€nkungen verstanden, und positive Freiheit als FĂ€higkeit, bestimmte Dinge, die man tun will, auch tun zu können (vgl . Gosepath 2004, S . 296) .

Die normative Relevanz von Inklusion 185

Die BeschrĂ€nkungen, denen Menschen ausgesetzt sind, können dabei natĂŒr-licher oder sozialer sowie interner oder externer Art sein . Meist sieht man in Gerechtigkeitstheorien von natĂŒrlichen BeschrĂ€nkungen ab und geht nur auf die sozialen ein . Diese bilden dann ein VerstĂ€ndnis negativer Freiheit, das es – meist ĂŒber Rechte – abzusichern gilt (vgl . Koller 1997) . Ein solches Ver-stĂ€ndnis von Freiheit hat aber fĂŒr den vorliegenden Zusammenhang einen gewichtigen Nachteil: Es ignoriert nĂ€mlich insbesondere die sozialen Bedin-gungsfaktoren fĂŒr den Gebrauch von Freiheit . Dies ist gerade fĂŒr das Beispiel Behinderung relevant . Der Wert der Freiheit ist nĂ€mlich fĂŒr Menschen so lange nicht gleich, wie ihnen die Ă€ußeren und inneren Möglichkeiten zu deren Gebrauch fehlen . Daher benötigen Menschen mit Behinderung spezi-elle Ressourcen, beispielsweise Bildung, aber auch andere soziale Chancen und Handlungsressourcen, um den Wert von Freiheit zu realisieren respekti-ve die mit Inklusion verbundenen PlĂ€ne und Ziele ausfĂŒhren zu können . (Nicht nur behinderte) Menschen benötigen, mit anderen Worten, auch positive Freiheit (vgl . Taylor 1999) .

Drittens zeigen sich wechselseitige Verbindungen zwischen Anerken-nung und Inklusion . Dies, weil verschiedene soziale Anerkennungsformen Inklusion ermöglichen . So ist es naheliegend, dass Anerkennung in Form von zwischenmenschlicher Liebe Inklusion in Freundschaft oder Liebesbe-ziehungen und damit gemeinschaftliche Inklusion ermöglicht, wĂ€hrend An-erkennung als RechtstrĂ€ger oder BĂŒrger Inklusion in die Gesellschaft ermög-licht . Umgekehrt gilt auch, dass Inklusion eine Voraussetzung fĂŒr soziale Anerkennungsformen darstellt . So muss eine Person auch in interpersonale Beziehungen bestimmter Art inkludiert sein, um die dazu passende Form der Anerkennung empfangen zu können .

In diesem Teil bietet sich die Anerkennungstheorie von Axel Honneth (1994) als Analyseraster fĂŒr verschiedene Anerkennungsmodi an . Liest man Honneths Theorie nĂ€mlich als Inklusionstheorie, zeigt sich die Wechselwir-kung zwischen Selbstbezug und sozial gerichteter Anerkennung als Bedin-gung und Voraussetzung fĂŒr Inklusion . Inklusion geschieht ĂŒber Prozesse wechselseitiger Anerkennung . Da Anerkennung verschiedene Formen an-nehmen kann, sind auch die entsprechenden Formen der Inklusion unter-schiedlich ausgeprĂ€gt . Liebe und RĂŒcksicht sowie soziale WertschĂ€tzung werden Menschen als konkreten Anderen in Gemeinschaften und Gesell-schaften entgegengebracht . Über Rechte werden Menschen als abstrakte An-dere anerkannt . Rechte sind damit auf der gesellschaftlichen Ebene angesie-delt .

186 Inklusion und Gerechtigkeit

Bevor ich die Verbindungen zwischen den einzelnen normativen Kon-zepten Entwicklung, Freiheit und Anerkennung aufzeige, möchte ich das Kapitel vor dem Hintergrund der Überlegungen zum guten menschlichen Leben situieren . Weiter weise ich auf die Bedeutung der Unterscheidung zwischen BedĂŒrfnissen sowie PlĂ€nen und Zielen nochmals in Bezug auf In-klusion hin . Einerseits zeigt sich hierbei der Freiheitsaspekt von Inklusion deutlich . Andererseits erhĂ€lt Inklusion in Bezug auf BedĂŒrfnisse eine ent-wicklungspsychologische Bedeutung .

Der Wert von Inklusion

Der Wert von Inklusion ergibt sich dadurch, dass Inklusion zum guten menschlichen Leben beitrĂ€gt sowie selbst Teil eines guten menschlichen Le-bens ist . Dies unter anderem, weil die beispielsweise in gemeinschaftlicher Inklusion gelebten Beziehungsformen wie Liebesbeziehungen oder Freund-schaften ohne Zweifel bedeutsam sind fĂŒr ein gutes menschliches Leben . In sozialen Beziehungen dieser Art ist man nĂ€mlich direkt am Wohlergehen der anderen Person interessiert . Man nimmt mit anderen Worten deren Interes-sen in Blick . Dieses Sorgen um die Interessen des anderen zeichnet sich da-durch aus, dass es nicht instrumentell ist . Man sorgt sich fĂŒr den anderen nicht, weil er eine bestimmte Rolle oder FĂ€higkeit hat oder anderweitig von instrumenteller Bedeutung fĂŒr einen selbst ist . Man sorgt sich um den ande-ren in engen zwischenmenschlichen Beziehungen vielmehr (auch) um seiner selbst willen (vgl . Honneth und Rössler 2008, S . 11) .

Mit der Aussage, die moralische Bedeutung von Inklusion ergebe sich aus ihrem Beitrag fĂŒr das gute Leben von Menschen, ist natĂŒrlich die Frage auf-geworfen, was man unter Wohlergehen verstehen soll . Ich habe im vierten Kapitel eine Theorie des guten menschlichen Lebens vertreten, den soge-nannten Capability-Ansatz, der Wohlergehen einerseits ĂŒber functionings, Funktionen oder FĂ€higkeiten, fasst, andererseits aber auch die Verwirkli-chungschancen, capabilities oder Freiheitsgrade von Menschen in den Blick nimmt und damit die substanziellen Chancen, die Menschen haben, ihre PlĂ€ne und Ziele zu entwickeln . Mit dem Capability-Ansatz lassen sich zwei Aspekte untersuchen: erstens, was Menschen tatsĂ€chlich tun und sein kön-nen . Man kann also beispielsweise untersuchen, wo sie handlungsfĂ€hig sind, welche Beziehungen sie haben und wie die QualitĂ€t dieser Beziehungen ist . Man kann aber zweitens auch untersuchen, wozu Menschen substanziell frei

Die normative Relevanz von Inklusion 187

sind . Dieser Aspekt greift ĂŒber den ersten hinaus und ermöglicht die Analy-se von Beziehungen oder Inklusionsformen, welche Menschen nicht oder noch nicht haben .

Die Bedeutung respektive der Beitrag von Inklusion zu menschlichem Wohlergehen zeigt sich deutlich, wenn man die im zweiten Kapitel einge-fĂŒhrte Unterscheidung in BedĂŒrfnisse und PlĂ€ne und Ziele wieder in den Blick nimmt .

Inklusion als ein Interesse von Menschen

Menschen haben einerseits BedĂŒrfnisse nach Inklusion, andererseits auch PlĂ€ne und Ziele, die mit Inklusion verbunden sind . BedĂŒrfnisse nach Inklu-sion zeigen sich auf zwei Ebenen: erstens im BedĂŒrfnis, nahe Bezugsperso-nen zu haben und interpersonelle Zuwendung und Liebe zu erfahren; zwei-tens im BedĂŒrfnis, fĂŒr spezifische Charaktereigenschaften, FĂ€higkeiten und Leistungen sozial wertgeschĂ€tzt zu werden und damit Zugang zu Kontexten zu erhalten, die den Erwerb und die AusĂŒbung dieser FĂ€higkeiten, Fertigkei-ten und Charaktereigenschaften ermöglichen . Auf dieser Ebene zeigt sich auch die Anbindung an PlĂ€ne und Ziele von Menschen . Denn Menschen wollen, gerade weil sie spezifische PlĂ€ne und Ziele haben, in den dazu gehö-renden BemĂŒhungen und Erfolgen sozial wertgeschĂ€tzt werden . Mit der Er-fahrung sozialer WertschĂ€tzung geht ein gefĂŒhlsmĂ€ĂŸiges Vertrauen in den eigenen Wert und die eigenen Leistungen und FĂ€higkeiten einher, die auch von den ĂŒbrigen Gesellschaftsmitgliedern als wertvoll erachtet werden . Die damit erbrachte soziale WertschĂ€tzung ist also mehr als Toleranz, sie ist viel-mehr »aktive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Per-son« (Honneth 1994, S . 210) .

Geht man davon aus, dass ein gutes Leben in der ErfĂŒllung von Interes-sen – also BedĂŒrfnissen wie auch PlĂ€nen und Zielen – besteht, dann bezieht sich die normative Relevanz von Inklusion einerseits auf GrundbedĂŒrfnisse nach Inklusion und dient primĂ€r der Vermeidung eines leidvollen Lebens . Andererseits bezieht sich die normative Relevanz auf PlĂ€ne und Ziele nach Inklusion und damit auf die faktischen und substanziellen FreiheitsrĂ€ume von Menschen, bestimmte PlĂ€ne und Ziele ĂŒberhaupt entwickeln und aus-bilden zu können . Beide, BedĂŒrfnisse ebenso wie PlĂ€ne und Ziele, bilden das ab, was Amartya Sen und Martha Nussbaum functionings, FĂ€higkeiten oder Funktionen, nennen . Die Befriedigung oder Deprivation menschlicher

188 Inklusion und Gerechtigkeit

GrundbedĂŒrfnisse wie auch die ErfĂŒllung respektive NichterfĂŒllung von PlĂ€-nen und Zielen sind es demnach, was Sen unter beings und doings, Seinszu-stĂ€nde und TĂ€tigkeiten, versteht .

Die Deprivation der mit den BedĂŒrfnissen nach Inklusion verbundenen GefĂŒhle nach Zuwendung fĂŒhrt bei allen Menschen zu schwerem Leiden . Ein frĂŒher und grausamer Beweis fĂŒr diese These lieferte der Stauferkönig Friedrich II zu Beginn des 13 . Jahrhunderts . Er ließ sieben Neugeborene von ihren MĂŒttern trennen und von Ammen aufziehen . Diese hatten den Auf-trag, den SĂ€uglingen zwar zu essen zu geben, ihnen aber darĂŒber hinaus keine Zuwendung, beispielsweise in Form von BerĂŒhrungen, zukommen zu lassen . Nach drei Monaten waren alle SĂ€uglinge gestorben (vgl . Ide und Bor-chert 2008, S . 59) . Traurige Nachfolge dieser Versuche traten auch die rumĂ€-nischen Kinderheime wĂ€hrend des Ceauscesu Regimes an . Und heute noch dringen regelmĂ€ĂŸig Meldungen ĂŒber unmenschliche Behandlungen behin-derter Menschen in die Öffentlichkeit . In jĂŒngster Zeit beispielsweise konnte man ĂŒber die tierhaltungsĂ€hnliche Unterbringung von Menschen mit geisti-ger Behinderung in Bulgarien, das Verschwinden und Töten behinderter Kinder und Jugendlicher in Mexiko oder aber die EntfĂŒhrung geistig behin-derter Menschen zwecks Rentenerschleichung in den USA lesen .1

Die Form der VernachlÀssigung in emotionaler (aber auch körperlicher) Hinsicht hinterlÀsst bei den Betroffenen schwere Entwicklungsstörungen in psychischer und auch physischer Hinsicht und ist heute, gerade auch nach den bahnbrechenden Studien von René A Spitz (2005), als Hospitalismus bekannt . Die Kennzeichen des hier interessierenden psychischen Hospitalis-mus (auch Deprivationssyndrom genannt) sind unter anderem Apathie, De-pression, Bindungsstörung, intellektuelle Retardierung (bis hin zu geistiger Behinderung) sowie mangelhaftes Vertrauen .

Anders als der Mangel an Deckung von BedĂŒrfnissen betreffend Inklusi-on fĂŒhrt die Deprivation von individuellen PlĂ€nen und Zielen nicht zwin-gend zu Leiden . Dies vor allem aus dem Grund, weil PlĂ€ne und Ziele an spezifische Interessen von Menschen gebunden sind . Daher ist auch der Ein-fluss dieser PlĂ€ne und Ziele auf das Wohlergehen bei jedem Menschen an-ders . Ob es beispielsweise eine EinschrĂ€nkung des Wohlergehens darstellt, ob mein Bus zu spĂ€t kommt oder ob ich nur vier Finger habe, misst sich zu nicht unwesentlichen Anteilen daran, welche Ziele ich verfolgen wollte res-pektive welche Ziele damit frustriert wurden . Kommt der Bus zu spĂ€t und ich wollte damit aus Lust und Laune etwas herumfahren, stellt dies neben

1 Aktuelle FĂ€lle findet man beispielsweise unter www .disabilityrightsintl .org .

Die normative Relevanz von Inklusion 189

einer gewissen VerĂ€rgerung ĂŒber die VerspĂ€tung keine nennenswerte Ein-schrĂ€nkung meines Wohlergehens dar . Verpasse ich jedoch durch die VerspĂ€-tung des Busses ein wichtiges BewerbungsgesprĂ€ch und die Stelle wird auf-grund meiner VerspĂ€tung jemand anderem zugesprochen, kann dies unter UmstĂ€nden eine weitaus signifikantere EinschrĂ€nkung meines Wohlerge-hens darstellen . Und wĂ€hrend der Verlust eines Fingers fĂŒr die meisten Men-schen, abgesehen von anfĂ€nglichen Schmerzen, keine nennenswerte Ein-schrĂ€nkung ihres Wohlergehens darstellt, tut es dies unter UmstĂ€nden fĂŒr einen Pianisten in erheblichem Maß . Der Einfluss auf das Wohlergehen bei der Deprivation von PlĂ€nen und Zielen betreffend Inklusion muss sich so-mit an den PlĂ€nen und Zielen respektive deren Bedeutung und Beschaffen-heit fĂŒr das betreffende Leben zeigen .

Beim Thema Inklusion zeigt sich auch, dass Interessen hierarchisch auf-gebaut sind . GrundbedĂŒrfnisse nach interpersonaler Zuwendung durch be-stimmte konkrete Andere, die sich uns um unser selbst willen zuwenden, sind offensichtlich Grundvoraussetzung fĂŒr den Aufbau und die Entwick-lung weiterer Beziehungen, wie auch fĂŒr den Aufbau und die Anwendung basaler zwischenmenschlicher und individueller FĂ€higkeiten . Wie weit ein konkreter Plan oder ein konkretes Ziel, das mit Inklusion verbunden ist, durch ein anderes substituiert werden kann respektive wann genau mensch-liches Leiden bei der Deprivation dieser PlĂ€ne und Ziele beginnt, misst sich am Beitrag, den diese zum menschlichen Leben haben . Einerseits kann sich dies in der QualitĂ€t von Zielen und PlĂ€nen, wie oben aufgefĂŒhrt, zeigen . Aber auch die QuantitĂ€t der PlĂ€ne und Ziele, die mit Inklusion verbunden sind, spielt eine wichtige Rolle . Ist jemand nĂ€mlich aus sehr vielen Lebens-kontexten ausgeschlossen, ergibt sich mit anderen Worten diese â€șZone der Verwundbarkeitâ€č (Castel 2008), dann bröckeln Sicherheiten in vielen Berei-chen – im Arbeitsbereich, in sozialen Beziehungen, in der Bildung – weg . Ein solches Leben ist dann von sich verstĂ€rkenden Risiken, wie sie Jonathan Wolff und Avner De-Shalit (2007) benannt haben, geprĂ€gt .

Nachdem nun die BezĂŒge von Inklusion zu menschlichem Wohlergehen aufgezeigt worden sind, möchte ich vertiefter auf die Verbindungen zu Ent-wicklung, Anerkennung und Freiheit eingehen . Ich beginne bei der Ent-wicklung und greife dazu auf den im letzten Kapitel entwickelten Aspekt von Inklusion, die soziale IntentionalitĂ€t, zurĂŒck . In dieser, so wird sich zei-gen, liegt eine hohe entwicklungspsychologische Bedeutung fĂŒr die Inklusi-on von Menschen, die ihre normative Wendung ĂŒber ihren Beitrag zum guten menschlichen Leben erhĂ€lt .

190 Inklusion und Gerechtigkeit

6 .1 Die Bedeutung sozialer IntentionalitĂ€t fĂŒr Inklusion

Die Bedeutung sozialen Handelns respektive sozialer IntentionalitĂ€t fĂŒr In-klusion zeigt sich in folgenden Aspekten: Erstens fĂŒhren viele Menschen eine Reihe von TĂ€tigkeiten zusammen mit anderen Menschen durch . Sie kochen gemeinsam, spazieren gemeinsam oder singen gemeinsam Lieder, um nur einige Beispiele zu nennen . Zweitens verlangen bestimmte TĂ€tigkeiten von vornherein soziale IntentionalitĂ€t und soziale Ausrichtung, weil sie nĂ€mlich anders gar nicht möglich sind . Solche im engeren Sinne sozialen TĂ€tigkeiten sind beispielsweise Tango tanzen, Fußball spielen oder auch Kommunikati-on . DarĂŒber hinaus sind viele Dinge, die Menschen als Individuen tun, an einen sozialen Rahmen und damit an im weiteren Sinn soziale Handlungen gebunden . Beispielsweise sind Wahlen nur so möglich . Es muss nĂ€mlich WĂ€hler und zu WĂ€hlende geben . Und ein Restaurantbesuch ist nur möglich, wenn im Hintergrund soziale Handlungen getĂ€tigt werden – indem ver-schiedene Köche gemeinsam kochen, ein Servicepersonal sich um die Bewir-tung der GĂ€ste kĂŒmmert oder auch das Restaurant selbst in koordinierten Aktionen beliefert wird . In diesem Sinne sind soziale Handlungen konstitu-tiv fĂŒr viele Formen individueller Handlungen .

Die Bedeutung sozialer Handlungen, die sich in der gemeinsamen Inten-tionalitĂ€t der Beteiligten zeigt, kennzeichnet die BedĂŒrfnisse und die FĂ€hig-keiten von Menschen, Handlungen mit anderen auszufĂŒhren und sind Teil dessen, was man meint, wenn man sagt, der Mensch sei ein soziales Wesen . IntentionalitĂ€t ist dabei sowohl Produkt oder Folge von Entwicklung wie auch Bedingung fĂŒr Entwicklung . Entwicklungsprozesse werden damit einerseits durch intentionales Handeln verĂ€ndert . Andererseits sind die Bedingungen intentionalen Handelns – Ziele, Überzeugungen, GefĂŒhle und so weiter – selbst entwicklungsoffen (vgl . BrandtstĂ€dter 2001, S . 207) . Das heißt, Ent-wicklungsprozesse können, je nach Art der zugrunde liegenden Ziele, Über-zeugungen oder GefĂŒhle, zu anderen intentionalen Handlungen fĂŒhren . Gerade das Negativbeispiel des Hospitalismus zeigt, dass im schlimmsten Fall, mit der Nichtermöglichung von Entwicklungsprozessen durch Verwei-gerung interpersonaler Zuwendung, auch der Aufbau von sozialer Intentiona-litĂ€t verunmöglicht oder zumindest massiv erschwert wird . Die Betroffenen sind in der Folge teilnahmslos, bindungsgestört und haben kein Vertrauen in andere Menschen .

IntentionalitĂ€t ist insofern Produkt von Entwicklungsprozessen, als es ein bestimmtes Entwicklungsniveau Menschen erst erlaubt, ihre BedĂŒrfnisse

Die normative Relevanz von Inklusion 191

sowie PlĂ€ne und Ziele nach Inklusion selbsttĂ€tig zu decken oder zu verwirk-lichen . Als Bedingung fĂŒr Entwicklung lĂ€sst sich die Bedeutung von Intenti-onalitĂ€t insbesondere im Übergang von BedĂŒrfnissen zu Zielen und PlĂ€nen zeigen . Die ErfĂŒllung von zumindest elementaren BedĂŒrfnissen nach Inklu-sion ist nĂ€mlich Bedingung fĂŒr die Herausbildung von spezifischen PlĂ€nen und Zielen nach Inklusion . Ein Mensch, dessen tiefste BedĂŒrfnisse nach menschlicher NĂ€he und Zuwendung nicht befriedigt werden, kann zwar so-ziale IntentionalitĂ€t entwickeln . Diese aber ist von tiefstem Misstrauen ge-genĂŒber anderen Menschen sowie psychischen Verletzungen geprĂ€gt, so dass sich IntentionalitĂ€t mit großer Wahrscheinlichkeit nicht positiv gegenĂŒber anderen Menschen zeigen wird . FĂŒr die Anwendung und Verwirklichung spezifischer PlĂ€ne und Ziele scheint daher die ErfĂŒllung von elementaren BedĂŒrfnissen, lebensweltlich betrachtet, eine notwendige Voraussetzung zu sein .

Die Bedeutung zwischenmenschlicher Kontexte fĂŒr den Erwerb von sozialer IntentionalitĂ€t

Gemeinhin gehen erwachsene Menschen davon aus, dass die fĂŒr Inklusions-prozesse notwendige soziale IntentionalitĂ€t automatisch und natĂŒrlicherwei-se bei ihnen vorhanden ist . Sie vergessen dabei, dass es sich um eine FĂ€higkeit handelt, die sich wie vieles andere beim Menschen entwickeln muss . Die empirischen Ergebnisse des us-amerikanischen Entwicklungspsychologen Michael Tomasello (2006, 2009; Tomasello und Rakoczy 2009) zeigen nĂ€m-lich, dass ein normaler Verlauf eines Entwicklungsprozesses, an deren Ende sozusagen automatisch der kompetente Mensch als Output generiert wĂŒrde, keineswegs selbstverstĂ€ndlich ist . Es mĂŒssen im Gegenteil eine Reihe förder-licher Bedingungsfaktoren vorhanden sein, die dazu fĂŒhren, dass sich ein Mensch entwickeln kann . Diese betreffen nicht nur seine genetische und sonstige körperliche Ausstattung, sondern vor allen Dingen auch das Um-feld, in dem sich der Mensch befindet .

Dies vor allem aus folgendem Grund: Menschen sind zwar bereits von Geburt an darauf eingestellt, kompetente, das heißt, mit bestimmten FĂ€hig-keiten und Fertigkeiten ausgestattete, Erwachsene zu werden, denn sie haben – meistens jedenfalls – die notwendige genetische Ausstattung dazu . Zudem leben sie in einer bereits vorstrukturierten sozialen und kulturellen Welt, welche diese Entwicklung in der Regel unterstĂŒtzt . Menschen aber sind bei

192 Inklusion und Gerechtigkeit

ihrer Geburt, anders als die meisten Tiere, nicht nur in körperlicher, sondern auch in psychischer und sozialer Hinsicht noch nicht entwickelt . Dazu be-nötigen sie viele Jahre des Lernens . Dieses Tun respektive Lernen, das zu weiten Teilen ĂŒber automatisch ablaufende biologische Prozesse hinausgeht, ist moralisch relevant, da von Menschen gemacht respektive beeinflusst . Und es bedeutet auch, dass diese Prozesse von Menschen be- oder gar verhindert werden können . WĂ€hrend einige dieser Entwicklungsprozesse nur geringe UnterstĂŒtzung benötigen, wie beispielsweise laufen, sind andere weitaus schwieriger, fragiler und daher auch gefĂ€hrdeter zu scheitern . Dazu gehört beispielsweise die menschliche Kommunikation . Daher ist gerade beim Er-lernen von Kommunikation respektive von Sprache die Art und Weise, wie dieser Lernprozess geschieht, von entscheidender Bedeutung .

Im Folgenden möchte ich den Erwerb sozialer IntentionalitĂ€t in der menschlichen Entwicklung, basierend auf den Forschungsergebnissen von Michael Tomasello (2006, 2009; Tomasello und Rakoczy 2009) nachzeich-nen und ihre Bedeutung fĂŒr die vorliegende Fragestellung beleuchten .

Der Erwerb von sozialer IntentionalitÀt

Ab etwa sechs Wochen nach der Geburt sind SĂ€uglinge in sogenannte â€șPro-tokonversationenâ€č mit denjenigen Personen eingebunden, die fĂŒr sie sorgen . Auch ahmen sie bestimmte Körperbewegungen der Erwachsenen nach, in-dem sie beispielsweise wie der Erwachsene ebenfalls die Zunge herausstre-cken . So können bereits sechs Wochen alte SĂ€uglinge ein bestimmtes Verhal-ten wie das Herausstrecken der Zunge so abwandeln, dass sie es dem Verhalten eines Erwachsenen anpassen (beispielsweise, wenn dieser die Zun-ge von einem Mundwinkel zum anderen bewegt) . Ob sie bereits zu dieser Zeit in einem umfassenden Sinn soziale, intentional handelnde Akteure sind, ist allerdings eine ungeklĂ€rte Frage .

Was empirisch aber als gesichert gelten kann, ist, dass im Alter von unge-fĂ€hr neun Monaten eine Revolution in der Entwicklung des SĂ€uglings statt-findet . WĂ€hrend SĂ€uglinge im Alter von circa sechs Monaten nur dyadisch agieren, das heißt, nach GegenstĂ€nden greifen und sie manipulieren, begin-nen Kleinkinder im Alter von neun bis zwölf Monaten damit, triadische Ver-haltensweisen an den Tag zu legen . Das bedeutet, dass nun eine Koordinati-on der Beziehung und Interaktion zu GegenstĂ€nden und Menschen zu beobachten ist, welche sich in einem sogenannten referenziellen Dreieck

Die normative Relevanz von Inklusion 193

zwischen Erwachsenem, Kind und Gegenstand befindet . Die geteilte Auf-merksamkeit der Partner ist dabei auf einen Gegenstand gerichtet . Sie zeigt sich zum Beispiel darin, dass SĂ€uglinge in diesem Alter zum ersten Mal zu-verlĂ€ssig in die Richtung zu blicken beginnen, in die die Erwachsenen bli-cken . Das heißt, sie verfolgen den Blick des Erwachsenen . Ebenfalls können die SĂ€uglinge ĂŒber lĂ€ngere Zeitspannen hinweg mit Erwachsenen sozial in-teragieren und sich gemeinsamen BeschĂ€ftigungen hingeben . Sie beginnen auch, Erwachsene als soziale Bezugspunkte zu sehen und auf dieselbe Weise wie Erwachsene mit GegenstĂ€nden umzugehen, sie also zu imitieren . In die-se Phase fĂ€llt denn auch der Beginn des sogenannten Imitationslernens . Be-sonders eindrĂŒcklich sind deklarative Äußerungen, die zeigen, dass das Kleinkind nicht an bestimmten Ereignissen interessiert ist, sondern dass es den Wunsch hat, der Erwachsene möge die auf einen Gegenstand gerichtete Aufmerksamkeit teilen .2

Was sind nun aber die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen fĂŒr diese Art des Lernens? Kleinkinder nehmen dann an Interaktionen ge-meinsamer, geteilter Aufmerksamkeit teil, wenn sie andere Menschen als ge-zielt handelnde, intentionale Akteure wie sich selbst sehen . Die Interaktio-nen der obengenannten Arten können daher bereits als Vorstufen zu rationalen Handlungen gesehen werden . Dies aus folgendem Grund: Das Verhalten eines Individuums (oder eines Organismus) macht nur dann Sinn, wenn man versteht, wie diese Entscheidungen betreffend eines Verhaltens, die fĂŒr das Erreichen eines Ziels instrumentell wichtig sind (vgl . Tomasello 2006, S . 93), zustande kamen . Beim VerstĂ€ndnis anderer Personen kommt neu der Bezug zum eigenen Selbst ins Spiel . Dieser ist nicht vorhanden, wenn sich Kleinkinder mit GegenstĂ€nden beschĂ€ftigen . Kleinkinder wenden also beim Versuch, andere Menschen zu verstehen, das an, was ihnen von sich selbst bereits bekannt ist . Sie beginnen nĂ€mlich damit, sich auf die Auf-merksamkeit und das Verhalten Erwachsener einzustellen, mit Erwartungen ausgestattet, die sie selbst von sich kennen . Diese frĂŒhen Formen sozialen Handelns respektive sozialer IntentionalitĂ€t tauchen wie bereits erwĂ€hnt sehr bald in der Entwicklung von Kindern auf .

Damit lÀsst sich ein fortschreitender Aufbau der Entwicklung sozialer IntentionalitÀt beim Menschen kurz beschreiben: Die erste Phase der Ent-

2 Der Akt des Deutens auf einen Gegenstand zum bloßen Zweck der Aufmerksamkeitsstei-gerung stellt eine spezifisch menschliche FĂ€higkeit dar, die von nichtmenschlichen Prima-ten nicht geteilt wird und deren Mangel auch ein wichtiger Aspekt des Autismussyndroms ist (vgl . Baron-Cohen 1993) .

194 Inklusion und Gerechtigkeit

wicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass der SĂ€ugling andere Menschen als belebte Akteure sieht . Diese Stufe der Entwicklung ist allen Primaten ei-gen . Sie Ă€ußert sich im (gerichteten) Blick und im Verhalten . Die zweite Phase zeichnet sich dadurch aus, dass Kleinkinder andere Menschen als in-tentionale Akteure erleben . Diese Entwicklungsstufe ist dem Menschen eigen und beinhaltet ein VerstĂ€ndnis von zielgerichtetem Verhalten sowie das Stre-ben nach der Aufmerksamkeit anderer Menschen . Diese Entwicklungsstufe beginnt mit circa neun Monaten und Ă€ußert sich in Aufmerksamkeit und Strategien . Die dritte Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass das Kleinkind andere als geistige Akteure zu verstehen beginnt . Dass heißt, es beginnt zu sehen, dass andere Personen nicht nur Absichten und Aufmerksamkeiten haben, die sich direkt in Verhalten Ă€ußern, sondern auch solche Gedanken und Überzeugungen, bei denen das nicht der Fall ist . Diese Gedanken und Überzeugungen, so hat das Kind gelernt, kennzeichnen die innere Welt des Menschen und mĂŒssen nicht zwingend in – Ă€ußerlich erkennbarem und mit den Gedanken identischem – Verhalten sichtbar werden . Diese Entwick-lungsstufe beginnt mit circa vier Jahren und beinhaltet PlĂ€ne und Überzeu-gungen .

Der Übergang von der zweiten zur dritten Entwicklungsstufe zeichnet sich dadurch aus, dass er hauptsĂ€chlich durch GesprĂ€che mit anderen Men-schen entwickelt wird . Insbesondere entwickelt sich die dritte Stufe in Dia-logen, in denen das Kind andere (meist erwachsene Menschen) immer wie-der als intentionale Akteure erleben kann . In diesen Dialogen und sozialen Interaktionen mit konkreten Anderen lernen Kinder, ĂŒber das Befolgen von Regeln qua Regeln hinauszugehen, sich mit den GefĂŒhlen und Gedanken anderer Menschen als moralischer Akteure auseinander zu setzen und zu se-hen, dass diese ihnen Ă€hnlich sind (vgl . Tomasello 2006, S . 229) .

Dabei ist insbesondere fĂŒr den vorliegenden Zusammenhang interessant, dass es nicht so ist, dass Kinder vorgĂ€ngig in der Lage sein mĂŒssen, Begriffe von ihren eigenen intentionalen ZustĂ€nden zu bilden, bevor sie diese Zu-stĂ€nde zur PerspektivenĂŒbernahme oder -simulation benutzen können . Das Gegenteil ist der Fall . Es scheint empirisch erwiesen zu sein, dass SĂ€uglinge oder Kleinkinder keine Begriffe von mentalen ZustĂ€nden von sich selbst bil-den mĂŒssen, bevor sie das bei anderen Menschen tun . Auch sprechen sie nicht davon . Es liegt also nahe, in diesem Prozess keinen expliziten Prozess zu sehen . Vielmehr zeigt sich, dass Kinder kategorische Urteile in dem Sinne â€șder andere ist mir Ă€hnlich, also sollte er auch so funktionierenâ€č, fĂ€llen .

Die normative Relevanz von Inklusion 195

Die wichtigste Auswirkung der FĂ€higkeit zu sozialer IntentionalitĂ€t ist, dass dieses Verstehen anderer Menschen Kindern die spezifisch menschli-chen Formen kultureller Vermittlung (von Werten, Wissen und so weiter) erschließt: »Kinder, die verstehen, dass andere Personen intentionale Bezie-hungen zur Welt unterhalten, die ihren eigenen intentionalen Beziehungen Ă€hnlich sind, können die Möglichkeiten nutzen, die andere Individuen sich ausgedacht haben, um ihre Ziele zu erreichen . [
] . Kinder mögen zwar in eine reichhaltige kulturelle Umgebung hineingeboren werden, wenn sie aber andere nicht als intentionale Akteure verstehen – was SĂ€uglinge vor neun Monaten, nichtmenschliche Primaten und die meisten Autisten typischer-weise nicht tun – dann sind sie nicht in der Lage, die kognitiven Fertigkeiten und das Wissen ihrer Artgenossen zu nutzen, das sich in diesem kulturellen Milieu manifestiert« (Tomasello 2006, S . 104f .) .

Diese Aussage weist auf zwei Dinge hin, die im vorliegenden Zusammen-hang von großer Bedeutung sind: Erstens ist IntentionalitĂ€t als ein Aspekt von Inklusion notwendig fĂŒr weitere Entwicklungsprozesse . Wer also MĂŒhe in der Entwicklung von IntentionalitĂ€t hat – wie das beispielsweise bei Men-schen mit Autismus der Fall ist – wird auch MĂŒhe haben, gemeinschaftliche wie gesellschaftliche Inklusion zu erreichen, in der das Vorhandensein sozia-ler IntentionalitĂ€t, einmal in Bezug auf interpersonale Beziehungen und ein-mal hinsichtlich der Rolle als BĂŒrger in einer Gesellschaft, eine wichtige Rol-le spielt . Inklusion hĂ€ngt also auch von den individuellen FĂ€higkeiten von Menschen ab . Zweitens: Werden Menschen in diesen Entwicklungsprozes-sen nicht angeregt, sind sie also nicht bereits in zwischenmenschliche Kon-texte inkludiert, die ihnen den Erwerb von IntentionalitĂ€t ermöglichen, ist ein Aufbau derselben ebenfalls erschwert . Stark vernachlĂ€ssigte, deprivierte Kinder, die ihre ersten Lebensmonate in einer Umgebung ohne oder mit wenig Liebe und Anregung verbringen mĂŒssen, sind daher einem großen Risiko von Hospitalismus und damit potenzieller geistiger, psychischer und körperlicher BeeintrĂ€chtigung ausgesetzt .

6 .2 Die Bedeutung von Anerkennung fĂŒr Inklusion

Als relationales Konzept ist Inklusion an interpersonale und weitere soziale BezĂŒge gebunden, die ich einerseits im Kontext von Gemeinschaft, anderer-seits im Kontext von Gesellschaft situiert habe . In den ersten Kontexten spie-

196 Inklusion und Gerechtigkeit

len persönliche ZugehörigkeitsgefĂŒhle eine konstitutive Rolle . In nahen zwi-schenmenschlichen Beziehungen erfahren Menschen BestĂ€tigung, beispiels - weise in Form von Liebe, Freundschaft oder partikularer WertschĂ€tzung . Menschen wollen darĂŒber hinaus aber auch in Gesellschaften inkludiert sein . In diesen erfahren sie Anerkennung als BĂŒrger, beispielsweise in Form von Rechten, die ihnen zugestanden werden, aber auch in Form von sozialer WertschĂ€tzung, etwa durch Arbeit oder adĂ€quate Entlohnung . Gerade die Bedeutung von Entwicklungsprozessen und die Anregung sozialer Intentio-nalitĂ€t haben zudem gezeigt, dass soziale Inklusion fĂŒr das Fördern von Ent-wicklungsprozessen instrumentell wichtig ist . Nur mit Hilfe zwischenmensch-licher Zuwendung können Menschen soziale IntentionalitĂ€t erwerben und anwenden . Soziale IntentionalitĂ€t, menschliche Entwicklung und Sozialisa-tion treten daher in eine enge, wechselseitige Verbindung . So zeigt sich die entwicklungspsychologische Relevanz von Inklusion .

Ein Theoretiker, der diese Verbindungen – Ă€hnlich wie Tomasello – zen-tral in seine Theorie eingebaut hat, ist Axel Honneth . Er schreibt zu dieser Verbindung von Anerkennung und Sozialisation sowie ihrer Verbindung zu sozialer Inklusion, dass man sich soziale Inklusion nur als Prozess der Inklu-sion durch geregelte Formen der Annerkennung vorstellen könne . »Gesell-schaften stellen aus der Sicht ihrer Mitglieder nur in dem Maße legitime OrdnungsgefĂŒge dar, indem sie dazu in der Lage sind, verlĂ€ssliche Beziehun-gen der wechselseitigen Anerkennung auf unterschiedlichen Ebenen zu gewĂ€hrleisten . Insofern vollzieht sich die normative Integration von Gesell-schaften auch nur auf dem Weg der Institutionalisierung von Anerkennungs-prinzipien, die nachvollziehbar regeln, durch welche Formen der wechselsei-tigen Anerkennung die Mitglieder in den gesellschaftlichen Lebenszu- sammenhang einbezogen werden« (Fraser und Honneth 2003, S . 204) .

Inklusion ist damit an eine soziale Reaktion, eine soziale Antwort auf Individuen gebunden . Sie hĂ€ngt mit anderen Worten von anerkennenden Einstellungen anderer ab . Ausgehend vom Hegelschen Modell eines Kampfes um Anerkennung entwickelt Honneth (1994) ein normatives Gesellschafts-modell, das drei Formen von Anerkennung postuliert, die sich stufenförmig entwickeln: Liebe, Recht und WertschĂ€tzung beziehungsweise SolidaritĂ€t3 . Mit jeder Stufe, so Honneth (ebd ., S . 151), wĂ€chst die wechselseitige Aner-kennung wie auch die subjektive Autonomie des Einzelnen . Das heißt, die Freiheit des Einzelnen wĂ€chst ĂŒber enge zwischenmenschliche BezĂŒge hin

3 Honneth verwendet die Begriffe WertschÀtzung und SolidaritÀt wechselweise .

Die normative Relevanz von Inklusion 197

zum Status eines BĂŒrgers in einer Gesellschaft und schließlich hin zur Rolle eines sozial wertgeschĂ€tzten Gesellschaftsmitglieds .

Die Anerkennungsformen, die Honneth herausschĂ€lt, können in zweifa-cher Hinsicht als aufbauend betrachtet werden . Erstens können sie als histo-rische Kette normativer Ideale gesehen werden, die sich im Verlaufe der Menschheitsgeschichte, besonders nach dem Wegfall des stĂ€ndischen Gesell-schaftsmodells, herausgebildet haben . So kann der Durchbruch der bĂŒrger-lich-kapitalistischen Gesellschaftsform auch als Resultat der Ausdifferenzie-rung der drei Anerkennungsformen gesehen werden . Zweitens können sie auch als Formen individueller Selbstentwicklung gesehen werden . Interper-sonale Anerkennung ist nach diesem Modell, Ă€hnlich wie bei sozialer Inten-tionalitĂ€t, eine Voraussetzung fĂŒr personale Entwicklung .4

Somit ist die Möglichkeit der IdentitĂ€tsbildung auch an die Teilnahme an sozialen Interaktionsformen geknĂŒpft . Aus diesem Grund erhĂ€lt Anerken-nung einen hohen Stellenwert fĂŒr die menschliche Entwicklung . Menschen können nur frei sein und sich selbst verwirklichen, also ĂŒber ihre BedĂŒrfnis-se hinaus auch Ziele und PlĂ€ne verwirklichen, wenn sie in verschiedenen Ankerkennungsformen Akzeptanz und Sicherheit erfahren . Mit anderen Worten: Menschen mĂŒssen und wollen Liebe beziehungsweise FĂŒrsorge, Rechte und soziale WertschĂ€tzung genießen . Dazu benötigen sie emotionale Zuwendung, Achtung und soziale WertschĂ€tzung durch Dritte wie auch durch Institutionen . Auf der Basis eines intersubjektivitĂ€tstheoretischen Per-sonenkonzepts erscheinen die drei Anerkennungsformen nun als notwendi-ge Bedingungen fĂŒr eine ungestörte Selbstbeziehung . Negativistisch gespro-chen entsprechen den drei Grundformen der Anerkennung ebenfalls drei Typen der Missachtung (nĂ€mlich Misshandlung oder Vergewaltigung, Ent-rechtung oder Ausschließung sowie EntwĂŒrdigung oder Beleidigung), deren Erfahrung fĂŒr die Individuen oder Gruppen die Motive sozialer Konflikte sind .

4 Die Anerkennungsformen entwickeln sich nach Honneth sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene stufenförmig . Honneth postuliert damit, dass sich Ge-sellschaften, historisch betrachtet, so entwickelt haben, dass sich aus engen, partikularen Anerkennungsformen erst rechtliche Anerkennung als BĂŒrger sowie soziale WertschĂ€tzung als wertvolles Gesellschaftsmitglied herausbilden konnte . Auch die individuelle menschli-che Ontogenese verlĂ€uft in diesen Stufen, so dass sich Anerkennungsformen im Prinzip auch als Entwicklungsstufen menschlicher Ontogenese deuten lassen .

198 Inklusion und Gerechtigkeit

Drei Formen der Anerkennung

Der Begriff der Anerkennung verweist dabei erstens auf einen Prozess, „in dem jedes Mitglied eines Gemeinwesens dadurch an persönlicher Autono-mie hinzugewinnt, dass die ihm zustehenden Rechte ausgeweitet werden; die Gemeinschaft5 â€șerweitertâ€č sich also in dem sachlichen Sinn, dass in ihr das Ausmaß der individuellen FreiheitsrĂ€ume zunimmt . Zweitens meint dersel-be Begriff aber auch denjenigen Prozess, in dem die in einem bestimmten Gemeinwesen existierenden Rechte auf einen immer grĂ¶ĂŸeren Kreis von Per-sonen ĂŒbertragen werden“ (Honneth 1994, S . 137f .) . Die Gemeinschaft er-weitert sich somit in einem sozialen Sinn, indem einer wachsenden Anzahl von Individuen RechtsansprĂŒche zuerkannt werden .

Ein dritter Prozess kann von diesen ersten beiden unterschieden werden . Es muss nĂ€mlich davon ausgegangen werden, dass Menschen sowohl als mo-ralisch Gleiche verkehren wollen, als auch, dass sie sich von anderen unter-scheiden möchten, um sich ihrer individuellen Einzigartigkeit zu vergewis-sern . Letzteres kennzeichnet nach Honneth (ebd ., S . 209) den Drang nach Selbstverwirklichung oder SelbstschĂ€tzung .

