Download - Inklusion und Gerechtigkeit

Transcript

Inklusion und Gerechtigkeit

Campus Forschung Band 956

Franziska Felder ist Studienleiterin des Bereichs »Gesellschaft und Behinderung« an der Paulus-Akademie Zürich und Assistentin am Institut für Erziehungswis-senschaft der Universität Zürich.

Franziska Felder

Inklusion und GerechtigkeitDas Recht behinderter Menschen auf Teilhabe

Campus VerlagFrankfurt/New York

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbst-semester 2010 auf Antrag von Prof. Dr. Ursula Hoyningen-Süess und Prof. Dr. Peter Schabe r als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-39591-3

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Copyright © 2012 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am MainGedruckt auf Papier aus zertifizierten Rohstoffen (FSC/PEFC).Umschlaggestaltung: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am MainDruck und Bindung: Beltz Druckpartner, HemsbachPrinted in Germany

Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen.www.campus.de

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftli-chen Forschung.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 .1 Fünf Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 .2 Die Bedeutung der Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1 .3 Die Notwendigkeit des Erbringens einer Begründungsleistung für Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1 .4 Der Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Teil I: Grundlagen

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

2 . Begriff, Struktur und Funktion von Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . 31

2 .1 Der Begriff und die Funktion von Rechten . . . . . . . . . . . . . 34

2 .1 .1 Freiheiten, Kompetenzen, Immunitäten und Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 .1 .2 Positive und negative Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 .1 .3 Rechtsobjekt, Rechtssubjekt, Rechtsgegenstand . . . . . 392 .1 .4 Das Verhältnis von Rechten und Pflichten . . . . . . . . . 41

2 .2 Die Begründung von Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

6 Inklusion und Gerechtigkeit

2 .2 .1 Willenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 .2 .2 Interessentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

2 .3 Zwei Ebenen von Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

2 .3 .1 Bedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 .3 .2 Pläne und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

2 .4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

3 . Behinderungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

3 .1 Das medizinische Modell von Behinderung . . . . . . . . . . . . . 63

3 .2 Das soziale Modell von Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

3 .3 Das Wohlbefindensmodell von Behinderung von Kahane und Savulescu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

3 .4 Das Wohlergehensmodell von Behinderung . . . . . . . . . . . . . . 81

3 .5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

4 . Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

4 .1 Hedonistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

4 .2 Wunschtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

4 .3 Objektive Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

4 .4 Der Capability-Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

4 .4 .1 Verwirklichungschancen und Funktionen . . . . . . . . . 964 .4 .2 Die Schwierigkeiten des Capability-Ansatzes . . . . . . . 994 .4 .3 Ein modifizierter Capability-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . 106

4 .5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Inhalt 7

Teil II: Inklusion

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

5 . Die Struktur von Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

5 .1 Gemeinschaftliche versus gesellschaftliche Inklusion . . . . . . 135

5 .2 Gemeinschaftliche Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

5 .2 .1 Partizipative versus exklusive Grundstrukturen von Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1455 .2 .2 Gemeinschaftliche Inklusion und die Bedeutung von Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1525 .2 .3 Passive Partizipation als Form von Inklusion . . . . . . . 158

5 .3 Gesellschaftliche Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

5 .3 .1 Inklusion in den Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1685 .3 .2 Inklusion in den politischen Bereich . . . . . . . . . . . . . 171

5 .4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

6 . Die normative Relevanz von Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

6 .1 Die Bedeutung sozialer Intentionalität für Inklusion . . . . . . 190

6 .2 Die Bedeutung von Anerkennung für Inklusion . . . . . . . . . . 195

6 .3 Die Bedeutung von Freiheit für Inklusion . . . . . . . . . . . . . . 207

6 .4 Freiheit, Entwicklung, Anerkennung und Inklusion . . . . . . . 215

6 .5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

7 . Das Recht auf Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

7 .1 Soziale Ungleichheit und strukturelle Benachteiligung . . . . . 228

7 .2 Der Staat als moralischer Agent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

8 Inklusion und Gerechtigkeit

7 .3 Das Interesse an Nicht-Exklusion und an Inklusion . . . . . . . 243

7 .3 .1 Das Recht auf Nicht-Diskriminierung . . . . . . . . . . . . 2447 .3 .2 Das Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2547 .3 .3 Die Inhalte des Rechts auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion . . . . . . . . 258

7 .4 Ein – vorerst ernüchterndes – Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

7 .5 Inklusionstugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

7 .6 Die Utopie einer guten Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

7 .7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Teil III: Anwendung

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

8 . Inklusion und Sonderpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

8 .1 Die Aufgaben von Disziplin, Profession und Praxis in Hinblick auf Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

8 .2 Die Grenzen des Inklusionsauftrags in der Sonderpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

8 .3 Die Herausforderungen sonderpädagogischen Handelns und Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

8 .4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

9 . Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

Vorwort

Das vorliegende Buch hat zum Ziel, ein Recht auf Inklusion für Menschen mit Behinderung zu begründen . Um dies leisten zu können, ist es nicht nur notwendig, zu klären, was Rechte sind, auch das Konzept von Inklusion muss einer genauen begrifflichen und normativen Prüfung unterzogen wer-den . Betrachtet man die Debatte um Integration oder Inklusion, stellt diese Zugangsweise zu Inklusion zumindest in der Sonderpädagogik weitgehend ein Desiderat dar .