Honneths Modell ist aus verschiedenen GrĂŒnden fĂŒr den vorliegenden Zusammenhang interessant . Erstens versteht Honneth sein Modell aus-drĂŒcklich als Inklusionsmodell . Damit macht er die BezĂŒge zu Inklusion, die zweifelsohne naheliegend sind, explizit . Zweitens ist Honneths Modell aus dem Grund interessant, weil es intrapersonale, interpersonale aber auch ins-titutionelle BezĂŒge zu Inklusion aufzeigt . Damit sind auch Verbindungen zu meinen AusfĂŒhrungen zu Gemeinschaft und Gesellschaft möglich . Es zeigt sich insbesondere, dass die Wechselwirkung von Anerkennung und intraper-sonalem Selbstbezug auch Auswirkungen auf verschiedene Inklusionsformen hat . Beispielsweise ist die partikulare Form der Anerkennung in Form von Liebe zwingend an den partikularen Bereich der Gemeinschaft gebunden, wĂ€hrend sich Rechte auf den gesellschaftlichen Bereich beziehen . Drittens ist der explizite anthropologische und moralpsychologische BegrĂŒndungsan-spruch der Theorie Honneths interessant, denn er erlaubt es, innerhalb einer umfassender zu entwickelnden Theorie von Inklusion BezĂŒge zu anderen Elementen von Inklusion, insbesondere zu sozialer IntentionalitĂ€t, herzustel-len . Viertens ist, auch wenn das von Kritikern wie Thomas Bedorf (2010, S . 75) an der Theorie Honneths bemĂ€ngelt wird, der teleologische Zug sei-

5 Honneth verwendet den Gemeinschaftsbegriff allgemein und sehr weit . Daher ist seine Verwendung von Gemeinschaft nicht mit meinem VerstÀndnis identisch .

Die normative Relevanz von Inklusion 199

ner AusfĂŒhrungen ein Vorteil . Denn er erlaubt spĂ€ter eine stimmige An-knĂŒpfung an pĂ€dagogische Zielkategorien . Bereits an frĂŒherer Stelle hat sich ja gezeigt, dass ein schwacher Perfektionismus kein Problem darstellt, son-dern – zumindest in der pĂ€dagogischen Anwendung – geradezu eine Not-wendigkeit darstellt . Honneths Theorie ist noch aus einem fĂŒnften, trivialen und pragmatischen Grund fĂŒr den vorliegenden Zusammenhang interes-sant: Sie kann als die momentan dominanteste Sozialtheorie der Anerken-nung bezeichnet werden .6 Damit sind auch BezĂŒge zu anderen, bereits exis-tierenden Theorien leichter möglich, vor allen Dingen da, wo die Autoren selbst BezĂŒge zur Anerkennungstheorie von Honneth herstellen (vgl . IkĂ€-heimo 2009; Laitinen 2002, 2007) .

Berechtigt scheint die Kritik an Honneth aber mindestens in dreierlei Hinsicht zu sein . Erstens betont Thomas Bedorf zu Recht, dass die bei Hon-neth immer wieder betonte IdentitĂ€t, die erst durch Prozesse der Anerken-nung abgesichert wird, nie ohne Differenz zu haben ist (vgl . Bedorf 2010, S . 108) . Anerkennung muss immer von jemandem kommen, der unabhĂ€n-gig ist von uns selbst, einem anderen Menschen beispielweise . Dieses Selbst ist dann aber nicht als atomar, allein stehend und unabhĂ€ngig von Beziehun-gen zu sehen, sondern als relationales, interpersonales und genuin soziales . Zweitens kann, ebenfalls mit Bedorf (ebd ., S . 95), gezeigt werden, dass An-erkennungsvorgĂ€nge immer auch an Unterwerfung und Macht unter beste-hende Diskurse verbunden sind . Dies zeigt sich insbesondere bei der sozialen WertschĂ€tzung deutlich . Denn hier wird jemand, wie sich noch vertiefter zeigen wird, in einer Hinsicht anerkannt, die in bestimmten Gemeinschaf-ten oder Gesellschaften als wertvoll gilt . Damit ist der Einzelne, der von anderen anerkannt wird, in punkto Gegenstand der Anerkennung auf die soziale Auszeichnung desselben als auszeichnungswert angewiesen . Was also genau anerkannt wird, hĂ€ngt von den anderen ab, von symbolischen Ord-nungen und von normativen Erwartungen (ebd ., S . 209) . Drittens, so be-tont Norbert Ricken (2009), ist Anerkennung ein performativer Prozess . Sie ist also nie nur BestĂ€tigung dessen, was bereits vorhanden ist, sondern immer auch Schaffung desselben . Dieser Punkt ist insbesondere fĂŒr die Thematik der Behinderung relevant . Denn bei Menschen mit schweren Behinderun-gen ist Anerkennung im Sinne eines eng verstandenen reziproken Anerken-nens oft nicht möglich . Versteht man Anerkennung aber explizit als perfor-mativen Vorgang, ist damit die Problematik lösbar . Denn es zeigt sich die

6 Diese (zumindest die ersten beiden) GrĂŒnde treffen auf andere Anerkennungstheorien, wie beispielsweise diejenige von Bedorf (2010) oder Ricoeur (2006) nicht zu .

200 Inklusion und Gerechtigkeit

entwicklungspsychologische Bedeutung von Anerkennung . Weiter ist diese Sichtweise auf Anerkennungsprozesse auch fĂŒr den pĂ€dagogischen Kontext, dem ich mich spĂ€ter ausfĂŒhrlich widme, von höchster Bedeutung . Denn Anerkennung in pĂ€dagogischem Kontext meint eben nicht nur Anerken-nung fĂŒr das, was das Kind oder der Jugendliche (wie auch der erwachsene Mensch mit Behinderung) bereits ist, sondern auch fĂŒr das, was das Kind, der Jugendliche oder der erwachsene Mensch werden kann . Anerkannt wird damit nicht bloß das, was vorhanden ist und gezeigt wird, die FĂ€higkeiten und Fertigkeiten also, sondern auch die Zonen der nĂ€chsten – wie auch der weiteren – Entwicklung (vgl . Vygotskij 2002) .

Im Folgenden möchte ich die drei Anerkennungsformen, die Honneth unterscheidet, ausfĂŒhren .

Liebe

Die Liebe als grundlegende und erste Form – entwicklungspsychologisch wie gesellschaftshistorisch betrachtet auch Stufe – der Anerkennung versteht Honneth in einem weiten Sinne . Gemeint sind nicht nur Liebesbeziehungen im engeren Sinn, sondern alle PrimĂ€rbeziehungen, beispielsweise erotische Zweierbeziehungen, Freundschaften sowie Eltern-Kind-Beziehungen . Ange-sprochen sind somit alle Beziehungen, die aus starken GefĂŒhlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen (vgl . ebd ., S . 153) . In der wechselseiti-gen Erfahrung liebevoller Zuwendung erleben Menschen, dass sie in der Er-fĂŒllung bestimmter affektiver BedĂŒrfnisse voneinander abhĂ€ngig sind . Da diese affektiven BedĂŒrfnisse ĂŒberhaupt nur dadurch erfĂŒllt oder erwidert werden, indem sie BestĂ€tigung durch andere erhalten, muss Anerkennung an dieser Stelle seinen Ausdruck in der affektiven Zustimmung oder Ermu-tigung konkreter Anderer erhalten (ebd ., S . 154f .) . Dieses Anerkennungsver-hĂ€ltnis bildet die Basis nicht nur fĂŒr die Erfahrung, sondern auch fĂŒr die Äußerung von eigenen BedĂŒrfnissen und Empfindungen und somit fĂŒr alle anderen Anerkennungsformen (vgl . Gilbert 1991) . Die intersubjektive Er-fahrung von Liebe ist damit die Basis und psychische Voraussetzung fĂŒr die Entwicklung aller anderen Formen von Anerkennung, in ihrem Fremd- wie in ihrem Selbstbezug . Die Möglichkeit, sich in dieser Weise positiv auf sich selbst zu beziehen, bezeichnet Honneth als Selbstvertrauen .

Diese Form von Anerkennung gewinnt ihre Bedeutung fĂŒr Inklusion vor allem dadurch, dass sie in die Bereiche zwischenmenschlicher Beziehungen eindringt, in der BedĂŒrfnisse nach Inklusion gedeckt werden .

Die normative Relevanz von Inklusion 201

Rechte

Die zweite Stufe der Anerkennung umfasst nach Honneth Rechte . Die The-se Honneths (ebd ., S . 176) ist die, dass »jedes menschliche Subjekt nur dann als TrĂ€ger irgendwelcher Rechte gelten kann, wenn es als Mitglied eines Ge-meinwesens gesellschaftlich anerkannt ist: aus der sozial akzeptierten Rolle des Mitglieds eines arbeitsteilig organisierten Sozialverbandes ergeben sich fĂŒr den Einzelnen bestimmte Rechte, deren Einhaltung er im Normalfall durch Anrufung einer mit AutoritĂ€t ausgestatteten Sanktionsgewalt einkla-gen kann .«

Die dabei verlangte Form der ReziprozitĂ€t ist im Unterscheid zur Liebe aber eine anspruchsvollere . Indem nĂ€mlich von der Bereitschaft zur Befol-gung rechtlicher Normen nur dann ausgegangen werden kann, wenn die Interaktionspartner sich als in substanziellem Sinn Freie und Gleiche begeg-nen, bedingt dies eine anspruchsvollere Form von Wechselseitigkeit und fĂŒhrt in der Folge auch zu anspruchsvolleren Formen von ReziprozitĂ€t . Die Rechtssubjekte anerkennen sich wechselseitig als Personen, die ĂŒber indivi-duelle Autonomie verfĂŒgen, ĂŒber moralische Normen vernĂŒnftig entschei-den zu können .

Im Gegensatz zu Anerkennung als Liebe ist die rechtliche Anerkennung in modernem Sinn nicht mehr graduell abgestuft, je nach VerhĂ€ltnis zwi-schen den Menschen . Die Idee des modernen Rechtsstaats ist nĂ€mlich gera-de, dass sie jedem Subjekt der Idee nach in gleichem Maße zukommt . Dies entspricht der modernen Idee moralischer Gleichheit von Menschen (vgl . Gosepath 2004, S . 128ff .; Pauer-Studer 2000) . Mit der Erfahrung rechtli-cher Anerkennung kann ein Individuum sich als eine Person betrachten, »die mit allen anderen Mitgliedern seines Gemeinwesens die Eigenschaften teilt, die zur Teilnahme an einer diskursiven Willensbildung befĂ€higen« (Honneth 1994, S . 195) . Die Möglichkeit, sich in dieser Weise positiv auf sich selbst zu beziehen, bezeichnet Honneth als Selbstachtung .

Soziale WertschÀtzung oder SolidaritÀt

Die dritte Stufe der Anerkennung schließlich ist mit SolidaritĂ€t respektive sozialer WertschĂ€tzung zu ĂŒberschreiben .7 ZusĂ€tzlich zu affektiver Zuwen-

7 Die Unterscheidung zwischen den Formen rechtliche Anerkennung und SolidaritĂ€t ist insofern historisch begrĂŒndet, als sie laut Axel Honneth (1994, S . 309) als Resultat einer Aufspaltung des traditionellen Ehrbegriffs in eine Form der WĂŒrde und eine Form des Status verstanden werden können . SpĂ€ter revidiert das Honneth insofern, als er stĂ€rker

202 Inklusion und Gerechtigkeit

dung und rechtlicher Anerkennung benötigen Individuen auch soziale Wert-schĂ€tzung, die es ihnen erlaubt, sich auf konkrete Eigenschaften und FĂ€hig-keiten, die sie haben, positiv zu beziehen . Die soziale WertschĂ€tzung bemisst sich dabei an dem Grad, an dem Individuen in der Lage sind, zu vielfĂ€ltigen gesellschaftlichen Zielvorgaben beizutragen . Dabei gibt das kulturelle Selbst-verstĂ€ndnis einer Gesellschaft vor, was als gesellschaftlich erwĂŒnschte Hand-lungen und damit als Kriterien gelten sollen, nach denen Personen sozial wertgeschĂ€tzt werden . FĂ€higkeiten und Leistungen von Individuen werden demnach intersubjektiv danach beurteilt, inwiefern die Einzelnen an der Umsetzung kulturell definierter Werte mitwirken können . Mit der Erfah-rung sozialer WertschĂ€tzung geht ein gefĂŒhlsmĂ€ĂŸiges Vertrauen einher, dass die Leistungen, die man erbringt und die FĂ€higkeiten, die man hat, von der Gesellschaft als wertvoll und sozialkonstitutiv anerkannt werden . Insofern wird diese Art der praktischen Selbstbeziehung von Honneth (ebd ., S . 209) SelbstschĂ€tzung genannt .

Genau wie die rechtliche Anerkennung ist auch diese Form der Anerken-nung historisch kontingent . Da heute nicht mehr wie frĂŒher in Standesge-sellschaften von vornherein festgelegt ist, welche Formen der LebensfĂŒhrung moralisch einwandfrei sind und welche nicht, sind es nicht mehr sozial geteilte Eigenschaften, nach denen sich die Einzelnen zu richten haben, son-dern die lebensgeschichtlich individuell entwickelten FĂ€higkeiten der Einzel-nen, an denen sich die soziale WertschĂ€tzung orientiert . »Mit der Individua-lisierung der Leistung geht zwangslĂ€ufig auch einher, dass die gesellschaftlichen Wertvorstellungen sich fĂŒr unterschiedliche Weisen der persönlichen Selbst-verwirklichung öffnen; fortan ist ein, nunmehr allerdings klassen- und ge-schlechtsspezifisch bestimmter Wertpluralismus, der den kulturellen Orien-tierungsrahmen bildet, in dem sich das Maß der Leistung des Einzelnen und damit sein sozialer Wert bestimmt« (ebd ., S . 203) .

zwischen anthropologischen Ausgangsbedingungen und historischen VerĂ€nderbarkeiten unterscheidet . Im Zusammenhang zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie sieht er die normativen Bedingungen der sozialen Inklusion: »Zu Mitgliedern von Gesellschaf-ten können Individuen nur werden, indem sie in Form der Erfahrung von wechselseitiger Anerkennung ein Bewusstsein davon erwerben, wie Rechte und Pflichten in bestimmten Aufgabenbereichen reziprok verteilt sind . [
] . Einerseits bemisst sich die Chance einer positiven Selbstbeziehung fĂŒr die Subjekte selber an Bedingungen, die einen gesellschaft-lichen Charakter besitzen, weil sie aus normativ geregelten Formen der wechselseitigen Anerkennung bestehen; andererseits bemisst sich die Chance einer bestimmten Gesell-schaft, auf die ungezwungene Zustimmung der eigenen Mitglieder zu stoßen, an ihrer FĂ€higkeit zur Organisation von AnerkennungsverhĂ€ltnissen, die die individuelle Entwick-lung solcher positiven Formen der Selbstbeziehung ermöglichen« (ebd ., S . 310) .

Die normative Relevanz von Inklusion 203

Die Antwort auf die Frage, welchen dieser Werte, die den verschiedenen Formen von Selbstverwirklichung entsprechen, normative Relevanz zukom-men soll, wird dabei in gesellschaftlichen â€șKĂ€mpfenâ€č ermittelt . Denn die In-terpretation der Bedeutung bestimmter Leistungen oder Lebensformen zeigt sich nicht zuletzt daran, welchen sozialen Gruppen es gelingt, ihre FĂ€higkei-ten oder Fertigkeiten als gesellschaftlich besonders wertvoll auszuweisen . Die Bedeutung, die den verschiedenen Formen der Selbstverwirklichung zuge-messen wird, aber auch die Art und Weise, wie die verschiedenen FĂ€higkei-ten und Fertigkeiten definiert werden, die eine Leistung zu einer fĂŒr die Gesellschaft wertvollen machen, sind an historische Zielsetzungen gebun-den . Da diese wiederum davon abhĂ€ngig sind, welchen sozialen Gruppen es gelingt, ihre Anliegen und Leistungen ins öffentliche Bewusstsein zu brin-gen, muss diese Deutungs- und Bestimmungspraxis als stĂ€ndiger kultureller Konflikt verstanden werden . Beziehungen, in denen sich soziale WertschĂ€t-zung zeigen kann, werden demnach fortlaufend in gesellschaftlichen oder sozialen KĂ€mpfen erstritten (vgl . Schramme 2006, S . 222ff .) .

Soziale WertschĂ€tzung erschöpft sich nicht in passiver Toleranz, sondern fordert gerade affektive Teilnahme am individuell Besonderen einer Person . Diese Form von WertschĂ€tzung darf nach Heikki IkĂ€heimo (2009) weder auf intrinsisches WertschĂ€tzen, beispielsweise fĂŒr das Wohlergehen von Per-sonen, noch auf instrumentelles WertschĂ€tzen reduziert werden . WertschĂ€t-zung in der dritten Form der Anerkennung zeigt sich vielmehr dann, wenn jemand etwas beitrĂ€gt, dem man selbst Wert beimisst und indem man den Beitragenden selbst als solchen wertschĂ€tzt . Die Anerkennung ist somit in-trinsisch und zugleich instrumentell . Man schĂ€tzt den Beitragenden also nicht nur instrumentell, beispielsweise als Sklaven . Den anderen als genuin Beitragenden zu verstehen heißt also, ihn in beiderlei Hinsicht wertzuschĂ€t-zen . Das ist es, was IkĂ€heimo (ebd ., S . 81) meint, wenn er sagt, eine Person werde â€șin vollem Sinneâ€č wahrgenommen .

Allerdings stellt sich bei der dritten Stufe der Anerkennung die Frage, welche der Besonderheiten und Charakteristiken bei Menschen denn sozial wertgeschĂ€tzt werden sollen, zumal diese WertschĂ€tzung an einem sozialen Wertekontext gemessen wird und damit an ein kollektives Bezugssystem ge-bunden ist (vgl . Bedorf 2010, S . 58) . Genau wie bei den PlĂ€nen und Zielen von Menschen sind nicht alle Besonderheiten und Charakteristiken fĂŒr Menschen gleichermaßen wertvoll . Menschen wollen nicht wegen aller mög-licher Besonderheiten oder Charakteristiken wertgeschĂ€tzt werden, sondern nur aufgrund spezifischer, ausgewĂ€hlter, die ihnen auch selbst wichtig sind .

204 Inklusion und Gerechtigkeit

Denn nicht jede partikulare Eigenschaft und Charakteristik erachten Men-schen an sich selbst als wertvoll . Vielmehr scheinen es gerade die an sich selbst als wichtig erachteten SelbstbezĂŒge zu sein, die ich mit PlĂ€nen und Zielen ĂŒberschrieben habe, die das nachzeichnen, was Menschen fĂŒr ihre personale Entwicklung an sozialer WertschĂ€tzung benötigen . Wenn es Men-schen also beispielsweise wichtig ist, fĂŒr ihre MusikalitĂ€t wertgeschĂ€tzt zu werden, sie stattdessen aber nur – fĂŒr das ihnen selbst nicht wichtige – Koch-talent geschĂ€tzt werden, hat diese WertschĂ€tzung keine oder zumindest kei-ne substanziell positive Wirkung auf ihre Selbstbeziehung . Bei Menschen mit Behinderung zeigt sich hier zudem oftmals ein ganz spezielles Problem: Viele behinderte Menschen erfahren WertschĂ€tzung â€ștrotzâ€č einer Behinde-rung, also beispielsweise dahingehend, dass sie trotz einer QuerschnittlĂ€h-mung sportlich sein können . Sie erfahren aber nicht WertschĂ€tzung fĂŒr die Sportleistung als solche, sondern nur in Verbindung und Abgrenzung zu ei-ner bestimmten, meist nicht offen gelegten NormalitĂ€tsvorstellung, bei-spielsweise â€șnormalemâ€č Sport respektive (statistisch oder biologisch) â€șnorma-lerâ€č FunktionsfĂ€higkeit.

Weniger in ihrer Positivumschreibung als in ihrer Negativfassung lĂ€sst sich das, was man unter sozialer WertschĂ€tzung verstehen kann, besonders gut fassen . So schreibt John Rawls ĂŒber die sozialen Grundlagen dieser Form von Anerkennung (die er allerdings, anders als Honneth, mit Selbstachtung umschreibt): »Wenn man das GefĂŒhl hat, die eigenen PlĂ€ne hĂ€tten wenig Wert, dann kann man ihnen nicht mit Befriedigung nachgehen oder sich ĂŒber ihr Gelingen freuen . Auch wenn man von Misserfolg oder Selbstzwei-feln verfolgt wird, werden die eigenen Anstrengungen gelĂ€hmt . Damit ist deutlich, warum die Selbstachtung ein Grundgut darstellt« (Rawls 1993, S . 479) . Selbstverwirklichung setzt damit fĂŒr Rawls begrifflich wie inhaltlich eine positive Selbstbeziehung voraus, die mindestens das Vertrauen in den Wert der eigenen Person umfassen muss und auch das Vertrauen in den Wert der eigenen FĂ€higkeiten, PlĂ€ne und Ziele einschließt . SelbstwertgefĂŒhl erfor-dert daher »WertschĂ€tzung und BestĂ€tigung der eigenen Person und ihrer Handlungen durch andere, die die gleiche WertschĂ€tzung genießen und in deren Gesellschaft man sich wohl fĂŒhlt« (ebd ., S . 480) .

Es zeigt sich, dass gerade diese dritte Stufe der Anerkennung fĂŒr Men-schen mit Behinderung – sowohl in ihrer sozialen Wahrnehmung wie auch in ihrem Selbstbezug – vor allen Dingen ein Problem darstellt . In der öffent-lichen Wahrnehmung wird dies in bestimmten Begrifflichkeiten – wie bei-spielsweise â€șInvaliderâ€č (von lat . invalidus = wertlos) oder durch die Substan-

Die normative Relevanz von Inklusion 205

tivierung â€șBehinderterâ€č (statt behinderter Mensch oder Mensch mit Behinderung) – deutlich . Damit wird angezeigt, dass behinderte Menschen sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung vor allem durch eines auszeich-nen – durch ihre angebliche Inkompetenz und ihre Behinderung respektive deren SchĂ€digungsdimension .8 Schon allein durch die Begrifflichkeiten wird angedeutet, dass diese dritte Ebene der Anerkennung faktisch entzogen wird oder zumindest risikobehaftet ist . Dies geschieht zwar selten durch bewusste, direkt intendierte Abwertung ihrer Leistungen, sondern vielmehr in den meisten FĂ€llen durch Ignorieren oder Wegsehen und damit in Form einer Abwertung durch Nicht-Wahrnehmung (vgl . Honneth 2003) .9

Versteht man Anerkennung zudem nicht nur unter personalen und ge-sellschaftlichen Entwicklungsaspekten, wie das Honneth tendenziell tut, sondern auch als Ausdruck einer Zuschreibung von Status, wie das beispiels-weise Nancy Fraser (2003) vorgeschlagen hat, so zeigt sich, dass auch kultu-relle und soziale Zuschreibungsprozesse bei der Hervorbringung und Ver-stĂ€rkung von Behinderung eine große Rolle spielen . So schreibt Nancy Fraser (ebd ., S . 45) in ihrer Replik auf die AusfĂŒhrungen Honneths: »Wenn man Anerkennung als eine Angelegenheit der Gerechtigkeit betrachtet, behandelt man sie zugleich als ein Problem des Status . Dies heißt wiederum, dass man institutionalisierte kulturelle Bewertungsschemata anhand ihrer Auswirkun-gen auf den relativen Rang der sozialen Akteure untersucht .« In dieser Aussa-ge Frasers ist der Begriff der mangelnden Anerkennung nicht entwicklungs-psychologisch gefĂŒllt, sondern vor allem politisch konnotiert . Er verweist auf etablierte kulturelle Wertmuster, nach denen Individuen daran gehindert werden, als Gleichberechtigte am Gesellschaftsleben zu partizipieren . Man-gelnde Anerkennung wird demnach nicht nur durch Einstellungen erzeugt, sondern auch durch gesellschaftliche Institutionen, welche behinderten Menschen einen tendenziell inferioren Status zuschreiben . Es ist damit die bereits eingangs in der Kritik an Honneth erwĂ€hnte Machtproblematik, wel-

8 FĂŒr Martha Minow (1990) ist diese Reduktion auf die SchĂ€digung und ihre allumfassende Wirkung als â€șBehinderterâ€č ein zentrales Moment des sogenannten â€șDilemmas der Diffe-renzâ€č .

9 Auch hier zeigt sich der identitĂ€tswirksame Charakter solcher Formen von verweigerter Anerkennung, denn sie stellen nicht nur eine Beleidigung des Betroffenen dar, sondern bestimmen die IdentitĂ€t respektive deren Aufbau insofern, als sie sich in die leibliche Exis-tenz einschreiben: Eine IdentitĂ€t wird ĂŒbergestĂŒlpt, sie lĂ€sst sich aber nicht abschĂŒtteln oder ausziehen . Was dem Betroffenen daher oft nur bleibt, ist, sie zum Teil der eigenen IdentitĂ€t zu machen und somit dem objektivierenden Blick Legitimation zu verleihen .

206 Inklusion und Gerechtigkeit

che hier zum Ausdruck kommt und die sich insbesondere bei sozialer Wert-schÀtzung zeigt .

Die Bedeutung der drei Formen von Anerkennung auf gemeinschaftlicher wie gesellschaftlicher Ebene

Die drei Formen von Anerkennung eröffnen ein Modell der Beziehung zwi-schen individuell empfundener Zugehörigkeit und sozial gespiegelter Aner-kennung als notwendige Bedingungen fĂŒr Inklusion . Da aber, wie ich im letzten Kapitel gezeigt habe, nicht nur in Gemeinschaften Inklusion stattfin-det, sondern auch in gesellschaftlichen SphĂ€ren, muss das Anerkennungs-modell auch danach befragt werden, wie es sich in gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht auswirkt . Es zeigt sich, dass neben Individuen auch Institutionen Anerkennung zeigen oder verkörpern: dies einerseits, in-dem sie ĂŒber kollektive, demokratische Prozesse die Willensbildung einer Mehrheit der BĂŒrgerinnen und BĂŒrger abbilden . Sie sind Konstellationen sozialer Normen, die kollektive Handlungen regulieren (vgl . IkĂ€heimo 2003); andererseits, indem sie tradierte, kulturell vermittelte Formen von Anerkennung widerspiegeln . Solche sind zwar nicht unabhĂ€ngig von indivi-duellen Einstellungen zu sehen . Genauso wie gesellschaftliche Institutionen sind solche Anerkennungsformen aber in gewissem Sinn ĂŒberindividuell .

Die drei Anerkennungsformen lassen sich folgendermaßen veranschauli-chen:

Liebe Rechte Soziale WertschÀtzung

Gemeinschaft Zuwendung, Liebe Freundschaft durch konkrete Andere

Respekt oder Achtung als Gleiche in zwischenmenschlichen Bereichen

Personale WertschÀtzung aufgrund individueller Leistungen mit gemeinschaftlicher WertschÀtzung

Gesellschaft Verleihung von Rechten BĂŒrgerstatus, gesellschaftlicher Status als Gleiche

Gesellschaftliche WertschÀtzung aufgrund von Leistungen, die gesellschaftlich als wertvoll erachtet werden

Abb. 1: Anerkennungsformen und InklusionssphÀren

Die normative Relevanz von Inklusion 207

Die Tabelle zeigt nochmals deutlich, dass sich mit den sich erweiternden Anerkennungsformen auch die InklusionssphĂ€ren auszudehnen beginnen . WĂ€hrenddem nĂ€mlich Liebe strikt an eine gemeinschaftliche SphĂ€re gebun-den ist, beginnen sich Rechte in die gesellschaftliche Ebene hinein zu verlĂ€n-gern . Weiter zeigt sich die zweiteilige Form sozialer WertschĂ€tzung hinsicht-lich Inklusion . Denn soziale WertschĂ€tzung kann eine partikulare Form annehmen . In gemeinschaftlichem Bezug werden Leistungen geschĂ€tzt, die das Individuum hinsichtlich der Wertvorstellungen bestimmter Gemein-schaften erbracht hat . Diese mĂŒssen nicht gesellschaftlich positiv anerkannt und bestĂ€tigt werden, zumindest aber toleriert werden . DarĂŒber hinaus kann das Individuum aber auch soziale WertschĂ€tzung auf gesellschaftlicher Ebe-ne genießen, indem es hinsichtlich gesellschaftlicher Normen und Werte WertschĂ€tzung erfĂ€hrt .10

6 .3 Die Bedeutung von Freiheit fĂŒr Inklusion

Freiheit ist ein komplexer Begriff . Dementsprechend anspruchsvoll ist es, die Beziehung von Freiheit zu Inklusion aufzuzeigen . Die Bedeutung von Frei-heit fĂŒr die Inklusion von Menschen ergibt sich aus der Überlegung, dass Inklusion in Gemeinschaften und in die Gesellschaft wichtig ist, damit Men-schen ihre elementarsten Interessen schĂŒtzen und wahrnehmen können (vgl . Buchanan et al . 2000, S . 291) . Um von Freiheiten und Grundrechten ĂŒber-haupt Gebrauch machen zu können, mĂŒssen Menschen mit anderen Worten bereits in einen kooperativen Rahmen gemeinschaftlicher oder gesellschaft-licher Art eingeschlossen sein .

Die Definition von Freiheit bezieht sich gewöhnlich auf den Bereich von Handlungsfreiheit, »auf die Dimension sozialer Freiheit, die SphĂ€re der Moral im Sinne der inneren Selbstgesetzgebung, den durch subjektive Freiheits-rechte definierten Bereich der bĂŒrgerlichen Freiheit und auf die ĂŒber die GewĂ€hrung politischer Teilnahmerechte bestimmte politische Freiheit« (Pauer-Studer 2003, S . 234f .) . Im Zentrum der meisten Theorien steht da-mit zuerst einmal die sogenannte negative Freiheit . Damit ist implizit eine

10 Die Unterscheidung von gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher sozialer WertschĂ€tzung zeigt sich insbesondere dann, wenn – wie das beispielsweise in bestimmten Jugendkultu-ren der Fall ist – gemeinschaftliche Werte von der jeweiligen Gesellschaft nicht geteilt werden .

208 Inklusion und Gerechtigkeit

Unterscheidung zwischen sogenannt negativer und positiver Freiheit einge-fĂŒhrt, die ich im Folgenden erlĂ€utern möchte .

Positive und negative Freiheit

Isaiah Berlin (1969), auf den in der Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit meist referiert wird, definiert negative Freiheit als Abwe-senheit von Hindernissen oder Zwang . Unter Zwang versteht man einen willentlichen Eingriff anderer Menschen in einen Bereich, in welchem die Person ansonsten handeln könnte . Die zentrale Bedeutung von Freiheit in negativem Sinn, als Abwesenheit externer BeschrĂ€nkungen, ist die dominan-te liberale Sichtweise auf Freiheit (vgl . Miller 2006, S . 3) .11 Das bedeutet, die Abwesenheit von Einflussnahme durch einen externen Agenten ist diesen Theorien nach ausreichend, um Freiheit sicherzustellen und realisieren zu können .

Als externe Hindernisse zĂ€hlen in dieser Sichtweise auf Freiheit keine sogenannten â€șnatĂŒrlichen Hindernisseâ€č wie beispielsweise fehlende Talente oder FĂ€higkeiten . So schreibt Tim Gray (1991, S . 22): »I am rendered unfree by an obstacle, only if that obstacle is imposed by another person, not if it is the result of an accident of nature .« So können Menschen zwar nach Ansicht Grays vor Hindernisse gestellt sein, die ihre FĂ€higkeiten behindern, nicht aber ihre Freiheit . Die SchĂ€digungen von Menschen als Teil ihrer Behinde-rungen wĂ€ren damit nicht Teil möglicher Unfreiheit . Dies ist auch die Sicht-weise, die viele Philosophen auf Behinderung haben und die erst seit kurzem auch Kritik innerhalb der Disziplin hervorruft (vgl . Feder Kittay und Carl-son 2009; Hull 2009; Nussbaum 2006a) . Denn ein Bild von Behinderung, das SchĂ€digung mit Behinderung gleichsetzt, Freiheit auf nichtnatĂŒrliche (Un-)Freiheiten beschrĂ€nkt und den realen Gebrauchswert der Freiheit, die einem Menschen theoretisch zustehen wĂŒrde, nicht beachtet, hat zur Folge, dass Menschen mit Behinderung nicht als Unfreie gesehen werden . Ihre ein-geschrĂ€nkten sozialen Möglichkeiten werden, mit anderen Worten, nicht unter dem Aspekt einer möglichen FreiheitseinschrĂ€nkung betrachtet .

11 Eine Auffassung, die Gerechtigkeit auf die Sicherstellung negativer Freiheitsrechte be-schrĂ€nken möchte, stellt die Theorie Robert Nozicks (1974) dar . Diese sogenannt libertĂ€re Auffassung spricht sich beispielsweise gegen rechtlich abgesicherte HilfsansprĂŒche aus, weil sie diese als Eingriff ins Privateigentum des Individuums betrachtet .

Die normative Relevanz von Inklusion 209

Die Folgen einer BeschrÀnkung auf negative Freiheit am Beispiel Behinderung

Die Folgen einer solchen Sichtweise auf die Benachteiligungen, denen Men-schen mit Behinderung ausgesetzt sind, sind folgende: Erstens blendet diese Sichtweise den Mangel an individuellen, instrinsischen – beispielsweise kog-nitiven – FĂ€higkeiten als Möglichkeit von Unfreiheit aus . Zweitens lĂ€uft sie Gefahr, bestimmte Ungerechtigkeiten, die sozialer Ursache sind, unter den Teppich zu kehren und mit der Aussage zu ĂŒberdecken, dass die betroffenen Menschen – negativ gesehen – frei seien (vgl . Hull 2007, S . 30) . Drittens benötigen Menschen mit Behinderung, um in der gleichen Art Freiheit zu genießen wie andere Menschen, positiv gesprochen mehr GĂŒter als andere Menschen . Auf diesen Punkt hingewiesen zu haben – die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung mehr GĂŒter benötigen, wird als Konversions- oder Umwandlungsproblem (vgl . Kuklys 2005) bezeichnet – ist denn auch einer der zentralen Verdienste des Capability-Ansatzes . Ist das Ziel sozialer BemĂŒhungen nĂ€mlich die Sicherung eines mindestens minimal wĂŒrdigen Lebens, dann muss man die Mittel, die Menschen benötigen, um dieses fĂŒh-ren zu können, wie auch die Frage, was Menschen mit diesen GĂŒtern anfan-gen können, ins Zentrum von GerechtigkeitsĂŒberlegungen rĂŒcken . Und diese verĂ€nderte Sichtweise kann in der Folge zur Einsicht fĂŒhren, dass nicht alle Menschen die gleiche Menge an GĂŒtern benötigen .

Gerade am Beispiel von Behinderung zeigt sich zudem, dass Menschen einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt sein können und dass es meist nicht ausschließlich interne BeschrĂ€nkungen, mangelnde FĂ€higkeiten, Ta-lente oder andere Auswirkungen von SchĂ€digungen sind, die die betroffenen Personen behindern . Dies kann an einem Beispiel erlĂ€utert werden . Eine Person im Rollstuhl hat den Wunsch, in einen Schachklub inkludiert zu sein . Sie kann nun auf verschiedene Weise Hindernissen ausgesetzt sein . Ers-tens kann ihre Inklusion in den Schachklub bereits daran scheitern, dass sie das GebĂ€ude, in welchem der Schachklub trainiert, nicht erreichen kann, beispielsweise, weil das GebĂ€ude oder die RĂ€ume in ihm fĂŒr einen Menschen im Rollstuhl gar nicht zugĂ€nglich sind, da das GebĂ€ude nur ĂŒber Treppen und nicht ĂŒber Rampen oder FahrstĂŒhle erreichbar ist . Zweitens kann die Inklusion daran scheitern, dass die Person zwar gerne Schach spielen wĂŒrde, aber die notwendigen kognitiven oder körperlichen FĂ€higkeiten dazu nicht hat . Drittens ist es auch möglich, dass die Person zwar Schach spielen und auch den Raum oder das GebĂ€ude, in welchem Schach gespielt wird, errei-

210 Inklusion und Gerechtigkeit

chen kann, aber niemand bereit ist, mit der betreffenden Person Schach zu spielen . Vielleicht wird ihr unterstellt, dass sie als behinderte Person nicht in der Lage sei, Schach zu spielen . Oder es wird davon ausgegangen, dass sie stark hilfebedĂŒrftig sei . In der Folge hat niemand Lust, diese (vielleicht ver-meintlichen) zusĂ€tzlichen Hilfeleistungen an den Schachabenden anzubie-ten . SelbstverstĂ€ndlich können auch Kombinationen und wechselseitige Ver-stĂ€rkungen zwischen den drei Hindernissen oder Problemen entstehen . So ist der Person vielleicht das Schachspielen gar nie beigebracht worden, weil man dachte, sie könne ihre erlernten FĂ€higkeiten im spĂ€teren Leben sowieso nie anwenden, eine Investition in ihre Bildung wĂŒrde sich also gar nicht lohnen .

Dieses fiktive Beispiel weist darauf hin, dass die substanzielle Freiheit, etwas tun oder sein zu können, von mindestens drei Faktoren sowie einer positiven Dynamik zwischen den Faktoren abhĂ€ngig ist . Erstens ist sie ab-hĂ€ngig von den internen Ressourcen und Vermögen, die Menschen haben, das heißt ihren FĂ€higkeiten, Fertigkeiten und Talenten . Dies zeigt sich bei-spielsweise daran, dass eine Person die Schachregeln kennt und kognitiv und körperlich fĂ€hig ist, Schach zu spielen oder es zu erlernen . Zweitens ist sie von externen Ressourcen abhĂ€ngig, beispielsweise einem Rollstuhl, der es ihr erlaubt, ĂŒberhaupt mobil zu sein, sowie in der entsprechenden barrierefreien ZugĂ€nglichkeit zu GebĂ€uden . Drittens hĂ€ngt ihre Inklusion in den Schach-klub respektive die Freiheit dazu auch von der sozialen Struktur der Gesell-schaft (und auch der konkreten Gemeinschaft des Schachklubs) und dem Maß an Anerkennung oder Zuneigung ab, welches die anderen Schachspie-ler der Person entgegenzubringen gewillt sind . Damit verbunden ist die Fra-ge, wie die Gesellschaft – oder in diesem Fall die anderen Mitglieder des Schachklubs – auf sie als behinderte Person reagieren, welche Einstellungen sie ihr gegenĂŒber hegen . WĂ€hrend die ersten beiden Punkte die Steine – und damit die Grundlagen oder Voraussetzungen – benennen, mit denen jemand im Spiel mitspielen kann, bezeichnet letzterer Punkt die Regeln des Spiels selbst . Über diese haben einzelne Menschen wenig oder gar keine Macht, jedenfalls nicht als Einzelne .

Die Bedeutung positiver Freiheit

Nicht zuletzt aus den oben genannten GrĂŒnden hat die BeschrĂ€nkung auf Freiheit als negative Freiheit denn auch wiederholt Kritik erfahren (vgl .

Die normative Relevanz von Inklusion 211

Honneth 2000; Schramme 2006, S . 215ff .; Taylor 1999) . Freiheit sollte nach Ansicht dieser Kritiker denn auch positiv gefasst werden, als Freiheit zu etwas im Unterschied zur negativen Freiheit von etwas . Der Wert positiver Freiheit leitet sich nach Joseph Raz (1986, S . 409) durch seinen Beitrag zur Autono-mie von Menschen ab . Autonomie und positive Freiheit beziehen sich beide auf wichtige Ziele, PlĂ€ne und Beziehungen von Menschen .12

Die Interpretation von Freiheit als positive Freiheit deckt sich mit dem VerstĂ€ndnis von Freiheit im Capability-Ansatz von Amartya Sen und Mar-tha Nussbaum . Dabei betont gerade Sen (2009, S . 228) in seiner Konzepti-on des Capability-Ansatzes sowohl den Prozess- wie auch den Möglichkei-tenaspekt von Freiheit, der als positive Freiheit gedeutet werden kann: »First, more freedom gives us more opportunity to pursue our objectives – those things that we value . It helps, for example, in our ability to decide to live as we would like and to promote the ends that we may want to advance . This aspect of freedom is concerned with our ability to achieve what we value, no matter what the process is through which that achievement comes about . Second, we may attach importance to the process of choice itself . We may, for example, want to make sure that we are not being forced into some state because of constraints imposed by others .« Freiheit erweitert also nach Sens Ansicht erstens die Möglichkeiten, eigene Ziele und PlĂ€ne zu verfolgen . Zweitens kann man auch den Prozess der Wahl selbst betrachten . Dieser muss ohne Zwang und Druck verlaufen .

Prozesse und Möglichkeiten

Freiheit hat damit einen Möglichkeiten- und einen Prozessaspekt . Freiheit kann mit anderen Worten danach beurteilt werden, wie sie zustande kommt und danach, was sie fĂŒr Menschen aufgrund ihrer persönlichen und sozialen Situation an Möglichkeiten beinhaltet . WĂ€hrend der Prozessaspekt die Ver-fahren oder Prozesse von Freiheit beurteilt, wirft der Möglichkeitenaspekt einen Blick auf die faktischen, inhaltlichen Chancen, die jemand hat . Der Unterschied zwischen beiden ist substanziell . Verschiedene Theorien leiden darunter, dass sie entweder nur den Möglichkeitenaspekt von Freiheit be-trachten, ohne auf den prozeduralen Verlauf zu achten, unter denen diese

12 Der Bezug auf kleinere Ziele, Projekte und Beziehungen ist dabei insofern bedeutsam, als sie die FĂ€higkeit betreffen, grĂ¶ĂŸere und wichtigere PlĂ€ne und Ziele zu verfolgen .

212 Inklusion und Gerechtigkeit

Freiheiten zustande kommen . Oder aber, sie betrachten nur die Prozesse . Damit achten sie zu wenig darauf, ob die gewĂ€hrten Freiheiten fĂŒr Men-schen auch wirklich substanziell sind (vgl . Sen 1999a, S .  17) . Substanziell sind Chancen nĂ€mlich nur dann, wenn sie auch weitgehend frei von Risiken sind, das heißt, wenn Menschen in der AusĂŒbung dieser Risiken nicht gro-ßen GefĂ€hrdungen – beispielsweise von Funktionen oder FĂ€higkeiten – aus-gesetzt sind, und wenn sie diese Chancen daher faktisch auch wahrnehmen können .

Gerade im Falle behinderter Menschen spielen beide Sichtweisen – Pro-zesse wie Möglichkeiten – eine große Rolle . Behinderte Menschen benötigen nicht nur inhaltlich substanzielle Chancen . Die Möglichkeit, diese Chancen in Anspruch nehmen zu können, hĂ€ngt nicht zuletzt auch davon ab, wie die Möglichkeiten zustande gekommen sind .

Freiheitsbezogene Kontingenzen

Betrachtet man die substanzielle Freiheit, die jemand hat, etwas tun oder sein zu können – und zwar sowohl hinsichtlich ihres Möglichkeiten- wie auch ihres Prozessaspekts – werden verschiedene freiheitsrelevante Kontin-genzen sichtbar: Erstens die HeterogenitĂ€t der Menschen, bei Behinderung beispielsweise bezĂŒglich weiterer gesellschaftlicher Benachteiligungen wie Armut oder mangelnde Bildung, aber auch Alter, weiterfĂŒhrende AnfĂ€llig-keiten fĂŒr Krankheiten oder Geschlecht als horizontale Faktoren . SchĂ€di-gungen machen einen Teil der Behinderung von Menschen aus . Komplika-tionen betreffend ihrer körperlichen oder seelischen Befindlichkeit können dazu fĂŒhren, dass sich SchĂ€digungen und BeeintrĂ€chtigungen im Verlaufe des Lebens verstĂ€rken oder auf anderen Bereiche ausweiten . Zweitens liegen Variationen im sozialen Klima oder in der sozialen Umgebung vor, die zum Beispiel die Gesundheitsversorgung oder das Bildungssystem betreffen kön-nen . Ob Behinderung in einer Gesellschaft als (nicht freiwillig gewĂ€hlte) Möglichkeit menschlichen Lebens gesehen wird, oder ob sie negiert und ig-noriert wird, hat große Auswirkungen darauf, wie Menschen mit Behinde-rung in ihrer Gesellschaft begegnet wird und welche Formen von Anerken-nung sie erfahren . Drittens gibt es Unterschiede in der physischen oder technischen Umwelt oder der Infrastruktur, die sich beispielsweise im Zu-gang zu Technologien oder GebĂ€uden zeigen kann . Umweltbedingungen sind zu einem großen Teil abhĂ€ngig vom technologischen Stand einer Ge-

Die normative Relevanz von Inklusion 213

sellschaft . Viertens kommen auch Unterschiede in relationaler Hinsicht hin-zu, beispielsweise Ansichten darĂŒber, was an (internen wie externen) Res-sourcen benötigt wird, um am Leben in der Gesellschaft teilnehmen zu können (vgl . Sen 2009, S . 255f .) . Das bedeutet, die als wichtig erachteten GĂŒter unterscheiden sich in ihrer detaillierten inhaltlichen Ausgestaltung von Gesellschaft zu Gesellschaft – je nachdem, wie und in welcher Hinsicht damit gesellschaftliche und/oder gemeinschaftliche Inklusion erreicht wer-den kann . WĂ€hrend es in westlichen, reichen Gesellschaften beispielsweise mehr monetĂ€re Ressourcen braucht, um gesellschaftlich â€șmithaltenâ€č zu kön-nen, benötigt man in Ă€rmeren LĂ€ndern weit weniger davon .

Inklusion respektive die Möglichkeit dazu hĂ€ngt nun zu einem nicht un-bedeutenden Teil von der jeweiligen Auffassung von Freiheit ab . Hat jemand negative Freiheit, wird er oder sie nicht daran gehindert, sich selbst zu inklu-dieren . Dass das noch kein Garant dafĂŒr ist, wirklich inkludiert zu werden, dĂŒrfte deutlich geworden sein . Vielmehr benötigt der Mensch auch positive Freiheit, denn erst sie befördert einen Menschen in umfassendem Sinne dazu, inkludiert zu werden .

Es zeigt sich, dass nur ein kleiner Teil der tatsĂ€chlich realisierbaren Frei-heit von Menschen, sich selbst inkludieren zu können, von ihren individuel-len FĂ€higkeiten abhĂ€ngig ist . Denn individuelle FĂ€higkeiten sind in mindes-tens zweierlei Hinsicht an soziale Formen geknĂŒpft . Erstens, indem das Vorhandensein individueller FĂ€higkeiten oder UnfĂ€higkeiten sozial bewertet wird; zweitens, indem das Erlernen wie auch das AusĂŒben von FĂ€higkeiten sozial ermöglicht, aber auch be- oder gar verhindert werden kann . Hierbei kommt der sozialen Einstellung gegenĂŒber behinderten Menschen, ihren FĂ€-higkeiten wie auch ihrem Entwicklungspotenzial eine enorme Bedeutung zu . Wird nĂ€mlich Behinderung einzig als Reduktion von individuellen FĂ€-higkeiten gesehen, stellt diese Einstellung und Verhaltensweise gegenĂŒber behinderten Menschen eine FreiheitseinschrĂ€nkung dar, deren Ursache aber nicht (oder zumindest nicht nur) in mangelnden individuellen FĂ€higkeiten gesehen werden kann . Wird man beispielsweise als behinderter Mensch, ohne je die Möglichkeit erhalten zu haben, die eigenen FĂ€higkeiten zeigen zu können, gesellschaftlich als inkompetent und hilflos angesehen, ist das ein Moment von Unfreiheit fĂŒr jeden Betroffenen, der diese Art von gesellschaft-licher EinschĂ€tzung erfĂ€hrt . Die Unfreiheit selbst lĂ€sst sich aber nicht kausal auf die körperliche EinschrĂ€nkung zurĂŒckfĂŒhren, unter welcher der Betrof-fene gegebenenfalls leidet . Menschen mit Behinderung haben dann zwar eine hypothetische Freiheit, sie sind aber in substanziellem Sinn nicht frei,

214 Inklusion und Gerechtigkeit

da sie soziale Deprivation erfahren . Ihre Behinderung ist sozial (mit-)verur-sacht und kann ebenfalls als Moment von Unfreiheit gesehen werden (vgl . Hull 2007) .

In einer Gesellschaft, in der man beispielsweise von blinden Menschen erwartet, dass sie entweder Korbmacher oder Physiotherapeutin lernen und ihnen darĂŒber hinaus keine substanziellen Chancen zum Erlernen anderer Berufe bietet, werden nicht nur die Interessen von Menschen depriviert, die kein Interesse daran ausgebildet haben, Korbmacher oder Physiotherapeutin zu werden . Die eingeschrĂ€nkten Berufsmöglichkeiten, die mit der SchĂ€di-gung sowie einer angenommenen Begabung im Tastvermögen begrĂŒndet werden, haben zudem die Tendenz, sich zu verfestigen und zu perpetuieren . Damit fĂŒhren sie im Endeffekt dazu, dass sich bestimmte gesellschaftliche VerhĂ€ltnisse – beispielsweise das mangelnde Angebot an ArbeitsplĂ€tzen fĂŒr blinde Menschen – auch moralisch legitimieren .

Bis dahin hat sich in diesem Teil insbesondere die Bedeutung der positi-ven Freiheit gezeigt – beispielsweise danach, seine PlĂ€ne und Ziele betreffend Inklusion umsetzen zu können . Die positive Freiheit geht viel weiter als die negative Freiheit, die einzig darin besteht, dass niemand daran gehindert wird, sich selbst zu inkludieren . Gerade behinderten Menschen fehlen oft die internen wie externen Ressourcen zu ihrer Inklusion . Hinzu kommt, dass die sozialen Strukturen der Gesellschaft ebenfalls behindernd wirken kön-nen . Damit zeigt sich die normative Relevanz von – vor allen Dingen positi-ver – Freiheit fĂŒr die Inklusion von Menschen als Ermöglichungsbedingung fĂŒr Inklusion und insbesondere ihre Verbindung zu PlĂ€nen und Zielen nach Inklusion .

Im Folgenden möchte ich die komplexen Beziehungen zwischen Frei-heit, Entwicklung und Anerkennung im Kontext von Inklusion mit den Vo-raussetzungen oder Bedingungen fĂŒr ein gutes menschliches Leben verbin-den . Ich bin damit bei der Frage, welche normativen Bedingungen oder Voraussetzungen gegeben sein mĂŒssen, damit Menschen ein gutes und in-kludiertes menschliches Leben fĂŒhren können .

Die normative Relevanz von Inklusion 215

6 .4 Freiheit, Entwicklung, Anerkennung und Inklusion

Die Bedeutung von Freiheit, Entwicklung und Anerkennung fĂŒr Inklusion zeigt sich besonders deutlich, wenn man – vornehmlich auf der negativen Folie ihrer GefĂ€hrdung oder Verletzung – die komplexen Beziehungen zwi-schen den einzelnen Momenten beleuchtet . Gerade in der GefĂ€hrdung des Wohlergehens zeigt sich die normative Relevanz von Inklusion noch einmal deutlich . Um diese aufzuzeigen, ziehe ich Überlegungen zu verschiedenen Grundbedingungen fĂŒr ein gutes menschliches Leben heran, wie sie Arto Laitinen (2003) fĂŒr die Analyse der normativen Relevanz von Anerkennung in die philosophische Diskussion eingebracht hat .

Laitinen geht davon aus, dass es fĂŒnf Grundbedingungen fĂŒr das FĂŒhren eines guten menschlichen Lebens gibt: erstens materiale Bedingungen wie beispielsweise Geld, technische Infrastruktur oder die Möglichkeiten der In-bezugnahme spezieller Hilfe; zweitens psychologische Bedingungen wie bei-spielsweise Durchhaltewillen, CharakterstĂ€rke oder die persönliche Grund-stimmung;13 drittens die intersubjektive Umgebung, beispielsweise die Liebe und UnterstĂŒtzung durch geliebte Menschen, aber auch die Einstellungen oder der Respekt anderer Menschen sowie soziale WertschĂ€tzung und Sorge durch konkrete andere Menschen; viertens die kulturelle Struktur und damit die Möglichkeit, gesellschaftlich und kulturell als wertvoll erachtete Ziele und PlĂ€ne zu entwickeln und zu verfolgen . FĂŒnftens beschreibt Laitinen das institutionelle Setting der Gesellschaft und damit die politischen und staat-lichen Institutionen einer Gesellschaft als eine wichtige Voraussetzung fĂŒr ein gutes menschliches Leben .

Die fĂŒnf Voraussetzungen fĂŒr ein gutes Leben treten untereinander in komplexe Beziehungen . Sie treten aber auch in Wechselwirkung zu Aner-kennung, Freiheit und Entwicklung . Laitinen zeigt dies exemplarisch an An-erkennung . Erstens ist Anerkennung direkt eine der fĂŒnf Bedingungen fĂŒr ein gutes Leben und zwar ĂŒber die intersubjektive Ebene und damit ĂŒber die Einstellungen von Menschen zueinander . Auf diese Weise betrifft sie in sub-jektiver Hinsicht unser Wohlergehen direkt . Werden Menschen nĂ€mlich in-tersubjektiv nicht geachtet, geliebt oder wertgeschĂ€tzt, dann treten GefĂŒhle der Entfremdung, einem Mangel an Liebe oder von VernachlĂ€ssigung auf . Zweitens bestehen Anerkennungsbeziehungen zwischen den Ebenen, bei-

13 Zu diesen psychologischen Bedingungen könnte man auch noch körperliche Bedingun-gen einfĂŒgen und diese im VerstĂ€ndnis der ICF als intakte, funktionierende Körperstruk-turen und -funktionen verstehen .

216 Inklusion und Gerechtigkeit

spielsweise zwischen individueller Selbstbeziehung, institutionellem Setting und interpersonaler Ebene .

Im Folgenden möchte ich noch einen Schritt weiter gehen als Laitinen . Denn nicht nur lassen sich die Beziehungen zwischen Anerkennung und verschiedenen Voraussetzungen fĂŒr ein gutes Leben aufzeigen . Es bestehen auch komplexe Verbindungen darĂŒber hinaus, nĂ€mlich zu Fragen von Frei-heit und Entwicklung . Insbesondere die Ergebnisse von Robert Castel (2000, 2008), Martin Kronauer (2010) aus der soziologischen Ungleichheitsfor-schung – sowie von Michael Maschke (2007) oder Justin J . W . Powell (2007) speziell in Bezug auf Behinderung – zeigen, wie die oft unheilvollen Wech-selwirkungen zwischen mangelnder Anerkennung, nicht gewĂ€hrter Freiheit und BeeintrĂ€chtigung der Entwicklung zu sehen sind . Auf der Negativfolie zeigen sich diese drei Werte, die alle in enger Verbindung zu Inklusion ste-hen, in einer komplexen Form nochmals deutlich .

Anerkennung und Freiheit

Die Beziehung zwischen mangelnder Anerkennung und FreiheitseinschrĂ€n-kung zeigt sich in zweierlei Hinsicht: erstens in (gefĂŒhlter) Macht- und Chancenlosigkeit – beispielsweise hinsichtlich Chancen im Bildungs- und Arbeitsmarkt – und zweitens in einem Mangel an sozial realisierbaren Frei-heiten . Diese Ă€ußern sich einerseits in der GefĂ€hrdung oder in den Risiken, wie ich sie im vierten Kapitel genauer ausgefĂŒhrt habe und andererseits hin-sichtlich der sozial bereitgestellten Freiheiten, wie sie sich beispielsweise in den Berufsmöglichkeiten fĂŒr blinde Menschen gezeigt haben . Analysiert man diese auf den drei Anerkennungsebenen, die Honneth postuliert, dann prĂ€sentiert sich fĂŒr die Ebenen folgendes Bild:

BezĂŒglich Liebe kann sich das in der Sicht oder Einsicht zeigen, dass Liebespartner, Freunde oder andere nahe Beziehungen schwierig oder un-möglich zu finden sind, jedenfalls nicht selbstwirksam und mit Hilfe eigener Anstrengung . In der Folge setzt eine Resignation ein, die auch Auswirkun-gen auf Entwicklungsprozesse haben kann . Menschen, die es nicht fĂŒr er-reichbar erachten, dass sich ihnen andere in liebevoller, freiwilliger Weise zuwenden, werden misstrauisch und halten sich selbst nicht fĂŒr liebenswert . Oder mit Honneth gesprochen: Sie entwickeln oder stĂ€rken kein Selbstver-trauen . Ein besonders eindrĂŒckliches Beispiel einer solchen Resignation lĂ€sst sich in der vierten Folge der TV-Serie â€șÜsi Badiâ€č beobachten . In dieser be-

Die normative Relevanz von Inklusion 217

richtet Niklaus, einer der sechs Menschen mit geistiger Behinderung, welche in der Doku-Serie begleitet werden, von der Unmöglichkeit, eine Partnerin zu finden . Er beginnt damit, von den Partnerinnen in seinem Leben zu er-zĂ€hlen . FĂŒr die Zuschauer und Zuschauerinnen ĂŒberraschend, beginnt Ni-klaus mit der ErzĂ€hlung in einem dafĂŒr unĂŒblichen Stadium des Lebens, dem Kindergarten . Die Geschichte jeder Beziehung, von der er berichtet, endet mit: »Und dann ist sie mir weggelaufen« oder »Und dann war Schluss .« Die letzte Beziehung, von der Niklaus erzĂ€hlt, endet mit dem Eintritt in die PubertĂ€t . Seither hat er, wie er selbst meint, â€șabgeschlossenâ€č mit den Wesen, die er nicht versteht, weil sie â€șso anders sindâ€č .

Mit dem Eintritt in die Lebensphase, die fĂŒr die meisten Menschen auch der Eintritt in intime zwischenmenschliche Beziehungen bedeutet, endet fĂŒr Niklaus also mit Resignation und der tiefen Einsicht, dass eine partnerschaft-liche Beziehung â€șnichts fĂŒr mich istâ€č . Der Wunsch nach einer erfĂŒllenden Beziehung ist bei ihm und auch bei allen anderen Protagonisten (die mit Ausnahme einer Person alle keine partnerschaftliche Liebesbeziehung haben) zwar vorhanden und wird auch geĂ€ußert, ist aber nicht erfĂŒllt und wird auch nicht als im Rahmen des aus eigener Kraft Erreichbaren erachtet .

Ähnliches gilt auch bezĂŒglich sozialer WertschĂ€tzung . Werden bestimmte Bereiche des menschlichen Lebens, ĂŒber die soziale WertschĂ€tzung erreicht werden kann, unsicher – ist beispielsweise die Arbeitslage prekĂ€r und die fi-nanzielle Situation von EngpĂ€ssen begleitet – schrĂ€nken sich die Bereiche, in denen man Freiheiten sozial realisieren und soziale WertschĂ€tzung erreichen kann, weiter ein . Behinderte Menschen, die beispielsweise von materieller Armut betroffen oder bedroht sind, können schon allein aufgrund ihrer so-zialen Situation an vielen kulturell wertgeschĂ€tzten Lebenszielen und -kon-texten nicht teilnehmen . Hinzu kommt, dass die Kosten, die mit dem Zu-gang zu diesen Kontexten verbunden sind, aufgrund des behinderungsbe- dingten Konversionsrisikos oftmals höher sind als bei nichtbehinderten Menschen . Als sozialkonstitutiv können sich solchermaßen benachteiligte, behinderte Menschen darum nicht ansehen und sich daher auch nicht oder nur eingeschrĂ€nkt selbst schĂ€tzen .

BezĂŒglich der Anerkennung in Form von Rechten bestehen verschiedene Risiken . Erstens besteht die Gefahr, dass Menschen Rechte abgesprochen oder vorenthalten werden . Dieses war historisch bei Menschen mit Behinde-rung der Fall und ist auch heute in vielen LĂ€ndern der Welt immer noch RealitĂ€t . So beschreibt Sophia Isako Wong (2009) in einem Artikel einen geistig behinderten Mann namens Jorge, der, nach der Geburt ausgestoßen,

218 Inklusion und Gerechtigkeit

sein Leben in einem TierkĂ€fig verbringen musste, versorgt nur mit dem Le-bensnotwendigsten, das ihm durch die GitterstĂ€be gereicht wurde, einem Loch im Boden fĂŒr die Notdurft und ohne ElektrizitĂ€t . Das Bild, das ihn zeigt, wurde 2008 in AsuciĂłn (Paraguay) von Eugene Richards, einer Foto-grafin und Freiwilligen der Menschenrechtsgruppe â€șMental Disability Rights Internationalâ€č aufgenommen . Das Bild zeigt einen rechtlosen Menschen, der wie ein Tier gehalten wird .

Zweitens besteht ein Risiko darin, dass faktisch bestehende Rechte ero-dieren können, beispielsweise, indem die FĂ€lle eingeschrĂ€nkt werden, auf welche sie Anwendung finden oder indem die Rechte selbst eingeschrĂ€nkt werden . Solche VorgĂ€nge lassen sich insbesondere in Zeiten, in denen die Sozialstaaten selbst unter Druck stehen, verstĂ€rkt beobachten (vgl . Kronauer 2010, S . 175ff .) . In der Schweiz beispielsweise besteht ein solches Risiko als Folge der unterschiedlichen Revisionen der Invalidenversicherung, die nicht nur LeistungskĂŒrzungen fĂŒr die Betroffenen zur Folge haben, sondern in denen Rechte auch dahingehend eingeschrĂ€nkt werden, dass die geltenden Regelungen auf immer weniger Menschen Anwendung finden . Besonders betroffen sind Menschen mit unklaren medizinischen Indikationen, bei-spielsweise Schmerzpatienten oder Menschen mit psychischen Problemen wie Depressionen . FĂŒr diese Menschen tritt ein realer Verlust am Gehalt von Rechten ein, dies obwohl die Rechte ihnen formal immer noch zustehen .

Drittens können gesellschaftliche Institutionen durch die UnfĂ€higkeit, soziale Teilhabe zu vermitteln, selbst exkludierend wirken . Institutionen der sozialen Sicherung sind nĂ€mlich selbst oft Weichensteller bezĂŒglich weiterer AusschlĂŒsse aus anderen gesellschaftlichen Kontexten . Dies gilt bei Behinde-rung insbesondere fĂŒr die Bereiche Bildung und FĂŒrsorge . Martin Kronauer (ebd ., S . 179) nennt denn die FĂŒrsorge auch die »institutionalisierte Gleich-zeitigkeit von Drinnen und Draußen« . Gemeint ist damit, dass FĂŒrsorge in Form von sonderpĂ€dagogischer, aber auch medizinischer Hilfe oder von Kompensationsleistungen die betroffenen Menschen einerseits als Objekte ihrer Hilfsangebote betrachtet (und in der Logik auch betrachten muss), andererseits aber dem Hilfsanspruch eine Rechtsposition entspricht, die den EmpfĂ€nger durchaus als Rechtssubjekt betrachtet . Die Paradoxie dieser bei-den Situationen ergibt sich dadurch, dass trotz Rechtsanspruch auf die Hilfe kein Anspruch darauf besteht, wie die Hilfe geleistet wird und was sie kon-kret beinhaltet . Dies wird vielmehr gesellschaftlich bestimmt und festge-legt .

Die normative Relevanz von Inklusion 219

Freiheit und Entwicklung

Das GefĂŒhl, nicht mithalten zu können sowie faktisch reduzierte Chancen aufgrund von AusschlĂŒssen aus bestimmten Kontexten – insbesondere dem Arbeitsmarkt – fĂŒhren zu quantitativ und qualitativ reduzierten Möglichkei-ten der personalen Entwicklung (und des guten Lebens) . Personale Entwick-lung, insbesondere die Entwicklung sozialer IntentionalitĂ€t, ist damit nicht nur eine Voraussetzung fĂŒr Inklusion, sondern selbst wiederum Folge von Inklusion . Dementsprechend gravierend sind die Auswirkungen vielfĂ€ltiger AusschlĂŒsse aus kulturell und sozial als wertvoll erachteten Beziehungen und Kontexten fĂŒr die betroffenen Individuen . Sie können ihrer Selbstbeziehung weder in – sozial wie kulturell – wertgeschĂ€tzten Beziehungen Ausdruck ver-leihen, noch können sie lernen und zeigen, dass sie der WertschĂ€tzung wert sind . Sie können also weder erlernen noch zeigen, was es beispielsweise heißt, ein â€șguterâ€č Arbeiter, eine â€șguteâ€č Ehefrau, eine â€șliebevolleâ€č Mutter oder ein â€șfĂŒrsorglicherâ€č Vater zu sein . In vielen FĂ€llen bleibt gerade behinderten Men-schen nur das, was das Leben schicksalsmĂ€ĂŸig so mit sich bringt oder natĂŒr-licherweise bereits angelegt ist: Sohn oder Tochter zu sein, Bruder oder Schwester, Onkel oder Tante, um einige Beispiele zu nennen .

Ähnliches gilt fĂŒr den Arbeitsmarkt . Keine Arbeitsstelle zu haben, bedeu-tet nicht nur, kein eigenes Geld zu verdienen . Es bedeutet auch, aus Arbeits-beziehungen ausgeschlossen zu sein, nicht in sozial anerkannter Weise Leis-tung zum eigenen Lebensunterhalt zu erbringen und Entwicklungsprozesse in punkto Arbeitsleistung und arbeitsverbundenen FĂ€higkeiten und Fertig-keiten nicht vollziehen zu können .

Das GefĂŒhl, nicht mithalten zu können, zeigt sich insbesondere an den verschiedenen, auf unklare SchĂ€digungsbilder zurĂŒckgefĂŒhrte Behinderungs-arten wie beispielsweise psychische Behinderung, Lernbehinderung oder VerhaltensauffĂ€lligkeit . Zwar wĂ€re es vermessen zu sagen, soziale UmstĂ€nde und mangelnde Freiheiten wĂŒrden diese Behinderungen in den meisten FĂ€l-len direkt produzieren . Es scheint aber zweifelsohne so zu sein, dass man-gelnde soziale Freiheitsgrade – beispielsweise aufgrund einer familiĂ€r prekĂ€-ren sozialen Lage oder anderer sozialer Verletzlichkeiten wie Arbeits losigkeit – dazu fĂŒhren, dass immer mehr Menschen die Diagnose â€șLernbehinderungâ€č, â€șpsychische Behinderungâ€č oder â€șVerhaltensauffĂ€lligkeitâ€č erhalten oder be-

220 Inklusion und Gerechtigkeit

stimmte Menschen in prekÀren sozialen Lagen verstÀrkten Risiken ausgesetzt sind, solche Diagnosen zu erhalten .14

Umgekehrt ist es so, dass EntwicklungsbeeintrĂ€chtigungen auch soziale Freiheitsgrade betreffen, indem sie FreiheitsrĂ€ume schließen . So ist jemand, der nicht sprechen, schreiben oder lesen kann, faktisch aus verschiedenen Bildungskontexten – beispielsweise höherer Schulbildung – ausgeschlossen, die wiederum ihrerseits das Eintrittsticket fĂŒr die Teilnahme an weiterfĂŒh-renden Kontexten – beispielsweise im Arbeitsleben – darstellen .

Anerkennung und Entwicklung

Die Beziehung zwischen Anerkennung und individueller Entwicklung ist ein zentraler Aspekt in der Anerkennungstheorie von Honneth . Honneth geht davon aus, dass Anerkennung zentral ist fĂŒr eine ungestörte Selbstbezie-hung, die sich auf verschiedenen Ebenen – Selbstvertrauen, Selbstachtung, SelbstwertschĂ€tzung – vollzieht . Das Entziehen bestimmter Anerkennungs-formen, in den ersten Lebensjahren und bei vielen Menschen mit schweren Behinderungen ĂŒber die ganze Lebensspanne, ist geradezu existenziell bedro-hend .

Allerdings fĂŒhren umgekehrt auch verschiedene Entwicklungsstadien zu unterschiedlichen Formen der Anerkennung . Hierin zeigt sich die Verbin-dung von mangelnder Anerkennung und EntwicklungsbeeintrĂ€chtigung auf individueller Ebene . Menschen, die aufgrund einer EntwicklungsbeeintrĂ€ch-tigung nur reduziert arbeiten können und in geschĂŒtzten ArbeitsstĂ€tten im wahrsten Sinne des Wortes anspruchslose Arbeit erledigen, erhalten fĂŒr die Erledigung derselben keine oder wenig soziale WertschĂ€tzung . Oft werden solche Arbeiten denn auch in psychologisierender Sprache als â€șBeschĂ€fti-gungâ€č oder â€șBeschĂ€ftigungstherapieâ€č und nicht als Arbeit klassifiziert . Dabei zĂ€hlt nicht, ob die betroffenen Individuen sich anstrengen mĂŒssen, ob es in ihren Augen Arbeit und Leistung ist, sondern ob es in den Augen der Gesell-

14 Die genauen UmstĂ€nde, wie es zu einem Ansteigen solcher Diagnosen kommt, sind zwar noch nicht großflĂ€chig empirisch erforscht . Allerdings sind die Korrelationen zwischen verschieden Faktoren horizontaler und vertikaler Ungleichheit offensichtlich . So befinden sich beispielsweise ĂŒberdurchschnittlich viele AuslĂ€nderkinder an Schweizer Sonderschu-len, wie Winfried Kronig (2007) dokumentiert hat . Es zeigt sich also eine hohe Korrelati-on zwischen den beiden horizontalen Ungleichheitsmerkmalen LernbeeintrĂ€chtigung (oder angebliche BeeintrĂ€chtigung) und AuslĂ€nderstatus, die letztlich zu einer vertikalen Ungleichheit, nĂ€mlich mangelnder Bildung, fĂŒhren .

Die normative Relevanz von Inklusion 221

schaft als solche gelten kann . Die Frage, die implizit gestellt wird, ist folgen-de: Ist das, was diese Menschen tun, Arbeit und Leistung, auf welche die Gesellschaft nicht verzichten kann, oder ist sie das nicht? In den meisten FĂ€llen lautet die Antwort: Sie kann verzichten, das Geleistete ist eben kein nachgefragter Beitrag, fĂŒr den man soziale WertschĂ€tzung verlangen könnte . Gleichzeitig attestiert man den betroffenen Menschen ein BedĂŒrfnis nach Arbeit und SelbstwertschĂ€tzung . Weil damit ein Dilemma entsteht, das nicht gelöst werden kann, verpackt man das Ganze in einen therapeutischen Zusammenhang . Was nicht der Gesellschaft als Leistung zukommen soll, soll sich wenigstens fĂŒr die Individuen auszahlen . Sie werden nĂ€mlich thera-piert . Damit, so die implizite Hoffnung, können sich diese Individuen in ihrer individuellen Selbstentfaltung trotz verweigerter Anerkennung weiter entwickeln .

Genau mit diesem Absprechen von gesellschaftlicher wie gemeinschaftli-cher Anerkennung in Form sozialer WertschĂ€tzung werden aber nicht nur der Aufbau einer individuellen positiven Selbstbeziehung ver- oder behin-dert . Es kann auch gemutmaßt werden, ob dieses Absprechen sozialer Wert-schĂ€tzung nicht Folgen fĂŒr die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft an sich hat . Denn eine Gesellschaft, die einer bestimmten Gruppe in der Gesell-schaft kollektiv oder systematisch soziale WertschĂ€tzung verweigert, ist eine Gesellschaft, welche sich durch latente Abwertung des Lebens bestimmter Gruppen von Menschen und damit durch versteckte Feindseligkeit gegen-ĂŒber diesen Formen menschlichen Lebens auszeichnet . Eine solche Gesell-schaft Ă€ußert in der Folge wohl nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene, sondern auch auf institutioneller Ebene mangelnde Anerkennung .

6 .5 Fazit

Dieses Kapitel hat die enge Verbindung von Anerkennung, Freiheit, Ent-wicklung und ihre jeweiligen Wechselwirkungen im Kontext von Inklusion aufgezeigt . So hat sich bereits im sechsten Kapitel abgezeichnet, dass soziale IntentionalitÀt ein wichtiger Aspekt von Inklusion ist und erlernt werden muss . In diesem Kapitel hat sich nun mit den Erkenntnissen des Entwick-lungspsychologen Michael Tomasello gezeigt, dass die FÀhigkeit zu sozialer IntentionalitÀt erstens genuin menschlich ist und zweitens in einem komple-xen Lernprozess erworben werden muss . Im Erlernen dieser IntentionalitÀt

222 Inklusion und Gerechtigkeit

kommt engen zwischenmenschlichen Beziehungen – insbesondere zu den eigenen Eltern sowie anderen nahen Bezugspersonen – eine große Bedeu-tung zu . Behinderte Menschen, allen voran Menschen mit schweren Ent-wicklungsbeeintrĂ€chtigungen kognitiver Art, benötigen UnterstĂŒtzung im Erlernen dieser FĂ€higkeit, weil ohne sie komplexere Inklusionsformen nicht möglich sind .

Anerkennung zeigt sich nach Axel Honneth auf drei Ebenen – der Liebe, bei Rechten und in Form sozialer WertschĂ€tzung . WĂ€hrend die erste und die dritte Form partikular geleistet werden und zumindest die erste auch auf Gemeinschaften beschrĂ€nkt ist, wird Anerkennung in Form von Rechten Menschen als BĂŒrgern einer Gesellschaft entgegengebracht . Im nĂ€chsten Ka-pitel wird sich noch vertiefter zeigen, was aus diesen Unterscheidungen fĂŒr die Frage nach Rechten auf Inklusion konkret folgt .

BezĂŒglich Freiheit hat sich gezeigt, dass eine BeschrĂ€nkung auf negative Freiheit nicht genĂŒgt . Denn Menschen möchten nicht nur nicht daran ge-hindert werden, sich zu inkludieren, sie benötigen auch positive Freiheit – und damit eine Reihe von sozialen GĂŒtern – um sich inkludieren zu können . Hier zeigen sich schon enge Verbindungen zu Anerkennung . Denn die For-derung geht auch damit einher, anerkannt und nicht bloß toleriert zu wer-den .

Das Kapitel hat die normative Relevanz von Inklusion beleuchtet . Es hat unter anderem die komplexen Beziehungen von Inklusion zu Aspekten des guten Lebens aufgezeigt und damit vor allen Dingen geklĂ€rt, in welchen Hinsichten Inklusion wichtig ist fĂŒr ein gutes Leben . Diese Beziehungen dĂŒrfen nun aber nicht vorschnell mit Gerechtigkeitsfragen gleichgesetzt wer-den, denn mit diesen sind sie nicht in jedem Fall und zwingend deckungs-gleich . Die Frage, was aus GerechtigkeitsgrĂŒnden nun aus dem bisher Eru-ierten folgt, ist Gegenstand des nĂ€chsten Kapitels . Dabei verschiebt sich der Fokus von der Frage nach dem guten Leben oder dem menschlichen Wohl-ergehen hin zur Gerechtigkeit . Bestimmte Anteile des guten Lebens sind, so das vorweggenommene Fazit, auch unter Gerechtigkeitsaspekten und damit unter dem Gesichtspunkt moralischer Rechte, wichtig, aber eben nicht alle .

Das nÀchste, siebte Kapitel widmet sich der Hauptfrage der ganzen Ar-beit: Haben Menschen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Inklusi-on?

7 . Das Recht auf Inklusion

Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, dass Inklusion eine hohe normative Relevanz hat . Und bereits im zweiten Kapitel habe ich ausgefĂŒhrt, weshalb Rechte besonders starke moralische Forderungen darstellen . Sie sind dies vor allem aus zwei GrĂŒnden: Erstens sind Rechte mit Pflichten auf anderer Seite verbunden . Wo man von Rechten spricht, bestehen immer auch korrelieren-de Pflichten ausgelöst . Pflichten, welche sich auf Rechte beziehen, zeichnen sich zweitens durch die Form ihrer Gerichtetheit aus . Es sind Pflichten, die man einem Rechtssubjekt schuldet und zwar aufgrund eines Merkmals, ei-ner Eigenschaft oder einer Disposition, die dem Rechtssubjekt selbst zu-kommt und welches die Grundlage seines Rechts darstellt . Ich habe im zwei-ten Kapitel eine Theorie moralischer Rechte verteidigt, die besagt, dass man gute GrĂŒnde hat, diese Merkmale in den Interessen von Subjekten zu sehen, welche es zu schĂŒtzen gilt .

Evaluative Interessen als Grundlinie

Das zweite Kapitel hat zudem gezeigt, dass diese Interessen, um Grundlage eines Rechts zu sein, nicht deskriptive, aktuale Interessen von Individuen sind, sondern evaluative . Damit ist es erstens denkbar, Interessen auch den-jenigen Menschen zuzuschreiben, die sie selbst nicht Ă€ußern können, bei-spielsweise, weil sie mit einer schweren BeeintrĂ€chtigung ihrer kommunika-tiven FĂ€higkeiten leben . Zweitens ist es möglich, eine Reihe von Interessen, die Menschen faktisch und aktual haben können, davon auszuschließen, Grundlage moralischer Rechte zu sein . Dies gilt im Besonderen fĂŒr schĂ€dli-che WĂŒnsche wie beispielsweise dem Wunsch, Heroin zu konsumieren .

Evaluative Interessen von Menschen beziehen sich auf normative Annah-men bezĂŒglich des Wesens des guten Lebens . Das gute Leben von Menschen ist, so die normative Annahme, von zwei Arten von Interessen geprĂ€gt: einer-

224 Inklusion und Gerechtigkeit

seits von menschlichen BedĂŒrfnissen, andererseits von Interessen, die man als PlĂ€ne und Ziele von Menschen bezeichnen kann .

BedĂŒrfnisse beziehen sich dabei auf eine anthropologisch geteilte BedĂŒrf-nisstruktur des Menschen . In Bezug auf Inklusion kann sich dies beispiels-weise im Wunsch auszudrĂŒcken, enge zwischenmenschliche Beziehungen zu haben . Hier zeigt sich die Bedeutung von Inklusion fĂŒr das gute menschliche Leben auf direkte Weise, nĂ€mlich ĂŒber die Bedeutung von Inklusion fĂŒr die Entwicklungsprozesse von Menschen . Werden BedĂŒrfnisse nach Inklusion nicht gedeckt, leiden Menschen substanziell . Sie können sich nicht entwi-ckeln, wenn sich andere, meist nahestehende, Menschen, ihnen nicht in em-pathischer, intentionaler Hinsicht zuwenden . Dies gilt im Besonderen fĂŒr die zentralen Entwicklungsprozesse der ersten Lebensjahre und kennzeich-net generell einen wichtigen Aspekt menschlichen Lebens: Menschen sind verletzliche Wesen .

PlĂ€ne und Ziele bilden demgegenĂŒber einen Bereich, der eng mit der Freiheit von Menschen verbunden ist, ihre Eigenheiten und persönlichen Ziele auszubilden . Dieser Bereich menschlicher Interessen kennzeichnet daher das, was die Persönlichkeit und den Charakter von Menschen wider-spiegelt . Bezogen auf Inklusion zeigen sich diese Interessen in vielfĂ€ltigen, individuell gewĂ€hlten und als wichtig erachteten Lebensbereichen, in die Menschen inkludiert sein möchten . Hier lĂ€sst sich die universelle Bedeutung von Interessen fĂŒr das gute menschliche Leben nur indirekt zeigen, nĂ€mlich ĂŒber die Bedeutung von Freiheit respektive Verwirklichungschancen fĂŒr das menschliche Leben . In der konkreten Ausgestaltung aber sind solche Inter-essen partikular .

Der Bereich derjenigen Interessen, welche Grundlage fĂŒr moralische Rechte darstellen können, beschrĂ€nkt sich auf besonders zentrale, evaluative Interessen von Menschen . Um die Grundlage von Rechten sein zu können, sind aber noch zwei weitere Bedingungen zu erfĂŒllen . Erstens muss das, was mit einem Recht gefordert wird, einforderbar sein, und zweitens muss es in der VerfĂŒgungsgewalt des PflichtentrĂ€gers liegen . Wie sich noch zeigen wird, bestehen die Schwierigkeiten in der Formulierung von Rechten nach Inklu-sion gerade darin, dass bestimmte Interessen die zweite und/oder die dritte Bedingung dafĂŒr, Grundlage eines Rechts sein zu können, nicht erfĂŒllen .

Das Recht auf Inklusion 225

Im Aufbau des Kapitels werde ich Ă€hnlich verfahren wie im zweiten Kapitel, welches die Struktur und Funktion von Rechten zum Inhalt hatte, nĂ€mlich anhand der dreistelligen Relation Rechtssubjekt – Rechtsobjekt – Rechtsge-genstand . Von hauptsĂ€chlichem Interesse ist dabei der Rechtsgegenstand re-spektive die genauen Inhalte eines möglichen Rechts auf Inklusion . Aber auch in der Frage, wer aus welchen GrĂŒnden Rechtssubjekt sowie Rechtsob-jekt ist, ist in der vorliegenden Arbeit von Interesse . Im Folgenden werde ich die zentralen Punkte des Kapitels aufzeigen .

Rechtssubjekt

Erstens werde ich mich der Frage widmen, wer nun genau Rechtssubjekt der Rechtsforderungen nach Inklusion sein soll . Es stellt sich nĂ€mlich die Frage, ob ein Recht auf Inklusion allen Menschen oder speziell Menschen mit Be-hinderung zukommen soll . Falls letzteres der Fall ist, mĂŒssten sich die GrĂŒn-de dafĂŒr in der speziellen Lage, in welcher sich Menschen mit Behinderung befinden, eruieren lassen . Vertritt man eine solche zweite Position, stellt sich weiter die Frage, ob dieses Recht behinderten Menschen als Gruppe oder als Individuen zukommt . Vertritt man ersteres, tritt man fĂŒr sogenannte Grup-penrechte ein, wie man sie beispielsweise in der Debatte um Rechte fĂŒr kul-turelle oder ethnische Minderheiten kennt (vgl . Boshammer 2003) . Vertritt man Letzteres, meint man individuelle Rechte .

Meiner Ansicht nach lassen sich pragmatische GrĂŒnde dafĂŒr anbringen, Rechte auf Inklusion behinderten Menschen qua Mitgliedstatus in einer so-zialen Gruppe zuzuweisen . Damit kommen diese Rechte zwar immer noch Individuen zu, sie sind also individuelle Rechte . Sie kommen Menschen aber nur zu, weil und insofern sie Mitglieder einer sozialen Gruppe sind .

Eine solche Auslegung der Frage nach dem Rechtssubjekt bezieht sich auf Argumente aus dem dritten und vierten Kapitel zu Behinderung und Wohl-ergehen . Ich habe dort ein Modell von Behinderung vertreten, welches dann von einer Behinderung bei einem Menschen ausgeht, wenn sich aus einer SchĂ€digung und unter bestimmten Umweltaspekten eine Reduktion des (objektiven) Wohlergehens ergibt . Damit wĂ€ren all jene Menschen mit SchĂ€-digungen behindert, welche – aufgrund intrinsischer oder umweltbedingter, extrinsischer und kontingenter Faktoren – kein gutes Leben fĂŒhren können oder zumindest im FĂŒhren eines solchen signifikanten Risiken ausgesetzt sind .

226 Inklusion und Gerechtigkeit

Genau dieser Bezug zum menschlichen Wohlergehen ist im Fokus eines Modells, wie es beispielsweise Iris Marion Young (2008) vertritt und welches Menschen mit Behinderung als strukturell benachteiligte Gruppe betrachtet . TrĂ€ger von Rechten auf Inklusion sollten nach Young demnach all jene Men-schen sein, welche Mitglieder der strukturell benachteiligten Gruppe der â€șBehindertenâ€č sind . Ziel der BemĂŒhungen von Rechten wĂ€re es – auf den ersten Blick paradox anmutend – die betroffenen Menschen mit Hilfe von Rechten aus diesem Status struktureller Benachteiligung und damit aus be-stimmten Aspekten der Behinderung herauszufĂŒhren . Genau diesem Zweck dienen diese speziellen, nur ihnen zukommenden Rechte .

Rechtsobjekt

Zweitens stellt sich die Frage, wer als Rechtsobjekt respektive als Pflichten-trĂ€ger gelten soll . Auch hier ist zunĂ€chst offen, ob dies einzelne Individuen oder Gruppen von Menschen – bis hin zur Gesellschaft als Ganzes – sind . Mit anderen Worten gefragt: Entsprechen Rechte auf Inklusion Pflichten auf Seiten anderer einzelner Menschen oder betreffen sie Kollektive, beispielsweise den Staat als Institution der Gesellschaft? Ich vertrete die Ansicht, dass man die Pflichten aus pragmatischen und auch aus normativen GrĂŒnden dem Staat als Institution der Gesellschaft ĂŒbertragen sollte . Die pragmatischen GrĂŒnde liegen in der FĂ€higkeit des Staates, soziales Handeln auf gesellschaft-licher Ebene zu koordinieren . Die normativen GrĂŒnde wiederum liegen in der (potenziellen) Überforderung von Individuen . Die zwei GrĂŒnde aber entlasten Individuen nicht von individueller Pflicht . Vielmehr ist auch die Existenz des Staates sowie sein Handeln, zumindest in demokratischen Ge-sellschaften, auf das Ergebnis von kollektiven Willensbildungsprozessen zu-rĂŒckzufĂŒhren . Im Zustandekommen dieser trĂ€gt der einzelne BĂŒrger Verant-wortung .

Rechtsgegenstand

Ausgehend von der Überlegung, dass zwei Interessen unterschieden werden können – ein Interesse, nicht exkludiert zu werden sowie ein Interesse, inklu-diert zu werden – untersuche ich, inwiefern diese Interessen ĂŒber Rechte geschĂŒtzt werden können . Da das erste Interesse weit einfacher zu erfĂŒllen ist, weil es weniger anspruchsvoll ist, beginne ich damit . Es zeigt sich, dass diesem Interesse ein Recht auf Nicht-Diskriminierung entspricht . Ein sol-

Das Recht auf Inklusion 227

ches findet sich de facto auch in der juridischen Rechtssprechung . Rechte auf Inklusion aber sind weitaus schwieriger zu verteidigen . Hier zeigen sich denn auch die Grenzen von Rechten: Erstens können viele Interessen nicht ĂŒber Rechte geschĂŒtzt werden, weil sie aufgrund ihres verpflichtenden Charakters das Gut, das es gerade zu schĂŒtzen gilt, zerstören wĂŒrden . Dies gilt insbeson-dere fĂŒr GĂŒter wie Freundschaft und damit verbundene soziale GefĂŒhle wie Zuneigung oder Empathie . Zweitens liegen viele Interessen auch nicht in der VerfĂŒgungsgewalt des PflichtentrĂ€gers . Beispielsweise liegt es nicht im Machtbereich von Dritten, – zumindest nicht direkt – dass sich andere Men-schen geliebt oder wertgeschĂ€tzt fĂŒhlen .

Damit sind den Rechten auf Nicht-Exklusion und Inklusion enge Gren-zen gesetzt . Gerade die partikularen Aspekte von Inklusion, die an Gemein-schaften gebunden sind, können nicht ĂŒber Rechte geschĂŒtzt werden . Die damit verbundenen Elemente der Bedeutung von Inklusion, insbesondere partikulare Anerkennung in Form von Liebe und sozialer WertschĂ€tzung (letztere in deren gemeinschaftlicher AusprĂ€gung), die besonders wichtig wĂ€-ren, sind deshalb ebenfalls nicht ĂŒber Rechte schĂŒtzbar . Was aber verteidigt werden kann, ist das Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion . Welche Inhalte sich daraus ergeben, zeige ich auf einer individuellen, einer interpersonalen, einer Ebene externer Ressourcen sowie einer strukturellen Ebene auf .