Das gewählte Vorgehen ist ein analytisches . Als solches erhebt es An-spruch auf eine gewisse Systematik und darauf, nachvollziehbare Gründe für eine bestimmte Position zu liefern . Ich hoffe, in der vorliegenden Arbeit solche Gründe vorzulegen und damit eine neue, sachlicher geführte Debatte um den Wert von Inklusion und die mit Inklusion verbundenen Forderun-gen anstoßen zu können .

Eine Arbeit wie diese wäre nicht möglich gewesen ohne das Interesse und die Bereitschaft einiger Menschen, Thesen mit mir zu diskutieren, sich ein-zelne Argumente genauer anzuschauen oder den roten Faden einer Argu-mentation in den Blick zu nehmen . Dabei konnte ich mich auf Kolleginnen und Kollegen aus der Philosophie, insbesondere am Ethikzentrum der Uni-versität Zürich sowie am University College London, verlassen . Danken möchte ich speziell Peter Schaber, Susanne Schmetkamp, Barbara Schmitz, Hubert Schnüriger, Thomas Schramme, Ivo Wallimann-Helmer und Jo Wolff sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kolloquien von Pe-ter Schaber und Jo Wolff, welche die Arbeit in verschiedenen Stadien der Entwicklung begleitet haben und mit einzelnen Hinweisen mehr bewirkt haben, als hier namentlich ausgewiesen werden kann .

Auch in der Sonderpädagogik haben einige Personen mit ihren Kom-mentaren und Hinweisen dafür gesorgt, dass die Anschlussfähigkeit an die sonderpädagogische Diskussion hergestellt und das Ganze auch für sonder-pädagogische Leserinnen und Leser verständlich wurde . Besonders danken

10 Inklusion und Gerechtigkeit

möchte ich hier Corinna Badilatti Steger, Kai Felkendorff, Ursula Hoyingen-Süess, Didi Käufeler, Christian Liesen, Kathrin Wanner und Corinne Wohl-gensinger .

Und schließlich gibt es auch Menschen, welche auf unterschiedliche Weise die zwischenmenschliche Inklusion der Autorin sicherstellten . Hier geht besonderer Dank an meine Familie und Freunde, insbesondere an Ueli und Robert .

1 . Einleitung

1 .1 Fünf Beispiele

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Frage nach dem Recht behin-derter Menschen auf Inklusion .

Die Frage kann in ganz unterschiedlichen Bereichen des Lebens der be-troffenen Menschen auftauchen, wie die unten stehenden Fälle zeigen: im Kontext der Regelschule, in einem Fußballklub oder in einer Kunsthoch-schule, um nur einige lebensweltliche Beispiele zu nennen . Sie kann sich am Aspekt des Zugangs und damit den Voraussetzungen für Inklusion entzün-den wie auch den Prozess oder den Zustand von Inklusion selbst betreffen . Die folgenden Praxisbeispiele, die sich auf Beobachtungen und Erfahrungen stützen,1 sollen unterschiedliche, aber keineswegs erschöpfende, Facetten der Frage nach einem Recht auf Inklusion veranschaulichen .

Beispiel 1: Sabine und das Gehörloseninternat

Sabine ist gehörlos und wurde bereits als Kleinkind mit Cochlea-Implanta-ten ausgestattet . Begleitend dazu erhält sie eine sonderpädagogische Sprach-therapie . Sabine ist ein intelligentes und sprachbegabtes Mädchen und wird von ihren Eltern in vielerlei Hinsicht unterstützt . Mit Hilfe einer audiopäd-agogischen Begleitung besucht sie mit Erfolg den Kindergarten und die Grundschule an ihrem Wohnort . Eine integrative Beschulung in der weiter-

1 Das Beispiel des Mädchens, das ich Sabine nenne, verdankt sich Peter Lienhard, der dieses in der Arbeit an einem gemeinsam mit Christian Liesen und mir geschriebenen Artikel eingebracht hat . Das Beispiel von Alison Lapper verdankt sich ihrer Autobiographie ›My Life in my Hands‹ (2005) . Das Beispiel von Remo stammt aus der auf SF1 2010 ausge-strahlten Sommerserie ›Üsi Badi‹ (auf Deutsch: Unsere Badeanstalt) . Die zwei anderen Beispiele beruhen auf eigenen Erfahrungen . Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden hier die Namen geändert .

12 Inklusion und Gerechtigkeit

führenden Schule scheint problemlos möglich und ist daher fast schon be-schlossene Sache . Vor dieser Entscheidung hört sie von einem Hörbehinder-teninternat . Nach einem Besuch der dortigen Schule äußert sie sich begeistert, da sie andere Mädchen mit Hörbeeinträchtigung kennen gelernt und sich mit diesen sehr wohl gefühlt hat . Ihren Eltern gegenüber formuliert das Mädchen den Wunsch, mit anderen gleichaltrigen Mädchen mit dersel-ben Beeinträchtigung die weiterführende Schule besuchen zu können . Die Eltern unterstützen diese Idee, weil sie das Umfeld der Sonderschule für die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Tochter als wichtig erachten .

Hat das Mädchen ein Recht auf die von ihr gewünschte Beschulung in einem Gehörloseninternat? Und kann diese im Grunde separative Beschu-lung als Inklusion bezeichnet werden?