Das Fazit des Kapitels ist – vorerst zumindest – ernĂŒchternd . Es zeigt die engen Grenzen des Rechts auf Inklusion fĂŒr behinderte Menschen deutlich auf . Auch Pflichten, soziale Inklusionstugenden umzusetzen, scheitern, da sie sich in dieselben Probleme manövrieren wie Rechte . Zentrale Bereiche sozialer Inklusion, welche die Struktur gemeinschaftlicher Inklusion aufwei-sen, lassen sich weder ĂŒber Rechte noch ĂŒber Pflichten absichern .

Dennoch möchte ich ein positives Schlussfazit wagen . Erstens will ich dafĂŒr plĂ€dieren, dass jenseits der Rede von Rechten auch Inklusionstugen-den wichtig sind . Empathie und SolidaritĂ€t beispielsweise, betreffend derer es zwar weder Recht noch Pflicht gibt, sind nichtsdestotrotz wichtige soziale Tugenden . Sie sollten daher in (beispielsweise pĂ€dagogischer) Praxis sowie der Politik besonders betont und gefördert werden . Zweitens zeigt sich, dass die Forderung nach Ermöglichungsbedingungen fĂŒr Inklusion auf den zwei-ten Blick radikaler ist, als sie auf den ersten Blick erscheint . Denn liegt die relevante Behinderung, wie ich im vierten Kapitel aufgezeigt habe, fĂŒr viele betroffene Menschen tatsĂ€chlich in mangelhaften Umweltbedingungen (bei-spielsweise fehlenden Ressourcen und der sozialen Struktur der Gesellschaft),

228 Inklusion und Gerechtigkeit

dann ist die Forderung, die mit den Ermöglichungsbedingungen fĂŒr Inklu-sion verbunden ist, radikal . Sie verlangt nĂ€mlich in einigen FĂ€llen den weit-gehenden Umbau gesellschaftlicher Institutionen . Der genaue Inhalt eines solchen Umbaus ist aber wiederum an Vorstellungen darĂŒber gebunden, was eine gute Gesellschaft ausmacht .

Zusammenfassend sei noch einmal der Argumentationsschritt skizziert: Anhand der im zweiten Kapitel bereits eingefĂŒhrten analytischen Aufgliede-rung in Rechtssubjekt, Rechtsobjekt und Rechtsgegenstand möchte ich ers-tens aufzeigen, dass man Rechte behinderten Menschen als Mitglieder einer sozialen Gruppe zuweisen sollte . Zweitens möchte ich vorschlagen, dass man den Staat als Rechtsobjekt oder PflichtentrĂ€ger sehen sollte . Und drittens werde ich zeigen, dass das Recht auf Inklusion1 sich folgendermaßen aufglie-dert: in ein Recht auf Nicht-Diskriminierung oder gesellschaftliche Nicht-Exklusion, in ein Recht auf gesellschaftliche Inklusion sowie in ein Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion .

Ich beginne mit der Frage, wer Rechtssubjekt eines Rechts auf Inklusion sein könnte .

7 .1 Soziale Ungleichheit und strukturelle Benachteiligung

Im Folgenden möchte ich die nachstehende These verteidigen: Das Recht auf Inklusion kommt behinderten Menschen als Mitglieder einer strukturell benachteiligten sozialen Gruppe zu . Es ist daher in dem Sinne ein individu-elles Recht, als es Individuen zukommen . Man kann dieses Recht aber auch als â€șinstrumentelles Gruppenrechtâ€č bezeichnet werden, insofern es Individu-en nĂ€mlich aufgrund ihres Status als Mitglieder einer sozialen Gruppe zu-kommt und den Zweck hat, die spezielle Lage, in der sich diese Gruppe von Menschen in der Gesellschaft befindet, zu verĂ€ndern .

Der Unterschied zwischen Gruppenrechten im engeren Sinn und Rech-ten, die Menschen aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer strukturell benach-teiligten, sozialen Gruppe zukommen, zeigt sich dann, wenn man sich fragt, was passieren wĂŒrde, wenn die Gruppe aufhörte zu existieren . Im ersten Fall,

1 Dabei ist der Ausdruck â€șRecht auf Inklusionâ€č als Oberbegriff fĂŒr die sich noch zeigenden inhaltlichen Formulierungen dieses Rechts, das Recht auf Nicht-Exklusion, das Recht auf gesellschaftliche Inklusion und das Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklu-sion, zu verstehen .

Das Recht auf Inklusion 229

bei eigentlichen Gruppenrechten, wĂŒrde etwas Positives wegfallen, nĂ€mlich das, was man gerade mit Rechten zu schĂŒtzen versuchte . Dies zeigt sich bei-spielsweise bei den Rechten indogener Gruppen auf den besonderen Schutz ihrer Kultur . Mit dem Wegfall der Gruppe wĂŒrde die mit Rechten geschĂŒtz-te Kultur dieser Gruppe ebenfalls wegfallen . Denn es ist ja gerade die Kultur, welche die Gruppe als solche beschreibt . Diese Kultur zu schĂŒtzen, ist der Zweck von Gruppenrechten .

Der Fall scheint aber anders zu liegen bei behinderten Menschen . Mit dem Wegfall der Gruppe wĂŒrde nicht eine schĂŒtzenswerte Kultur wegfallen, sondern der stigmatisierende, lebensqualitĂ€tseinschrĂ€nkende Status behin-derter Menschen . Es könnte daher argumentiert werden, dass der Wegfall dieses Status intendiert und angestrebt werden sollte . Bezogen auf behinder-te Menschen wĂŒrde das bedeuten, dass die Zuschreibung eines Rechts auf-grund ihrer Mitgliedschaft in einer Gruppe den Zweck hĂ€tte, ihren Status als Benachteiligte zu beseitigen .

Was aber sind nun die genaueren GrĂŒnde, Menschen mit Behinderung als soziale Gruppe zu beschreiben? Anders gefragt: Was kennzeichnet eine soziale Gruppe und inwiefern sind Menschen mit Behinderung Mitglieder einer solchen Gruppe? Zweitens: Inwiefern hat diese Zuweisung von Rech-ten Vorteile vor rein individuellen Rechten, die einem als Mensch mit Be-hinderung ohne Bezug zu einer Gruppe zukommen, beispielsweise als BĂŒr-ger eines Staates?

Soziale Gruppen sind nach Iris Marion Young (1990, S . 43) folgenderma-ßen gekennzeichnet: »A social group is a collective of persons differentiated from at least one other group by cultural forms, practices, or way of life . Members of a group have a specific affinity with one another because of their similar experience or way of life, which prompts them to associate with one another more than with those not identified with the group, or in a different way . Groups are an expression of social relations; a group exists only in rela-tion to at least one other group . Group identification arises, that is, in the encounter and interaction between social collectives that experience some differences in their way of life and forms of association, even if they also re-gard themselves as belonging to the same society .« Soziale Gruppen existie-ren damit nicht als Substanz, sondern aufgrund ihrer sozialen Beziehungen . Sie bilden einen Teil der individuellen IdentitĂ€t, wenn auch oft unfreiwillig . Das heißt nun nicht, dass Individuen ihre Gruppenzugehörigkeiten nicht zu einem gewissen Teil ablehnen oder ablegen könnten . Und es bedeutet auch nicht, dass Individuen keine Attribute aufwiesen, die unabhĂ€ngig von ihrer

230 Inklusion und Gerechtigkeit

Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bestehen . Der Punkt ist vielmehr, dass ihnen der Status, Mitglied einer Gruppe zu sein, aufgrund einer Zu-schreibung oder eines Labels – beispielsweise â€șdie Behindertenâ€č – zukommt . Dieser Status ist mit einer Reihe von Zuschreibungsmerkmalen2 verbunden, ĂŒber die einzelne Menschen keine oder nur geringe Deutungsmacht besit-zen .

Die normative Problematik am Mitgliedstatus ist, dass die betroffenen Menschen aufgrund ihres Mitgliedstatus letztlich in ihrem BemĂŒhen, ein gutes Leben zu fĂŒhren, benachteiligt sind . Sie liegt also, mit anderen Wor-ten, nicht an den Zuschreibungen als solche, sondern an der Tatsache, dass Menschen damit einhergehend Benachteiligungen erfahren, die sie sozial schlechter stellen und die mit einer Reduktion des Wohlergehens verbunden sind . Dieser Zustand wird in soziologischen Theorien auch mit dem Begriff der sozialen Ungleichheit umschrieben (vgl . Bourdieu 1987; Giddens 2001; Kreckel 2004) . So schreibt Reinhard Kreckel (2004, S .  17): »Soziale Un-gleichheit im weiteren Sinne liegt ĂŒberall dort vor, wo die Möglichkeiten des Zuganges zu allgemein verfĂŒgbaren und erstrebenswerten sozialen GĂŒtern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Inter-aktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte EinschrĂ€nkungen erfah-ren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschafen beeintrĂ€chtigt bzw . begĂŒnstigt werden .«

Horizontale und vertikale Ungleichheit

Der Status sozialer Ungleichheit zeigt sich in VerhĂ€ltnissen von horizontaler Ungleichheit – beispielsweise SchĂ€digung, Geschlecht, Alter, ethnische Zu-gehörigkeit oder sexuelle Orientierung – zu vertikaler Ungleichheit (bei-spielsweise Einkommen, Vermögen, Bildung oder Beruf ) . WĂ€hrend vertika-le Ungleichheit immer zu sozialer Ungleichheit und damit gesellschaftlicher Benachteiligung fĂŒhrt beziehungsweise diese bereits impliziert, muss das im Fall horizontaler Ungleichheit nicht in jedem Fall so sein (vgl . Maschke 2007) .3 Viele Menschen mit Behinderungen sind aber Prozessen sozialer

2 AusdrĂŒcken können sich diese beispielsweise in Idealen körperlicher Schönheit, Standards in der baulichen Umwelt, ZugĂ€nglichkeit zu Techniken oder Vorstellungen von Gesellig-keit .

3 Es ist ja beispielsweise nicht per se ein gesellschaftlicher Nachteil, eine Frau zu sein . Mit anderen Worten: Das horizontale Merkmal Geschlecht fĂŒhrt nicht in jedem Fall zu gesell-schaftlichen Nachteilen . Elemente horizontaler Ungleichheit sind daher erst einmal des-

Das Recht auf Inklusion 231

Ungleichheit ausgesetzt, Prozessen also, die ĂŒber die horizontale Ungleich-heit hinausgehend mit einer möglichen Reduktion des Wohlergehens ver-bunden sind .

Dies ist aufgrund von folgenden Faktoren oder Prozessen möglich: Er-stens kann es sein, dass sich die Unterschiede in der horizontalen Ungleich-heit kumulieren und insgesamt so groß werden, dass das Wohlergehen der betroffenen Menschen, relativ oder absolut betrachtet, stark eingeschrĂ€nkt ist . Das ist insbesondere bei denjenigen Menschen der Fall, die mehrere po-tenziell benachteiligende Faktoren auf sich vereinen . So sind beispielsweise Frauen mit Behinderung stĂ€rker von sozialer Ungleichheit betroffen als MĂ€nner mit Behinderung, da sich die Kumulation dieser zwei Faktoren ho-rizontaler Ungleichheit in vielen FĂ€llen besonders benachteiligend auswirkt . Dasselbe gilt fĂŒr Menschen mit Behinderung, die gleichzeitig bestimmte an-dere Faktoren horizontaler Ungleichheit aufweisen, beispielsweise sexuelle Orientierung (insbesondere HomosexualitĂ€t oder TranssexualitĂ€t) oder eth-nische Zugehörigkeit (beispielsweise Migrantenstatus) . Zweitens ist es hĂ€ufig der Fall, dass Menschen mit Behinderung sowohl in der vertikalen, als auch der horizontalen Dimension von Ungleichheit betroffen sind . Dies ergibt sich dann, wenn zusĂ€tzlich zur Behinderung beispielsweise Einkommens-, Vermögens- oder Bildungsungleichheiten zu beobachten sind und die Be-troffenen damit teilweise oder komplett aus gesellschaftlichen Institutionen wie der Bildung oder dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind . Ein Ă€hnliches Resultat kĂ€me dadurch zustande, wenn horizontale Ungleichheit – also Un-terschiede in Geschlecht, NationalitĂ€t, ethnischer Zugehörigkeit oder Beein-trĂ€chtigung – selbst als Anlass fĂŒr eine ungleiche Behandlung genommen wird, die Behandlungen sich aber nicht kausal und berechtigterweise darauf zurĂŒckfĂŒhren lassen . Ein solcher Prozess wird gemeinhin als Diskriminierung bezeichnet . Der zweite Prozess impliziert damit Ungleichheit in vertikaler und horizontaler Hinsicht, wĂ€hrenddem der erste sich vor allen Dingen als VerstĂ€rkung und Verkettung innerhalb von Faktoren horizontaler Ungleich-heit verstehen lĂ€sst .

In der Theorie struktureller Ungleichheit, wie sie beispielsweise Iris Ma-rion Young (2000, 2008) vertritt, geht man nun vom Vorhandensein sozialer Ungleichheit aufgrund von sich verstĂ€rkender horizontaler Ungleichheit, die sozial bewertet zu einer vertikalen Ungleichheit fĂŒhrt (Beispiel Frau mit Be-hinderung) . Oder man geht von einer Mischung aus vertikaler und horizon-

kriptive Fakten und nicht bereits normativ bewertet . Dies ist anders bei Faktoren vertika-ler Ungleichheit . Sie gehen immer mit einer normativen Bewertung einher .

232 Inklusion und Gerechtigkeit

taler Ungleichheit aus und sieht gerade darin die Problematik, mit der viele Menschen mit Behinderung leben mĂŒssen . Der Umstand, im FĂŒhren eines guten Lebens benachteiligt zu sein, ist dabei nicht einzig ein Umstand feh-lender interner Ressourcen, also SchĂ€digungen oder mangelndem Talent . Vielmehr ist es Resultat eines lack of fit zwischen den internen Ressourcen von Menschen – beispielsweise KörperstĂ€rke, geistiger oder psychischer FĂ€-higkeit –, mangelnden externen Ressourcen und der dominanten sozialen Strukturen der Gesellschaft, ihren Praktiken, Normen und Ă€sthetischen Standards (vgl . Young 2008, S . 83) . Wie sehr sich eine BeeintrĂ€chtigung auf die LebensqualitĂ€t der betroffenen Menschen auswirkt, hĂ€ngt vor allen Din-gen davon ab, wie ihre vertikale Situation beschaffen ist respektive wie das VerhĂ€ltnis zwischen ihrer BeeintrĂ€chtigung und Faktoren wie Einkommen, Vermögen, Bildung oder Beruf beschieden ist .

Im vierten Kapitel habe ich bereits auf die verschiedenen Risiken hinge-wiesen, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind . Insbesondere setzen bei behinderten Menschen sogenannte â€șspill-over-Effekteâ€č, also Über-tragungseffekte, ein (vgl . Maschke 2007, S . 309) . Diese sind dann vorhan-den, wenn sich mangelnde Zugangschancen von bestimmten Lebensberei-chen auf andere ĂŒbertragen und sich in der Folge Verwirklichungschancen auf Inklusion einzuschrĂ€nken beginnen . Dies ist beispielsweise der Fall, wenn schlechte oder fehlende BildungsabschlĂŒsse zu reduzierten oder feh-lenden Chancen im Arbeitsbereich fĂŒhren . Diesen besonderen Risiken sind Menschen mit Behinderung, wie ich aufgezeigt habe, deutlich stĂ€rker und nachhaltiger ausgesetzt als nicht behinderte Menschen .

Die Bedeutung der strukturellen Dimension von Behinderung

Die Theorie struktureller Ungleichheit wirft im Besonderen Licht auf die Bedeutung der strukturellen Dimension von Behinderung . Dies in dreierlei Hinsicht: erstens hinsichtlich sozialer Beziehungen und Prozesse im weiteren Sinne, welche die sozialen Möglichkeiten von Menschen prĂ€gen . Darunter fallen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme sowie die QualitĂ€t und Quanti-tĂ€t interpersonaler Beziehungen, die beispielsweise ĂŒber Rollenbilder oder Ansichten darĂŒber, wer als erstrebenswerte â€șPartieâ€č gilt, strukturell beeinflusst werden . Die strukturelle Dimension zeigt sich zweitens hinsichtlich der Res-sourcen, beispielsweise in Formen von Hilfen und besonderer UnterstĂŒt-zung, zu denen Menschen mit Behinderung zwecks ungehinderter Entwick-

Das Recht auf Inklusion 233

lung Zugang haben sollten und welche auf institutioneller, gesellschaftlicher Ebene bestimmt werden . Das heißt, die AnsprĂŒche, welche Menschen mit Behinderung qua Behinderung geltend machen können, sind abhĂ€ngig von gesellschaftlichen Aushandlungen und ÜbereinkĂŒnften und daher gesell-schaftlichen Kontingenzen unterworfen . Und drittens wird die strukturelle Dimension bezĂŒglich der Entscheidungsmacht deutlich, die behinderte Menschen ĂŒber ihr eigenes Leben haben . Sie Ă€ußert sich auch im Status, den sie verliehen bekommen, und der sich in Respekt, der ihnen entgegenge-bracht wird, ausdrĂŒckt . Dieser Respekt hat neben einer zwischenmenschli-chen auch eine strukturelle Dimension (vgl . Margalit 1997) . Der Zugang zu Lebensbereichen wie Arbeit, Bildung, Wohnen, Kultur oder Sport, um eini-ge, keineswegs distinkte Lebensbereiche zu nennen, ist damit nicht zuletzt auch durch Barrieren begrenzt, die sich nicht auf individuelle, finanzielle oder technische Faktoren reduzieren lassen . Vielmehr können Barrieren auch institutionell verankert sein und ĂŒber die Einstellungen von Menschen wei-ter perpetuiert werden .

Kritik am Ansatz struktureller Benachteiligung

Das Vorhaben, Rechte an den Status der Mitgliedschaft in einer strukturell benachteiligten, sozialen Gruppe zu binden, ist nun aber seinerseits dem Vorwurf ausgesetzt, genau diese soziale Lage, welche bekĂ€mpft werden sollte, zu betonen und damit zu verstĂ€rken . So schreibt beispielsweise Tom Shake-speare (1999, S . 31):4 »The danger of a minority group approach is that disa-bled people again become ghettoised . Many people with impairment only want to be considered as ordinary, normal people, but the minority group approach demands that they be considered as a separate political and social constituency . Disability, once again, becomes the defining characteristic .« Der Einwand von Shakespeare scheint gewichtig zu sein . Man kann sich berechtigterweise fragen, ob die strukturelle Benachteiligung und Ungleich-heit nicht durch die Zuschreibung des Gruppenstatus verstĂ€rkt und damit die Stigmatisierung, Marginalisierung und Exklusion von behinderten Men-schen gefördert statt bekĂ€mpft wird . Young selbst erkennt das Dilemma der Differenz, das damit evoziert wird: »Contemporary social movements seek-

4 Shakespeare bezieht seine Kritik auf Gruppenrechte im engeren Sinn, denn er spricht von Minderheitenrechten . Dennoch trifft seine Kritik auch auf Rechte zu, wie sie Young ver-tritt und die keine Gruppenrechte im engeren Sinne sind .

234 Inklusion und Gerechtigkeit

ing full inclusion and participation of oppressed and disadvantaged groups now find themselves faced with a dilemma of difference . On the one hand, they must continue to deny that there are any essential differences between men and women, whites and blacks, able-bodied and disabled people, which justify denying women, blacks, or disabled people the opportunity to do anything that others are free to do or to be included in any institution or position . On the other hand, they have found it necessary to affirm that there are often group-based differences between men and women, whites and blacks, able-bodied and disabled people that make application of a strict principle of equal treatment, especially in competition for positions, unfair because these differences put those groups at a disadvantage« (Young 1989, S . 268) .

Benachteiligung als Teil der Behinderung

Der Vorwurf, intuitiv einsichtig wie er ist, beruht aber zumindest teilweise auf einem MissverstĂ€ndnis . Denn vertritt man ein Behinderungsmodell, das Behinderung gerade nicht mit SchĂ€digung gleichsetzt – wie das beim medi-zinischen Modell in der Regel der Fall ist –, sondern Behinderung als kom-plexen Interaktionsprozess zwischen individuellen und umweltbedingten Faktoren begreift, dann ist ein Teil der Behinderung ja gerade die Benachtei-ligung . Die Benachteiligung bekĂ€mpfen hieße dann, diejenigen Elemente der Behinderung abzubauen, die struktureller, sozialer oder institutioneller und verĂ€nderbarer Art sind .

Die sich aus einer Behinderung ergebenden relativen und absoluten Be-nachteiligungen kann man aber nur bekĂ€mpfen, indem man auf sie hinweist respektive ihre individuumsexternen Ursachen und VerstĂ€rkungsmechanis-men aufzeigt und verdeutlicht, worin dabei die Ungerechtigkeit liegt . Denn diese liegt ja nicht in der BeeintrĂ€chtigung als solcher, die in vielen FĂ€llen eine Folge einer – meist von niemandem verschuldeten – SchĂ€digung ist, sondern grĂŒndet unter anderem in den die ursprĂŒnglichen BeeintrĂ€chtigun-gen verstĂ€rkenden sozialen und strukturellen Prozesse . Nicht zuletzt aus dem Grund, die lebensqualitĂ€tseinschrĂ€nkenden Folgen dieser Prozesse fĂŒr Men-schen mit Behinderung verstehen zu wollen, ist ein offenes Sprechen ĂŒber die verschiedenen Arten von Behinderungen und Benachteiligungen, welche die betroffenen Menschen erfahren, vonnöten . Ohne alle diese Faktoren und ihre Wechselwirkungen anzusprechen, ist es nicht möglich, Forderungen der

Das Recht auf Inklusion 235

Beseitigung von Exklusion, Benachteiligungen oder Ausgrenzungen, die ja behinderte Menschen nicht nur individuell betreffen, als Gerechtigkeitsfra-gen zu thematisieren (vgl . Collins 2003; Kauffman 2004) . Dass gerade die sozialen und strukturellen gesellschaftlichen Bedingungen oft die zentralen Behinderungen darstellen, darauf weisen diese â€șinstrumentellen Gruppen-rechteâ€č, wie sie Iris Marion Young (2008) beschreibt, gerade hin .

Der Punkt, den Young in ihrer Theorie der sozial benachteiligten Gruppe besonders betonen will, ist der, dass diese verschiedenen Risiken – insbeson-dere auch die strukturell verstĂ€rkten sowie die sozialen Zuschreibungsprozes-se – auf Menschen mit Behinderung ĂŒberdurchschnittlich oft und in Ă€hnli-cher QualitĂ€t zutreffen . Dieses Faktum rechtfertigt es aus pragmatischen GrĂŒnden, behinderte Menschen als Gruppe zu bezeichnen . Die Rechte, die ihnen zukommen, haben instrumentellen Charakter . Sie sollen helfen, den Status der Benachteiligung zu beseitigen und so ein gutes Leben zu ermögli-chen .

Allerdings ist Shakespeare (1999) in zweierlei Hinsicht Recht zu geben . Erstens ist die inhĂ€rente Ambivalenz in der Zuschreibung von besonderen Rechten und ihre potenziell stigmatisierende Kraft ernst zu nehmen . Rechte dĂŒrfen aus diesem Grund nicht zusĂ€tzlich stigmatisierend wirken . Insbeson-dere in der Umsetzung der Rechte muss daher darauf geachtet werden, dass die WĂŒrde und die Selbstbestimmung behinderter Menschen respektiert wird . Auch ist Shakespeare insofern entgegenzukommen, als mit der Aus-zeichnung von speziellen Gruppenrechten in der Folge nicht alle Menschen mit einer SchĂ€digung auch in normativ relevantem Sinn als behindert gel-ten . Dies ist vor allem dann nicht der Fall, wenn die Umweltanpassungen trotz einer SchĂ€digung bei einem Menschen so gut sind, dass er oder sie in der FĂŒhrung eines guten Lebens nicht oder nur marginal eingeschrĂ€nkt ist .5

5 Darauf hat die Studie von Allotey et al . (2003), die ich im dritten Kapitel bereits erwĂ€hnt habe, eindrĂŒcklich hingewiesen . Darin hatten Paraplegiker in Sydney keine nennenswerte EinschrĂ€nkung ihrer LebensqualitĂ€t ausgewiesen, wĂ€hrend Menschen mit derselben Be-hinderung in abgelegenen Gegenden Kameruns ihre LebensqualitĂ€t als nahe beim Tod einschĂ€tzten . Der Grund lag darin, dass behinderte Menschen in Sydney mit der moder-nen, stĂ€dtischen Infrastruktur, in denen der Zugang zu öffentlichen GebĂ€uden und Trans-portmitteln vorbildlich umgesetzt war, keine nennenswerte EinschrĂ€nkungen in ihrem tĂ€glichen Leben erfuhren . Paraplegiker in Kamerun hingegen waren wĂ€hrend mehreren Monaten des Jahres in ihrem Haus eingeschlossen, das sie aufgrund der lange dauernden Regenzeit nicht verlassen konnte . Viele besaßen zudem gar keinen Rollstuhl und mussten ihre Tage weitgehend im Bett liegend verbringen . Die gesellschaftliche Ächtung behinder-ter Menschen in der afrikanischen Gesellschaft fĂŒhrte darĂŒber hinaus dazu, dass sich die Menschen auch sozial isoliert fĂŒhlten .

236 Inklusion und Gerechtigkeit

Eine solche Person wĂ€re denn auch nicht zwingend im Fokus spezieller Gruppenrechte . Dies insbesondere dann nicht, wenn sie ausschließlich von horizontaler Ungleichheit betroffen ist, die sich nicht auf ihr Wohlergehen auswirkt .6

Insbesondere sind nicht alle Menschen mit SchĂ€digungen ihrer Körper-funktionen oder -strukturen in ausgeprĂ€gtem Maß von negativen gesellschaft-lichen Zuschreibungen betroffen . Ein historisches Beispiel zeigt dies besonders deutlich: Auf Martha’s Vineyard, wo ein bedeutender Teil der Bevölkerung ĂŒber Jahrhunderte gehörlos war, waren die gehörlosen Menschen vollstĂ€ndig in die dortige Gesellschaft inkludiert .7

6 Dies gilt beispielsweise fĂŒr FĂ€lle von Menschen, die zwar mit einer SchĂ€digung leben, aber aufgrund anderer vertikaler Faktoren gesellschaftliche Vorteile genießen, beispielsweise, weil sie ein gutes Einkommen, ein stabiles soziales und gesellschaftliches Netzwerk, Ver-mögen oder/und gute Bildung haben .

7 Die Geschichte der vor Boston gelegenen Insel Martha’s Vineyard ist sowohl eine Ge-schichte vererbter Gehörlosigkeit wie auch ein eindrĂŒckliches Beispiel von vollstĂ€ndiger Inklusion der Betroffenen in die dortige Gesellschaft . Als sich die us-amerikanische Eth-nologin Nora Ellen Groce 1978 daran machte, der Geschichte von Gehörlosigkeit auf Martha’s Vineyard nachzugehen, war der letzte vererbt gehörlose Bewohner der Insel be-reits seit 26 Jahren tot . Die Erinnerung an die Menschen aber war noch lebendig und ebenfalls die FĂ€higkeit bei einigen Ă€lteren hörenden Einwohnern, die GebĂ€rdensprache zu beherrschen . Die frĂŒheren Bewohner der Insel waren perfekt zweisprachig . Sie beherrsch-ten Englisch und die GebĂ€rdensprache der Insel . Die gehörlosen Menschen konnten an allen AktivitĂ€ten des Insellebens gleichberechtigt teilnehmen . Sie wuchsen auf, gingen zur Schule, heirateten, bekamen Kinder (mit hörenden oder gehörlosen Partnern) und hatten in jeder Hinsicht dieselben Möglichkeiten wie ihre Nachbarn, Freunde und Verwandten . Dies zeigte sich auch in den Einstellungen gegenĂŒber den gehörlosen Bewohnern der In-sel . Auf die Frage, was die Hörenden von den Gehörlosen gehalten hĂ€tten, antwortete der Herausgeber einer kleinen Zeitung, welcher Groce fĂŒr die Recherchen zur Seite stand: »[
] they didn’t think anything about them, they were just like everyone else« (Groce 1985, S . 2) . Einer der stĂ€rksten Belege dafĂŒr, dass die Gehörlosen der Insel vollstĂ€ndig in die Gesellschaft inkludiert waren, zeigte sich auch darin, dass Groce große MĂŒhe hatte, von den Interviewten ĂŒberhaupt zu erfahren, welche Bewohner denn gehörlos gewesen waren und welche nicht . Auf die Frage, was zwei MĂ€nner namens Isaiah und David ge-meinsam gehabt hĂ€tten (von denen Groce durch bereits durchgefĂŒhrte Interviews wusste, dass sie beide gehörlos gewesen waren), antwortete eine befragte Frau: »Sie waren beide sehr gute Fischer . Sehr gute, wirklich .« Auf die Nachfrage, ob sie nicht auch gehörlos ge-wesen seien, antwortete die Frau: »Ja, jetzt, wo Sie mich darauf hinweisen, erinnere ich mich« (ebd ., S . 4, Übersetzung FF) . Das vielleicht beste Beispiel fĂŒr den Status, den die gehörlosen Bewohner der Insel im Vergleich zu den hörenden hatte, ist folgendes . Auf die Frage an eine rund 80-jĂ€hrige Frau, was sie als MĂ€dchen von den â€șHandicappiertenâ€č gehal-ten habe, unterbrach sie die Frau und sagte: »Oh, those people weren’t handicapped . They were just deaf« (ebd ., S . 5) .

Das Recht auf Inklusion 237

Das Beispiel zeigt, dass eine körperliche SchĂ€digung nicht in jedem Fall eine negative Zuschreibung und in der Folge Benachteiligung und Exklusion auslösen muss . Die Reaktion auf Menschen mit Gehörlosigkeit auf Martha’s Vineyard kann im Gegenteil gerade als Nicht-Reaktion klassifiziert werden (vgl . Kastl 2010, S . 169) . Gehörlosen Menschen auf Martha’s Vineyard wĂ€ren daher trotz ihrer körperlichen SchĂ€digung unter den dort herrschenden Um-welt- und Strukturbedingungen keine besonderen Rechte zugekommen . Denn es hĂ€tte sich gerade nicht zeigen lassen, dass sie in signifikanter Weise als Gruppe gegenĂŒber Menschen mit gutem Hörvermögen benachteiligt oder gar exkludiert waren sowie ultimativ unter einer EinschrĂ€nkung des Wohlergehens litten .

Die gehörlosen Bewohner von Martha’s Vineyard sowie andere Men-schen mit SchĂ€digungen, welche aus genannten GrĂŒnden nicht im Fokus von instrumentellen Gruppenrechten sind, könnten dies allenfalls dann sein oder werden, wenn eine signifikante VerĂ€nderung ihrer Körperstrukturen oder -funktionen,8 von BeeintrĂ€chtigungen in der LebensfĂŒhrung9 oder Ver-Ă€nderungen in den Umweltbedingungen – respektive Wechselwirkung zwi-schen den verschiedenen Faktoren – ihre Risiken kein gutes Leben fĂŒhren zu können, ansteigen lassen wĂŒrde .

Diejenigen, denen besondere Rechte zugesprochen werden, erhalten die-se aufgrund ihres Mitgliedstatus in einer Gruppe der Gesellschaft, die beson-ders benachteiligt ist . Behinderte Menschen sind damit keine richtige Gruppe . Die Zuschreibung eines Gruppenstatus ist aber aus pragmatischen GrĂŒnden sinnvoll . Denn so können AnsprĂŒche geltend gemacht werden, die aus einer – grĂ¶ĂŸtenteils geteilten – Lebenserfahrung einer Benachteiligung entstam-men .

Nun gibt es sowohl pragmatische wie auch normative GrĂŒnde, spezielle Gruppenrechte allen Menschen mit Behinderung zuzusprechen, auch denje-nigen, welche nicht in umfassendem Sinne behindert sind, also nicht unter

8 Beispiele einer VerĂ€nderung der Körperstrukturen und Funktionen bei bestimmten Be-hinderungen gibt es viele . So leiden viele Menschen mit Down Syndrom in mittleren Jahren an verfrĂŒhter und stĂ€rkerer Demenz als Menschen ohne dieses Syndrom . Dies deshalb, weil ein Gen fĂŒr das Amyloid-VorlĂ€ufer-Protein, welches Alzheimer auslöst, auf dem 21 . Chromosom liegt und Menschen mit Down Syndrom drei statt zwei Chromoso-men 21 haben . Aus diesem Grund fĂŒhrt bei diesen Menschen die vermehrte Produktion des Proteins oft zu einem frĂŒhen Ausbruch von Demenz .

9 Auch hier gibt es viele Beispiele . Besonders Menschen mit körperlichen BeeintrĂ€chtigun-gen spĂŒren in mittleren Jahren die AbnĂŒtzungserscheinungen des Körpers aufgrund ein-seitiger Belastungen bestimmter Gelenke, Muskeln oder Knochenstrukturen .

238 Inklusion und Gerechtigkeit

einer lebensqualitĂ€tseinschrĂ€nkenden Benachteiligung leiden . Denn erstens kann der Nachweis, dass der Anspruch nicht berechtigt ist, also keine Be-nachteiligung vorliegt, im Einzelfall nur schwer erbracht werden . Im Falle einer relativ homogenen Gesellschaft wie derjenigen auf Martha’s Vineyard bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts, lĂ€sst sich vielleicht noch nachweisen, dass die gehörlosen Menschen gegenĂŒber ihren hörenden MitbĂŒrgern nicht benachteiligt sind . In modernen, heterogenen, liberalen Gesellschaften mit ihren vielfĂ€ltigen möglichen Ungleichheitsfaktoren aber sind Menschen mit BeeintrĂ€chtigung immer latent dem Risiko gesellschaftlicher Benachteili-gung ausgesetzt .

Zweitens ist es auch so, dass der Nachweis, in umfassendem Sinne behin-dert zu sein, stigmatisierend und entwĂŒrdigend erlebt werden kann . Es ist daher eine Vorsichtsmaßnahme, spezielle Rechte aufgrund eines Status in einer Gruppe, zu der man zwar streng genommen nicht gehört, aber in Zu-kunft gehören könnte, zu verleihen . Sie trĂ€gt dem Umstand Rechnung, dass jeder SchĂ€digung ein GefĂ€hrdungspotenzial inne wohnt und erspart damit den Betroffenen, dieses GefĂ€hrdungspotenzial aktual aufzuzeigen .

Nachdem ich an dieser Stelle dafĂŒr plĂ€diert habe, ein mögliches Recht auf Inklusion behinderten Menschen zwar als Individuen, aber aufgrund ih-res Status in einer Gruppe zuzusprechen, kommt die Rede nun auf das Rechtsobjekt . Hier werde ich GrĂŒnde dafĂŒr aufzeigen, die Pflicht, das Recht auf Inklusion umzusetzen, dem Staat zuzuweisen .

7 .2 Der Staat als moralischer Agent

Zwei mögliche Entschuldigungen

Selbst wenn man sich darauf geeinigt hĂ€tte, dass die Interessen nach Inklu-sion moralisch so bedeutsam sind fĂŒr das Leben von Individuen, dass daraus noch ein nĂ€her zu bestimmendes moralisches Recht auf Inklusion erwĂ€chst, kann unklar bleiben, wer die moralische Pflicht trĂ€gt respektive wer Rechts-objekt ist . Individuen können sich, bei gleichzeitiger Zustimmung zum Ide-al von Inklusion, auf zwei Arten von Pflicht und Verantwortung entbinden: Erstens können sie darauf hinweisen, dass es zwar richtig sei, dass etwas ge-tan werde, dass es aber falsch sei, Individuen zu etwas zu verpflichten . Eine zweite Möglichkeit besteht darin, ebenfalls zuzugestehen, dass es moralisch

Das Recht auf Inklusion 239

richtig sei, dass etwas getan werde, aber dass es nicht in der Verantwortung von Individuen liege, etwas zu tun (vgl . Goodin 1989, S . 124) .

Ich will mich vor allem der zweiten Entschuldigung zuwenden, die mei-ner Meinung nach spezifiziert und abgewendet werden kann . Die erste Ent-schuldigung, dass es falsch sei, Individuen zu verpflichten, ist meiner Ansicht nach ein zumindest fĂŒr bestimmte GĂŒter respektive Kontexte gewichtiger und ernst zu nehmender Einwand . Da er aber auch damit zu tun hat, wie der Rechtsgegenstand selbst gebildet ist, verschiebe ich diesen Einwand auf den nĂ€chsten Abschnitt (7 .3) .

Das Überforderungsargument

Die Entschuldigung, wonach es nicht in der Verantwortung von Individuen liege, etwas zu tun, verweist auf einen normativen Einwand, nĂ€mlich den, dass Individuen ĂŒberfordert sein können . Dieser Einwand wird oft so ausge-drĂŒckt, dass die mit Rechten verbundenen Pflichten potenziell bodenlos sei-en (vgl . Fishkin 1982) . Dies meint, dass, wenn relativ weit gehende Rechte verliehen werden, Menschen gar nie in die Lage kĂ€men, der PflichterfĂŒllung GenĂŒge getan zu haben . Zweifellos wĂŒrde das Menschen in psychischer Hin-sicht – wenn auch nicht nur – ĂŒberfordern . Angesichts der vielfĂ€ltigen Le-bensbereiche, in die Menschen inkludiert werden können sowie der großen Anzahl von Menschen, denen man in diesen Lebensbereichen begegnet, scheint eine Überforderung von Individuen tatsĂ€chlich einer realistischen Gefahr zu entsprechen . Menschen wĂ€ren so nĂ€mlich, etwas ĂŒberspitzt for-muliert, den ganzen Tag damit beschĂ€ftigt, andere, ihnen weiter und nĂ€her stehende Menschen in irgendwelche Lebensbereiche zu inkludieren . Der Wert von Freiheit fĂŒr das Leben von Menschen wĂ€re somit mit Sicherheit verletzt . Da mit Rechten auch immer Pflichten verbunden sind, wĂ€re mit einer Absage an individuelle Pflichten zudem zweifelsohne auch eine Absage an Rechte verbunden .

Das entstehende Dilemma

Mit dem Einwand ist nun aber offensichtlich ein Dilemma folgender Art verbunden: Auf der einen Seite steht die hohe normative Relevanz von In-klusion fĂŒr das gute Leben von Menschen . Die mit der normativen Bedeu-

240 Inklusion und Gerechtigkeit

tung von Inklusion verbundenen Interessen, verstanden als BedĂŒrfnisse, PlĂ€-ne und Ziele, sollten daher durch ein Recht auf Inklusion geschĂŒtzt werden .10 Auf der anderen Seite stehen die möglichen EinwĂ€nde auf Seiten von Indivi-duen, welche die Übernahme von Pflichten abwenden, weil sie mit dieser Pflicht ĂŒberfordert sind . Dies selbst wenn anerkannt wird, dass Individuen wichtige Interessen nach Inklusion haben, von denen zumindest einige mit einem Recht abgesichert werden sollten . Wie also kann diesem Einwand entgangen werden?

Die Zuweisung der Verantwortung an kollektive Agenten

Robert E . Goodin (1989) schlĂ€gt vor, Pflichten statt Individuen dem Staat als kollektiven Agenten zu ĂŒbertragen . Er beginnt damit, die Entschuldi-gung, Individuen wĂ€ren ĂŒberfordert, zu qualifizieren . Die Annahme, dass es nicht meine Aufgabe sei, etwas zu tun, impliziert oft, dass es die Aufgabe ei-ner anderen Person sei . Jeder kann sich mit anderen Worten auf dieselbe BegrĂŒndung der Überforderung berufen und reklamieren, es sei nicht seine Aufgabe . Die Verantwortung wird also, selbst bei voller Anerkennung der Berechtigung von AnsprĂŒchen, weiter gereicht und landet schließlich – bei niemandem . Was aber niemandes Verantwortung ist, ist bei Anerkennung von Rechten, die Verantwortung aller . Was also tun?

Die Antwort verweist auf Kollektive . Viele FĂ€sser nĂ€mlich, die bodenlos scheinen, sind es nur aus individueller Sicht, nicht aber aus Sicht eines Kol-lektivs . Bei Inklusion, im Besonderen da, wo es um die Verteilung von GĂŒ-tern, beispielsweise in Form pĂ€dagogischer Hilfe oder materieller Ressourcen geht, entstehen Koordinationsprobleme . Oft sind Koordinationsprobleme dafĂŒr verantwortlich, dass etwas wie ein bodenloses Fass erscheint, ohne dass es das in Wirklichkeit ist .11

10 Dies gilt zumindest fĂŒr einige, qualifizierte Interessen, deren Bedeutung fĂŒr ein gutes menschliches Leben belegt werden kann und die eine bestimmte Dringlichkeit aufwei-sen .

11 Beispielsweise ist die Forderung behinderter Menschen nach ZugĂ€nglichkeit nicht grund-sĂ€tzlich eine bodenlose Forderung, sie kann höchstens unter bestimmten UmstĂ€nden zu einer werden . Um beim Beispiel der ZugĂ€nglichkeit – hier der Einfachheit halber als Zu-gang zu GebĂ€uden verstanden – zu bleiben: Die Frage scheint zuerst einmal die zu sein, wie viel, gerade angesichts der hohen Bedeutung von MobilitĂ€t fĂŒr das Leben von Men-schen, fĂŒr Menschen mit EinschrĂ€nkungen in der MobilitĂ€t gesellschaftlich aufgewendet werden soll . Diese Frage respektive ihre Einordnung in eine Hierarchie relativer Wichtig-keit fĂŒhrt zurĂŒck auf Überlegungen zum Beitrag und zur Bedeutung von MobilitĂ€t zu ei-

Das Recht auf Inklusion 241

Die KoordinationsfĂ€higkeit des Staates gegenĂŒber der relativen UnfĂ€higkeit zur Koordination bei Individuen

AnsprĂŒche nach Inklusion bereits von vornherein als bodenlos zu qualifizie-ren, wĂŒrde bedeuten, ihnen die inhaltliche Berechtigung abzuerkennen . Eine solche Position scheint allerdings angesichts der hohen Bedeutung von Inklusion fĂŒr das menschliche Leben – beispielsweise bezĂŒglich sozialer Zu-gehörigkeit zu anderen Menschen oder Gruppen, aber auch in punkto Mo-bilitĂ€t und Zugang zu GebĂ€uden und Dienstleistungen – kaum vertretbar zu sein, jedenfalls nicht grundsĂ€tzlich .

Aus den genannten Koordinationsproblemen folgt daher, dass die ErfĂŒl-lung der Pflicht, die sich aus dem Recht auf Inklusion ergeben wird, der Gesellschaft als Ganzes respektive dem Staat als Institution der Gesellschaft ĂŒbertragen werden sollte . Der Grund dafĂŒr ergibt sich erstens – normativ – aus dem Überforderungsargument . Zweitens ergibt er sich aus der Koordi-nationsfĂ€higkeit des Staates . Dies ist das pragmatische Argument .

Das pragmatische Argument besagt im Kern folgendes: GegenĂŒber Indi-viduen ist der Staat besser in der Lage, soziales Handeln zu koordinieren . Koordination verweist auf Beziehungen zwischen Dingen, Menschen oder Gebilden . Daher kann nur in Gruppen, Gemeinschaften oder in Organisa-tionen Handeln sozial koordiniert werden . Allerdings mĂŒssen diese Grup-pen, Gemeinschaften oder Organisationen formal organisiert sein . ZufĂ€llig anwesende Kollektive können nicht kollektiv zur Verantwortung gezogen werden, weil sie sich nicht konstituiert haben (vgl . French 1979, 1984; Held 1970, 1972) .12 Unter den formal organisierten Institutionen, welche soziales Handeln organisieren können, ragt der Staat heraus .

Definition staatlichen Handelns

Nun kann aber bezweifelt werden, dass der Staat ein Handelnder ist und damit zur Verantwortung gezogen werden kann wie ein Individuum . Was also ist staatliches Handeln? Nach Goodin (1989, S .  129) ist der Staat in

nem guten menschlichen Leben . Diese Überlegung gilt analog fĂŒr andere Bereiche des menschlichen Lebens, deren Beitrag zu einem guten Leben normativ und empirisch auf-gezeigt sowie auch in seinen BezĂŒgen zur Inklusion von Menschen verankert werden muss .

12 So kann man beispielsweise nicht die beliebig anwesenden Reisenden in einem Zug fĂŒr die Exklusion eines bestimmten Reisenden verantwortlich machen .

242 Inklusion und Gerechtigkeit

zweierlei Hinsicht ein Handelnder: Erstens kann der Staat durch seine legis-lativen und exekutiven Prozesse und Organe handeln . Dies zeigt sich bei-spielsweise in Gerichten und bei Abstimmungen in Parlamenten . Der Staat hat zudem zweitens interne Entscheidungsmechanismen in Form einer Ver-fassung und den in Gesetzen beschriebenen Prozesse . Ohne diese diversen Elemente staatlichen Handelns in Form seiner Organe und Prozesse wÀre der Staat gar kein Staat (vgl . Held 1987) .

Dies alles bedeutet nun nicht, dass der Staat der einzige kollektive Agent sein muss, der fĂ€hig ist, soziale Koordination zu liefern . Diese Aufgabe kön-nen auch Vereine, Kirchen und andere zivilgesellschaftliche Institutionen ĂŒbernehmen . Aus zwei faktischen GrĂŒnden sollte die Letztverantwortung fĂŒr gesellschaftliche Inklusion aber beim Staat liegen . Erstens hat der Staat das Monopol legitimer Gewalt und darf daher in eng begrenzten Bereichen Zwang auf die BĂŒrger ausĂŒben . Zweitens ist der Staat in gewissem Sinne al-len anderen Organisationen und Institutionen innerhalb eines Territoriums (ĂŒblicherweise des Nationalstaates) vorgeschaltet und prĂ€gt somit die Legiti-mitĂ€t anderer – beispielsweise zivilgesellschaftlicher oder arbeitsmarktlicher – Organisationen und Institutionen . Faktisch sind diese GrĂŒnde deshalb, weil zumindest liberale demokratische Gesellschaften in dieser Weise gestal-tet sind . Daher gibt es zumindest in diesen GrĂŒnde, dem Staat die Verant-wortung auch faktisch zu ĂŒbertragen .

Vor dem Hintergrund der bislang getĂ€tigten Überlegungen hat der Ein-wand, wonach niemand dazu verpflichtet werden kann, ein mögliches Recht nach Inklusion umzusetzen, Kraft verloren . Denn Menschen werden ja nicht gezwungen, alleine und isoliert Verantwortung zu ĂŒbernehmen . Sie haben vielmehr auf einer abstrakten Ebene, als BĂŒrger einer Gesellschaft, welche die Institutionen der Gesellschaft mitbestimmen, die Möglichkeit und auch die Pflicht, Rechte umzusetzen . Dieses Handeln können sie zwar aus norma-tiven GrĂŒnden der Überforderung sowie aus pragmatischen GrĂŒnden an den Staat delegieren, es entbindet sie aber insofern nicht von der individuellen Verantwortung, als sie immer BĂŒrger eines betreffenden Staates sind . Als solche tragen sie qua BĂŒrgerstatus – wenn auch kollektiv – Verantwortung fĂŒr staatliches Handeln .

Genau genommen wurde damit aber nur die zweite mögliche Entschul-digung, wonach es nicht an Individuen liege, etwas zu tun, entkrĂ€ftet . So konnte gezeigt werden, dass aufgrund eines pragmatischen und eines norma-tiven Arguments die Pflicht vom Staat ausgefĂŒhrt wird . Die zweite Entschul-digung aber, wonach Individuen (oder auch der Staat) nicht verpflichtet wer-

Das Recht auf Inklusion 243

den sollten, die Inklusion behinderter Menschen umzusetzen, ist damit nicht angetastet . Der Grund ist folgender: Die Entschuldigung wendet sich im Grunde genommen nicht gegen die Frage, ob Individuen oder nicht viel-mehr Staaten oder andere kollektive Agenten TrĂ€ger der Pflichten sind, son-dern gegen die Pflicht als solche . Wie sich im nĂ€chsten Schritt (Abschnitt 7 .3) noch zeigen wird, können tatsĂ€chlich bestimmte GĂŒter, die mit Inklusion in Verbindung stehen, beispielsweise Freundschaften, nicht ĂŒber Rechte abge-sichert werden .

Gegnern, die darauf hinweisen, dass sich diese GĂŒter, unter ihnen soziale GefĂŒhle wie Empathie, SolidaritĂ€t oder Liebe, eben gerade nicht verpflichten lassen, ist daher zuzustimmen . Im Folgenden wird sich zeigen, wie sich dies auf das Recht nach Inklusion auswirkt .

7 .3 Das Interesse an Nicht-Exklusion und an Inklusion

Die Inhalte des moralischen Rechts auf Inklusion speisen sich aus der Bedeu-tung der Interessen nach Inklusion respektive deren Beitrag fĂŒr ein gutes menschliches Leben . Dabei können zwei Ebenen von Interessen unterschie-den werden . Die erste Ebene ist diejenige von BedĂŒrfnissen . Die Nichtbe-friedigung derselben ist fĂŒr alle Menschen mit Leiden verbunden . Die zwei-te Ebene kennzeichnet PlĂ€ne und Ziele nach Inklusion . Diese Interessen widerspiegeln den Charakter und die spezifischen Eigenheiten von Men-schen und sind daher auch bei jedem Menschen an andere partikulare Le-bensbereiche respektive spezifischen Ausgestaltungen derselben gebunden . Leiden misst sich hier einerseits qualitativ an der Frage, wie wichtig und bedeutsam ein spezifischer Plan oder ein Ziel fĂŒr ein bestimmtes Individuum ist . Andererseits misst es sich daran, aus wie vielen partikularen Lebensberei-chen jemand ausgeschlossen ist . Das ist der quantitative Aspekt .13

Menschen können bezĂŒglich Inklusion grundsĂ€tzlich zwei Arten von In-teressen haben: erstens ein Interesse, aus einem bestimmten Bereich, vom Genuss eines bestimmten Gutes oder einer bestimmten Beziehung nicht ex-kludiert zu sein . Dies ist mit anderen Worten ein Interesse an Nicht-Exklusion . Zweitens gibt es ein Interesse, in bestimmte Lebensbereiche, Beziehungen

13 Menschen mit Behinderung, so zeigen empirische Ergebnisse und Erfahrungen, sind oft-mals in beiderlei Hinsicht Risiken ausgesetzt: Ihre sozialen Netzwerke sind (quantitativ) kleiner und (qualitativ) Àrmer (vgl . Seifert, Fornefeld und Koenig 2001) .

244 Inklusion und Gerechtigkeit

oder den Genuss bestimmter GĂŒter inkludiert zu sein . Dies ist ein Interesse an Inklusion . Beide Arten von Interessen können sowohl mit BedĂŒrfnissen wie auch mit PlĂ€nen und Zielen von Menschen einhergehen .

Im Folgenden möchte ich untersuchen, ob es ein Recht gibt, das beide Interessen abdeckt . Da das erste Interesse an Nicht-Exklusion zweifelsohne weniger anspruchsvoll ist, soll als erstes die Frage thematisiert werden, ob dieses Interesse durch ein Recht geschĂŒtzt werden kann .

7 .3 .1 Das Recht auf Nicht-Diskriminierung

Die Forderung, nicht ungerechtfertigterweise exkludiert zu werden, meint das Verlangen, nicht aufgrund eines Merkmals horizontaler Ungleichheit – zu denen neben einer SchĂ€digung auch Alter, ethnische Zugehörigkeit oder sexuelle Orientierung zĂ€hlen können – von bestimmten Lebensbereichen oder dem Erwerb bestimmter GĂŒter ausgeschlossen oder darin benachteiligt zu sein .14

Der Begriff, das Konzept und die Folgen von Diskriminierung

Diskriminierung bezeichnet einen Unterschied in einer Behandlung oder einer Verteilung von GĂŒtern zwischen Menschen, der ungerechtfertigt ist .15 Dieser Unterschied ist deshalb ungerechtfertigt, weil moralisch unbedeuten-

14 Bezogen auf Behinderung ist die Forderung, dass niemand aufgrund seiner Behinderung diskriminiert werden darf, mittlerweile anerkannter Teil von Anti-Diskriminierungsgeset-zen vieler Staaten, beispielsweise dem American with Disabilities Act (ADA), dem Diskri-minierungsverbot in der Schweizerischen Bundesverfassung (Art . 8, Abs . 2), des Benach-teiligungsverbots in der Deutschen Bundesverfassung (Art . 3, Abs . 3), des Antidis- kriminierungsrechts im EuropĂ€ischen Recht (Art . 13) sowie diverser ergĂ€nzender Gleich- stellungsgesetze, beispielsweise dem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (BBG, Deutschland), dem Bundesgesetz ĂŒber die Gleichstellung von Menschen mit Be-hinderungen (BGStG, Österreich) oder dem Bundesgesetz ĂŒber die Beseitigung von Be-nachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG, Schweiz) . Antidiskriminie-rungsgebote und Gleichstellungsgebote werden zwar oft synonym verwendet, unterscheiden sich aber in einem zentralen Punkt . Erstere beziehen sich nĂ€mlich auf einen zivilrechtli-chen Kontext und regeln damit das VerhĂ€ltnis von BĂŒrgern untereinander . Letztere sind Gesetze des öffentlichen (Verwaltungs-)Rechts und regeln das VerhĂ€ltnis zwischen BĂŒr-gern und Staat .

15 Dies ist ein normativer Diskriminierungsbegriff . In einer neutralen, deskriptiven Verwen-dungsweise meint Diskriminierung Unterscheidung .

Das Recht auf Inklusion 245

de Verschiedenheiten zwischen Menschen als Grund fĂŒr eine ungleiche oder herablassende Behandlung von Menschen sowie die ungleiche Verteilung von Lasten und Vorteilen angegeben wird (vgl . Boshammer 2008, S . 323) .16 Solche Unterschiede können beispielsweise das Merkmal Behinderung be-treffen, aber auch andere Faktoren horizontaler Ungleichheit, wie ethnische Zugehörigkeit, Herkunft, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder sexuelle Orientierung .17 Da diese Merkmale als GrĂŒnde fĂŒr eine ungleiche und schlechtere Behandlung von Menschen herangezogen werden, ist damit – implizit oder explizit – eine Abwertung dieser Merkmale verbunden .18

Abwertungen können sich in sozialen Vorurteilen, Verunglimpfungen, Ungleichbehandlungen, Benachteiligungen, aber auch Exklusion oder Sepa-ration zeigen . Die negative Beurteilung oder Behandlung von Menschen, die mit der Diskriminierung verbunden ist, kann dabei sowohl als Beweggrund wie auch zur nachtrÀglichen Rechtfertigung derselben dienen . Diskriminie-rung hat somit die Benachteiligung, die Herabsetzung oder die soziale Ex-klusion der Betroffenen zum Ziel und zur Folge .

Direkte und indirekte Diskriminierung

Beim PhĂ€nomen der Diskriminierung kann man direkte und indirekte Dis-kriminierung unterscheiden . Erstere ist auf ein beabsichtigtes Ziel einer un-gleichen und herablassenden Behandlung von Menschen sowie einer unglei-chen Verteilung von GĂŒtern gerichtet . Bei indirekter Diskriminierung ist dies zwar nicht als Ziel intendiert . Sie ergibt sich aber als Nebeneffekt .

Eine direkte Diskriminierung, bei der die Abwertung direkt intendiert und unmittelbar mit den Merkmalen von Menschen verbunden ist, ist mit einer Moral der gleichen Achtung, welche heutige Demokratien auszeichnet, nicht mehr zu vereinbaren (vgl . Gosepath 2004, S . 128ff .) . In modernen, li-beralen und demokratischen Gesellschaften geht man nĂ€mlich davon aus, dass Menschen moralisch Gleiche sind, dass es, mit anderen Worten, keine

16 Diese Unterschiede können auch auf einen bestimmten Kontext bezogen irrelevant sein . So ist eine Paraplegie beispielsweise im Kontext der Arbeit eines Telefonisten nicht bedeut-sam .

17 Diese Diskriminierungsmerkmale werden beispielsweise vom European Anti-Discrimina-tion Council (EuropÀischer Diskriminierungsrat) EAC genannt (siehe www .eacih .org) .

18 Der Grund fĂŒr die Diskriminierung muss in diesem Merkmal liegen (beispielsweise dem Geschlecht der Person) und nicht in irgendeinem Faktor, der zufĂ€llig mit dem relevanten Merkmal verbunden ist, wie zum Beispiel KörpergrĂ¶ĂŸe oder -stĂ€rke (vgl . Warren 1993) .

246 Inklusion und Gerechtigkeit

vorausgehenden Wertunterscheidungen zwischen Menschen geben darf . Und diese Annahme moralischer Gleichheit verbietet eine Abwertung von Menschen aufgrund bestimmter Merkmale horizontaler Ungleichheit wie beispielsweise Rasse, Geschlecht oder SchÀdigung .

Als indirekte Diskriminierung bezeichnet man demgegenĂŒber Handlun-gen, Haltungen und Praktiken, die aufgrund ihrer Folgen fĂŒr Menschen benachteiligend sind, obgleich das Merkmal selbst nicht als Grund fĂŒr die Diskriminierung angefĂŒhrt wird (vgl . Warren 1993) . Beispielsweise sind Rollstuhlfahrer, welche Schalter in öffentlichen GebĂ€uden nicht erreichen können, indirekt diskriminiert . Die Diskriminierung bedeutet in dem Fall nicht direkt eine Abwertung ihrer körperlichen SchĂ€digung, aber eine indi-rekte durch die nicht zu ĂŒberwindenden Treppenstufen . Faktisch sind daher Rollstuhlfahrer, welche vom Zugang zu öffentlichen GebĂ€uden oder wichti-gen Dienstleistungen ausgeschlossen sind, indirekt diskriminiert, selbst wenn kein direkt intendierter Ausschluss und damit keine direkte Diskriminie-rung festzustellen sind .

Die indirekte Form von Diskriminierung wird nicht deshalb indirekt oder sekundĂ€r genannt, weil sie weniger verbreitet oder weniger schĂ€dlich wĂ€re, sondern weil sie erstens verdeckt (indirekt) ist und sich zweitens para-sitĂ€r zur direkten Diskriminierung verhĂ€lt . Letzteres bedeutet, dass die von ihr geformten Ungerechtigkeiten sich meist auf eine direkte Diskriminie-rung zurĂŒckfĂŒhren lassen (vgl . Boshammer 2008) . Sie sind unfair, weil die sozialen oder gesellschaftlichen UmstĂ€nde, welche die diskriminierenden Auswirkungen der Verfahrensweisen erklĂ€ren, selbst moralisch unannehm-bar oder auf moralisch unannehmbare Verfahrensweisen zurĂŒckzufĂŒhren sind . Diese Auswirkungen verstĂ€rken bereits bestehende soziale Ungerech-tigkeiten . Zudem tendieren Verfahrensweisen hĂ€ufig dazu, jene UmstĂ€nde, die diskriminierenden Auswirkungen zugrunde liegen, zu verstĂ€rken und zu zementieren . Sie erzeugen dadurch einen Teufelskreis (vgl . Warren 1993) .19

19 Damit geraten strukturelle und historische Bedingungsfaktoren in den Fokus der Überle-gungen . Diskriminierung wird damit auch zu einem institutionellen PhĂ€nomen, das sich in sozialen Hierarchien, fehlenden Ressourcen und Strukturen zeigen kann und damit auch unabhĂ€ngig von subjektiven Einstellungen und individuellem Verhalten existiert . Diese indirekte und auch strukturelle Diskriminierung weist auf die Institutionen der Gesellschaft, welche – auch historisch gesehen – den Interessen bestimmter Gruppen der Gesellschaft, beispielsweise Menschen mit Behinderung, nicht angepasst sind . Insofern soziale Strukturen miteinander verknĂŒpft sind, kommt es daher auch immer wieder zu so genannten Nebeneffekten, zu Auswirkungen direkter Diskriminierung in einem Bereich der Gesellschaft, beispielsweise im Bildungsbereich .

Das Recht auf Inklusion 247

Die Bedeutung von Relevanzkriterien

Welche Ungleichbehandlungen sind nun aber diskriminierend? Jedes Dis-kriminierungsurteil bezieht sich mindestens implizit auf Relevanzkriterien, an denen sich die Rechtfertigung der jeweiligen (Un-)gleichbehandlung misst . Diese Relevanzkriterien sind nun aber umstritten . ZunĂ€chst einmal können es sachliche Kriterien sein . Diskriminierende Kriterien wĂ€ren dem-zufolge Kriterien, die nichts zur Sache beitragen . Nun kann man sich aber leicht Situationen vorstellen, in denen die entsprechenden Merkmale durch-aus sachlich relevant sind, beispielsweise wenn ein Reiseveranstalter befĂŒrch-ten muss, dass nicht behinderte Kunden ausbleiben, wenn er behinderte Menschen an seinen Reisen teilnehmen lĂ€sst . Die Ablehnung eines behin-derten Reisegasts wĂ€re demnach nicht diskriminierend . Dennoch wĂŒrden die meisten Menschen eine solche Behandlung gerade deshalb als diskrimi-nierend beurteilen, weil die Folgen fĂŒr das betroffene Individuum schlimm sein können .20

Das Dilemma lĂ€sst sich eventuell lösen, wenn man die fĂŒr einen Diskri-minierungsvorgang notwendigen Relevanzkriterien nicht deskriptiv, sondern normativ versteht (vgl . Boshammer 2008, S . 237) . Relevant wĂ€ren demnach Eigenschaften, die vor dem Hintergrund der Annahme moralischer Gleich-heit nicht relevant sein sollten . Es ist allerdings eine offene Frage, ob die Behinderung eines Gastes ein solches irrelevantes Kriterium darstellt oder nicht . Immerhin können andere GĂ€ste aussagen, ihr Wohlbefinden sei ange-sichts eines Menschen mit Behinderung in relevanter Hinsicht gestört gewe-sen, beispielsweise wenn dieser des Öfteren laut geschrien hatte .

Die Frage weist darauf hin, dass nach wie vor umstritten sein kann, um welche Merkmale es sich genau handeln soll . Dies ist selbst dann der Fall, wenn man die Kriterien normativ und nicht deskriptiv versteht . Ein Kon-sens besteht aber darin, dass es Eigenschaften betrifft, die vom Individuum

20 Hierzu gibt es beispielsweise das sogenannte Flensburger Urteil von 1992 . In diesem wurde einem Reisenden Schadenersatz zuerkannt, da sich in dem von ihm gebuchten Hotel Menschen mit Behinderung als GĂ€ste befanden, durch welche er sich gestört sah . Das Gericht sah es damals als erwiesen an, dass die durch die Menschen mit Behinderung hervorgerufene â€șStörungâ€č einen Reisemangel darstellte (vgl . Welti 2005, S . 730) . Dieses Rechtsurteil hatte weitreichende Folgen fĂŒr die betroffenen Menschen, selbst wenn es nicht in direkter, sondern nur in mittelbarer Weise ĂŒber die Teilnahmechancen behinder-ter Menschen entschied . Indirekt und mittelbar war es, weil Toleranz und RĂŒcksichtnah-me, die ja eigentlich wechselseitig sind, einseitig von den behinderten Menschen gefordert wurden .

248 Inklusion und Gerechtigkeit

nicht freiwillig gewĂ€hlt wurden und/oder von ihm nicht abgelegt werden können . Diskriminierung wĂ€re somit eine (sachlich) ungerechtfertigte Un-gleichbehandlung von Personen aufgrund von Eigenschaften, fĂŒr die der Einzelne entweder nichts kann oder die er oder sie nur bedingt Ă€ndern kann . Genau dies wĂŒrde fĂŒr eine Behinderung respektive den Aspekt einer SchĂ€di-gung wie auch bestimmter BeeintrĂ€chtigungen, die sich in ungewöhnlichen Formen der Kommunikation Ă€ußern können, gelten .

Nun kann der Einzelne aber fĂŒr Intelligenz, Begabung oder AttraktivitĂ€t bis zu einem gewissen Grad auch nichts . Dennoch wird eine Ungleichbe-handlung von Menschen aus diesen GrĂŒnden in der Regel nicht als diskrimi-nierend bezeichnet .21 Diskriminierungsmerkmale mĂŒssen also durch ein weiteres Attribut ergĂ€nzt werden . In einer Konzeption, die an Überlegungen anknĂŒpft, wonach behinderte Menschen eine sozial benachteiligte Gruppe darstellen, werden die oben genannte FĂ€lle wie Intelligenz, Begabung oder AttraktivitĂ€t ausgeschlossen . Demzufolge richtet sich Diskriminierung zwar gegen Individuen, aber nur weil und insofern sie Mitglieder einer sozial stig-matisierten und benachteiligten Gruppe sind, beispielsweise der â€șBehinder-tenâ€č . Entscheidend ist also nicht in erster Linie eine unfreiwillige Eigenschaft als solche, sondern die Zuschreibung im Zuge der Gruppenzugehörigkeit . FĂŒr den Fall von Behinderung wĂŒrde dies beispielsweise bedeuten, dass eine Zuschreibung mangelnder Begabung oder Intelligenz in Folge einer Grup-penzugehörigkeit stattfinden wĂŒrde . Die abwertende, schlechtere Behand-lung behinderter GĂ€ste in einem Hotel wĂ€re demnach unter anderem des-halb eine Diskriminierung, weil sie ihnen, ĂŒberdurchschnittlich oft und stark, als Mitglieder einer sozial benachteiligten Gruppe zukommt . Folgt dieser Zuschreibung eine Benachteiligung, beispielsweise in der Verteilung von Ressourcen, spricht man von Allokation qua Askription (vgl . Boshammer 2008, S . 237) .

Diskriminierung ist, wie bereits angedeutet, sowohl aufgrund des Vor-gangs als auch aufgrund der Folgen fĂŒr das Individuum moralisch schlecht . Genau dies hat die Differenz zwischen primĂ€rer und sekundĂ€rer Diskrimi-nierung gekennzeichnet . Erstens schĂ€digt Diskriminierung Individuen und bestimmte Gruppen selbst . Sie beeintrĂ€chtigt zweitens aber auch das Zusam-menleben von Menschen in der Gesellschaft nachhaltig negativ . Auf der in-

21 Vielmehr wĂŒrden wir die Tatsache, dass einige Menschen attraktiver oder intelligenter sind als andere in der Regel als Lotterie der Natur bezeichnen, die zwar im Einzelfall durchaus negative Folgen fĂŒr das Leben von Individuen haben kann, ohne weitere Zusatz-annahmen aber nicht per se ein Fall sozialer Gerechtigkeit darstellt, da sie nicht auf das absichtsvolle Handeln von Menschen zurĂŒckgefĂŒhrt werden kann .

Das Recht auf Inklusion 249

dividuellen Ebene werden Menschen die GĂŒter – beispielsweise Rechte, Bildungschancen, ArbeitsplĂ€tze, aber auch soziale WertschĂ€tzung – wegge-nommen oder vorenthalten, die sie benötigen wĂŒrden, um ein gutes Leben zu fĂŒhren .22

Ob diese Argumentation einleuchtend ist, misst sich allerdings daran, ob dargestellt werden kann, dass die (erwarteten) Folgen von Diskriminierung auch tatsĂ€chlich substanzielles Leiden auslösen . Man muss daher zeigen kön-nen, dass die Folgen erstens eintreten und dass sie zweitens eine Folge der Diskriminierung sind . Bezogen auf das Hotelbeispiel wĂŒrde das bedeuten, dass aufgezeigt werden muss, dass die GĂ€ste mit Behinderung tatsĂ€chlich in substanziellem Sinn leiden und dass diese Reduktion des Wohlergehens im Vorgang einer Diskriminierung durch andere GĂ€ste begrĂŒndet ist .

Nun weist eine Argumentation, die ĂŒber die Folgenfokussierung von Diskriminierung hinausgeht, darauf hin, dass beim Vorgang der Diskrimi-nierung bereits grundlegende moralische Prinzipien verletzt werden . Aus diesem Grund, unabhĂ€ngig von den Folgen, ist Diskriminierung schlecht, wie Paul Woodruff (1976) argumentiert . Jede Diskriminierung bedeutet dem-nach eine Missachtung der betroffenen Menschen, insofern sie deren Be-handlung von den Vorurteilen anderer Menschen abhĂ€ngig macht . Der dis-kriminierte Mensch wird nicht als Individuum wahrgenommen, sondern auf ein bestimmtes Merkmal reduziert, das dazu auch noch die Grundlage fĂŒr ein Unwert-Urteil bildet . Ein solcher Vorgang aber ist mit der gleichen WĂŒr-de aller Menschen und der Achtung vor dieser WĂŒrde, auf die sich liberale, demokratische Staaten verpflichtet haben, nicht zu vereinbaren . Auch wer-den die Rechte jedes Menschen auf gleiche BerĂŒcksichtigung seiner Interes-sen sowie seiner Behandlung als Gleicher verletzt . Was aber ist damit gemeint und wie ist der Bezug zu Behinderung zu sehen?

Die Forderung moralischer Gleichheit

Das Benachteiligungsverbot und das Diskriminierungsverbot ergeben sich aus dem Gebot der moralischen Gleichheit aller Menschen . Dies meint nun nicht, dass Menschen deskriptiv gleich wĂ€ren . Das wĂŒrde unserer alltĂ€gli-chen Erfahrung widersprechen . Menschen unterscheiden sich unserer Wahr-

22 Diskriminierung ist daher weit ĂŒber das Ergebnis von Verteilungsfragen hinaus relevant, wie Young (2002) zeigt . Auch Fragen von Macht in Prozessen der Verteilung oder die Frage, wer ĂŒberhaupt Subjekt der Verteilung bestimmter GĂŒter ist, sind zentral .

250 Inklusion und Gerechtigkeit

nehmung nach hinsichtlich fast jeden Merkmals, das man vergleichen kann: hinsichtlich des Aussehens, der Sprache, der Ziele und PlĂ€ne, des Geschlechts, der NationalitĂ€t und so weiter . DarĂŒber hinaus wollen Menschen auch nicht gleich sein wie andere, sie legen im Gegenteil viel Wert darauf, sich von an-deren zu unterscheiden und in ihrer Einzigartigkeit, eben ihrer Differenz, wahrgenommen zu werden .

Die Auffassung, dass alle Menschen gleich sind, ist aber nicht deskriptiv, sondern normativ zu verstehen (vgl . Williams 1994) . Sie besagt im Kern, dass alle Menschen gleichermaßen Menschen sind . Dies ist nun zwar auf den ersten Blick tautologisch, aber nicht banal . BezĂŒglich Inklusion bedeutet es beispielsweise, dass Menschen jenseits spezifischer PlĂ€ne und Ziele auch Be-dĂŒrfnisse haben, mit anderen, ihnen nahe stehenden Menschen zusammen zu sein . Und es bedeutet auch, dass sie auf ein soziales Zusammenleben mit anderen Menschen und ein Leben in menschlicher Gemeinschaft konstitutiv angewiesen sind . Die normative Aussage, die sich auf eine gemeinsame Be-dĂŒrfnisstruktur des Menschen bezieht, kennzeichnet einen Bereich universa-listisch geteilter Interessen, die nicht angetastet werden dĂŒrfen, möchte man schweres menschliches Leiden verhindern .

Umkehrung der Beweislast

Angesichts der Folgen von Diskriminierung fĂŒr die Betroffenen und der Tat-sache, dass bei einer Diskriminierung bereits wichtige moralische Prinzipien, insbesondere die moralische Gleichheit aller Menschen, verletzt werden, wird Diskriminierung begrĂŒndungsbedĂŒrftig . Damit hat sich die Beweislast umgekehrt . Nicht mehr diejenigen, die diskriminiert werden, mĂŒssen auf-zeigen, dass sie unberechtigterweise ungleich behandelt werden, sondern die Diskriminierer mĂŒssen belegen, dass sie jemanden begrĂŒndet ungleich be-handeln . FĂŒr den Fall behinderter Menschen bedeutet dies: Nicht mehr Menschen mit Behinderung tragen die BegrĂŒndungslast des Nachweises von Diskriminierung . Vielmehr mĂŒssen Diskriminierer zeigen, dass die Unter-schiede in der Behandlung behinderter Menschen gerechtfertigt sind . Das heißt mit anderen Worten, dass eine Person oder eine Institution zeigen kön-nen muss, dass er oder sie die Interessen einer behinderten Person nach Nicht-Exklusion gerechtfertigterweise ungleich berĂŒcksichtigt .

Von dieser Warte aus lÀsst sich auch der Fall der Weigerung eines Hotels, einen Gast mit Behinderung aufzunehmen, anders beurteilen . Dies erstens,

Das Recht auf Inklusion 251

indem man auf die Folgen fĂŒr das Individuum hinweist . Diese können unter bestimmten UmstĂ€nden gravierend sein und mit schwerem Leiden, bei-spielsweise in Bezug auf die Selbstachtung, einhergehen . Schweres Leiden muss zweifelsohne aus GrĂŒnden der Gerechtigkeit vermieden werden . Zwei-tens, indem man auf den Vorgang blickt, der bereits von einer inhĂ€renten Ungleichbehandlung und Missachtung gekennzeichnet ist . Drittens kann man einwenden, dass es sich im Falle der behinderten HotelgĂ€ste nicht um beabsichtigte Ruhestörung gehandelt hat, an der sich andere HotelgĂ€ste be-rechtigterweise stören könnten, sondern um bestimmte Formen von Kom-munikation, die es zumindest zu tolerieren gilt . Ein Hotelbesitzer könnte sich angesichts dieser drei GrĂŒnde höchstens mit der BegrĂŒndung von der Pflicht zur Nicht-Diskriminierung entbinden, dass es gar nicht seine Pflicht sei, Interessen nach Nicht-Exklusion bei allen Menschen gleich zu berĂŒcksich-tigen . Dies deshalb, weil er als privates Unternehmen, Ă€hnlich einer Gemein-schaft, exklusive Zugangskriterien fĂŒr seinen Hotelbetrieb frei festlegen darf .

In Tat und Wahrheit ist das genannte Hotelbeispiel ein schwieriger Fall, der das Dilemma verkörpert, das ich bereits mehrfach angesprochen habe . Die hohen Interessen und potenziell schĂ€digenden Folgen fĂŒr Individuen stehen der Freiwilligkeit, aber auch der potenziellen Überforderung von In-dividuen (wie auch kleineren Korporationen wie Hotels) gegenĂŒber . Das Dilemma kann nur gelöst werden, wenn sich Hotels auf vertragsbasierter Basis, möglicherweise angeregt durch den Staat, freiwillig wechselseitig zur Nicht-Diskriminierung verpflichten und auch Ausnahmen von der Pflicht vertraglich festlegen . UneingeschrĂ€nkt, da keine möglichen Entschuldigun-gen legitim sind, gelten Nicht-Diskriminierungsrechte daher nur fĂŒr die ge-sellschaftliche SphĂ€re .

Die Grenze von Nicht-Diskriminierung: Vertikale Ungleichheit

Die Frage stellt sich nun an dieser Stelle, ob das genĂŒgt . Deckt das Recht auf Nicht-Diskriminierung beide Interessen ab, um die es im vorliegenden Fall geht: das Interesse auf Nicht-Exklusion wie das Interesse auf Inklusion? Es ist naheliegend anzunehmen, dass dem nicht so ist .

Erstens deckt das Recht auf Nicht-Diskriminierung bereits das Interesse nach Nicht-Exklusion nicht in jeder Auslegung vollstÀndig ab . Genau ge-nommen deckt es nur diejenigen FÀlle ab, in denen jemand aufgrund eines

252 Inklusion und Gerechtigkeit

Faktors horizontaler Ungleichheit ungerechtfertigterweise aus einem gesell-schaftlichen Kontext oder dem Genuss gesellschaftlicher GĂŒter ausgeschlos-sen ist . Mit dem Recht auf Nicht-Diskriminierung ist das Gebot der Gleichbe handlung verbunden . Damit wird verhindert, dass Menschen mit Behinderung alleine aufgrund ihrer SchĂ€digung anderen BĂŒrgern gegen-ĂŒber schlechter gestellt sind .

Das Recht auf Nichtdiskriminierung kann aber die FĂ€lle nicht abdecken, in denen jemand aus einem bestimmten Kontext aufgrund intrinsischer Fak-toren ausgeschlossen bleibt, beispielsweise, weil seine SchĂ€digung und die sich daraus ergebenden LebensbeeintrĂ€chtigungen so groß sind, dass jemand unter allen möglichen Umweltbedingungen aus vielen Lebenskontexten aus-geschlossen bleibt . DarĂŒber hinaus, und fĂŒr Fragen der Gerechtigkeit un-gleich brisanter, sind auch all jene FĂ€lle nicht abgedeckt, in denen eine B eeintrĂ€chtigung zu vertikaler Ungleichheit und damit verringerten Teilha-bechancen in der Gesellschaft, beispielsweise in Bereichen der Bildung, Ar-beit oder Freizeit, fĂŒhrt . Der Mangel an GĂŒtern, wie sie Bildung, Arbeit oder Freizeit darstellen, ist aber nicht auf eine ungleiche Behandlung zurĂŒckzu-fĂŒhren . Vielmehr kann sie mit einer gleichen Behandlung gerade legitimiert werden . Was beispielsweise querschnittgelĂ€hmte Menschen in Kamerun brauchen sind nicht gleich viele, sondern mehr und vor allem andere GĂŒter als andere BĂŒrger, beispielsweise einen Rollstuhl . Der Hinweis darauf, sie hĂ€tten ja gleich viele GĂŒter erhalten, kann daher ihre soziale Lage verschlim-mern . Dies ist unter anderem ein Aspekt, auf den der Capability-Ansatz hinweist .

Zwar ist es möglich, diese FĂ€lle als Diskriminierung zu beschreiben . Es ist aber aus zwei GrĂŒnden ĂŒberzeugender, das nicht zu tun . Der erste Grund ist pragmatischer Art und besagt, dass man im Falle einer Ausweitung auf verti-kale Ungleichheit sehr viele FĂ€lle als DiskriminierungsfĂ€lle beschreiben muss . Unter ihnen sind auch viele FĂ€lle, die nichts – im engeren Sinn – mit Diskri-minierung zu tun haben . So ist beispielsweise jemand, der aufgrund einer Umweltkatastrophe mittellos und unterernĂ€hrt ist, nicht zwangslĂ€ufig dis-kriminiert . Er ist es höchstens dann, wenn er darlegen kann, dass er auf-grund bestimmter Faktoren horizontaler Ungleichheit (beispielsweise, weil er eine SchĂ€digung hat) von der nach der Hungersnot einsetzenden Nah-rungsmittelzufuhr ausgeschlossen wurde . Das Faktum, mittellos und unter-nĂ€hrt zu sein, ist selbst aber kein Resultat vorgĂ€ngiger Diskriminierung, auch wenn die Folgen dieser Umweltkatastrophe fĂŒr das Individuum schwierig und mit Leiden verbunden sind . Alle leidvollen Folgen fĂŒr das Individuum

Das Recht auf Inklusion 253

als Diskriminierung zu bezeichnen, wĂŒrde den Diskriminierungsbegriff aber ĂŒber GebĂŒhr strapazieren und ihn in der Folge verflachen lassen .

Der zweite Grund ist ein normativer und weist bereits auf das Interesse nach Inklusion . Vielfach liegt der Grund, weshalb jemand aus einem be-stimmten Lebensbereich ausgeschlossen ist, in Faktoren vertikaler Ungleich-heit, beispielsweise Armut, mangelnder Bildung oder fehlender Arbeit, oftmals auch in Verbindung mit Faktoren horizontaler Ungleichheit, bei-spielsweise einer SchĂ€digung . Die Forderung, die sich aus dieser Benachtei-ligung, die zum Ausschluss fĂŒhren kann, ergibt, ist aber nicht die nach Nicht-Diskriminierung, sondern die nach Hilfe, UnterstĂŒtzung, externen Ressourcen oder der VerĂ€nderung struktureller Zugangsbedingungen . Diese Forderung ergibt sich auch aus dem Interesse nach Inklusion respektive dem Interesse, in einen bestimmten gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Kontext eingeschlossen zu sein . Insofern sich aus beiden Interessen zu weiten Teilen dieselbe Forderung ergibt, deutet sich ein relativ großer Schnittbe-reich beider Interessen an . Mit anderen Worten: Das Interesse nach Nicht-Exklusion ist teilweise deckungsgleich mit dem Interesse nach Inklusion . Der Unterschied der beiden Forderungen liegt einzig darin, dass die eine (nach Nicht-Exklusion) negativ formuliert ist, wĂ€hrend die andere (nach In-klusion) positiv artikuliert ist .

Das Interesse nach einer Behandlung als Differenter

Es lĂ€sst sich weiter zeigen, dass die Interessen nach Inklusion nicht durch das Recht auf Nicht-Diskriminierung abgedeckt werden können . Dies ist unter anderem deshalb nicht möglich, weil Menschen nicht nur ein Interesse nach Gleichbehandlung haben, sondern auch ein Interesse, als Differente behan-delt zu werden . In Bezug auf Inklusion zeigt sich das in den spezifischen PlĂ€nen und Zielen, die Menschen haben, und die sich beispielsweise im Wunsch, einer bestimmten Gemeinschaft anzugehören, ausdrĂŒcken können . Auch in der Bedeutung von Freiheit fĂŒr Inklusion hat sich gezeigt, dass Men-schen in ihrer Differenz wahrgenommen und anerkannt werden wollen, aber auch, dass sie (vor allen Dingen positive) Freiheit zu ihrer Inklusion benöti-gen .

Das Interesse, als Differente wahrgenommen zu werden, kann sich in verschiedenen Formen zeigen: Erstens wollen Menschen als liebenswerte Wesen partikular anerkannt werden . Zweitens möchten sie als Wesen aner-

254 Inklusion und Gerechtigkeit

kannt werden, die soziale WertschÀtzung verdienen und erhalten . Drittens wollen sie substanzielle Freiheiten haben, ihre partikularen PlÀne und Ziele nach Inklusion umsetzen zu können . Alle diese Aspekte entsprechen parti-kularen Interessen . Diese partikularen Interessen beziehen sich nun aber nicht nur auf das Verhalten einzelner, anderer Individuen, auf Organisatio-nen oder Institutionen, sie beziehen sich vielmehr direkt auf Gemeinschaften und Gesellschaften, in denen Inklusion umgesetzt wird .

Im Folgenden möchte ich aufzeigen, wie sich ein solches Recht auf Inklu-sion, ausgehend von den Interessen nach Inklusion, formulieren ließe . Wie sich zeigen wird, deckt dieses Recht die Interessen aber nicht direkt, sondern nur indirekt ab, indem es deren Voraussetzungen sicherstellt .

7 .3 .2 Das Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion

Zwei Formen eines möglichen Rechts auf Inklusion

Das Recht auf Nicht-Diskriminierung deckt die Interessen nach Nicht-Ex-klusion ab, allerdings deckt es nicht bereits auch das Interesse nach Inklusion ab, wie ich vorhin aufgezeigt habe . Die Frage ist daher, ob dies ĂŒber ein po-sitives Recht auf Inklusion möglich ist .

Ein positives Recht auf Inklusion kann zwei Formen annehmen: eine direkte, starke Form oder eine schwÀchere, indirekte Form . Ersteres wÀre ein direktes Recht auf Inklusion, letzteres ein indirektes, das die Voraussetzun-gen oder Ermöglichungsbedingungen von Inklusion umfasst . Indirekt wÀre dieses Recht deshalb, weil es das Interesse nach Inklusion nicht direkt ab-deckt .

Wie sich zeigen wird, kann nur ein indirektes Recht auf Inklusion vertei-digt werden . Die GrĂŒnde dafĂŒr liegen in den Grenzen des Rechts auf Inklu-sion . Daher will ich im Folgenden als erstes auf die Grenzen eingehen . Daran anschließend lĂ€sst sich zeigen, welche Inhalte sich aus dem positiven Recht auf Inklusion ergeben . Abschließende Gedanken widmen sich der Frage, welche Interessen nach Inklusion mit einem Recht geschĂŒtzt werden kön-nen .

Das Recht auf Inklusion 255

Die Grenzen des Rechts auf Inklusion

Die Grenzen des moralischen Rechts auf Nicht-Exklusion und Inklusion liegen in der Struktur und Natur von Gemeinschaften sowie in den sozialen GefĂŒhlen, die mit diesen Formen von Inklusion verbunden sind . Ein Recht auf Inklusion in Gemeinschaften kann insbesondere aus zwei spezifischen, mit der Natur von Gemeinschaften zusammenhĂ€ngenden GrĂŒnden nicht verteidigt werden .

Erstens konfligiert es in offensichtlicher Weise mit der Assoziationsfrei-heit von Gemeinschaften . Die Assoziations-, Versammlungs- oder Vereini-gungsfreiheit erfĂ€hrt nĂ€mlich in liberalen Gesellschaften besonderen Schutz . Demnach sind Gemeinschaften solange frei, ihre Zwecke zu bestimmten, als diese nicht moralisch schlecht sind und/oder jemanden in der AusĂŒbung wichtiger Interessen schĂ€digen .23 Assoziationsfreiheit ist ein negatives Recht . Es schĂŒtzt erstens die Freiheit des Einzelnen, sich mit anderen zusammen zu schließen, und zweitens die Freiheit, auf Zugehörigkeit zu einer Gemein-schaft zu verzichten oder aus ihr auszutreten (vgl . Boshammer 2003, S . 79) . Aus Sicht von Gemeinschaften bezeichnet die Assoziationsfreiheit das Recht, Mitglieder auswĂ€hlen zu können und darĂŒber hinaus in der Wahl der Zwek-ke, abgesehen von einigen Ausnahmen, frei zu sein . Aufgrund des hohen Schutzes von Gemeinschaften durch die Assoziationsfreiheit respektive dem Assoziationsrecht ist es daher nicht möglich, ein direktes Recht auf Inklusion in Gemeinschaften zu verteidigen .