Beispiel 2: Remo in ›Üsi Badi‹

Remo ist ein Protagonist einer mehrteiligen Doku-Serie, welche im Sommer 2010 im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde . Diese begleitet sechs Men-schen mit geistiger Beeinträchtigung bei ihrer Arbeit im öffentlichen Freibad St . Margrethen, nahe der deutschen und österreichischen Grenze . Die sechs für die Serie ausgewählten Menschen helfen dem Bademeisterehepaar einen Sommer lang beim Bewirten der Gäste, den Reinigungsarbeiten auf dem Gelände und beim Kioskbetrieb . Gemeinsam mit zwei Betreuern wohnen sie während fast zweier Monate in Wohnwagen auf dem Gelände .

Bereits in der ersten Folge zeigen sich Probleme zwischen Remo, einem 43-jährigen Mann mit Down Syndrom, und seinen fünf Kollegen . Remo wird von den anderen als laut, frech und faul angesehen, als jemand, der sich jeweils die besten Arbeiten aussucht und das macht, was ihm gerade passt . In der vierten Sendung scheint die Situation zu eskalieren: Remo will nach Hause und einige seiner Kollegen äussern die Meinung, dass das Leben auf dem Zeltplatz angenehmer wäre ohne ihn .

Hat Remo ein Recht, in die Gemeinschaft inkludiert zu sein, selbst wenn seine Anwesenheit andere stört? Falls ja: Kann er sich dabei auf seine Beein-trächtigung beziehen? Gibt ihm diese, anders gefragt, ein besonderes Recht auf Inklusion in die Gemeinschaft? Oder ist es vielmehr so, dass seine fünf Kollegen das Recht haben, ihn aus der Gemeinschaft auszuschließen?

Einleitung 13

Beispiel 3: Alberto und der Lieblingsfußballklub

Alberto ist der wohl treuste und größte Fan eines der beiden stadtzürcheri-schen Fußballklubs . Er hat eine schwere Cerebralparese und kann nur den Zeigefinger seiner rechten Hand willentlich und koordiniert bewegen . Al-berto wohnt in einem Heim, das vorwiegend von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung bewohnt wird . Als Mensch mit schwerer körperlicher, aber ohne geistige Beeinträchtigung fühlt er sich in diesem Heim unwohl . Die Ausflüge an die wöchentlichen Fußballmatches während der Fußballsaison sind daher willkommene Ausflüge aus der für ihn tristen Welt des Heims .

Da sein Vater eine hohe Position innerhalb des Schweizerischen Fußball-verbands bekleidet hat, erlangt Alberto früh Zugang zu Fußballspielern, Fußballspielen und Fußballclubs . Des Öfteren wird er zu Anlässen mit pro-minenten Fußballspielern eingeladen und darf auch alle Spiele seines Lieb-lingsklubs gratis besuchen . In seinem Heimklub hat er den Posten eines so genannten ›Fußballmaskottchens‹ inne . Das bedeutet, er darf auf den Mann-schaftsfotos erscheinen, als wäre er ein reguläres Mitglied der Mannschaft . Auch darf er sich während den Spielen außerhalb des Spielfelds in dem Be-reich, der eigentlich für die Mannschaft und gegebenenfalls für Sanitäter und Sicherheitspersonal reserviert ist, aufhalten .

Hat Alberto ein Recht auf diese Form von Inklusion in seinen Lieblings-verein? Falls ja, aus welchen Gründen käme ihm dies zu? Hat er zudem ein Recht auf spezielle Unterstützung, beispielsweise auf Begleitung zu den je-weiligen Fußballspielen?

Beispiel 4: Alison Lapper und der Zugang zur Kunsthochschule

Alison Lapper ist eine englische Künstlerin, die ohne Arme und mit verkürz-ten Beinen geboren wurde . Bekannt wurde sie vor allem durch die Statue des Bildhauers Marc Quinn, der sie nackt und im 7 . Monat schwanger darstell-te . Die Statue mit dem Titel ›Alison Lapper pregnant‹ – eine über 15 Tonnen schwere Marmorfigur, welche die 4 . Säule am Trafalgar Square während rund zweier Jahre belegte – erregte großes Aufsehen .

Lapper hatte seit frühester Kindheit in einem Heim gelebt, aus dem sie mit 19 Jahren schließlich auszog . In London suchte sie sich eine Wohnung und erwarb den Führerschein . Ein Studium in bildender Kunst an der Uni-versität von Brighton schloss sie mit Auszeichnung ab . Heute ist Alison Lap-

14 Inklusion und Gerechtigkeit

per selbst eine bekannte und bedeutende Künstlerin, unter anderem wurde sie 2003 von der Queen mit dem Order of the British Empire (MBE) für ihre künstlerische Arbeit ausgezeichnet . Sie hat einen Sohn, der ohne körper-liche Beeinträchtigung zur Welt kam und der häufig Gegenstand ihrer Kunst und der Auseinandersetzung mit Fragen rund um Behinderung und Schön-heit ist .

Obwohl Alison Lapper weitgehend selbständig ist, braucht sie bei zahl-reichen alltäglichen Verrichtungen Unterstützung und Begleitung durch an-dere Menschen . Insbesondere benötigte sie Unterstützung und Begleitung beim Besuch der Kunsthochschule, für deren Besuch sie den Zuschlag erhal-ten hatte . Hat Alison Lapper ein Recht auf die besondere Unterstützung? Und was hat eine solche Unterstützung oder Begleitung mit Inklusion zu tun?

Beispiel 5: Karin und der Kindergarten in der Gemeinde

Karin ist ein Mädchen von fünf Jahren, das mit Spina bifida geboren wurde . Als Folge dieser Schädigung ist sie auf den Rollstuhl angewiesen und bis heute weitgehend inkontinent, so dass sie, anders als andere Kinder in ihrem Alter, Windeln tragen muss . Der Kindergarten in ihrer Gemeinde ist nicht auf Kinder im Rollstuhl eingestellt . Eine Treppe führt vom Erdgeschossbe-reich in den ersten Stock eines Holzhauses, in welchem sich der Kindergar-ten der kleinen Landgemeinde befindet .

Den Eltern von Karin ist es wichtig, dass ihre Tochter mit anderen Kin-dern des Wohnortes beschult werden kann . Eine Beschulung in diesem Kin-dergarten wäre aber mit großen baulichen Anpassungen am Gebäude ver-bunden . Der Bau einer Rampe ist aufgrund des Höhenunterschiedes und der engen Platzverhältnisse vor dem Gebäude nicht möglich, da die Rampe zu steil ausfallen würde . In Frage kommt also nur der Bau eines Lifts, wel-cher an der Außenseite des Gebäudes angebracht werden könnte . Die kleine Landgemeinde erachtet den Bau eines Lifts als zu teuer und auch unange-messen angesichts der Tatsache, dass Karin die einzige Person ist, die gegen-wärtig einen solchen Lift benötigt . Auch bringen Gemeindevertreter das Argument ein, dass Karin die Möglichkeit zum Besuch einer Sonderschule hätte, welche sich in einer der Nachbargemeinden befindet .

Haben die Eltern das Recht, stellvertretend für ihre Tochter auf den Bau dieses Lifts zu drängen, welcher ihr den Besuch des Regelkindergartens er-

Einleitung 15

möglichen würde? Haben sie darüber hinaus auch das Recht auf Begleitung ihrer Tochter beim Toilettenbesuch, den sie nicht allein erledigen kann?

1 .2 Die Bedeutung der Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion

Die Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion für behinderte Men-schen ist aus zwei Gründen interessant und bedeutsam . Erstens ist Inklusion ein Wert, auf den oft und in unterschiedlichen politischen und sozialen Zu-sammenhängen referiert wird (vgl . Buchanan 1993; Hillmert 2009; Wansing 2009; Wilson 2000; Young 1989) . Auch beziehen bestimmte Disziplinen, beispielsweise die Sonderpädagogik oder die soziale Arbeit, einen Großteil der Legitimität ihres Handelns daraus, ob und wie sie die soziale Inklusion benachteiligter Menschen fördern . Inklusion ist ein Ziel professionellen Handelns in diesen Disziplinen, Professionen und Praxen . Damit ist Inklu-sion ein konzeptioneller Schlüsselbegriff, der sowohl in unterschiedlichen wissenschaftlichen, professionellen, praktischen und politischen Diskursen als auch im Alltagsleben von Menschen Anwendung findet .

Zweitens involvieren moralische Rechte besonders starke moralische An-sprüche . Denn Rechte implizieren Pflichten auf anderer Seite, sich in be-stimmter Weise zu verhalten . Haben Menschen also ein Recht auf Inklusion, bestehen Pflichten auf Seiten anderer Menschen oder Institutionen . Damit sind die Pflichten, welche durch die Rechte ausgelöst werden, von besonde-rem Interesse . Kann nämlich ein moralisches Recht auf Inklusion aufgezeigt und mit Gründen unterlegt werden, haben die betreffenden Disziplinen und Praxen in ihrem anwaltschaftlichen Auftrag besondere Trümpfe in der Hand . Dasselbe gilt für die Betroffenen selbst . Inklusion ist so betrachtet nämlich keine Sache von Freiwilligkeit oder Wohltätigkeit mehr .

Die Frage nach einem Recht auf Inklusion mag einige Leserinnen und Leser, beispielsweise in der Sonderpädagogik, auf den ersten Blick verwirren, denn ihre positive Beantwortung wird in dieser und anderen Disziplinen gemeinhin vorausgesetzt . Die Frage, könnte man demnach schließen, ist eine rhetorische und zudem eine gefährliche, da sie das Recht auf Inklusion vorgängig in Frage stellt .

Ich möchte im Folgenden allerdings zeigen, dass diese Einschätzung vor-schnell wäre . Denn im Zentrum meines Interesses steht nicht nur die gene-

16 Inklusion und Gerechtigkeit

relle Frage nach einem Recht auf Inklusion, sondern auch die folgenden Anschlussfragen: Wenn ja, worauf genau? Wie sieht ein solches Recht aus? Ist ein Recht auf Inklusion ein spezielles Recht, das nur bestimmten Men-schen zukommt, nämlich solchen, von denen man sagt, sie hätten eine Be-hinderung? Kommt ihnen dies gegebenenfalls als Gruppe zu? Oder ist es ein allgemeines Recht, das allen Menschen zukommt? Hat ein Recht auf Inklu-sion, wenn es das denn gibt, Grenzen, und falls ja, wie lassen sich diese be-gründen? Was bedeuten die Pflichten, die mit Rechten korrespondieren? Wer muss diese Pflichten tragen, einzelne Individuen oder Gruppen? Was ist der genaue Inhalt dieser Pflichten? Kann darüber hinaus etwas über Forde-rungen nach Inklusion aus ethisch-normativer Sicht gesagt werden? Und schließlich: Gibt es neben einem Recht auf Inklusion auch andere morali-sche Kategorien, mit denen Forderungen untermauert werden könnten, bei-spielsweise Tugenden der Inklusion?