Zweitens sind GefĂŒhle und affektive Einstellungen, welche ein zentrales Element von Gemeinschaften bilden, eben gerade nicht durch Rechte ein-klagbar . Liebe beispielsweise beruht zentralerweise auf der Idee von Freiwil-ligkeit . Niemand kann daher verpflichtet werden, jemanden zu lieben . Hans Reinders’ (2008, S . 42f .) Fazit ist daher zuzustimmen: »[
] it is important to see that rights claims, while necessary, are not sufficient to counteract ex-clusion simply because of the kinds of spaces they can open . In opening up institutional roles and public spaces they are crucial to our capacity as citi-zens . But rights cannot open up spaces of intimacy, which are the kinds of spaces where humans have their need of belonging fulfilled . Put simply, disa-bility rights are not going to make me your friend .« Rechte sind daher, so Reinders, wichtig, sie können aber das nicht abdecken, was aus dem simplen

23 Ausgeschlossen wÀren damit rassistische oder in anderer Weise die moralische IntegritÀt anderer Menschen oder Gruppen von Menschen schÀdigende Gemeinschaften, beispiels-weise nationalsozialistische und rechtsradikale Vereinigungen .

256 Inklusion und Gerechtigkeit

Grund, konstitutiver Teil dieser Einstellung zu sein, freiwillig geleistet wer-den muss . Zu GefĂŒhlen und affektiven Einstellungen wie beispielsweise Freundschaft oder Liebe gehört daher zwingend, dass sie aus â€șfreien StĂŒckenâ€č erbracht werden .

Die Ausrichtung des Rechts auf Inklusion

Ein direktes Recht auf Inklusion stĂ¶ĂŸt daher da an Grenzen, wo es Gemein-schaften betrifft . Es stĂ¶ĂŸt erstens deshalb an Grenzen, weil das Assoziations-recht von Gemeinschaften höher zu bewerten ist als das Recht eines Einzel-nen, zu dieser Gemeinschaft gehören zu können . Zweitens können auch affektive Einstellungen und GefĂŒhle nicht ĂŒber ein Recht abgesichert wer-den .24

Das Assoziationsrecht von Gemeinschaften gilt allerdings nicht fĂŒr die gesellschaftliche Ebene von Inklusion . Hier ist der BĂŒrger qua BĂŒrgerstatus in die Gesellschaft mit ihren Rechten und Pflichten inkludiert, also auch der behinderte Mensch .25 Ausnahmen davon sind nur in EinzelfĂ€llen erlaubt und betreffen nie den gesamten Status als BĂŒrger .26 So ist auch der behinder-te Mensch, egal wie schwer seine BeeintrĂ€chtigung ist, zumindest in libera-len und demokratischen Staaten immer in seiner Rechtsgleichheit, die auf der Annahme moralischer Gleichheit basiert, zu anderen BĂŒrgern geschĂŒtzt . Die Grundrechte, die verfassungsgemĂ€ss allen BĂŒrgern zukommen, gelten daher in demokratischen Staaten auch fĂŒr alle behinderten Menschen (vgl . Welti 2005, S . 556ff .) . DarĂŒber hinaus kommen ihnen aufgrund ihrer spezi-ellen Situation besondere Rechte zu, die erst einmal den Status von morali-schen Rechten haben, wĂ€hrend andere BĂŒrgerrechte auch juridische Rechte

24 DarĂŒber hinaus kann auch auf gesellschaftlicher Ebene nicht das Recht eingeklagt werden, sich ĂŒber den faktischen Genuss von BĂŒrgerrechten auch als BĂŒrger fĂŒhlen zu können .

25 Insbesondere dem Wohlfahrtsstaat kommt dabei die Rolle der gesellschaftlichen Inklusi-onsinstanz zu . Der Wohlfahrtsstaat wirkt in zweierlei Hinsichten inklusiv: Erstens, indem er den Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen sichert, beispielsweise des Bildungswe-sens und des Gesundheitssystems . Damit sichert er das Gleichheitsgebot trotz materieller und wirtschaftlicher Ungleichheit ab . Zweitens garantieren bestimmte Standards materiel-le Teilhabe und sichern dabei einen Mindeststandard an sozialer und materieller Wohl-fahrt (vgl . Mohr 2007) .

26 Ausnahmen zeigen sich allerdings in einem Bereich, den ich nicht diskutieren kann, nĂ€m-lich den Status von FlĂŒchtlingen respektive Asylsuchenden, denen in den LĂ€ndern, in die sie Zuflucht nehmen, nur reduzierte BĂŒrgerrechte zukommen . Beispielsweise kommt ih-nen faktisch kein Stimm- und Wahlrecht zu .

Das Recht auf Inklusion 257

sind . Um die darĂŒber hinausgehenden moralischen Rechte aufgrund der speziellen sozialen Situation geht es im vorliegenden Fall .

Ein spezielles Recht auf Inklusion kann aus zwei GrĂŒnden nur den Be-reich der Voraussetzungen oder Ermöglichungsbedingungen von Inklusion umfassen: Erstens, weil es nicht in der Lage ist, das Interesse nach gemein-schaftlicher Inklusion direkt zu schĂŒtzen . Der normative Grund dafĂŒr liegt, wie ich aufgezeigt habe, in der Assoziationsfreiheit von Gemeinschaften . Da-mit begrenzt sich ein mögliches direktes Recht auf die gesellschaftliche SphĂ€-re . Nun zeigt sich aber, dass wichtige Teile gesellschaftlicher Inklusion bereits ĂŒber allgemeine BĂŒrger-, Freiheits- und soziale Rechte geschĂŒtzt sind . Damit sind sie, jedenfalls sofern sie faktisch in liberalen, demokratischen Gesell-schaften auch geschĂŒtzt sind, nicht gleichzeitig auch spezielle Rechte . In Ka-pitel 7 .1 habe ich aber aufgezeigt, dass sie Letzteres genau sein mĂŒssten, denn sie kommen behinderten Menschen aufgrund ihres sozialen Status zu . Wel-cher Bereich also bleibt noch fĂŒr ein mögliches Recht auf Inklusion? Ein direktes Recht kommt offensichtlich nicht in Frage, weil es fĂŒr den einen (gemeinschaftlichen) Bereich nicht verteidigt werden kann und im zweiten (gesellschaftlichen) Bereich ĂŒber allgemeine Rechte bereits geschĂŒtzt ist . Ein Recht auf Inklusion kann daher – aus pragmatischen und normativen GrĂŒn-den – nur ein indirektes Recht sein . Als solches schĂŒtzt es aber nicht Inklusion direkt, sondern vielmehr die Voraussetzungen oder Ermöglichungsbedingun-gen von Inklusion . Was aber ist mit Voraussetzungen oder Ermöglichungsbe-dingungen fĂŒr Inklusion gemeint?

Ermöglichungsbedingungen fĂŒr Inklusion

Die Voraussetzungen von Inklusion können sich in verschiedenen SphÀren manifestieren: erstens im Individuum selbst, zweitens in seiner personalen Umwelt, drittens in seiner gegenstÀndlichen Umwelt sowie viertens in der sozialen Struktur der Gesellschaft (vgl . Wolff 2009) . Daraus ergeben sich vier verschiedene Betrachtungsebenen, auf denen sich die Inhalte des Rechts zeigen . Ermöglichungsbedingen umfassen erstens persönliche, interne Res-sourcen . Je nach Bereich der Inklusion sowie der Konstituierung dieser Be-reiche (partizipativ bis exklusiv) können diese beispielsweise Intelligenz, KörperstÀrke, Bildung oder psychische StÀrke umfassen . Diese kann man zwar nicht technisch herstellen, man kann sie aber fördern . Zweitens bein-halten sie externe Ressourcen, darunter auch zielgerichtete Ressourcen in

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Form von Renten, RollstĂŒhlen, technischer Infrastruktur, Braille-LesegerĂ€-ten oder HörgerĂ€ten, um einige Beispiele zu nennen .27 Drittens umfassen sie die interpersonale Dimension der Anerkennung . Viertens schließen sie Än-derungen in den Strukturen, beispielsweise Zugang zu GebĂ€uden und Dienst-leistungen, aber auch Änderungen in strukturellen AblĂ€ufen und Zugangs-bedingungen (beispielsweise bei Bildungsinstitutionen) ein (vgl . Laitinen 2003) . Gerade die strukturellen Bedingungen sind je nachdem mit weitge-henden Anpassungen verbunden, da sie, bildlich gesprochen, nicht die Stei-ne sind, mit denen jemand spielen kann, sondern die Spielregeln selbst betref-fen .

Im Folgenden möchte ich die Inhalte eines sozialen Anspruchsrechts auf die Voraussetzungen fĂŒr Inklusion auf verschiedenen Ebenen kurz skizzie-ren . Die Art der Hilfe betrifft das Bereitstellen der adĂ€quaten Hindergrund-bedingungen, die es der Person erlauben, ein selbst gewĂ€hltes, inklusives Leben zu fĂŒhren (vgl . Raz 1986, S . 407) . Eine genaue Auslegung der Inhalte dieser Anspruchsrechte muss sich im Einzelfall zeigen und sowohl gegen ethisch-normative Überlegungen wie auch gegen sozialwissenschaftliche Er-kenntnisse verteidigt werden können . Die AusfĂŒhrungen werden daher not-wendigerweise abstrakt bleiben .

7 .3 .3 Die Inhalte des Rechts auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion

Die persönliche, individuelle Ebene

Auf der persönlichen, individuellen Ebene haben Menschen mit Behinde-rung das Recht auf Hilfe und UnterstĂŒtzung bei der Ausbildung und Aus-ĂŒbung bestimmter, zu Inklusion notwendiger FĂ€higkeiten und Fertigkeiten . Dieses ist auf bestimmte Lebensbereiche bezogen, beispielsweise den Bil-dungs- oder den Arbeitsbereich . Im Fokus wĂ€ren damit fĂŒr einen bestimm-ten Bildungs- oder Arbeitsbereich notwendige FĂ€higkeiten und Fertigkeiten, die es der Person erlauben, sich selbst zu inkludieren . Gerade auch, weil die Situation von Menschen mit Behinderung durch Stigmatisierung, Ausgren-zungserfahrungen und Benachteiligung sozial schwierig ist, ist ein besonde-

27 Zielgerichtete Ressourcen werden deshalb so genannt, weil sie auf einen bestimmten Zweck gerichtet sind . So darf beispielsweise ein Mensch mit Paraplegie den Rollstuhl, den er zur Herstellung seiner MobilitÀt erhÀlt, nicht gegen drei Flaschen Chùteau Mouton-Rothschild Jahrgang 1945 eintauschen .

Das Recht auf Inklusion 259

res Maß an individueller StĂ€rke notwendig . Daher legitimiert sich auch die Forderung, UnterstĂŒtzung bei der psychischen BewĂ€ltigung dieser Folgen zu erhalten .

Gemeinhin wird die Ausbildung dieser FĂ€higkeiten, Fertigkeiten oder GefĂŒhle in Kontexten von Bildung und Ausbildung, beispielsweise der Schu-le, aber auch der Familie, geleistet .28 Diesen Kontexten kommt daher in der Verwirklichung dieses Rechts besondere Bedeutung zu .

Die interpersonale Ebene

Auf der interpersonalen Ebene bedeutet das Recht auf die Voraussetzungen von Inklusion, dass Menschen mit Behinderung als moralisch Gleiche ge-achtet werden . Dies bedingt, dass man sie auf einer interpersonalen wie einer institutionellen Ebene als Personen mit gleichen (Grund-)Rechten betrach-tet, dies gebietet bereits das Recht auf Nicht-Diskriminierung . Das Recht auf Nicht-Diskriminierung Ă€ußert sich im zwischenmenschlichen Umgang nicht in einer Sonderbehandlung behinderter Menschen, es impliziert aber, dass beispielsweise behinderungsspezifische Ausdrucks- und Kommunikati-onsformen als solche wahrgenommen und nicht als RĂŒcksichtslosigkeit an-gesehen werden .

Externe Ressourcen

Die Voraussetzungen gesellschaftlicher wie gemeinschaftlicher Inklusion sind zweifelsohne zu einem großen Teil von der VerfĂŒgbarkeit und Angemes-senheit externer Ressourcen abhĂ€ngig . Daher besteht auch ein Recht auf den Erhalt der fĂŒr Inklusion notwendigen externen Ressourcen . Externe Res-sourcen, die zu den Ermöglichungsbedingungen von Inklusion gehören, umfassen beispielsweise Hilfen pĂ€dagogischer Art, aber auch medizinische Rehabilitation oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (beispielsweise ĂŒber den zweiten Arbeitsmarkt) . DarĂŒber hinaus können auch Hilfen zur Förderung der Begegnung zwischen (behinderten wie nichtbehinderten)

28 Es ist eine offene Frage, ob die Familie aufgrund ihrer gemeinschaftlichen Struktur die Pflicht hat, ihren Angehörigen beim Erlernen und Anwenden dieser FĂ€higkeiten zu helfen oder nicht . Positionen, die dies bejahen, können die existenzielle Bedeutung des Kontexts der Familie fĂŒr das gedeihliche Aufwachsen des Nachwuchses ins Feld fĂŒhren . Die Gefahr einer solchen besonderen Pflicht fĂŒr Angehörige ist aber ebenfalls nicht von der Hand zu weisen . Sie liegt nĂ€mlich, wie bereits erwĂ€hnt, darin, dass Individuen ĂŒberfordert sein können .

260 Inklusion und Gerechtigkeit

Menschen gemeint sein, beispielsweise durch staatliche UnterstĂŒtzung von Freizeitprogrammen, die explizit inklusiv gestaltet werden . Auch Fahrdien-ste, Assistenzen oder spezielle Kommunikationshilfen zĂ€hlen zu den beson-deren Ausgestaltungen externer Ressourcen, welche zu den Ermöglichungs-bedingungen von Inklusion gezĂ€hlt werden können, insofern MobilitĂ€t, ZugĂ€nglichkeit und Kommunikationsmöglichkeiten Voraussetzungen fĂŒr Inklusion sind .

Gesellschaftliche und soziale Strukturen

Die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion umfassen zuletzt auch Ver-Ă€nderungen der gesellschaftlichen und sozialen Strukturen . Fragen der Zu-gĂ€nglichkeit, wie sie sich beispielsweise bezĂŒglich Dienstleistungen, Technik oder bei GebĂ€uden sowie im öffentlichen Verkehr Ă€ußern, betreffen alle Menschen und werden in demokratischen Prozessen entschieden . Menschen mit Behinderung laufen Gefahr, aufgrund ihres Minderheitenstatus demo-kratisch ĂŒbergangen zu werden . Insbesondere laufen sie Gefahr, intern ex-kludiert zu werden und damit zwar formal an Entscheidungsprozessen betei-ligt, de facto aber in ihren Anliegen nicht ernst genommen zu werden . Aus diesem Grund ist ihre gesellschaftliche Inklusion in Form demokratischer Beteiligung gefĂ€hrdet . Die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion in diesem Bereich wĂŒrden daher die explizite substanzielle (im Gegensatz zu bloß formaler) BerĂŒcksichtigung behinderter Menschen in demokratischen Entscheidungsprozessen bedeuten . Dies könnte sich beispielsweise so aus-drĂŒcken, dass sie explizit (im Sinne einer substanziellen und nicht bloß for-malen Chance) zu demokratischen Meinungsbildungsprozessen – beispiels-weise beim Bau neuer Fußballstadien, der Gestaltung neuer Verkehrsmittel sowie bei Reformen des Bildungswesens – eingeladen und angehört wĂŒrden und darĂŒber hinaus substanziell Einfluss auf die Entscheidungsfindung neh-men könnten .

Der Anspruch in der BĂŒrgergesellschaft reprĂ€sentiert zu sein, ist deshalb so wichtig, weil diese das Forum fĂŒr demokratische Willensbildungsprozesse bildet . Daher ist es wichtig, als Gleiche in diesen teilhaben zu können . Da behinderten Menschen oftmals die FĂ€higkeiten oder GĂŒter zur Teilnahme an diesen Prozessen fehlen, mĂŒssen sie in einem ersten Schritt dazu befĂ€higt werden (beispielsweise auch ĂŒber die Bereitstellung von Techniken oder Dol-metschern, aber auch ĂŒber Bildung) . Auch muss fĂŒr diejenigen, welche sich

Das Recht auf Inklusion 261

selbst nicht vertreten können, eine stellvertretende ReprĂ€sentation gewĂ€hr-leistet sein (vgl . Hahn 2008, S . 164) .29

Nochmals: Die Grenzen des Rechts auf Inklusion

Auch wenn die Ermöglichungsbedingungen fĂŒr Inklusion umfassend sind und sich wechselseitig positiv verstĂ€rken können30, zeigt sich zweierlei: Er-stens bleibt die Tatsache bestehen, dass Inklusion nicht direkt und vollstĂ€n-dig ĂŒber spezielle Rechte abgesichert werden kann . Dies hat insbesondere auf individueller wie interpersonaler Ebene Folgen fĂŒr die Ermöglichungsbedin-gungen von Inklusion . Denn eine Versorgung mit Ressourcen wie Bildung stellt selbst nicht sicher, dass die Betroffenen anschließend die individuellen FĂ€higkeiten haben werden, sich selbst zu inkludieren . DarĂŒber hinaus haben die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion keinen Zugriff auf die inter-personal-partikulare Dimension von Inklusion in Form von Anerkennung als Liebe oder (teilweise auch) sozialer WertschĂ€tzung . Anspruch besteht auf interpersonaler Ebene einzig darauf, als moralisch Gleiche geachtet zu wer-den . Ein Problem entsteht nun, weil gerade die partikularen Bereiche wich-tige Aspekte von Inklusion darstellen, die sich bei Menschen vor allen Din-gen in den BedĂŒrfnissen, geliebt und sozial wertgeschĂ€tzt zu werden, widerspiegeln . Es gibt, so lautet das Fazit, aber keine moralische Harmonie zwischen der Sichtweise des Konkreten, Partikularen und des Universellen, Abstrakten, wie sie Rechte darstellen (vgl . Howe 1996, S . 50) .

Zweitens ist die Ebene der gesellschaftlichen und sozialen Strukturen von Inklusion selbst wiederum an gesellschaftliche Entscheidungsprozesse zu-rĂŒck gebunden . Diese Prozesse können zwar ĂŒber gesellschaftliche Mei-

29 Allerdings darf an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, dass jede Stellvertretung mit schwerwiegenden praktischen und normativen Problemen verbunden ist, beispielsweise der Herausforderung, ob und wie ein Stellvertreter die genuinen Interessen des Betroffe-nen vertreten kann . Vgl . hierzu die empirischen Resultate in Rapley (2003) sowie die Debatte zwischen Martha Nussbaum und Michael Bérubé (vgl . Bérubé 2009; Nussbaum 2009) .

30 So fĂŒhrt beispielsweise mehr Selbstbewusstsein zu stabileren interpersonalen Beziehungen . Externe Ressourcen erlauben es Menschen mit Behinderung, sich Lebenskontexte zu su-chen, in denen sich andere Leute aufhalten und Kontaktmöglichkeiten bestehen . Gute Beispiele sind hier Restaurants, Hotels, Kinos oder Theater . Weiter beeinflusst die inter-personale Ebene die strukturelle und gesellschaftliche, indem eine konsequente Nicht-Diskriminierung zu einer StĂ€rkung behinderter Menschen in der öffentlichen Wahrneh-mung fĂŒhrt . Dies erleichtert auch den Umbau und die Anpassung von Institutionen .

262 Inklusion und Gerechtigkeit

nungsbildungsprozesse (in öffentlichen Fernseh- oder Radiostationen, ĂŒber Zeitschriften und Zeitungen) beeinflusst werden, aber nicht direkt zur Pflicht werden, jedenfalls nicht in liberalen Gesellschaften, in denen die Pressefreiheit ein wichtiges Gut ist . Damit ist auch der Beeinflussung der Ermöglichungsbedingungen von Inklusion an diesem Punkt eine Grenze ge-setzt .

7 .4 Ein – vorerst ernĂŒchterndes – Fazit

So wichtig der Erwerb und Genuss eines Rechts auf Inklusion auch ist, das Fazit ist doch gewissermaßen ernĂŒchternd . Denn gerade diejenigen Berei-che, welche von so eminenter Bedeutung fĂŒr das menschliche Leben sind, lassen sich offensichtlich nicht ĂŒber Rechte schĂŒtzen . Diese Grenzen werden trotz des Rechts auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion deut-lich .

Damit aber wird ein Dilemma sichtbar, das Heikki IkĂ€heimo (2003, S . 14) folgendermaßen auf den Punkt bringt: »(
 .) perhaps I am not taken as someone who has anything much to contribute to the shared goals of my family, local community or my nation . Or perhaps I am not taken seriously as a communication partner in this or that question . Or perhaps I feel that there simply is not enough love in my life . I am an equal rights bearer, but still lonely, isolated, socially excluded .« Menschen, die einsam, isoliert oder sozial exkludiert sind, fĂŒhren aber zweifelsohne kein gutes Leben .

BezĂŒglich der Möglichkeit zur Durchsetzung von Inklusion fĂŒr behin-derte Menschen ist auf diese Weise ein fundamentales Problem angedeutet: Die sozialen GefĂŒhle, mit denen Inklusion zentral verbunden ist, beispiels-weise Liebe und Freundschaft, können gerade nicht durch Rechte abgesi-chert werden . Rechte kommen generell an ihre Grenzen, wo die Inklusion in Gemeinschaften zur Debatte steht . Gerade Formen gemeinschaftlicher In-klusion scheinen aber wichtig zu sein fĂŒr das gute Leben von Menschen .

Dass damit ein Problemkreis im Leben vieler behinderter Menschen an-gesprochen ist, zeigen Forschungsergebnisse und auch viele Erfahrungen (vgl . Seifert, Fornefeld und Koenig 2001) . Etliche Menschen mit Behinde-rung sind in ihrem Leben entweder von Familie oder Professionellen, aber wenigen bis gar keinen Freunden, umgeben . Das bedeutet, dass die Bezie-hungen in ihrem Leben entweder nicht freiwillig gewĂ€hlt und eine natĂŒrli-

Das Recht auf Inklusion 263

che Gegebenheit respektive Notwendigkeit sind (wie im Falle der Familie) oder aber (wie im Falle der Professionellen) aus vertraglicher Verpflichtung bestehen . Beide Beziehungsarten sind wichtig fĂŒr das Leben vieler Menschen mit Behinderung . Aber keine kann das absichern, was freiwillig geleistet wird und ebenfalls bedeutsam ist, gerade hinsichtlich gemeinschaftlicher Inklu sion: Freiwillig als Freund gewĂ€hlt zu werden . »Friendship is of particu-lar value precisely because it is constituted by appreciation . Nobody has to be my friend because of some sort of obligation or role responsibility . No one can be blamed for not being my friend; nor can anyone be questioned about not taking an interest in me . Friendship is special because it is freely chosen . Our friends want us as their friend for our own sake . No other relationships, either professional or kinship, can give what friendship gives« (Reinders 2008, S . 5) . Gibt es einen Ausweg aus diesem ernĂŒchternden Fazit respektive dem Problem, das aufgeworfen wird? Gibt es beispielsweise, anders als Hans Reinders denkt, Pflichten, Inklusion umzusetzen?

7 .5 Inklusionstugenden

Onora O’Neill (1996) vertritt einen Ansatz, der zu Pflichten, soziale Tugen-den umzusetzen, fĂŒhrt . Auf ihn werde ich im Folgenden eingehen . Bevor ich dies tue, will ich aber auf einige Argumente eingehen, die fĂŒr Tugenden der Inklusion sprechen, ihrerseits aber noch keine GrĂŒnde dafĂŒr darstellen, von Pflichten Tugenden umzusetzen, zu sprechen .

GrĂŒnde fĂŒr Inklusionstugenden

Der Hauptgrund dafĂŒr, fĂŒr ein moralisches VerhĂ€ltnis zwischen Menschen zu plĂ€dieren, das – unter anderem – von Tugenden der Inklusion getragen ist, liegt in der spezifischen Verletzlichkeit von Menschen . Menschen sind nĂ€mlich, anders als viele Tiere und Pflanzen, vom Zusammenleben und von sozialen Beziehungen mit anderen Menschen abhĂ€ngig . Besonders zu Be-ginn ist das Leben von Menschen durch eine lang anhaltende Hilflosigkeit und AbhĂ€ngigkeit von der Zuwendung und Hilfe anderer Menschen, typi-scherweise den eigenen Eltern, abhĂ€ngig . Bei einigen Menschen, beispiels-

264 Inklusion und Gerechtigkeit

weise solchen mit schwerer Behinderung, bestehen solche Verletzlichkeiten auch ein ganzes Leben lang .

Über diese spezifischen Verletzlichkeiten hinaus sind aber alle Menschen verletzlich hinsichtlich der sozialen BezĂŒge und Beziehungen, in denen sie leben und auf die sie nicht verzichten können oder möchten . Diese sozialen BezĂŒge, in denen Menschen leben, verstĂ€rken oftmals bereits bestehende Verletzlichkeiten . Sie weisen zudem auf das Faktum hin, dass Menschen in vielfĂ€ltiger Weise von den Handlungen oder der Hilfe anderer Menschen abhĂ€ngig sind und dass die Art und Weise, wie diese Hilfen oder Handlun-gen ausgefĂŒhrt werden, sehr unterschiedlich ausfallen kann . Menschen kön-nen ihren Mitmenschen Hilfe bieten und sie mit ihren Handlungen unter-stĂŒtzen . Sie können Empathie zeigen und SolidaritĂ€t bekunden . Aber Menschen können auch verletzen, das Vertrauen anderer missbrauchen, und ihr Verhalten kann von mangelndem Respekt oder Egoismus getragen sein . Insbesondere in den interpersonalen BezĂŒgen von Menschen zueinander zeigt sich die Verletzlichkeit von Menschen ĂŒber ihre eigentliche existenziel-le Dimension hinaus .

Der Ausgangspunkt fĂŒr die Forderung O’Neills (1996), Pflichten zu be-stimmten sozialen Tugenden, wie sie beispielsweise Empathie oder Solidari-tĂ€t darstellen, zu formulieren, setzt an dieser Überlegung an . In der Frage, ob man eine Welt wolle, die von SolidaritĂ€t und Empathie getragen werde oder eine, in der Menschen einander weder Hilfe noch SolidaritĂ€t und UnterstĂŒt-zung zeigten, kommt O’Neill (ebd ., S . 195) zu einem klaren Fazit: So wenig jemand dazu gezwungen werden kann, sich anderen empathisch und in Lie-be zuzuwenden, so wenig kann man wollen, dass die durch GleichgĂŒltigkeit und VernachlĂ€ssigung hervorgerufenen Leiden allgemeines Prinzip werden . Aus diesem Grund sei man verpflichtet, bestimmten selektiven Anderen ggenĂŒber Zuneigung und Sorge entgegenzubringen . Die fĂŒr Inklusion not-wendigen Tugenden wĂ€ren damit verschiedene soziale Tugenden . 31

31 DarĂŒber hinaus nennt O’Neill auch noch AusfĂŒhrungstugenden (executive virtues) wie Mut, Durchhaltevermögen oder Vorsicht sowie supererogatorische Tugenden wie bei-spielsweise heldenhaftes Verhalten (vgl . O’Neill 1996, S . 187ff .) . O’Neill (ebd ., S . 201ff .) nennt drei Konstellationen sozialer Tugenden, die unterschieden werden können: erstens direkt gezeigte Hilfe und Zuwendung, welche direkt gezeigte GleichgĂŒltigkeit und Ver-nachlĂ€ssigung bekĂ€mpft . Eine solche Form von Hilfe und Zuwendung kann sich beispiels-weise in solidarischen Akten zeigen . Zweitens gibt es weniger direkt gezeigte Tugenden, beispielsweise durch UnterstĂŒtzung und Aufrechterhaltung sozialen Vertrauens und sozi-aler Verbindung . Indirekt werden dadurch FĂ€higkeiten fĂŒr Handlung, Kommunikation und Interaktion unterstĂŒtzt . Eine dritte Form ist ebenfalls weniger direkt, indem sie die natĂŒrliche und durch Menschen gemachte Umwelt erhĂ€lt und dadurch erreicht, dass

Das Recht auf Inklusion 265

Die Grenzen von O’Neills Tugendpflichten

Nach Ansicht von Onora O’Neill richten sich die Pflichten, bestimmte sozi-ale Tugenden abzusichern, nun nicht universell an alle Menschen . O’Neill anerkennt, mit anderen Worten, den gewichtigen Einwand potenzieller Überforderung fĂŒr Individuen . Vielmehr seien sie selektiv da einzusetzen, wo sie machbar – das heißt, in einem eigenen Macht- oder Wirkungsbereich liegend – und dem eigenen Wohlergehen nicht abtrĂ€glich seien .

Nun kann aber eingewendet werden, dass genau das diffus ist und, wenn auch schleichend, in die genannte Überforderung fĂŒhren kann . Denn: Wo kann man tatsĂ€chlich handeln? Wo hat der Einzelne Macht, etwas zu bewir-ken? Was sind selektive Andere? Und woran misst sich die Auswahl dieser selektiven Anderen gegenĂŒber Menschen, denen wir nach O’Neill nicht zu Zuneigung und WertschĂ€tzung verpflichtet sind? DarĂŒber, wo die Machtbe-reiche menschlichen Handelns liegen und wer uns nahestehende, selektive Andere ĂŒberhaupt sind, gehen die Meinungen betrĂ€chtlich auseinander .

Das eigentliche Hauptproblem des Ansatzes von O’Neill ist aber nicht die DiffusitĂ€t der genauen Ausgestaltung der inhaltlichen Forderung . Die Krux ist, dass die Formulierung von Pflichten in dieselbe Problematik fĂŒhrt, die ich bereits bei den Grenzen von Rechten nach Inklusion formuliert habe . Viele inhaltlich mögliche Ausformulierungen eines Rechts auf Inklusion, insbesondere da, wo es die Inklusion in Gemeinschaften betrifft, lassen sich nĂ€mlich nicht plausibel vertreten . Dies, weil erstens die Rechte von Gemein-schaften auf Assoziationsfreiheit höher zu gewichten sind als die Interessen Einzelner, zu bestimmten partikularen Gemeinschaften dazuzugehören . Und zweitens wird in vielen FĂ€llen das soziale Gut, das mit dem Recht geschĂŒtzt werden sollte, durch den verpflichtenden Charakter zerstört . Das paradig-matische Beispiel dazu ist Freundschaft . Daher ist auch der Ansatz von O’Neill, trotz seines intuitiven Appeals, abzulehnen .

Man kann, so das Fazit, zwar keine Welt wollen, die durch Ignoranz fĂŒr die GefĂŒhle anderer, mitmenschlicher KĂ€lte oder VernachlĂ€ssigung geprĂ€gt ist . Insofern hat O’Neill Recht . Man kann aber mit guten GrĂŒnden auch keine Welt wollen, in der Menschen anderen gegenĂŒber nur aus dem Grund Empathie, MitgefĂŒhl, SolidaritĂ€t und Freundschaft zeigen, weil sie es mĂŒs-sen . Und diese Konsequenz mĂŒsste sich aus der Theorie des verpflichtenden

menschliches Leben und auch sozialer Zusammenhalt möglich sind . Sie kann sich bei-spielsweise in der Erhaltung und Bewahrung der Umwelt Ă€ußern .

266 Inklusion und Gerechtigkeit

Charakters sozialer Tugenden, wie sie O’Neill vertritt, im Endeffekt ziehen lassen .

Was bleibt, ist die Utopie einer guten Gesellschaft, die O’Neill implizit entwirft: Eine Gesellschaft, in der Tugenden der Inklusion auf freiwilliger oder supererogatorischer Basis umgesetzt werden . Wie eine solche ausschauen könnte, will ich im Folgenden kurz ausfĂŒhren .

7 .6 Die Utopie einer guten Gesellschaft

Die Hoffnung, in einer Welt leben zu können, die (auch) von MitgefĂŒhl, Empathie, SolidaritĂ€t fĂŒr andere Menschen sowie Liebe und Freundschaft getragen ist, ist die Utopie einer guten Gesellschaft .32 Eine solche gute Ge-sellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass allen Menschen, auch allen Men-schen mit Behinderung, der Status moralischer Gleichheit zukommt . In diesem Sinne wĂ€re eine gute Gesellschaft eine egalitĂ€re Gesellschaft . Eine gute Gesellschaft wĂŒrde sich darĂŒber hinaus dadurch auszeichnen, dass die Un-terschiede zwischen Menschen akzeptiert wĂŒrden und Menschen die Frei-heit hĂ€tten, auch ihrer Differenz Ausdruck zu verleihen . Menschen könnten in einer solchen Gesellschaft ihre BedĂŒrfnisse nach Inklusion befriedigen, wie auch ihre PlĂ€ne und Ziele nach Inklusion nach Maßgabe ihrer individu-ellen FĂ€higkeiten verfolgen . Sie wĂŒrden zudem zumindest einige Orte fin-den, in denen sich diese auf gemeinschaftlicher Basis verwirklichen ließen, und in welchen sich AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr zwischenmenschliche Liebe und soziale WertschĂ€tzung finden ließen .

Mit der Utopie einer guten Gesellschaft ist man aber nun an die Grenzen philosophischer BegrĂŒndung gelangt . Die Utopie einer guten Gesellschaft ist in den Überzeugungen der Menschen verankert . Damit ist sie selbst Teil der öffentlichen Debatte und nicht, oder zumindest nicht mehr ausschließlich, Philosophie .

32 Eine solche wird, auch in Bezug auf die Thematik Behinderung, beispielsweise explizit von Jonathan Wolff (2009) und Elizabeth Anderson (1999) vertreten .

Das Recht auf Inklusion 267

7 .7 Fazit

Auch wenn das Fazit ernĂŒchternd ist, muss man sich vor Augen fĂŒhren, dass erstens nicht allen Pflichten auch Rechte entsprechen33 und dass zweitens darĂŒber hinaus auch nicht die gesamte Moral rechtsbasiert ist . Rechte haben Vorrang vor Pflichten, denen keine Rechte entsprechen . Und sie sind dyna-misch, das heißt, sie haben die FĂ€higkeit, neue Pflichten auszulösen, wenn sich bestimmte UmstĂ€nde Ă€ndern (vgl . Raz 1986, S . 186) .

Rechte decken aber nicht den gesamten Bereich dessen ab, was ein gutes Leben ausmacht und schĂŒtzenswert ist . Und sie sind auch nicht in der Lage, zu kompensieren, was an Liebe, Zuwendung oder physischer wie psychi-scher Sicherheit fehlt: »[
] rights to autonomy and privacy, to free expres-sion, to freedom from physical assault and from verbal incivility, to due proc-ess, to equal treatment, to free association, to free religious practice, and so on, will not compensate one for the lack of affection and loving care, or the absence of physical safety, but that shows only that moral rights are not enough for a good life, not that they are unnecessary or undesirable« (Fein-berg 1992, S . 196) . Bei genauem Hinsehen decken Rechte sogar einen klei-nen Teil des Wertes von Inklusion ab . Das macht sie aber weder unnötig noch unwĂŒnschbar .

Geht man davon aus, dass Menschen mit Behinderung einer strukturell benachteiligten Gruppe der Gesellschaft angehören, die von sozialer Un-gleichheit betroffen ist, dann sind die Forderungen, die sich aus dem Recht auf Nicht-Diskriminierung und aus den AnsprĂŒchen auf die Ermöglichungs-bedingungen auf Inklusion ergeben aber weitaus radikaler, als sie auf den ersten Blick vermuten lassen . Denn die genaue Ausgestaltung des Rechts auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion auf individueller Ebene, auf der Ebene externer Ressourcen sowie auf der Ebene der sozialen Strukturen kann so weit gehen, dass ihrerseits der Einwand, die ErfĂŒllung dieses Rechts wĂŒrde zu einer unbotmĂ€ĂŸigen Orientierung nach unten fĂŒhren, erhoben werden kann . Die genaue Ausformulierung, wie die Verteilung vonstattenge-hen soll respektive nach welchen Regeln sie geschehen soll, fĂŒhrt aber im

33 Beispielsweise kann man, in der Nachfolge Kants, auch von unvollkommenen Pflichten sprechen: »Ein spezifisches Merkmal unvollkommener Pflichten ist, dass sie niemandem im Besonderen geschuldet sind und dem Verpflichteten daher einen sehr viel grĂ¶ĂŸeren Entscheidungsspielraum lassen . Sie besagen nicht von sich aus, wem gegenĂŒber ihnen nachzukommen ist . Deshalb entspricht einer unvollkommenen Pflicht kein Anspruchs-recht eines bestimmten Rechtsanspruchshalters« (Gosepath 2007, S . 219) .

268 Inklusion und Gerechtigkeit

Rahmen der Arbeit zu weit .34 Sie ist Teil eines öffentlichen, gesellschaftli-chen Aushandlungsprozesses . Die mit den Ermöglichungsbedingungen fĂŒr Inklusion verbundenen AnsprĂŒche einer angemessenen öffentlichen ReprĂ€-sentation sollen und können gewĂ€hrleisten, dass die Stimme behinderter Menschen und ihrer Angehörigen und Stellvertreter besser gehört, wahrge-nommen und berĂŒcksichtigt wird, als sie es bis anhin tut .

Im Lichte der getĂ€tigten Überlegungen lassen sich nun die FĂ€lle, die ich eingangs der Arbeit genannt hatte, beurteilen . Die fĂŒnf Beispiele, die alle mit der Frage endeten, ob X ein Recht auf Inklusion habe, lassen sich nun inter-pretieren .

Beispiel 1: Sabine und das Gehörloseninternat

Sabine, das MĂ€dchen, das nach einem Besuch den Wunsch Ă€ußert, ein Ge-hörloseninternat fĂŒr MĂ€dchen besuchen zu können, hat ein Recht auf Bil-dung, wie es allen Menschen zukommt . Ob damit ein Recht auf separative Bildung verbunden ist, und ob separate Bildung auch als Inklusion bezeich-net werden kann, misst sich an anderen Überlegungen . Ergibt sich nĂ€mlich bei genauer Analyse des Falles das Fazit, dass eine GefĂ€hrdung des Wohlerge-

34 Die Beurteilung der Frage nach der Reichweite der inhaltlichen Ausgestaltung des Rechts auf die Ermöglichungsbedingungen kann auf verschiedene Arten geschehen und an fol-genden Kriterien orientiert sein: an PrioritĂ€tskriterien (vgl . Parfit 1998), die den am Schlechtestgestellten (gewichtet betrachtet) PrioritĂ€t zuweisen; an Suffizienzkriterien (vgl . Frankfurt 2000; Krebs 2002; Schramme 2006), wonach der zentrale Punkt der ist, dass jemand genug von einem Gut hat; oder an egalitaristischen Kriterien (vgl . Cohen 1989; vgl . Dworkin 2000), wonach allen hinsichtlich eines bestimmten Verteilkriteriums gleich viel zukommt . Möglich sind auch gemischte Positionen, beispielsweise prioritarianistische und egalitaristische Überlegungen, je nach Gut, das mit der Ermöglichungsbedingung abgedeckt wird (vgl . Wolff 2008) . Klar scheint mir, dass bezĂŒglich der Frage, wie GĂŒter der Inklusion verteilt werden, verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle spielen mĂŒssen . Erstens sind dies egalitaristische Gesichtspunkte, die sich auf die Beobachtung stĂŒtzen, dass Menschen mit Behinderung oft mangelnder Achtung als Gleiche ausgesetzt sind . In vielen FĂ€llen, vor allem wenn es um externe GĂŒter geht, ist aber die Frage oft nicht die, gleich viel zu erhalten, sondern genug von etwas . Damit spielen suffizienzorientierte oder auch prioritanistische Überlegungen eine wichtige Rolle . FĂŒr behinderte Menschen be-deutet dies in vielen FĂ€llen, dass ihnen mehr und vor allem andere GĂŒter zukommen sollten als nicht behinderten Menschen . Diese GĂŒter beziehen sich in direkter Weise auf ihre Lebenslage und fördern damit ihre soziale Inklusion zielgerichtet . Die Beantwortung der Frage, wie das Recht auf Inklusion konkret ausgestaltet ist und wo die Grenzen aus dem Grund erreicht sind, weil sie andere Rechte tangieren, wird dabei vornehmlich in KĂ€mpfen um Inklusion erstritten .

Das Recht auf Inklusion 269

hens von Sabine beim Verbleib in der Regelschule gegeben ist, spricht vieles fĂŒr ein spezielles Recht auf separative Bildung . Dies kann insofern ebenfalls als Inklusion bezeichnet werden, als man damit einen weiteren Blickwinkel auf soziale Inklusion einnimmt, nĂ€mlich erstens hinsichtlich der Inklusion in die Gemeinschaft mit anderen Menschen mit Hörbehinderung und zwei-tens hinsichtlich der Bedeutung des psychischen Wohlbefindens als Voraus-setzung fĂŒr gelungene Inklusion .

Beispiel 2: Remo in â€șÜsi Badiâ€č

Das Beispiel von Remo, einem Protagonisten der Doku-Serie â€șÜsi Badiâ€č, weist auf die Grenze des Rechts auf Inklusion hin . Denn das Beispiel, auf das die Frage angewendet wurde, ist eine Gemeinschaft . Insofern hat Remo kein Recht, in der Gemeinschaft verbleiben zu können . Er hat aber, genau wie seine Mitkollegen, Freiheitsrechte . Diese umfassen die Assoziationsfreiheit der Gemeinschaft, ihre Mitglieder selbst auswĂ€hlen zu können sowie fĂŒr Remo die Freiheit, die Gemeinschaft aus freien StĂŒcken verlassen zu kön-nen .

Was aber jenseits der Frage, was genau das Beispiel mit Rechten zu tun hat, interessant ist, ist die Art und Weise, wie Markus, einer der beiden mit-gereisten Betreuer, den gefĂ€hrdeten sozialen Zusammenhalt in der Gruppe nach dem Streit thematisiert . Es gelingt ihm nĂ€mlich, den Zusammenhalt in der Gemeinschaft durch agogische und psychologische Maßnahmen wie Ge-sprĂ€chen und zielgerichteter Kooperation zwischen den Teilnehmern anzu-regen . Damit nimmt er eine wichtige agogische Aufgabe zur UnterstĂŒtzung von Inklusion wahr, indem er die Ermöglichungsbedingungen von Inklusi-on, unter anderem Kooperation und Dialog, auf agogischer Basis anregt . Die Aufgabe, die er inne hat, ist nun aber nicht freiwillig, sondern entspricht ei-ner gesellschaftlichen Pflicht, seinem agogischen Auftrag .

Beispiel 3: Alberto und der Lieblingsfußballklub

Auch das dritte Beispiel kann insofern nicht mit einem Recht auf Nicht-Exklusion oder Inklusion abgedeckt werden, als es sich beim Fußballklub um eine Gemeinschaft handelt . Auch hier kann gezeigt werden, dass die Person (Alberto) kein Recht auf Inklusion hat . Interessant an diesem dritten

270 Inklusion und Gerechtigkeit

Beispiel sind aber wie beim zweiten die Ermöglichungsbedingungen von In-klusion . Insofern Alberto aufgrund seiner Wohnsituation im Heim, den dort herrschenden mangelnden Entwicklungsanregungen und seiner großen kör-perlichen BeeintrĂ€chtigung in seinem Wohlergehen gefĂ€hrdet ist, hat er ein Recht auf besondere UnterstĂŒtzung im Alltag . Da einer seiner wichtigsten PlĂ€ne und Ziele den Fußballklub betrifft und er diese Inklusion selbst nicht erreichen kann, hat er ein Recht auf die Begleitung dorthin . Dies noch dann, wenn er anschließend kein Recht darauf hat, von seinem Lieblingsfußball-klub auch in gemeinschaftlichem Sinn aufgenommen zu werden .