Zwei offene Fragen: Die Konzepte Behinderung und Inklusion

Einige der oben genannten Anschlussfragen verweisen auf die Konzepte von Behinderung und Inklusion, die es zu klären gilt . Die Frage nach einem Recht behinderter Menschen auf Inklusion weist somit jenseits der Klärung der Struktur, der Funktion und der Inhalte moralischer Rechte auf zwei wei-tere offene Fragen hin: Erstens, was versteht man im vorliegenden Zusam-menhang unter einer Behinderung? Zweitens, was bedeutet Inklusion res-pektive wie sind die Struktur und die normative Relevanz von Inklusion zu sehen? Was, mit anderen Worten, bedeutet es, inkludiert zu sein und warum ist dies wichtig für das Leben von Menschen?

Stellt man die Frage nach einem Recht behinderter Menschen auf Inklu-sion, weist dies erstens darauf hin, dass in der Behinderung offensichtlich mangelnde oder gescheiterte Inklusion verborgen liegt . Behinderung ist, mit anderen Worten, ein Problem oder eine Herausforderung für die Inklusion der betroffenen Menschen . Was auf den ersten Blick tautologisch wirkt, weist letztlich darauf hin, dass Inklusion und Behinderung in der vorliegen-den Arbeit in einem wechselseitigen Begründungsverhältnis stehen . Was nämlich genau als Problem oder als Herausforderung für die betroffenen Menschen gesehen wird, zeigt sich erst vor dem Hintergrund eines bestimm-ten Verständnisses von Behinderung . Behinderung und Inklusion verweisen also in der Hauptfrage der Arbeit wechselseitig aufeinander, und zwar nicht

Einleitung 17

hinsichtlich der Konzepte selbst – die Struktur und Bedeutung von Inklu-sion erschließen sich auch ohne Bezug zu Behinderung – sondern hinsicht-lich der Interpretation der lebensweltlichen Problematik und im Zuge dessen auch in der Beurteilung derselben durch Disziplinen wie der Sonderpädago-gik oder der sozialen Arbeit .

Um zu verdeutlichen, was ich damit meine, kann man sich folgende mögliche Interpretation der Problematik von Behinderung und Inklusion vor Augen führen: Setzt man eine Behinderung mit einer intrinsisch beding-ten Schädigung der Körperfunktionen und -strukturen gleich, ist es nahelie-gend, die Ursachen für mangelnde oder fehlende Inklusion in abwesenden individuell-intrinsischen Faktoren – beispielsweise Intelligenz oder Körper-stärke – zu sehen . Versteht man unter Inklusion weiter eine aktive Partizipa-tion in einem bestehenden Kontext, beispielsweise einer Schulklasse, würde Unterstützung und Hilfe vordringlich daran anschließen, die Betroffenen für ihre Inklusion ›fit‹ zu machen . Fehlende Ressourcen oder inadäquate Strukturen werden aber nicht prominent thematisiert, sondern tauchen, wenn überhaupt, höchstens am Rande auf .

Dieses Beispiel zeigt, dass es notwendig ist, die beiden Konzepte Behin-derung und Inklusion zu klären, bevor man dazu übergehen kann, die Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion für behinderte Menschen zu beantworten . Die Erarbeitung eines Konzepts von Behinderung, insbeson-dere der normativen Relevanz von Behinderung, sowie der Struktur und normativen Bedeutung von Inklusion wird dementsprechend in der Arbeit viel Raum einnehmen und die Grundlage zur Beantwortung der eigentli-chen Hauptfrage liefern .

1 .3 Die Notwendigkeit des Erbringens einer Begründungsleistung für Inklusion

Mit meinem Vorgehen vertrete ich implizit eine andere Position als das Gros der Literatur zu Inklusion, insbesondere in der Sonderpädagogik .2 Denn ge-rade das Konzept von Inklusion scheint aus deren Sicht oft nicht begrün-

2 Dasselbe trifft auf Vertreter der Integrationsbewegung zu, welche beobachtbar von der Inklusionsbewegung abgelöst wird (vgl . Liesen und Felder 2004) .

18 Inklusion und Gerechtigkeit

dungsbedürftig .3 Der Großteil der Autoren in der Sonder- und Inklusions-pädagogik, die sich zu Inklusion äußern, sind vielmehr – oft auch implizit4 – der Meinung, dass es allenfalls darum gehe, darzulegen, was Rechte (meist verstanden als Menschenrechte) seien und diese auf das Konzept von Inklu-sion anzuwenden .5 Für das Konzept Inklusion selbst zu argumentieren, er-achten aber viele Autoren nicht als Aufgabe für die eigene Disziplin . Viel-mehr dient Inklusion als – oft unhinterfragter – Leitbegriff und Horizont für einen anzustrebenden Zustand lebensweltlicher Eingebundenheit . Aus die-sen Gründen ist es wenig erstaunlich, dass Inklusion in der disziplinären Reflexion als Richtschnur für ›richtige Pädagogik‹ und als Containerbegriff für eine Vielzahl von pädagogischen Konzepten und Zugängen fungiert .

Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass sich im Kontext der sonderpädagogischen Diskussion um Inklusion die Ansicht durchgesetzt hat, dass Inklusion vollständige Eingebundenheit meine, der im Gegensatz zu Integration nie ein Ausschluss oder eine Separation vorangegangen sei . Rhetorisch wird diese Auffassung in den meisten Fällen so wiedergegeben, dass ausgedrückt wird, Menschen mit einer Beeinträchtigung hätten in ei-nem inklusiven Verständnis ›immer schon dazu gehört‹, während sie in ei-nem integrativen Verständnis nachträglich dazu gezählt worden seien (vgl . Hinz 2002, 2003, 2004) . Nun lassen sich zwar solche Unterschiede in der Wahrnehmung, Einstellung und Behandlung von Menschen gegenüber an-deren Menschen durchaus beobachten . Es macht beispielsweise einen gro-ßen Unterschied, ob man Rollstuhl fahrende Menschen beim Bau eines neu-en Gebäudes als selbstverständlich zu einer Gesellschaft gehörende Bürger mit berücksichtigt und eine Rampe oder einen Lift einbaut, der den Zugang für alle gewährleistet, oder ob man bestimmte Menschen erst nachträglich berücksichtigt . Insbesondere bei Fragen der baulichen, infrastrukturiellen oder technischen Zugänglichkeit zeigen sich die Unterschiede in den Be-trachtungsweisen deutlich .

3 Besonders deutlich dahingehend äußert sich beispielsweise Hans Wocken (1995, S . 110): »Ich weigere mich daher mit der Integrationsbewegung überhaupt irgendeinen Grund anzugeben, warum wir gegen Trennung, gegen Ausgrenzung, gegen Isolation und für Ge-meinsamkeit sind .« Kritisch hingegen zu solchen und ähnlichen Auffassungen äußern sich beispielsweise John Wilson (1999, 2000) und Alan Dyson (1999) .

4 Oft wird dies nur durch die Abwesenheit des Erbringens einer Begründungsleistung er-sichtlich (vgl . Feuser 2002; Hinz 2003; Preuss-Lausitz 2005; Sander 2003, 2004) .

5 Diese Einschätzung hängt meiner Meinung nach zentral damit zusammen, dass Inklusion im Gegensatz zu vielen anderen normativen Fragen in der Sonderpädagogik keine eigent-liche Frage, sondern bereits eine Antwort ist . Die Antwort ist zweifelsohne, dass inklusive Bildung besser sei als separative (vgl . Dyson 1999) .

Einleitung 19

Dennoch macht die Aussage, Inklusion sei dann umgesetzt, wenn man ›immer schon dazugehöre‹, es keine Exklusion mehr gebe, empirisch wie begriffslogisch keinen Sinn . Denn erstens ist es so, dass Menschen immer auch aus bestimmten Kontexten exkludiert sind . Menschen leben in Bezie-hungen und während sie versuchen, zu sozialen Beziehungen und unter-schiedlichen Kontexten Zugang zu finden und dazuzugehören, bedeutet dies implizit oder explizit immer auch, dass diese Beziehungen oder gebildeten Institutionen Ränder oder Grenzen haben (vgl . Abrams, Hogg und Marques 2005) . Oft werden diese Grenzen neu gebildet oder erweitert und in vielen Fällen werden diese Ein- und Ausschlüsse von den Betroffenen auch als mo-ralisch unproblematisch wahrgenommen . Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sie an einem Einschluss gar nicht interessiert sind oder wenn Ein-schlüsse oder Ausschlüsse sich natürlicherweise über Veränderungen in Be-ziehungsformen ergeben . Am Beispiel der Familie zeigt sich das deutlich: Familien gewinnen Mitglieder durch Geburt oder Heirat . Sie verlieren sie aber auch wieder, beispielsweise durch Scheidung oder Tod . Diese Änderun-gen in zwischenmenschlichen Beziehungen sind zu einem großen Teil natür-lich oder gewollt . Sie können zwar im Falle von Tod oder Scheidung mit Trauer verbunden sein, niemand aber würde sagen, diese mit den veränder-ten Beziehungsformen einhergehenden Ein- oder Ausschlüsse wären mora-lisch gesehen problematisch . Zweitens macht die Aussage, bei Inklusion gebe es keine Exklusion oder Separation mehr, weil alle Menschen immer schon dazu gehören würden, auch begriffslogisch keinen Sinn . Denn die Grenzen, welche sich durch Beziehungen und Institutionen automatisch ergeben, im-plizieren per definitionem ein Außen und damit Exkludierte, Menschen bei-spielsweise, die nicht zu diesen Kontexten gehören . Weiter unten wird sich zeigen, worin die moralische Problematik solcher Ausschlüsse besteht . Dass eine moralische Problematik aber nicht per se und ohne weitere Erläuterun-gen besteht und dass Exklusion und Separation logische Folgen jeder Form von Inklusion sind, sollte nachvollziehbar geworden sein .

Ich halte die Ansicht, keine Begründungsleistung für Inklusion erbringen zu müssen respektive dies als theoretische, letztlich aber sinnlose disziplinäre Spielerei zu betrachten, aus mehreren Gründen für falsch . Erstens ist die behauptete unüberbrückbare Differenz zwischen Erfahrungs- oder Praxis-wissen und theoretischem oder normativem Wissen nicht konsequent zu halten . Spätestens dann, wenn es um Verteilungsfragen geht, ist jede Profes-sion, Praxis oder Politik auf das Vorbringen guter Gründe für die eigenen Anliegen angewiesen, will sie den selbst auferlegten Auftrag der Anwalt-

20 Inklusion und Gerechtigkeit

schaftlichkeit ernst nehmen . Solche Argumente und Gründe werden unter anderem in einer ethisch-normativen Zugangsweise eruiert .