Beispiel 4: Alison Lapper und die UnterstĂŒtzung im Alltag

Alison Lapper benötigt fĂŒr viele Verrichtungen im tĂ€glichen Leben Unter-stĂŒtzung . Insofern diese teilweise auch die Ermöglichungsbedingungen fĂŒr Inklusion betreffen, hat sie ein Recht auf die fĂŒr sie notwendige UnterstĂŒt-zung . Da Alison ĂŒberdies ĂŒber die notwendigen Voraussetzungen zum Be-such einer Kunsthochschule erfĂŒllt, hat sie insbesondere ein Recht auf die dafĂŒr notwendige UnterstĂŒtzung und Begleitung, beispielsweise hin zur Hochschule und wieder zurĂŒck .

Beispiel 5: Karin und der Kindergarten in der Gemeinde

Ähnliches gilt auch fĂŒr Karin, dem MĂ€dchen mit Spina bifida, das zu seinem Regelschulbesuch einen Umbau des Zugangs zur Schule sowie UnterstĂŒt-zung beim Toilettenbesuch benötigt . Hier gilt, dass der Sonderschulbesuch begrĂŒndungsbedĂŒrftig ist, insbesondere, weil er von den Eltern und vom Kind nicht gewĂŒnscht wird . Die Schule respektive der Staat mĂŒsste also er-stens darlegen können, dass eine Sonderbeschulung das Wohlergehen von Karin nicht gefĂ€hrdet sowie dass darĂŒber hinaus der Umbau des Schulhauses die Rechte der anderen Kinder oder BĂŒrger gefĂ€hrden wĂŒrde . Dies könnte potenziell der Fall sein, wenn der Umbau so viele Ressourcen verzehren wĂŒr-de, dass Bildung fĂŒr alle Kinder kaum noch gewĂ€hrleistet und finanziert werden könnte .

Das Recht auf Inklusion 271

Die Beispiele haben nochmals veranschaulicht, was sich in diesem Kapitel gezeigt hat . So wenden sich Rechte, wie sie beispielsweise Karin oder Alison Lapper haben, an den Staat respektive an die Schule oder Hochschule als staatliche Institution . Sie tragen die entstehenden Pflichten betreffend der Ermöglichungsbedingungen von Inklusion, welche sich in beiden FĂ€llen an UnterstĂŒtzungsmaßnahmen und infrastrukturellen Fragen entzĂŒnden . Ins-besondere die Infrastruktur und auch zur VerfĂŒgung stehende Hilfsmittel sind selbst Voraussetzung dafĂŒr, dass Hilfe und UnterstĂŒtzung – beispiels-weise durch die SonderpĂ€dagogik oder die soziale Arbeit – ĂŒberhaupt einset-zen kann . Da, wo es keine oder nur eingeschrĂ€nkte Rechte gibt – also in den FĂ€llen von Remo oder Alberto – zeigen sich auch die Grenzen von Rechten deutlich . Denn beide Kontexte haben gemeinschaftlichen Charakter .

Das folgende, achte Kapitel zeigt nun die Konsequenzen des bislang Er-örterten beispielhaft fĂŒr die SonderpĂ€dagogik als Disziplin, Profession und Praxis . Damit bildet dieses Kapitel in seiner Anwendungsorientierung gleich-zeitig auch den dritten und letzten Teil der Arbeit .

Teil III: Anwendung

Einleitung

Im folgenden letzten Teil der Arbeit steht die Anwendung der Frage nach dem Recht auf Inklusion im Zentrum . Exemplarisch wird dies am Beispiel der SonderpĂ€dagogik gezeigt . Ich habe bereits an einer frĂŒheren Stelle im Buch geschrieben, dass es vielfĂ€ltige Anwendungsfelder von Inklusion gibt . Die SonderpĂ€dagogik ist nur eines davon und zudem ein umstrittenes, denn es ist nicht von vornherein klar, dass sich gerade die SonderpĂ€dagogik – und falls ja, in welchem Maße – um die Inklusion behinderter Menschen kĂŒm-mern sollte . So kann zwar anerkannt werden, dass pĂ€dagogische oder agogi-sche ZugĂ€nge vonnöten sein können, um Inklusion zu erreichen . Dies insbe-sondere dann, wenn es um Kinder und Jugendliche und Bildungskontexte geht . Es kann aber bestritten werden, dass die SonderpĂ€dagogik als Diszip-lin, Profession oder Praxis die richtige Adresse dafĂŒr ist . Der bereits genann-te Andreas Hinz beispielsweise fordert seit Jahren vehement, dass sich die SonderpĂ€dagogik in Richtung einer inklusiven PĂ€dagogik zu verĂ€ndern be-ginne respektive von dieser abgelöst werden sollte (vgl . Hinz 2002, 2003, 2004) .

Die Debatte um die Berechtigung der sonderpĂ€dagogischen Sicht- und Handlungsweise kann hier nicht gefĂŒhrt werden . Ganz sicher ist es so, dass Innovationen in der Umsetzung des Rechts auf Inklusion notwendig sind, und dass diese Innovationen das SelbstverstĂ€ndnis der SonderpĂ€dagogik be-treffen werden . Innovation bedingt VerĂ€nderung und betrifft mehrere Ebe-nen . Diese in ihrer KomplexitĂ€t gebĂŒhrend zu berĂŒcksichtigen, wĂŒrde den Umfang dieser Arbeit und das, was sie leisten kann, sprengen . Deshalb bleibt vieles nur angedeutet und die genaue Ausformulierung bleibt dem Leser oder der Leserin ĂŒberlassen .

Der bisherige Verlauf der Arbeit hat gezeigt, dass Inklusion als eine der zentralen Zielperspektiven der SonderpÀdagogik (oder nach Ansicht vieler Autoren der InklusionspÀdagogik) letztlich ethisch-normativ fundiert ist . Diese Fundierung ist nun aber keine metaphysische Setzung, die sozusagen

276 Inklusion und Gerechtigkeit

dem sonderpĂ€dagogischen Handeln und Wissen vorgelagert wĂ€re, im Ge-genteil . Sie kann begrĂŒndet und verteidigt werden und erlangt dadurch die Möglichkeit intersubjektiver Anerkennung . Diese Anerkennung der Berech-tigung der Forderung nach Inklusion ist zentral, weil die SonderpĂ€dagogik sich auf allen Ebenen als zwischen verschiedenen Disziplinen, Professionen und Praxen eingebettet erlebt und daher auf die VerstĂ€ndigung zwischen diesen und der Anerkennung durch diese Felder angewiesen ist .

SonderpĂ€dagogische Werte fallen nicht vom Himmel . Sie sind vielmehr begrĂŒndbar und können in ein kohĂ€rentes Ganzes eingefĂŒhrt werden . Dass ihre genaue inhaltliche FĂŒllung sich in den historischen ZeitlĂ€uften wandelt und sich in sozial und kulturell unterschiedlichem Gewand zeigt, weist zu-dem darauf hin, dass es gefĂ€hrlich ist, ein allzu starres konkretes VerstĂ€ndnis von Inklusion zu haben . Denn was genau beispielsweise die fĂŒr Inklusion notwendige Dimension der Anerkennung vermittelt, ist eben nicht fĂŒr alle Zeiten und alle Kulturen genau bestimmt . Sie muss vielmehr in konkreten UmstĂ€nden, in tatsĂ€chlichen Gemeinschaften oder Gesellschaften ausgehan-delt werden . Ein Recht auf Inklusion zu haben, sagt nicht per se bereits, wie genau dieses ausgestaltet werden muss .

Wenn es im Folgenden um die Anwendung von Inklusion in der Sonder-pĂ€dagogik geht, dann unterscheide ich drei Betrachtungsebenen sonderpĂ€d-agogischen Handelns und Wissens: die Disziplin der SonderpĂ€dagogik, die Profession und sonderpĂ€dagogische Praxisfelder . Dabei kommt die Sprache darauf, was ein Recht auf Inklusion fĂŒr diese Ebenen bedeutet . Aber auch die Relevanz der Inklusionstugenden kommt nochmals zur Sprache . Weiter zei-ge ich die Grenzen sonderpĂ€dagogischen Handelns und Wissens auf, welche indirekt darauf hinweisen, dass Inklusion nicht die einzige und auch nicht die wichtigste Zielkategorie der SonderpĂ€dagogik ist . Die Herausforderun-gen sonderpĂ€dagogischen Handelns und Wissens, auf welche ich zum Schluss des achten Kapitels zu sprechen komme, weisen darauf hin, dass sonderpĂ€dagogisches Handeln immer mit WidersprĂŒchen und Spannungen konfrontiert ist . In diesen bewegt sich auch Inklusion .

Ein letztes neuntes Kapitel schließlich fasst die Arbeit nochmals zusam-men und wagt einen kurzen anekdotischen Ausblick in die Zukunft der In-klusion behinderter Menschen in unserer Gesellschaft .

8 . Inklusion und SonderpÀdagogik

8 .1 Die Aufgaben von Disziplin, Profession und Praxis in Hinblick auf Inklusion

Das Recht auf Inklusion, das sich im letzten Kapitel ergeben hat, lĂ€sst ver-schiedene inhaltliche Deutungen und Konkretisierungen zu . Um es hin-sichtlich sonderpĂ€dagogischer Handlungsfelder konkretisieren zu können, sind zusĂ€tzliche Annahmen empirischer und normativer Art vonnöten . Ers-tere betreffen vor allem die organisatorischen, strukturellen, zwischen-menschlichen und individuellen Bedingungen sonderpĂ€dagogischen Han-delns und Wissens und damit die Frage des Wie derselben . Letztere betreffen ein normatives VerstĂ€ndnis des Auftrags und damit das Was sonderpĂ€dagogi-schen Handelns und Wissens . Um genau dies, um den sich ergebenden son-derpĂ€dagogischen Auftrag also, soll es in diesem die Arbeit abschließenden Kapitel vordringlich gehen .

FĂŒr die SonderpĂ€dagogik stellen sich nach dem letzten Kapitel folgende Fragen: Welches Handeln und Wissen können behinderte Menschen von der SonderpĂ€dagogik, verstanden als Praxis, Profession und Disziplin, auf der Basis von Rechten einfordern und welches Handeln und Wissen wird von ihr aus anderen GrĂŒnden verfĂŒgbar gemacht?1 Die Antwort dazu habe ich teilweise schon geleistet, indem ich im vorangehenden Kapitel das Fazit gezogen habe, dass sich ein Recht auf Inklusion folgendermaßen deuten lĂ€sst: als ein Recht auf Nicht-Diskriminierung, als ein Recht auf gesellschaft-

1 In der Beantwortung dieser Fragen gehe ich davon aus, dass die einzelnen eruierten Berei-che nicht deckungsgleich sind . Das bedeutet, die Bereiche des sonderpĂ€dagogischen Auf-trags, die Bereiche moralischer Rechte sowie die Interessen der Betroffenen nach Inklusion ĂŒberlappen sich zwar zu bestimmten Teilen, können aber gesamthaft gesehen nicht wech-selseitig substituiert werden . Diese Annahme ergibt sich aus den bisherigen Reflexionen zu Behinderung, Rechten und gutem Leben, den Grundlagen meiner Überlegungen aus dem ersten Teil also, sowie aus den Überlegungen zur Struktur und zur normativen Bedeutung von Inklusion aus dem zweiten Teil .

278 Inklusion und Gerechtigkeit

liche Inklusion und als ein Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion . Bei allen kann man ĂŒbergreifend von einem Recht auf Inklusion sprechen . Das Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: der individuellen Ebene, der interpersonel-len Ebene (hier hat sich allerdings gezeigt, dass dies bereits durch das Recht auf Nicht-Diskriminierung, soweit begrĂŒndbar, abgedeckt ist), der Ebene externer Ressourcen sowie auf der Ebene von Strukturen . Weiter wurde deutlich, dass aus pragmatischen wie normativen GrĂŒnden, der Staat als Rechtsobjekt ins Spiel kommt . Er hat die Pflicht, das Recht auf Inklusion umzusetzen . Als Letztes zeigte sich, dass das Recht behinderten Menschen zwar als Individuen, aber qua Mitgliedstatus in einer sozialen Gruppe zu-kommt .

Angewandt auf sonderpĂ€dagogisches Handeln, ergibt sich nun folgende, neue Frage, die sich vor allem an der Frage der genauen Ausgestaltung des Rechtsgegenstandes entzĂŒndet, nĂ€mlich: Wie sieht dieses Handeln auf den unterschiedlichen Ebenen aus? Welche Formen, Inhalte und Fragen fĂŒr die Professionalisierung sonderpĂ€dagogischen Wissens und Handelns ergeben sich? Diese Fragestellung ist insbesondere aus dem Grund interessant, weil sie an die Frage nach der Art und dem Umfang des sonderpĂ€dagogischen Auftrags gekoppelt ist . Damit rĂŒcken Ziele, Inhalte, Mittel und Wege des sonderpĂ€dagogischen Auftrags und mit ihm Professionalisierungsfragen – beispielsweise Fragen nach der Ausbildung des Fachpersonals und nach de-ren Fachkompetenz in den verschiedenen Anwendungsbereichen – selbst ins Zentrum . Daher werde ich im Folgenden auch mit einer, notabene kurzen, programmatischen Skizze des sonderpĂ€dagogischen Auftrags auf den Ebenen der Disziplin, der Profession und der Praxis beginnen . Das heißt, ich werde meine Vorstellung der Ausrichtung dieses Handelns prĂ€sentieren, ohne die-ses aber selbst zur GĂ€nze zu begrĂŒnden oder gegen andere AnsĂ€tze abzugren-zen . Daher auch der programmatische Charakter dieses Teils der Arbeit, der auch als Ausblick auf ein bestimmtes VerstĂ€ndnis von SonderpĂ€dagogik ge-sehen werden kann .

Ein VerstĂ€ndnis von SonderpĂ€dagogik als besondere PĂ€dagogik, die inter-disziplinĂ€r BezĂŒge zu Psychologie, Soziologie, Medizin aufweist und sich unter dem Dach der PĂ€dagogik (oder disziplinĂ€r: den Erziehungswissen-schaften) befindet, kann nun vor dem Hintergrund der entwickelten Auf-

Inklusion und SonderpÀdagogik 279

fassung von Inklusion und den entwicklungstheoretischen Grundlagen der SonderpÀdagogik2 aufgezeigt werden .

Ausgehend von einem VerstĂ€ndnis einer entwicklungsorientierten PĂ€da-gogik trete ich dafĂŒr ein, dass der Fokus einer inklusiven PĂ€dagogik auf der Entwicklung des Menschen respektive seinen Entwicklungsmöglichkeiten hin zu einem guten Leben liegen sollte . Der damit vertretene Entwicklungs-begriff geht davon aus, dass grundsĂ€tzlich jeder Mensch nach Wachstum, Entwicklung und Selbstaktualisierung strebt und ĂŒber FĂ€higkeiten zur Ver-Ă€nderung und Problemlösung verfĂŒgt .3 Entwicklung wird nicht nur vom Individuum selbst angeregt und erbracht, auch die Umwelt trĂ€gt zur Ent-wicklungsfĂ€higkeit und -möglichkeit (im Sinne einer capability) von Men-schen einen wichtigen Teil bei .4 Dieses evaluative und systemische VerstĂ€nd-nis von Entwicklung und der Entwicklungs- und Wachstumsorientierung des Menschen als anthropologische Annahme ermöglicht es, das dahinter stehende humanistische Menschenbild zum Kern einer PĂ€dagogik zu ma-chen, welche sich auf die – vordringlich individuellen – Ermöglichungsbedin-gungen von Inklusion konzentriert . Die Umrisse einer solchen SonderpĂ€da-gogik sind schĂ€rfer konturiert, als sie von einem Großteil der Sonder- pĂ€dagogik vertreten werden . Insbesondere trete ich dafĂŒr ein, dass man sich explizit auf behinderte – im Sinne einer EntwicklungsbeeintrĂ€chtigung be-hinderte – Menschen als Zielklientel konzentrieren sollte . Die normative

2 Insbesondere kann man hier auf einen der historischen GrĂŒndervĂ€ter der SonderpĂ€dago-gik verweisen, Heinrich Hanselmann . In dessen Werk nimmt der Entwicklungsbegriff eine zentrale Rolle ein . So schreibt Hanselmann (1941, S . 67): »Wir verstehen unter Ent-wicklung das selbsttĂ€tige Sich-Auswickeln eines komplizierten Lebewesens aus einem ein-fachen Keim im Verlauf einer bestimmten Zeit und unter Gegebenheit von mehr oder weniger dem jeweiligen Zustand des Lebewesens angemessenen VerhĂ€ltnissen in der Um-welt .«

3 Dieser Entwicklungsbegriff ist normativ gefĂ€rbt . Er ist aber wie der Begriff des guten Le-bens nicht zwingend essentialistisch und auch nur schwach perfektionistisch zu verstehen . Er hat vielmehr eine anthropologische Fundierung, weist aber darĂŒber hinaus, sofern Ent-wicklung auch die Entwicklung von PlĂ€nen und Zielen betrifft, der Freiheit oder Selbst-bestimmung von Menschen einen entscheidenden Stellenwert zu . Selbstbestimmung be-deutet nicht, dass Menschen nur einfach ihren aktuellen PlĂ€nen und Zielen nachgehen möchten, sondern dass sie sich selbst ĂŒber die Verfolgung ihrer PlĂ€ne und Ziele ausdrĂŒ-cken möchten . Sie möchten, mit anderen Worten, ihrem Selbst Ausdruck verleihen . FĂŒr diesen wichtigen Hinweis danke ich Thomas Schramme .

4 Vgl . hier ebenfalls das systemisch angelegte VerstĂ€ndnis von Entwicklung bei Hanselmann (1941, S . 38): »Alles, was im Verlaufe der Entwicklung mit dem Keim an Wandlungen und Ausgestaltung geschieht, ist nicht mehr nur Anlage, sondern auch Umwelteinfluss .« Ent-wicklung ist damit bereits bei Hanselmann relational und interpersonal angelegt .

280 Inklusion und Gerechtigkeit

Problematik von Behinderung – die, ausgehend von einer SchĂ€digung von Körperfunktionen und -strukturen zu BeeintrĂ€chtigungen der Partizipation und AktivitĂ€t sowie gesellschaftlicher Benachteiligung fĂŒhren kann – ist letztlich die mögliche oder befĂŒrchtete Reduktion der LebensqualitĂ€t, die sich aus den komplexen, mit einer Behinderung verbundenen Risiken ergibt . SonderpĂ€dagogische BemĂŒhungen mĂŒssen sich sowohl daran orientieren als auch darĂŒber legitimieren, inwieweit sie mit ihren BemĂŒhungen zur Verbes-serung der LebensqualitĂ€t beitragen .

Dies ist wie gesagt nur eine grobe Kurzzusammenfassung des Auftrags, wie ich ihn fĂŒr die SonderpĂ€dagogik sehe . Im Folgenden möchte ich nun dazu ĂŒbergehen, die Aufgaben von Disziplin, Profession und Praxis der Son-derpĂ€dagogik in Hinblick auf Inklusion inhaltlich zu skizzieren . Diese Auf-gaben mĂŒssen sich einerseits an den Grenzen des sonderpĂ€dagogischen Auf-trags betreffend Inklusion messen, welche sich vor allen Dingen auf die Überlegungen im letzten Kapitel beziehen . Und andererseits mĂŒssen sie sich an den generellen Herausforderungen sonderpĂ€dagogischen Handelns und Wissens messen . Diesen beiden Fragen widmet sich Kapitel 8 .2 (Grenzen des sonderpĂ€dagogischen Auftrags) sowie Kapitel 8 .3 (Herausforderungen sonderpĂ€dagogischen Handelns und Wissens) .

Disziplinebene

Auf disziplinĂ€rer Ebene ergeben sich fĂŒr die SonderpĂ€dagogik folgende Auf-gaben: erstens ihre Konstituierung als Wissenschaftsdisziplin . Hierzu gehört neben der Bereitstellung von evidenzbasiertem empirischem Wissen auch die normative Reflexion der Konzepte und Zielperspektiven sonderpĂ€dago-gischen Handelns, wie es Inklusion darstellt . Die vorliegende Arbeit versteht sich insbesondere als Beitrag zu diesem Aspekt disziplinĂ€rer Aufgaben .

Zweitens besteht eine Aufgabe bezĂŒglich Abgrenzung, aber auch Zusam-menarbeit zu oder mit anderen Nachbardisziplinen, beispielsweise der Psy-chologie, der Soziologie oder der Medizin . Versteht man Behinderung in Dimensionen sozialer Benachteiligung und betrachtet man sie unter Aspek-ten horizontaler und vertikaler Ungleichheit, dann gerĂ€t insbesondere die soziologische Forschung ins Zentrum der Überlegungen . Denn eine Sonder-pĂ€dagogik, welche die Inklusion behinderter Menschen fördern möchte, muss Prozesse der Benachteiligung verstehen und diese insbesondere in Bil-dungsprozessen und -systemen sowie anderen gesellschaftlichen Prozessen

Inklusion und SonderpÀdagogik 281

nachweisen und verstehen können . Hierzu scheint eine enge Zusammenar-beit mit der Soziologie unverzichtbar .

Enge BezĂŒge ergeben sich auch zur Psychologie, denn in praktischer Hinsicht ist es fĂŒr behinderte Menschen wichtig, die Folgen von Benachtei-ligung und Exklusionserfahrungen psychisch verarbeiten zu können . Die Herausforderung fĂŒr behinderte Menschen besteht darin, BewĂ€ltigungsstra-tegien oder Resilienz gegen Ausschlussprozesse zu entwickeln . In der Eruie-rung von â€șstĂ€rkenden Faktorenâ€č scheint eine enge Zusammenarbeit mit der Psychologie gewinnbringend .

Drittens zeigen sich auch Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Zu-sammenarbeit mit der Medizin . Dies insbesondere da, wo es um schĂ€di-gungsspezifische EinschrĂ€nkungen geht, die in Folge von Gesundheitspro-blemen oder SchĂ€digungen von Körperfunktionen und -strukturen eintreten können . SonderpĂ€dagogisch wichtig ist die Zusammenarbeit insbesondere deshalb, weil sich die VerfĂŒgbarkeit und die GĂŒte dieser Maßnahmen auf das sonderpĂ€dagogische Handeln auswirken (können) . Medizin leistet insbeson-dere in folgenden Bereichen wichtige Arbeit fĂŒr sonderpĂ€dagogisches Han-deln und Wissen: in der Ätiologie, der Symptomatik, der Therapie und der PrĂ€vention von SchĂ€digungen . Insbesondere ist die Medizin an der Ätiolo-gie, der Ursache einer Störung interessiert . Denn ohne diese kann die Patho-genese, die Symptomatik, nicht verstanden, wie auch die Therapie und PrĂ€-vention nicht adĂ€quat geplant werden . Alle diese Bereiche sind zweifelsohne zentrale Voraussetzungen fĂŒr sonderpĂ€dagogisches Wissen und Handeln .5

Weiter besteht auch die Herausforderung der Positionierung der Sonder-pÀdagogik unter dem Dach der Erziehungswissenschaften . Virulent werden daher auch Ausbildungsfragen sowie Fragen der EigenstÀndigkeit professio-nellen sonderpÀdagogischen Handelns und Wissens . Mit dieser Herausfor-derung ist das SelbstverstÀndnis der SonderpÀdagogik als Disziplin angespro-chen .

Je fokussierter, elaborierter und harmonischer die theoretischen Grund-lagen, die normativen Annahmen und die evidenzbasierte empirische For-schung zueinander stehen, desto grĂ¶ĂŸer sind die Möglichkeiten einer Ein-bettung unter das Dach der Erziehungswissenschaften und eine Abgrenzung zu anderen Nachbardisziplinen, was eine interdisziplinĂ€re Zusammenarbeit erst ermöglicht .

5 Insbesondere bei Behinderungen mit unklarem respektive noch zu erforschendem Ursa-chenprofil wie Autismus zeigt sich, dass ein VerstĂ€ndnis der Ursachen und Auswirkungen einer SchĂ€digung auch Folgen fĂŒr die Planung sonderpĂ€dagogischer Maßnahmen hat .

282 Inklusion und Gerechtigkeit

Professsionsebene

Professionsfragen beziehen sich auf Berufsgruppen, ZustÀndigkeiten ver-schiedener Zweige der Profession, Rollenprofile, Organisation von und in Berufsgruppen, Fragen der Ausbildung sowie die Erarbeitung von Hand-lungskonzepten auf Basis empirischer, theoretischer und normativer Er-kenntnisse . Die Professionsebene nimmt dabei auch eine (Ver-)mittlerposi-tion zwischen Disziplin und Praxis ein .

Auf Professionsebene, auf der bekanntlich die Ausbildung der praktisch im sonderpĂ€dagogischen Feld TĂ€tigen geschieht, sind insbesondere Konzep-te auf Basis disziplinĂ€rer Erkenntnisse zentral . Als Erkenntnisse können em-pirische Befunde, normative Überlegungen und Theorien, aber auch phĂ€no-menologisches und hermeneutisches, fallbezogenes Wissen fungieren . Nach Reiser (2005, S .  140) zeichnen sich Konzepte durch folgende Punkte aus: »Professionelle Konzepte sind an bestimmten Bezugswissenschaften orien-tiert, verwenden diese jedoch nach ihren eigenen operativen Regeln . Diese operativen Regeln sind darauf angelegt, Orientierung zu stiften . Damit sie die subjektiven, widersprĂŒchlichen, ungewissen und paradoxalen Momente der pĂ€dagogischen Aufgaben- und Handlungsstruktur aufnehmen können, ohne die WidersprĂŒche vorschnell aufzulösen, verweisen sie auf die indivi-duelle fallverstehende Interpretation, wozu sie Interpretationsregeln, Reflexi-onshilfen, Kategorien und auch Handlungsbeispiele und Handlungsversatz-stĂŒcke anbieten . Der Anschluss an die wissenschaftliche Diskussion dient teilweise der Legitimation, teilweise der Anregung und teilweise der Über-prĂŒfung, wird aber idealtypisch nicht um der Wissenschaft willen betrieben, sondern dient der Konstruktion eines BrĂŒckenschlags zur Praxis .« Die Be-rufs- und TĂ€tigkeitsprofile der im Feld professionell TĂ€tigen muss sich dabei auf einen Wissenstransfer von Disziplin hin zu Profession stĂŒtzen können . Die Praxis ihrerseits nimmt anschließend in konkreten Handlungsfeldern Bezug auf dieses aufbereitete Wissen .

Zweitens ist es wichtig, dass das RollenverstĂ€ndnis professionell TĂ€tiger geklĂ€rt wird . Hierbei ist eine stĂ€ndige kritische Reflexion der Machtstruktur sonderpĂ€dagogischen Handelns, speziell des inhĂ€renten MachtgefĂ€lles, der Unsicherheit in Diagnostik und Prognostik, der Herausforderung der Ver-mittlung von Allgemeinem und Besonderem sowie der Harmonisierung wi-dersprĂŒchlicher Werte und Interessen notwendig .

Insbesondere bezĂŒglich Inklusion ist eine Reflexion des eigenen Han-delns und Wissens aus einem bestimmten Grund besonders wichtig: Da die

Inklusion und SonderpÀdagogik 283

Betroffenen auf ein Großteil des sonderpĂ€dagogischen Handelns kein Recht haben – insbesondere nicht auf deren konkrete, empathische, anerkennende Ausgestaltung –, kommt der Frage, wie dieses professionell geleistet wird, eine große Bedeutung zu . Hierin haben Berufskodexe eine wichtige Funkti-on . Allerdings darf die Frage, was empathisches, anerkennendes Handeln genau umfasst, nicht ein fĂŒr alle mal festgeschrieben werden . Es muss viel-mehr in einem offenen Diskurs, gerade auch mit den Betroffenen, immer wieder neu diskutiert und ausgehandelt werden . Nimmt man nĂ€mlich das Ansinnen, dass sonderpĂ€dagogisches Handeln auch den Betroffenen gegen-ĂŒber legitimiert werden muss, ernst, heißt dies, dass ein Dialog auf Professi-onsebene auch mit ihnen (und nicht ĂŒber sie) gefĂŒhrt werden muss . Die da-fĂŒr notwendigen kritischen Diskussions- und ReflexionsfĂ€higkeiten werden unter anderem in der Ausbildung vermittelt .

Ein dritter wichtiger Schwerpunkt der Profession ist der BrĂŒckenschlag zur Praxis, die die entwickelten Konzepte umsetzen soll und in welcher die vorgĂ€ngig ausgebildeten Professionellen auch tĂ€tig sind .

Praxis

Die Praxis gliedert sich im Handlungsfeld SonderpĂ€dagogik hinsichtlich fol-gender Aspekte auf: Organisation oder Institution (beispielsweise Schule, Heim, Werkstatt oder Familie), Methoden und Didaktiken, Konzepte und Handlungsformen . Aufgrund dieser unterschiedlichen Aspekte ergibt sich auf praktischer Ebene eine Vielzahl von konkreten Handlungsfeldern, in de-nen der Auftrag der Inklusion praktisch ausgefĂŒhrt wird .

Ein Hauptaugenmerk sonderpĂ€dagogischen Handelns sollte dabei vor allem in der Förderung der zu Inklusion notwendigen individuellen FĂ€hig-keiten und Fertigkeiten zu sehen sein . Judith Hollenweger skizziert in einem Artikel die Ausgestaltung eines solchen, primĂ€r auf die Förderung individuel-ler FĂ€higkeiten ausgerichteten Auftrags . Zentraler Bezugspunkt einer solchen SonderpĂ€dagogik sind demnach »auf die am Kind zu fördernden FĂ€higkei-ten, die es unter der Perspektive des lebenslangen Lernens integrationsfĂ€higer und resistenter gegen Ausschluss machen . Hier wĂ€re der Kontext Regelschu-le und die Integration in ein spezifisches Umfeld von sekundĂ€rer Bedeutung, da das Setting gewĂ€hlt werden wĂŒrde, das bezĂŒglich der Entwicklung und BefĂ€higung des individuellen Kindes die besten Erfolgschancen in Bezug auf eine Integration in die Gesellschaft verspricht . Viel grundlegender und somit

284 Inklusion und Gerechtigkeit

zur Entwicklung einer integrativen Perspektive sinnvoller wĂŒrde dann die Erarbeitung eines kohĂ€renten VerstĂ€ndnisses zu integrationsrelevanten FĂ€-higkeiten des Kindes erachtet . Unter dieser Perspektive wĂŒrden eher BezĂŒge zu psychologischen, rehabilitationsmedizinischen und allgemein pĂ€dagogi-schen Theorien und Forschungsergebnissen gemacht« (Hollenweger 2004, S .  20) . Das Setting, in dem Inklusion stattfindet, ist dabei zweitrangig . Wichtig ist vielmehr die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten des In-dividuums und die Frage der Bedeutung und Form von Inklusion fĂŒr das individuelle Leben, das betrachtet wird . Dies ist die Folge einer konsequen-ten Sichtweise aufs Individuum .

Weiter liegt eine wichtige Aufgabe von Professionellen im sonderpĂ€dago-gischen Feld darin, â€șRĂ€ume der Inklusionâ€č zu öffnen . Damit nehmen profes-sionell TĂ€tige eine Vermittlerposition zwischen behinderten Menschen und Gemeinschaften oder der Gesellschaft ein . Eine solche Vermittlerposition kann in der Begleitung zu AnlĂ€ssen bestehen, die ein Mensch mit Behinde-rung ohne fremde Hilfe nicht erreichen kann . Sie kann aber auch darin lie-gen, anderen Menschen die behinderungsbezogenen Spezifika zu erlĂ€utern, Fragen und Ängste zu klĂ€ren und damit der fĂŒr Inklusion notwendigen frei-willigen SolidaritĂ€t und Empathie Vorschub zu leisten . Dieser Aufgabenbe-reich ist, anders als die Förderung individueller FĂ€higkeiten und Fertigkei-ten, nicht auf Individuen alleine gerichtet, sondern auch auf Systeme . Sein Sinn liegt in der Förderung der FĂ€higkeiten der Umwelt – anderen Men-schen wie auch von Organisationen, Institutionen und Systemen – behin-derte Menschen zu inkludieren respektive deren freiwillige Zuwendung zu fördern .6

Da sich die LegitimitÀt des sonderpÀdagogischen Helfens betreffend In-klusion am Endziel des guten Lebens zu orientieren hat, zeigt sich, dass der Förderung individueller FÀhigkeiten in bestimmten FÀllen zugunsten der

6 Ein Beispiel fĂŒr eine solche Vermittlungsarbeit ist das Vorgehen der Leiterin eines Behin-dertenheims, die, in Absprache mit der öffentlichen Erwachsenenbildung, in einer Volks-hochschule erreicht hat, dass deren Kurse auch fĂŒr behinderte Menschen geöffnet werden . Den Ängsten der Leiter der Volkshochschulkurse konnte sie dahingehend entgegenwir-ken, dass sie diese erstens ernst nahm, zweitens aber auch aufzeigte, dass die Teilnehmer mit geistiger Behinderung, die an bestimmten Kursen teilnehmen wĂŒrden – beispielsweise Bauchtanz – keineswegs das â€șnormale Funktionierenâ€č der Stunden beeintrĂ€chtigten und dass sie zudem adĂ€quate Begleitung durch das Heim erhielten . Das Beispiel wurde aus dem Grund eine Erfolgsgeschichte, weil sich in der Folge zeigte, dass die Begleitung durch Mitarbeiter des Heims nur eine bestimmte Zeit lang notwendig war . Nach einer gewissen Zeit nĂ€mlich fungierten die regulĂ€ren Kursteilnehmer und -leiter als â€șInkludiererâ€č respek-tive, es wurde zusehends unklarer, wer nun eigentlich wen inkludierte .

Inklusion und SonderpÀdagogik 285

Förderung anderer FĂ€higkeiten weniger Bedeutung zukommen kann, als dies ĂŒblicherweise der Fall ist . Ein paradigmatisches Beispiel dafĂŒr sind Men-schen mit Autismus . Dies unter anderem dann, wenn soziale Inklusion fĂŒr die Betroffenen zu schweren psychischen Belastungssituationen und hohem sozialem Stress fĂŒhrt .

SonderpÀdagogische Methoden, Didaktiken, generell sonderpÀdagogi-sche Hilfe, haben sich danach auszurichten und daran zu legitimieren, ob und wie sie das Wohlergehen von behinderten Menschen fördern . Eine In-klusion, die das gute Leben behinderter Menschen nicht zum Ziel hat und keine Mittel und Wege findet, dieses zu fördern, sollte pÀdagogisch nicht angestrebt werden . Aus diesem Grund verbietet sich beispielsweise direkter Zwang zu Inklusion . Es muss nicht nur im Einzelfall abgewogen werden, inwiefern eine bestimmte Hilfestellung oder eine didaktische oder methodi-sche Vorgehensweise die Inklusion eines betreffenden Kindes oder Jugendli-chen fördert, sondern auch, welchen Stellenwert Inklusion selbst im Leben des betreffenden Menschen einnimmt .

Weiter zeigt die systemische Sichtweise auf die Umweltfaktoren, dass die legitimen Interessen behinderter Menschen nach Inklusion in einen be-stimmten Lebensbereich auch gegenĂŒber ebenfalls berechtigten Interessen anderer Menschen auf weiterhin erfolgreiche Kooperation ihrer bestehenden Zusammenarbeit – beispielsweise in Institutionen oder Organisationen (vgl . Buchanan 1993) – abgewogen werden mĂŒssen . Allerdings hat das letzte Ka-pitel gezeigt, dass das Recht auf Inklusion impliziert, dass sich die Beweislast verschiebt . Nicht mehr die Betroffenen mĂŒssen zeigen, dass sie gerechtfertig-terweise dazu gehören . Sondern die sie Ausschließenden mĂŒssen zeigen, dass sie gerechtfertigterweise exkludieren . Auch ist ein utilitaristischen Aufwiegen der Interessen eines Einzelnen mit den Interessen vieler Anderer zu vermei-den .

Abschließend möchte ich auf einen Aspekt zu sprechen kommen, der sich insbesondere in der praktischen Arbeit als bedeutsam erweist, aber auch auf die Ebene der Profession verweist . Am Ende des letzten Kapitels hat sich nĂ€mlich gezeigt, dass keine Pflichten, soziale Inklusionstugenden umzuset-zen, verteidigt werden können . Ich habe an der Stelle aber angedeutet, dass Tugenden im professionellen sonderpĂ€dagogischen Handeln dennoch von großer Bedeutung sind und daher gefördert werden sollten . Darauf will ich im Folgenden eingehen .

286 Inklusion und Gerechtigkeit

Die Bedeutung von Tugenden in der praktischen Arbeit

Eine Analyse des tugendethischen Ansatzes von O’Neill (1996), die versuch-te, Pflichten bestimmte auf soziale Tugenden zu formulieren, scheiterte aus denselben GrĂŒnden, wie auch viele Ausgestaltungen des Rechts auf Inklusi-on scheitern . Denn auch bei Tugendpflichten werden wichtige Elemente von Inklusion, insbesondere gemeinschaftlicher Inklusion, gerade durch den ver-pflichtenden Charakter zerstört . Ist man beispielsweise jemandem nur des-halb empathisch zugewandt, weil man sich dazu verpflichtet fĂŒhlt, ist gerade die moralische Motivation, auf welcher die empathische Zuwendung beru-hen sollte, bedroht . Denn diese sollte auf einer bewussten, freiwilligen Ein-stellung dazu fußen . Das identifizierte Dilemma – die hohe Bedeutung von gemeinschaftlicher Inklusion fĂŒr das gute Leben von Menschen bei gleich-zeitiger Unmöglichkeit, ein moralisches Recht darauf zu formulieren – kann somit auch nicht mit Tugendpflichten nach Inklusion gelöst werden .

Damit ist der Riegel zu Pflichten, wie sie beispielsweise auch Berufskode-xe darstellen, aber geschoben . Die Formulierung einer verpflichtenden son-derpĂ€dagogischen Berufsethik, wie sie beispielsweise Urs Haeberlin (2005) fordert, ist meiner Ansicht nach aus denselben GrĂŒnden, aus denen Tugend-pflichten abgelehnt werden mĂŒssen, zu unterlassen .7 Ähnlich sieht dies An-ton Leist (1994, S . 54), der schreibt: »Eine ganze Palette von Begriffen wird in der SonderpĂ€dagogik aufgeboten, bis hin zum anspruchsvollen Begriff der Liebe . Muss nicht tatsĂ€chlich in der Erziehung, im einfĂŒhlsamen und kom-petenten Umgang mit einem Kind, und besonders einem behinderten, ein Element von Liebe und Hingabe enthalten sein? So formuliert möchte ich dem zustimmen, aber wichtig ist die Betonung des â€șElementsâ€č . Eine nahelie-gende BefĂŒrchtung ist die, dass die Berufsrolle ĂŒberfordert und die RealitĂ€t mit einem ĂŒbersteigerten Ideal verdeckt wird . Eine etwas nĂŒchterne, viel-leicht aber dennoch angemessene Beschreibung wĂ€re die des mitfĂŒhlenden Helfens . WĂ€hrend die liebevolle Zuwendung ihr Motiv nur aus der Zuwen-dung selbst bezieht, ist das mitfĂŒhlende Helfen durchaus damit vergleichbar,

7 Die BegrĂŒndungsleistung fĂŒr die Inhalte sonderpĂ€dagogischen Helfens kann und soll nicht von einer dogmatischen sonderpĂ€dagogischen Berufsethik eingefroren werden . Sie kann dies nicht, weil gesellschaftliche UmstĂ€nde, historische und soziale VerĂ€nderungen Kontingenzen im Handeln hervorrufen . Es lĂ€sst sich also nie mit Bestimmtheit und fĂŒr alle Zeiten sagen, was sonderpĂ€dagogisches Handeln und Helfen genau erfordert . Sie soll dies auch nicht, denn genau dies wĂŒrde eine sich kritisch verstehende inklusive SonderpĂ€-dagogik verletzen, nĂ€mlich die FĂ€higkeit, das eigene Tun immer wieder auf das Neue kri-tisch zu hinterfragen .

Inklusion und SonderpÀdagogik 287

dass man dafĂŒr bezahlt wird – also ein zusĂ€tzliches und vielleicht sogar ins-gesamt wichtigeres Motiv akzeptabel ist .«

Die folgenden AusfĂŒhrungen sollen aber zeigen, dass die Formulierung von Tugenden fĂŒr das VerstĂ€ndnis einer sonderpĂ€dagogischen Praxis und Profession dennoch notwendig und sinnvoll ist . Tugenden sind nĂ€mlich auch dann wertvoll, wenn sie nur moralisch supererogatorischen Leistungen entsprechen . Was beispielsweise laut Anton Leist (ebd .) notwendig ist und sonderpĂ€dagogisches Handeln auszeichnen soll, ist mitfĂŒhlendes Helfen . Was aber ist darunter zu verstehen und wodurch könnte es sich auszeichnen?

Leist betont zwei Aspekte, einerseits die Motivation des MitfĂŒhlens, der Empathie, andererseits das Helfen, welches von dieser Motivation getragen sein muss . Was damit ins Zentrum rĂŒckt, ist einerseits die Handlung selbst, das sonderpĂ€dagogische Helfen, und andererseits die Ausrichtung und die BeweggrĂŒnde, von denen es getragen wird . Letztere sind, so hat obenstehen-de Argumentation gezeigt, freiwillig zu erbringen . Sie richten sich zudem, und das kennzeichnet sonderpĂ€dagogisches Helfen, an Individuen . Sie sind also partikular und – freiwillig erbracht – an individuelle Menschen mit Be-hinderung gerichtet .

Die Tugenden, die dieses Handeln leiten, sind vor allen Dingen reflexive MetafĂ€higkeiten, wiederum selbst aber nicht bereits inhaltlich festgeschrie-ben . Dies kennzeichnet den zentralen Unterschied zur Berufsethik, wie sie beispielsweise Urs Haeberlin vorschwebt . Vielmehr muss das konkrete Han-deln mit Hilfe der Tugenden analysiert werden . Solche Tugenden könnten beispielsweise folgendes in den Blick nehmen: »Die Tugenden, die wir brau-chen, um sowohl das fĂŒr uns Gute als auch das fĂŒr andere Gute durch Teil-habe an derartigen Netzen zu verwirklichen, sind nur dann als echte Tugen-den wirksam, wenn wir uns bei ihrer AusĂŒbung bewusst sind, wie es um die Verteilung von Macht bestellt ist und welchen Formen der Korruption ihr Einsatz unterliegt« (MacIntyre 2001, S . 120) . Es wĂ€ren also reflexive Tugen-den, die das eigene Handeln, das sonderpĂ€dagogische Helfen, immer wieder kritisch hinterfragen und auf die (negative) Machtdimension hin befragen . Dies wĂŒrde bedeuten, dass sonderpĂ€dagogisch TĂ€tige immer wieder das Wie ihres Helfens und ihre eigene Rolle darin hinterfragen . Ein solches EinĂŒben in die reflexiven MetafĂ€higkeiten der Empathie wird in den Ausbildungen vermittelt .

SonderpĂ€dagogisches Handeln und Wissen, wie ich es gerade skizziert habe, ist nun aber zwei Schwierigkeiten ausgesetzt . Das erste sind Grenzen des Inklusionsauftrags, die sich wiederum auf Überlegungen der vergange-

288 Inklusion und Gerechtigkeit

nen Kapitel beziehen . Zweitens hat sich sonderpÀdagogisches Handeln und Wissen auch Herausforderungen zu stellen, die jedem pÀdagogischen Auf-trag eigen sind . Auf diese will ich in einem zweiten Schritt eingehen .