Zweitens ist es, wie Markus Dederich (2006, S . 100) argumentiert, gera-de auch die Distanz, welche Möglichkeiten des (theoretischen) Sehens, das heißt der Einsicht und des Erkenntnisgewinns dank Praxisentlastung, eröff-net . Die oftmals kritisierte Distanz zum Gegenstand erweist sich somit auch als Gewinn .

Drittens will und soll Theorie auch lieb gewonnene Sichtweisen, Routi-nen und moralische Urteile systematisch hinterfragen und gegebenenfalls revidieren . Dies kann sie ›rückblickend‹ wie auch ›vorausblickend‹ tun . Wäh-rend die rückblickende Vorgehensweise Sichtweisen, Routinen und morali-sche Urteile nach der Konsistenz ihrer Prämissen und Konklusionen hin befragt, versucht die zweite vorausblickend zu eruieren, was die einmal ge-wonnen Prämissen und Konklusionen implizieren . Für ein moralisches Recht auf Inklusion würde dies bedeuten, dass man sich vor Augen führen müsste, was ein solches Recht implizieren würde, beispielsweise, welche Pflichten damit verbunden wären . Viele Rechte scheitern nämlich beispiels-weise daran, dass die in ihnen implizierten Pflichten gegen andere Rechte verstoßen, etwa Persönlichkeits- oder Freiheitsrechte . Oder sie sind deshalb nicht zu begründen, weil niemand dazu verpflichtet werden kann, ein be-stimmtes Recht umzusetzen . Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Gut, das es zu schützen gilt, zwingend freiwillig erbracht werden muss . Ge-rade Disziplinen wie die Sonderpädagogik, in welchen Inklusion eine so hohe Bedeutung genießt, müssen die Implikationen und Folgen ihrer Positi-onen bedenken . Darüber hinaus müssen sie sich angesichts der Komplexität der Problematik auch anderen Diskursfeldern zuwenden und damit enge Selbstbezogenheit, sofern vorhanden, aufgeben .6

Viertens führt eine ethisch-normative Reflexionsleistung, genau wie em-pirische Informationen und phänomenologisches Wissen, zu einem »subs-tantiellen Körper mit verlässlichen Informationen« (Kauffman 2004, S . 45) . Ethisch-normatives Wissen ist damit ein Werkzeug zur Problemwahrneh-mung, -bearbeitung und -lösung . Vor allen Dingen dient dieses Wissen der Akkumulation von theoretischem und normativem Wissen . Die Reflexions-leistung ist Aufgabe und Inhalt einer wissenschaftlichen Disziplin wie der Sonderpädagogik, die ein solches Wissen ja bereits aus inneren Konsistenz-

6 Daran mangelt es insbesondere in der Sonderpädagogik oft . Christoph Anstötz (1990, S .  133) spricht hier, polemisch, aber nicht ganz unzutreffend, von einem »autistischen Paradigma der Sonderpädagogik« .

Einleitung 21

gründen benötigt . Sie kann sich, mit anderen Worten, nur so als Wissen-schaft behaupten . Aus den vorangegangenen Punkten sollte aber klar gewor-den sein, dass sich dieses Wissen nicht auf theoretische Belange beschränkt, sondern auch Auswirkungen auf professionelles und praktisches Denken und Handeln hat (vgl . weiterführend auch Hoyningen-Süess und Liesen 2007) . Inklusion ist damit, wie andere Werte und Konzepte in diesen Diszi-plinen, ein Gegenstand grundlegender kategorialer Analyse .

Die Bedeutung des Vorbringens von Argumenten und Gründen

Viele Erlebnisse und Erfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigung, ih-rer Angehörigen sowie von Menschen, die in den assoziierten professionellen Feldern praktisch oder politisch tätig sind, zeigen, dass Menschen mit Beein-trächtigungen tendenziell größeren und qualitativ anderen Arten von sozia-ler Exklusion, Benachteiligung und Separation ausgesetzt sind als andere Menschen (vgl . Burchardt 2000a, 2000b, 2005; Europäische Kommission 2009; Marmot 2005; Maschke 2003; McBryde Johnson 2004; Minow 1990; Wong 2009) . Aus diesen wahrgenommenen Realitäten von erlebter Benach-teiligung, Separation oder Exklusion erschließt sich denn auch ein Großteil der motivationalen Basis für den Kampf um Inklusion .7 Im praktisch und politisch geführten Kampf ist der Verweis auf diese Erfahrungen legitim . Verlässt man aber das politische Parkett, benötigt man empirisches Wissen und Argumente für die Eruierung der Bedeutung sowie möglicher Wege zur Durchsetzung und Förderung sozialer Inklusion . Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Argumente und liefert damit zuvörderst eine – de-skriptive wie auch normative – Analyse des Gegenstandes Inklusion .

Argumente stützen bestimmte Ansichten und Meinungen mit Gründen . Das Suchen und Finden von Argumenten und Gründen für Inklusion ver-langt nach einer sorgfältigen Analyse der Struktur und der normativen Be-deutung von Inklusion, denn der Verweis auf politische Rhetorik, auf Über-zeugungen und Intuitionen allein hilft nicht weiter .

Insbesondere aus zwei Motiven sollte man sich nicht auf Intuitionen oder Überzeugungen allein verlassen . Intuitionen und Meinungen ersetzen ers-

7 Damit wird auch verständlich, dass die Quelle des Antriebs für die Forderung nach Inklu-sion nicht eigentlich Inklusion ist, sondern im Gegenteil die lebensweltliche Erfahrung von Exklusion, Separation, Ausschluss oder Ablehnung . Hieraus erwächst die Forderung nach Inklusion und darin steckt die eigentliche Aufforderung zum Handeln .