8 .2 Die Grenzen des Inklusionsauftrags in der SonderpÀdagogik

Die SonderpÀdagogik ist mit ihrem Inklusionsauftrag verschiedenen Gren-zen ausgesetzt . Diese Grenzen markieren nochmals deutlich den Bereich, in dem sonderpÀdagogisches Handeln und Wissen stattzufinden hat, allerdings auf einer Negativfolie, nÀmlich hinsichtlich den Begrenzungen sonderpÀda-gogischen Handelns und Wissens . Damit sind die Fragen verbunden, was sonderpÀdagogisches Handeln und Wissen nicht erreichen kann, wo es nicht funktioniert, wo es nicht angewendet werden kann .

Keine pĂ€dagogische â€șHerstellungâ€č möglich

Erstens liegt eine Grenze darin, dass diejenige Bereiche, auf welche es kein Recht gibt, auch der pĂ€dagogischen â€șHerstellungâ€č weitgehend entzogen sind . So sind die gemeinschaftlichen Aspekte von Inklusion zwar offen fĂŒr eine pĂ€dagogische Bearbeitung . Sie können aber weder technisch hergestellt, noch (da nicht verpflichtend) als Verhalten erwartet respektive erzwungen werden . Damit erhalten vor allen Dingen die wichtigen zwischenmenschli-chen Aspekte von Inklusion, insbesondere die Anerkennung behinderter Menschen als konkrete Andere in Form von Liebe und sozialer WertschĂ€t-zung, den Status von Supererogation oder Freiwilligkeit . Diese Aspekte von Inklusion sind zwar moralisch wĂŒnschenswert, können aber nicht verpflich-tet werden . Damit entsprechen ihnen – logischerweise – auch keine Rechte .

Die gemeinschaftliche Umsetzung von Inklusion kann daher letztlich nur erleichtert und gefördert werden, beispielsweise indem (Kontakt- oder Kommunikations-)Raum fĂŒr gemeinschaftliche Inklusion geschaffen wird . Sie kann aber nicht nur aus dem Grund nicht technisch verwirklicht werden, weil sie an die Freiwilligkeit von Menschen gebunden ist, sondern auch, weil sie oft von einem koordinierten Handeln mehrerer Menschen abhĂ€ngig ist . Damit befindet sie sich nicht ausschließlich im Einflussbereich einzelner

Inklusion und SonderpÀdagogik 289

Menschen, sondern erfordert selbst Beziehungen und Interaktionen zwi-schen Menschen und oft auch durch und zwischen Institutionen und Orga-nisationen . Auf Letzteres weisen nicht zuletzt die gesellschaftlichen BezĂŒge von Inklusion hin, im Speziellen die technischen, materiellen und struktu-rellen Voraussetzungen von Inklusion, die oft koordiniertes Handeln und gesellschaftliche Institutionen erfordern und sich ebenfalls dem direkten sonderpĂ€dagogischen Eingriff entziehen . Damit ist bereits eine zweite Gren-ze angesprochen .

Voraussetzungen sonderpÀdagogischen Handelns und Wissens

Zweitens besteht eine Grenze in den externen Ressourcen sowie den struktu-rellen gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen von Inklusion, auf die behinderte Menschen zwar ein Recht haben, welche aber selbst nicht Gegen-stand sonderpĂ€dagogischen Handelns sind . Bestimmte externe Ressourcen, beispielsweise RollstĂŒhle, HörgerĂ€te, BraillelesegerĂ€te oder Blindenstöcke, sind selbst Voraussetzungen fĂŒr sonderpĂ€dagogisches Handeln und damit nicht gleichzeitig auch Gegenstand desselben . Hier besteht die Möglichkeit der Beeinflussung einzig im Hinweis darauf, dass diese externen GĂŒter not-wendige Bedingungen fĂŒr erfolgreiches sonderpĂ€dagogisches Handeln dar-stellen .

Noch stĂ€rker zeigt sich die Schwierigkeit in den strukturellen, gesell-schaftlichen Bedingungen von Inklusion, die grĂ¶ĂŸtenteils auf komplizierten, gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen beruhen . Hierauf kann die Son-derpĂ€dagogik zwar Einfluss nehmen, indem sie die gesellschaftliche Bedeu-tung der eigenen Arbeit hervor streicht . Sie kann dies vordringlich dadurch tun, dass sie auf die Erfolge derselben verweist . Dies kann sie nicht zuletzt dadurch erreichen, dass sie mit Hilfe von empirischen Studien die Effektivi-tĂ€t sonderpĂ€dagogischen Handelns im Bereich Inklusion aufzeigt . Dem An-sinnen, in direkter Weise gesellschaftliche Strukturen zu beeinflussen, sind aber enge Grenzen gesetzt . Dies vor allen Dingen deshalb, weil die Sonder-pĂ€dagogik selbst Teil gesellschaftlicher Strukturen ist und auf ihren verschie-denen Wirkungsebenen komplexen Interaktions- und Wechselbeziehungen ausgesetzt ist . Die Macht, in diesen komplexen Strukturen weitreichende Änderungen zu bewirken, ist denn auch stark begrenzt . Zwar kann die Son-derpĂ€dagogik ihren Auftrag nach innen gestalten . Von außen wird ihr der Auftrag aber gesellschaftlich respektive staatlich gegeben . Dieser Unterschied

290 Inklusion und Gerechtigkeit

zwischen der Möglichkeit zur Gestaltung und der Unmöglichkeit, sich den Gestaltungsauftrag zur GÀnze selbst zu geben, hat fundamentale Auswirkun-gen auf die Machtbereiche sonderpÀdagogischen Handelns .

Inklusion als ein Interesse unter vielen

Es zeigt sich eine dritte Grenze . Inklusion ist zweifelsohne ein wichtiges In-teresse von Menschen . Insbesondere entspricht Inklusion einem Grundbe-dĂŒrfnis von Menschen, mit anderen nahestehenden Menschen zusammen sein zu können . Inklusion ist auch, wie das sechste Kapitel gezeigt hat, so-wohl eine wichtige Voraussetzung fĂŒr menschliche Entwicklung wie auch selbst Folge von Entwicklung . Dies hat sich insbesondere in der Bedeutung sozialer IntentionalitĂ€t, die Voraussetzung wie Folge von Inklusion ist, ge-zeigt . Inklusion ist darĂŒber hinaus an PlĂ€ne und Ziele von Menschen gebun-den . Insofern hat Inklusion auch einen wichtigen freiheitsrelevanten Aspekt . Die ErfĂŒllung von PlĂ€nen und Zielen nach Inklusion zeigt nĂ€mlich den Be-reich dessen an, wo Menschen substanziell frei sind, tun und sein zu können, was sie möchten . Nicht alle diese Interessen lassen sich aber ĂŒber ein Recht absichern . Dies gilt fĂŒr die Inklusion in Gemeinschaften und generell fĂŒr alle partikularen Aspekte von Inklusion .

Der Punkt ist zudem – und deshalb ist auch hier wieder von einer Gren-ze die Rede –, dass, auch wenn Inklusion ein unbestritten wichtiges Interesse von Menschen ist, es eben nicht das einzige ist . Menschen haben auch Inter-essen, die sich nicht oder zumindest nicht direkt mit Inklusion in Verbin-dung bringen lassen . So steht gerade das Interesse an Freiheit, sofern es nicht PlĂ€ne und Ziele nach Inklusion in selbst gewĂ€hlte Gemeinschaften betrifft, eben gerade nicht oder nicht zwingend mit Inklusion in Zusammenhang . Dies gilt im selben Maß fĂŒr andere Interessen von Menschen, die weniger die Einbindung und Zugehörigkeit, sondern vielmehr die Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen betonen . Autonomie und Selbstbestim-mung sind zwar beide Voraussetzungen fĂŒr Inklusion, sie sind aber, und das ist der Punkt, selbst keine Interessen nach Inklusion .

Inklusion und SonderpÀdagogik 291

Nicht einziges Ziel der SonderpÀdagogik

Viertens ist Inklusion zweifelsohne ein wichtiges Ziel sonderpĂ€dagogischer BemĂŒhungen, aber nicht das einzige . Gerade in der gesellschaftlichen Funk-tion von Bildung ist die Bildung zum BĂŒrger durchaus als pĂ€dagogisch-gesell-schaftlicher Inklusionsauftrag zu sehen . Schule nimmt beispielsweise per se von ihrer ZustĂ€ndigkeit her, einen wichtigen Inklusionsauftrag wahr . Sie ist, mit anderen Worten, ihrem Auftrag nach der gesellschaftlichen Inklusion ver-pflichtet . Auch sind viele Lern- und Bildungsziele des Bildungssystems auf ein weiteres gesellschaftliches System, nĂ€mlich das Arbeitssystem, gerichtet . Die Schule bereitet SchĂŒlerinnen und SchĂŒler auf den Übergang ins Arbeits-leben vor . Auch hierin liegt also ein wichtiger Inklusionsauftrag von Bildung, der in der Schule verwirklicht wird .

Damit erschöpft sich der Auftrag von Bildung aber keineswegs . Ja, im Grunde genommen deckt dieser Aspekt von Bildung nur einen Teil des Werts von Bildung ab, nĂ€mlich die instrumentelle Bedeutung von Bildung . Bildung hat darĂŒber hinaus aber auch einen intrinsischen Wert, der sich oft so ausdrĂŒckt, dass Bildung den Menschen als Menschen bildet . In dieser etwas verklausulierten Aussage steckt einiges an Wahrheit: Bildung ist auch dazu da, die Potenziale des Menschen zu ergrĂŒnden und zu fördern . Darauf hin-gewiesen zu haben, dass auch behinderte Menschen Potenziale, FĂ€higkeiten und Fertigkeiten haben, ist denn auch zu Recht Teil des historischen Erfolgs sonderpĂ€dagogischer BemĂŒhungen .

Der Punkt ist aber, dass der Auftrag von Bildung, die Potenziale in Men-schen zu wecken und zu verfestigen, nicht zur GÀnze auf Inklusion und da-mit auf zwischenmenschliches und gesellschaftliches Zusammenleben ge-richtet ist . Vielmehr richtet sich dieser Teil des Auftrags in direkter Weise an das Individuum und seine FÀhigkeiten und Fertigkeiten, unabhÀngig davon, ob sich diese in sozialer Weise auswirken oder nicht .

Nicht alles im Leben ist durch Bildung beeinflussbar

FĂŒnftens gerĂ€t Inklusion als sonderpĂ€dagogisches Ziel noch aus einem relativ banalen Grund an Grenzen: Nicht alles im Leben von Menschen ist durch Bildung und insbesondere durch Institutionen der Bildung – vornehmlich der Schule – beeinflussbar . So kann die SonderpĂ€dagogik zwar ihr Hand-lungsfeld auf Freizeitbereiche oder den Arbeitsbereich ausweiten und damit

292 Inklusion und Gerechtigkeit

das angestammte Kernland der Schule verlassen; die Tatsache aber, dass nicht ĂŒberall sonderpĂ€dagogische Maßnahmen greifen oder angebracht sind, bleibt bestehen . So ist es ein Faktum, dass das, wonach sich so viele Men-schen mit Behinderung sehnen, nĂ€mlich nach Freundschaften und nach Lie-be, nicht nur kein Recht darstellt, sondern auch nicht oder nur geringfĂŒgig und zumindest nicht direkt pĂ€dagogisch beeinflussbar ist . Die Hilflosigkeit angesichts dieses Dilemmas zeigt sich in einer Folge von â€șÜsi Badiâ€č besonders deutlich: Remo, der Mann mit Down Syndrom, den ich bereits zu Beginn der Arbeit vorgestellt habe, wĂŒnscht sich nichts sehnlicher als eine Freundin und Liebe . Eines Nachmittags wandert er daher auf dem BadeanstaltgelĂ€nde umher und fragt mehrere Frauen, ob sie seine Freundin werden möchten . Alle lehnen ab . Nach Beendigung dieser erfolglosen Versuche weint Remo . Bademeister Erwin, der das Ganze beobachtet hat, bringt Remo daraufhin ein SĂŒĂŸgetrĂ€nk, klopft ihm auf die Schulter und sagt: »Das kommt schon wieder . Du hast ja Maya .«8 Remo antwortet: »Ja, aber die gehört dir .« Auch wenn der Versuch des Bademeisters hilflos war und die Antwort von Remo durchaus berechtigt – was hĂ€tte dieser anderes sagen oder tun können? Es gibt ja nicht nur kein Recht auf Liebe und Freundschaft und darĂŒber hinaus sind auch beide nur schwer pĂ€dagogisch (oder in diesem Fall agogisch) zu beeinflussen .9 Was ein Bademeister in diesem Fall tun kann, ist Empathie zu zeigen sowie Remo soziale Normen10 zu vermitteln . Nur Letzteres ist Inhalt sonderpĂ€dagogischen Handelns, das erste ist Voraussetzung fĂŒr sonderpĂ€da-gogischen Handelns .

Innerhalb dieser Grenzen, die ich mit fĂŒnf Punkten benannt habe, be-wegt sich der sonderpĂ€dagogische Auftrag betreffend Inklusion . Der genaue Inhalt dieses Auftrags verkompliziert sich zusĂ€tzlich, wenn man sich folgen-de, grundsĂ€tzliche Schwierigkeiten sonderpĂ€dagogischen Handelns vor Au-gen fĂŒhrt, auf die ich im Folgenden abschließend zu sprechen komme .

8 Maya ist die Frau des Bademeisters Erwin . 9 Hierbei hilft auch keine Surrogat-Freundschaft durch Professionelle, welche meiner Mei-

nung nach abgelehnt werden sollte, da sie das fundamentale Element von Freundschaft, nĂ€mlich die Freiwilligkeit, zerstört . Und eine solche ist zweifellos nicht gegeben, wenn sie einem – unter UmstĂ€nden selbst gegebenen – Rollenauftrag entspringt .

10 Eine solche Norm kann beispielsweise im Fall von Remo darin bestehen, Frauen, die man eben erst kennen gelernt hat, nicht gleich â€șLiebeâ€č zu gestehen . Es wĂŒrde, mit anderen Worten, bedeuten, Remo zu vermitteln, dass das, was er in diesem Moment empfindet, sozialen Normen nach nicht Liebe, sondern bestenfalls Interesse genannt werden kann, und dass er daher seine AnnĂ€herungsversuche anders formulieren sollte .

Inklusion und SonderpÀdagogik 293

8 .3 Die Herausforderungen sonderpÀdagogischen Handelns und Wissens

Die Herausforderungen sonderpĂ€dagogischen Handelns und Wissens, de-nen auch inklusionspĂ€dagogische BemĂŒhungen ausgesetzt sind, zeigen sich auf vier Ebenen: Erstens besteht in mehreren Hinsichten ein MachtgefĂ€lle zwischen Anbietern und Abnehmern sonderpĂ€dagogischer Leistungen . Dies wirkt sich nicht zuletzt in pĂ€dagogischen Paradoxien aus . Zweitens findet sonderpĂ€dagogisches Handeln vielfach unter Unsicherheit statt . Drittens be-steht eine Herausforderung in der Vermittlung von Allgemeinem und Be-sonderem . Viertens besteht ein Problem in den spannungsgeladenen Werten und Interessen . Alle diese Herausforderungen können wiederum auf eine Disziplinebene, eine Professionsebene und eine Ebene praktischen Handelns gespiegelt werden . Besonders deutlich werden sie auf letzterer, daher bezie-hen sich die Beispiele, die ich zur Anschaulichkeit anfĂŒge, meist auf die Ebe-ne der sonderpĂ€dagogischen Praxis .

InhÀrentes MachtgefÀlle

Erstens besteht in sonderpĂ€dagogischem Handeln ein MachtgefĂ€lle vom professionell TĂ€tigen zum Individuum mit Behinderung . Dies zeigt sich be-reits in der Ausgangslage, in der sich Menschen mit Behinderung befinden . Schon im vierten Kapitel habe ich nĂ€mlich aufgezeigt, dass die normative Problematik von Behinderung darin liegt, dass die betroffenen Menschen aufgrund einer SchĂ€digung und unter bestimmten Umweltbedingungen in den BemĂŒhungen, ein gutes Leben fĂŒhren zu können, gefĂ€hrdet sind . Das Schlechte an Behinderung ist mit anderen Worten, dass es menschliches Wohlergehen reduziert . Damit grenzt sich Behinderung von SchĂ€digung und BeeintrĂ€chtigung ab . In diesen ist eine Reduktion von Wohlergehen nicht zwangslĂ€ufig impliziert . Das siebte Kapitel wiederum hat gezeigt, dass man das Recht auf Inklusion den Menschen mit Behinderung als Mitglieder einer sozialen Gruppe zuschreiben sollte . Demzufolge sind Menschen mit Behinderung aus dem Grund Mitglieder dieser Gruppe, weil sie unter sozia-ler Benachteiligung – unter anderem auch aufgrund gesellschaftlicher Zu-schreibungsprozesse – leiden, ĂŒber die sie selbst keine oder nur geringe Macht besitzen .

294 Inklusion und Gerechtigkeit

Diejenigen, die sonderpÀdagogische Hilfe praktisch leisten, sind aber selbst nicht von gesellschaftlicher Benachteiligung betroffen, zumindest nicht von derselben Art . Daraus ergibt sich ein potenzielles MachtgefÀlle: Auf der einen Seite sind diejenigen, die Hilfe benötigen, um aus der Position gesell-schaftlicher Benachteiligung herauszukommen . Auf der anderen Seite befin-den sich diejenigen, die schon allein aufgrund der faktischen Möglichkeit, helfen zu können, nicht in dieser Position sein können .

Das der sonderpĂ€dagogischen Arbeit inhĂ€rente MachtgefĂ€lle zeigt auch, dass in ihr immer zwischen dem Zwang zur Mitarbeit und der zur erfolgrei-chen BewĂ€ltigung der Aufgabe benötigten freiwilligen Zusammenarbeit ver-mittelt werden muss . Aus diesem Grund zeigt sich hier auch die Paradoxie eines Rechtsanspruchs auf sonderpĂ€dagogische UnterstĂŒtzung . Zwar besteht ein Recht auf Hilfe an und fĂŒr sich, nicht aber auf die Art und Weise, wie diese Hilfe erbracht wird . ZusĂ€tzlich wird die ErfĂŒllung des Rechts auf spe-zielle UnterstĂŒtzung zumindest im schulischen Kontext durch die Schul-pflicht gebrochen . Denn es besteht ja nicht nur ein Recht auf Bildung, es besteht auch eine Pflicht zu Bildung . Daher kommt sonderpĂ€dagogische Hilfe in diesem Zeitraum auch denjenigen zu, die von diesem Recht keinen Gebrauch machen möchten .

Unsicherheiten in Diagnostik und Prognostik

Die zweite Herausforderung besteht darin, dass sonderpĂ€dagogisches Han-deln und Wissen, vor allem in der praktischen Anwendung, von diversen Unsicherheiten geprĂ€gt ist . Erstens besteht Unsicherheit bezĂŒglich der StĂ€r-ke und den Auswirkungen von individuellen EntwicklungsbeeintrĂ€chtigun-gen, insbesondere auf Bildungsprozesse . Dies ist eine Herausforderung fĂŒr sonderpĂ€dagogische Diagnostik, also beispielsweise verstehende, rehistorisie-rende, biographische, ressourcenorientierte und andere diagnostische Zu-gĂ€nge der SonderpĂ€dagogik . Zweitens besteht Unsicherheit bezĂŒglich den Entwicklungsmöglichkeiten und -potenzialen von Individuen . Damit ist die sonderpĂ€dagogische Prognostik angesprochen . Sie muss neben internen Res-sourcen und der individuellen EntwicklungsfĂ€higkeit immer auch externe Ressourcen, das Umfeld des behinderten Menschen und gesellschaftliche Strukturen (mit ihren Kontingenzen) im Auge behalten . Denn alle diese Faktoren beeinflussen individuelle Entwicklungsmöglichkeiten und halten den weiteren Entwicklungsverlauf bis zu einem gewissen Grad offen .

Inklusion und SonderpÀdagogik 295

Das macht sonderpĂ€dagogische Diagnostik und Prognostik nun zwar nicht zu einem RĂ€tselraten; vielmehr zeichnet sich eine ProfessionalitĂ€t in beiden Gebieten gerade dadurch aus, dass diagnostische und prognostische Erkenntnisse mit Hilfe theoretischer, normativer und vor allen Dingen em-pirischer Erkenntnisse untermauert und begrĂŒndet werden . Diagnostik und Prognostik können aber aufgrund ihrer inhĂ€renten Offenheit nie exakt sein . Daher mĂŒssen die gewonnen Erkenntnisse stĂ€ndig hinterfragt und gegebe-nenfalls revidiert werden . Aus demselben Grund liegt die besondere Leistung der SonderpĂ€dagogik sowohl darin, vorliegende Hinweise richtig zu inter-pretieren, als auch in der kritischen FĂ€higkeit von Professionellen, einmal gewonnene Erkenntnisse zu revidieren, sollte sich die Erkenntnislage Ă€n-dern .

Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem

Die dritte Herausforderung sonderpÀdagogischen Handelns und Wissens liegt darin, dass SonderpÀdagogik zwischen Allgemeinem und Besonderem vermitteln muss . Dies zeigt sich in dreierlei Hinsicht, einmal hinsichtlich abstraktem Recht und konkreter Interpretation, einmal hinsichtlich Gleich-heit und Differenz von Menschen und einmal hinsichtlich abstraktem Wis-sen der Disziplin und konkreter Anwendung in der Praxis .

Bildung stellt ein allgemeines, auch demokratisch verbrieftes Recht dar, das sich aus dem Gleichheitsgebot ergibt . Das heißt, es gilt fĂŒr alle Men-schen, auch fĂŒr alle Menschen mit Behinderung . Was aber heißt dies nun konkret? Meiner Meinung nach lĂ€sst sich folgendes aus dem abstrakten Recht auf Bildung schließen: In der Umsetzung des gleichen Rechts auf Bil-dung kommt der Regelbeschulung das Primat zu . Die Sonderbeschulung wird begrĂŒndungsbedĂŒrftig . Dies aus folgenden GrĂŒnden: Nimmt man an, dass alle Menschen ein Recht auf Bildung haben, bedeutet dies, dass man allen Menschen ein Interesse nach Bildung zuschreiben kann . Da Bildung in den meisten Kulturkreisen als gemeinschaftliche Aufgabe gesehen wird und daher auch in Gemeinschaften umgesetzt wird, ist begrĂŒndungsbedĂŒrftig, weshalb diese nicht in Gemeinschaften von Gleichaltrigen stattfinden soll, zu denen neben nicht behinderten auch behinderte Kinder und Jugendliche gehören .

Denn die Schule ist ein geteilter Erfahrungsraum, in welchem Heran-wachsende miteinander Bildung empfangen und umsetzen (vgl . Eberwein

296 Inklusion und Gerechtigkeit

1988, S . 343; Prengel 1995, S .  140) . Sie ist, mit anderen Worten, sowohl Umwelt als auch Lebensraum, in welcher Partizipation im Sinne aktiven sozialen Bezugs möglich wird (vgl . Heimlich 2003, S . 140) . Dieser ist in ei-ner Sonderschule nicht im selben Maß möglich, da sie bereits stark auf eine bestimmte Auswahl von SchĂŒlern eingeschrĂ€nkt ist .

Gerade das Beispiel von Sabine und dem Hörbehinderteninternat, das ich eingangs der Arbeit vorgestellt habe, zeigt aber, dass die Umsetzung des Rechts in EinzelfĂ€llen dennoch Richtung Sonderschule tendieren kann . Dies gerade deshalb, weil ein Hörbehinderteninternat unter UmstĂ€nden das spe-zielle Recht auf die Ermöglichungsbedingungen auf Inklusion, beispielswei-se SelbstwertgefĂŒhl oder der Umgang mit der SinnesbeeintrĂ€chtigung, besser zu leisten imstande ist als die Regelschule . Dies allerdings nur, weil und in-sofern es vom betroffenen MĂ€dchen und seinen Angehörigen auch gewĂŒnscht wird . Denn nur so kann Freiheit in der Wahl des Kontextes von Inklusion abgesichert werden . Ob ein prinzipielles Recht auf Bildung in einem selbst gewĂ€hlten Kontext aber auch tatsĂ€chlich umgesetzt wird, misst sich nicht zuletzt auch an anderen Fragen, beispielsweise: Wie groß ist – auch ange-sichts des großen finanziellen Mehraufwands, den der Besuch eines Hörbe-hinderteninternats bedeutet – die GefĂ€hrdung fĂŒr Sabine, wenn sie im Re-gelschulkontext verbleibt? Ist, mit anderen Worten, bei einem Verbleib ihre LebensqualitĂ€t gefĂ€hrdet? Ist diese in Gefahr, gerĂ€t das MĂ€dchen nĂ€mlich in den Fokus spezieller Rechte . Das Recht auf Bildung wird dabei durch das Recht auf spezielle UnterstĂŒtzung als Voraussetzung fĂŒr Inklusion ergĂ€nzt . Dadurch kann argumentiert werden, dass das Recht auf Bildung im Fall von Sabine tatsĂ€chlich in einem separativen Kontext adĂ€quater umgesetzt wer-den kann .11

Das Dilemma zwischen Allgemeinem und Besonderem zeigt sich wie ausgefĂŒhrt im AbwĂ€gen zwischen allgemeinen und besonderen Rechten so-

11 Damit kommt die Utopie von inklusiver Schule, welche sich zentral am Wohlergehen von Individuen orientiert, folgender von Emil E . Kobi (2006, S . 40) sehr nahe: »In einer mo-dernen Demokratie mit kulturell unterschiedlichen, teils sogar kontrĂ€ren Erwartungen sind [
] entsprechend viele Varianten von Schule zuzulassen: inklusive und exklusive, integrative und separative sowie partielle und passagere Mischformen hiervon . Schulen sollen â€șAttraktorenâ€č (Anziehungspunkte) sein, Biotope, die um ihrer artgemĂ€ssen (diesfalls zweifellos human kindsgemĂ€ssen, aber auch ideell und kulturell stimmigen) Lebensquali-tĂ€t wegen aufgesucht werden .« Eine Schule, die, so Kobi, keine Totale Institution sein wolle, mĂŒsse auch die Möglichkeit von Selbst-Exklusion offen halten . Wichtig ist in die-sem Zusammenhang, dass insbesondere der Prozessaspekt von Freiheit beachtet wird . Dies heißt, dass darauf zu achten ist, dass die Entscheidung fĂŒr eine Sonderbeschulung ohne Zwang und Druck zustande kommt .

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wie der Frage, wie sich diese individuell legitimieren und wie pĂ€dagogisch darauf reagiert wird . Eine inklusive SonderpĂ€dagogik muss immer wieder zwischen dem moralischen Anspruch behinderter Menschen, als Gleiche mit Rechten behandelt zu werden, und der Differenz von Menschen mit Behin-derung aufgrund ihrer multidimensionalen Behinderung, vermitteln . Damit ist der Aspekt dessen, was Menschen individuell mitbringen, angesprochen . In pĂ€dagogischer Hinsicht sind damit insbesondere individuelle Entwick-lungsvoraussetzungen und Entwicklungsmöglichkeiten gemeint . Dieses Span-nungsverhĂ€ltnis kann nicht aufgelöst, sondern nur bearbeitet werden . Einen entsprechenden Entwurf einer pĂ€dagogischen Bearbeitung hat Annedore Prengel in ihrer â€șPĂ€dagogik der Vielfaltâ€č (1990) angeboten . Darin plĂ€diert sie fĂŒr eine sogenannte â€șegalitĂ€re Differenzâ€č: »EgalitĂ€re Differenz bedeutet, dass in Konzepten demokratischer Bildung durch integrative PĂ€dagogik Gleich-heit und Differenz neu in Beziehung zueinander gesetzt werden . Gleichheit kommt allen Angehörigen der jĂŒngeren Generation zu im Hinblick auf den Zugang zu einer Bildungsinstitution und im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe . Differenz kommt allen Angehörigen der jĂŒngeren Generation zu im Hinblick auf eine respektvolle Anerkennung ihrer individuellen Lern- und Lebensweisen und ihrer KreativitĂ€t . [
] EgalitĂ€re Differenz meint Gleichberechtigung und Freiheit der Verschiedenen« (ebd ., 49ff .) .

In der speziellen Beachtung der Freiheit trotz Differenz, insbesondere in der SensibilitĂ€t fĂŒr die sozial bedingten Ursachen von Differenz, welche sich in den strukturellen Benachteiligungen ausdrĂŒcken, zeigen sich die speziel-len Rechte, die behinderten Menschen qua Behinderung zukommen . Sie sollen behinderten Menschen auf der Basis moralischer Gleichheit ermögli-chen, sich eigene Kontexte von Inklusion zu erarbeiten und notfalls fĂŒr ihre soziale Inklusion zu kĂ€mpfen .

Weiter ergibt sich die Aufgabe einer Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem auch hinsichtlich des in der SonderpĂ€dagogik gewonnen Wissens . Gerade auf der Praxisebene besteht die Herausforderung fĂŒr son-derpĂ€dagogisch TĂ€tige darin, das Wissen, das allgemein auf den Ebenen von Disziplin und Profession gewonnen wurde, auf den Einzelfall anzuwenden . Die dazu notwendige hermeneutische Kompetenz ist eine Kunst, deren Be-herrschung sich oft erst in langer Übung und Anwendung ergibt . Dies zeigt sich insbesondere bei therapeutischen Berufen deutlich .

298 Inklusion und Gerechtigkeit

Arbeit in Spannungsfeldern unterschiedlicher Werte

Die vierte Herausforderung sonderpĂ€dagogischen Handelns und Wissens besteht darin, dass immer wieder zwischen unterschiedlichen Werten und Interessen ausgehandelt werden muss . Die Interessen habe ich bereits ange-sprochen . Nicht nur haben Menschen ein Interesse, in einen kooperativen Rahmen eingeschlossen zu sein respektive in Gemeinschaften und in die Gesellschaft inkludiert zu sein . Bereits darin Inkludierte haben auch ein – gleichfalls berechtigtes – Interesse daran, dass ihre Kooperation nicht gestört wird (vgl . Buchanan 1993) . Diese beiden Interessen mĂŒssen ausgehandelt werden . Das kann in einem Fall dazu fĂŒhren, dass die Zugangsbedingungen und damit die Art und der Umfang einer bestimmten Gemeinschaft selbst verĂ€ndert werden . In einem anderen Fall kann es aber auch dazu fĂŒhren, dass das Individuum auf eine Inklusion in einer bestimmten Gemeinschaft ver-zichten oder die dazu notwendigen Zugangsbedingungen, beispielsweise be-stimmte FĂ€higkeiten, zuerst erwerben muss .

Weiter zeigen sich Spannungsfelder auch hinsichtlich verschiedener Wer-te, die in der SonderpĂ€dagogik verfolgt und beachtet werden mĂŒssen . So sind sowohl Sicherheit wie auch Autonomie oder Selbstbestimmung wichti-ge Werte in der sonderpĂ€dagogischen Arbeit . Beide stehen aber in einem SpannungsverhĂ€ltnis, das sich insbesondere in praktischem Handeln zeigt . Hier können in vielen FĂ€llen BemĂŒhungen um Sicherheit, beispielsweise der Schutz von Menschen mit Behinderung vor AusnĂŒtzung und Missbrauch, in Konflikt zu BemĂŒhungen um Autonomie oder Selbstbestimmung stehen .

Die Herausforderung fĂŒr die SonderpĂ€dagogik besteht dabei nicht in ei-ner Entscheidung fĂŒr oder wider einen Wert, sondern in der Harmonisie-rung der zwei Werte, die beide menschlichen Interessen entsprechen . Auch hier zeigt sich, dass die Herausforderung in der Anwendung auf den Einzel-fall liegt, in welchem die Werte und ihre Schwerpunktsetzung ausgehandelt werden mĂŒssen .

8 .4 Fazit

Das Kapitel hatte die Anwendung der Frage des Rechts auf Inklusion zum Inhalt . Dabei habe ich die Disziplin, die Profession und die Praxis der Son-derpĂ€dagogik unterschieden und kurz angedeutet, worin die Aufgaben fĂŒr

Inklusion und SonderpÀdagogik 299

die jeweiligen Ebenen bestehen . Auch die Tugenden sind dabei nochmals angesprochen worden . Diese betreffen vor allem bestimmte MetafÀhigkei-ten, die vorwiegend im praktischen sonderpÀdagogischen Handeln zur An-wendung kommen .

Die Grenzen des Inklusionsauftrags haben sich in folgenden Bereichen gezeigt: PĂ€dagogische Herstellung ist in bestimmten Bereichen nicht mög-lich; die SonderpĂ€dagogik ist selbst von Voraussetzungen fĂŒr Inklusion ab-hĂ€ngig; Inklusion ist nur ein Interesse unter vielen und sie ist auch nicht das einzige Ziel . Und als letztes kann auch gezeigt werden, dass nicht alles durch Bildung beeinflussbar ist . Auch darin sind sonderpĂ€dagogischen ZugĂ€ngen die HĂ€nde gebunden .

Weiter habe ich die generellen Herausforderungen sonderpÀdagogischen Handelns und Wissens angedeutet, die auch beim sonderpÀdagogischen Ver-such, Inklusion umzusetzen, sichtbar werden . Es sind dies das inhÀrente MachtgefÀlle, die Vermittlung zwischen Besonderem und Allgemeinem, die Unsicherheit in Diagnostik und Prognostik und die Arbeit in Spannungsfel-dern unterschiedlicher Werte und Zielperspektiven .

Damit hat das Kapitel die Folgen fĂŒr die SonderpĂ€dagogik als angewand-te Wissenschaft, Profession und Praxis gezeigt . Die Handlungsorientierung des generierten Wissens sollte zumindest ansatzweise sichtbar geworden sein . Eine Rezeptbuchsammlung aber konnte dieses letzte Hauptkapitel der Ar-beit nicht sein . So bleibt vieles der gedanklichen Arbeit der Leserinnen und Leser ĂŒberlassen .

Was jetzt noch folgt, ist eine kurze Gesamtzusammenfassung der Arbeit und ein Ausblick .

9 . Fazit und Ausblick

Die Ergebnisse meiner Untersuchung zu den moralischen Rechten behin-derter Menschen auf Inklusion lassen sich nun nochmals vor dem Hinter-grund einiger im Verlaufe der Arbeit getĂ€tigten Überlegungen rekapitulie-ren .

Moralische Rechte stellen nur einen kleinen Teil moralischer Forderun-gen dar . Sie sind besonders starke moralische AnsprĂŒche sind, da sie erstens mit Pflichten auf anderer Seite verbunden sind und damit zusammenhĂ€n-gend zweitens auch erzwungen werden können . Was auf der Basis morali-scher Rechte gefordert werden kann, ist dann keine Frage von Freiwilligkeit oder Supererogation . Menschen, Organisationen oder Institutionen mĂŒssen im Gegenteil die mit einem Recht auf Inklusion geforderten Handlungen tĂ€tigen oder solche unterlassen . Dieses MĂŒssen ist ein zunĂ€chst einmal ein moralisches MĂŒssen, es kann aber gegebenenfalls auch in juridisches Recht umgewandelt werden . Denn oft ist es ja gerade die juridische Fassung, wel-che den moralischen Rechten erst zu ihrer lebensweltlichen Durchsetzungs-fĂ€higkeit verhilft .

Geht man davon aus, dass Rechte wichtige Interessen von Menschen ab-decken, gewinnt die These nach dem moralischen Recht auf Inklusion zu-sĂ€tzliche AttraktivitĂ€t . Denn man kann zweifellos davon ausgehen, dass In-klusion ein wichtiges Interesse behinderter Menschen darstellt . Und diese EinschĂ€tzung wird indirekt auch von den meisten BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern in unserer Gesellschaft geteilt . So antworteten in einer Befragung der Euro-pĂ€ischen Kommission, ob mehr fĂŒr die soziale Inklusion behinderter Men-schen getan werden sollte, 98 % der rund 20 .000 Befragten mit Ja (vgl . Eu-ropĂ€ische Kommission 2001) . Diese ĂŒberaus hohe Zustimmungsrate kann nun nicht nur dahingehend gedeutet werden, dass mehr getan werden mĂŒss-te – darauf hatten die Befragten ja inhaltlich geantwortet –, sondern darĂŒber hinaus auch dahingehend, dass hinter der Zustimmung eine faktische Aner-kennung des Anspruchs steht .

Fazit und Ausblick 301

Die Schwierigkeit des Rechts auf Inklusion zeigt sich denn auch nicht in erster Linie daran, dass Inklusion kein (auch faktisch allgemein anerkanntes) wichtiges Interesse von Menschen darstellt, sondern, dass Rechte ganz allge-mein noch vor zwei anderen Herausforderungen stehen . Erstens mĂŒssen sie erzwingbar sein und zweitens mĂŒssen sie im Einflussbereich der PflichtentrĂ€-ger liegen . Gerade diese beiden Bedingungen sind es aber, die ein Recht im Kontext von Inklusion in vielen FĂ€llen unplausibel werden lassen . Am Bei-spiel von Liebe und Freundschaft hat sich das besonders deutlich gezeigt . Niemand kann gezwungen werden, eines Anderen Freund zu werden . Und auch das Empfinden von Liebe, von Freundschaft wie auch von GlĂŒck liegt nicht im Einflussbereich der TrĂ€ger von Pflichten . Damit ist ein großes Di-lemma in der faktischen Lebenswelt behinderter Menschen angesprochen . Denn gerade das, wonach sich die meisten Menschen – nicht nur Menschen mit Behinderung – sehnen, kann nicht ĂŒber Rechte abgesichert werden . Und es lĂ€sst sich darĂŒber hinaus auch nicht oder nur schwer pĂ€dagogisch oder technisch herstellen .

Damit ist ein ernĂŒchterndes Fazit zu ziehen, insofern nĂ€mlich den An-sprĂŒchen und dem SelbstverstĂ€ndnis vieler inklusionspĂ€dagogischer AnsĂ€tze zu Inklusion, aber auch den Intuitionen vieler Menschen sowie den WĂŒn-schen von Betroffenen und ihren Angehörigen eine Absage erteilt wird . Die Absage ist insofern unerbittlich und hart, als sie aussagt, dass das, was gefor-dert wird, in vielen FĂ€llen unrealistisch oder gar antiliberal ist . Nichts desto trotz weist die Absage an Rechte aber auch auf die hohe Bedeutung von Freiwilligkeit, Zuwendung und damit letztlich gemeinschaftlicher wie gesell-schaftlicher SolidaritĂ€t hin . Wie letztere in Zukunft gestĂ€rkt und damit der Abnahme gesellschaftlicher KohĂ€sion entgegengewirkt werden kann, wird eine Herausforderung sein und bleiben . Denn eines scheint klar: Ohne die freiwillige, empathische Zuwendung durch andere Mitmenschen werden nicht nur Menschen mit Behinderung in ihrem Wohlergehen massiv beein-trĂ€chtigt, auch Gesellschaften laufen Gefahr, dass sich ihre BĂŒrger wechsel-seitig entfremden .

Es gibt aber Hinweise, dass das gesellschaftliche Milieu nicht nur kĂ€lter wird, wie oft proklamiert wird, sondern auch Zeichen zu vermehrter – ge-sellschaftlicher – Hinwendung zu behinderten Menschen in unserer Gesell-schaft zu beobachten sind . Zwei Beispiele möchte ich exemplarisch nennen . Da ist zum Ersten der spanische Film â€șYo tambiĂ©nâ€č (Spanien 2009) . Der Ti-tel steht gleichsam als Forderung: ich auch! Das soll heißen, ich habe die gleichen BedĂŒrfnisse wie ihr, ich gehöre auch zu dieser Gesellschaft, ich bin

302 Inklusion und Gerechtigkeit

auch ein Teil von ihr . Ich möchte, dass ihr mich dazu zĂ€hlt, auch wenn ich anders spreche und anders aussehe als ihr . Der das so formuliert – im Film wie im wirklichen Leben – ist der Schauspieler Pablo Piñeda, 34-jĂ€hrig . Er lebt und arbeitet in Sevilla, hat einen Master in PsychopĂ€dagogik und lebt mit Down Syndrom . Im Film â€șYo tambiĂ©nâ€č verkörpert er Daniel Sanz, einen jungen Mann mit Down Syndrom, der in einer Stadtverwaltung in der Ab-teilung arbeitet, die sich um die Inklusion behinderter Menschen kĂŒmmern muss . Als einziger Mensch mit Behinderung wird er von seiner Arbeitskolle-gin, der attraktiven Laura (gespielt von Lola Dueñas), fĂ€lschlicherweise fĂŒr einen Klienten gehalten – ein Umstand, der die beiden bald einander nĂ€her bringt, denn Daniel erklĂ€rt Laura reflektiert und selbstironisch, was ihn von anderen Menschen unterscheidet . Laura ist beeindruckt, eine Freundschaft entwickelt sich . Aber Daniel will mehr, er will eine Liebesbeziehung . Dass diese nicht möglich ist, stĂŒrzt ihn in tiefe Verzweiflung . Der Film verkörpert – lustig, ironisch und auch traurig – die Lebensproblematik, der nicht nur der Protagonist im Film, sondern auch sein Darsteller Pablo Piñeda, ausge-setzt ist . Als Kinofilm, der europaweit große Beachtung erhielt, ist er in der Lage, die Problematik der Inklusion einer Gesellschaft (oder vielmehr einer Gemeinschaft von Filmfans) nĂ€her zu bringen .

Ein anderes Beispiel ist die Sommerserie â€șÜsi Badiâ€č, die letztes Jahr das Sommerloch des Schweizer Fernsehens am Montagabend fĂŒllte und welche bereits mehrfach erwĂ€hnt wurde . VorgĂ€ngig wurde von den Verantwortli-chen ein Flop befĂŒrchtet; von einem dementsprechend großen Wagnis ging man denn auch aus . Was aber geschah? Die Doku-Serie wurde jeden Mon-tagabend von rund 500 .000 Fernsehzuschauern verfolgt und hatte damit knapp 30 % Marktanteil . Die Reaktionen ĂŒberschlugen sich in der Folge fast vor Begeisterung . »Es ist das TV-Highlight des Sommers«, schreibt beispiels-weise die Zeitschrift â€șTeleâ€č vor der letzten ausgestrahlten Folge (Henggeler und Stecher 2010, S . 10) . Am Tisch mit meinen eigenen Verwandten zeigte sich im SpĂ€tsommer ein Ă€hnliches Bild . Was einer aufgeklĂ€rten SonderpĂ€da-gogin vielleicht einen Schauer ĂŒber den RĂŒcken jagen könnte ob all dem mangelnden Wissen ĂŒber Behinderung und Menschen mit Behinderung, kann auch anders gesehen werden . So meinte meine Tante, Hausfrau in ei-nem kleinen Berner Dorf, die Serie hĂ€tte ihr gezeigt, dass diese Menschen auch GefĂŒhle hĂ€tten, dass sie auch arbeiten könnten und dass man ihnen â€șruhig mehr zutrauen könnteâ€č . Das daraus viele ĂŒberwundene Vorurteile sprechen, muss nicht in jedem Fall negativ eingeschĂ€tzt werden . Vielmehr

Fazit und Ausblick 303

spricht es davon, dass im â€șDuâ€č auch das â€șWirâ€č entdeckt wird, wie Axel Hon-neth sagen wĂŒrde . Und das ist es, womit Inklusion beginnt .

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