22 Inklusion und Gerechtigkeit

tens Argumente nicht, sondern bilden allenfalls den Ausgangspunkt für Überlegungen . Zweitens ist es in vielen Fällen so, dass es Menschen gibt, welche die Intuitionen oder Meinungen der im Feld Tätigen oder Betroffe-nen eben gerade nicht teilen . Dass einige dieser Menschen auch an relevan-ten praktischen Entscheidungsprozessen, beispielsweise in der Verteilung von monetären Ressourcen, beteiligt sind, macht die Sache noch brisanter . Das argumentative Ringen muss daher spätestens dort beginnen, wo ein Dissens verschiedener Meinungen vorhanden und man gezwungen ist, für seine eigene Überzeugung Gründe vorzubringen, will man den Dialog nicht abbrechen .8 Um die gesellschaftlichen Akteure vom eigenen Anliegen über-zeugen zu können, muss man aber sein Handeln mit vernünftigen, kohären-ten und systematischen Gründen unterlegen . Dies sind Gründe, die auch für Menschen außerhalb der eigenen Disziplin, Profession oder Praxis nachvoll-ziehbar sind (vgl . Liesen 2006, S . 12f .) . Forderungen nach Inklusion müssen ihrem Gehalt nach daher mehr sein als bloße Meinungs- und Gefühlsäuße-rungen: »Sie appellieren an die Vernunft und das Empfinden anderer und reklamieren eine über das Subjekt hinausgehende Verbindlichkeit . Wer ein moralisches Urteil abgibt, versteht sich nicht als jemand, der lediglich seiner momentanen Befindlichkeit Ausdruck gibt oder seine höchstpersönlichen Überzeugungen mitteilt . Wer moralisch urteilt, versteht sich vielmehr in der Regel als jemand, der etwas behauptet und von den Adressaten seines Urteils erwartet, dass sie das Behauptete nach- und mitvollziehen . Er fasst sein Ur-teil eher als eine Aussage über das Bestehen eines Sachverhalts denn als bloße Konfession oder Expression auf . Er begibt sich auf eine Ebene, von der er erwartet oder zumindest hofft, dass sie als tragfähige Grundlage für eine Ver-ständigung mit den jeweils Angesprochenen dienen kann« (Birnbacher 2007, S . 24) . In der Argumentation müssen daher gerade jene Motive und Gründe hervorgehoben werden, die nicht Gefahr laufen, privat und damit leicht willkürlich, subjektiv oder beliebig zu wirken (vgl . Leist 1994) . Aus diesem Grund rücken moralische Motive wie Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft oder Mitleid tendenziell eher aus dem Blickfeld . Ins Zentrum des Interesses gera-ten Gründe und Argumente .9 Ein Grund ist für eine Person aber nur dann

8 Dieser Dissens kann auch implizit sein und sich beispielsweise in internen Widersprüchen in den Aussagen oder Forderungen äußern, die nicht aktual wahrgenommen und geäußert werden müssen . Das Vorbringen von Gründen müsste also auch dort stattfinden, wo – scheinbar zumindest – sich alle einig sind und Harmonie herrscht .

9 Dabei dürfen rationale Gründe und moralische Motivation nicht verwechselt werden . Zwar ist es von Vorteil und auch wünschenswert, wenn eine begrüßenswerte Handlung von den Betreffenden auch mit der entsprechenden Motivation ausgeführt wird . Aller-

Einleitung 23

ein annehmbarer Grund, wenn er nicht vernünftigerweise zurückgewiesen werden kann (vgl . Scanlon 1998) .

1 .4 Der Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile . Der erste Teil widmet sich den Grund-lagen für die Beantwortung der Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion, der zweite Teil hat die Struktur und die normative Relevanz von Inklusion sowie das Recht auf Inklusion zum Inhalt . Ein dritter und letzter Teil beleuchtet exemplarisch die Herausforderungen und Besonderheiten, welche sich für die Sonderpädagogik ergeben .

Der Aufbau der einzelnen Kapitel ist dabei folgender: Nach der Einlei-tung, die das vorliegende erste Kapitel einnimmt, beginnt das zweite Kapitel mit der Diskussion der Frage, was unter Rechten verstanden werden soll . Ich führe dabei in die Struktur und Funktion von Rechten ein und plädiere am Ende des Kapitels für eine Begründung von moralischen Rechten, die Rech-te an Interessen bindet . Das heißt, ich vertrete eine interessenbasierte Theo-rie moralischer Rechte . Diese besagt im Kern, dass moralische Rechte be-stimmte wichtige Interessen von Menschen schützen .

Um die Frage, ob Menschen mit Behinderung ein Recht auf Inklusion haben, beantworten zu können, sind, wie bereits erwähnt, Umwege vonnö-ten . So werden mit der eigentlichen Hauptfrage andere Fragen aufgeworfen, beispielsweise die Frage nach der normativen Problematik von Behinderung . Der Beantwortung dieser Frage widmen sich das dritte und das vierte Kapi-tel .

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit unterschiedlichen Modellen von Behinderung . Es ist weit verbreitet, von zwei unterschiedlichen Modellen auszugehen, einem medizinischen und einem sozialen . Ich zeige auf, dass beide Zugänge schwerwiegende Defizite haben und dass diese Defizite auch von einem dritten Modell, einem Wohlbefindensmodell, nicht gelöst werden können . Ich trete daher für ein viertes, ein Wohlergehensmodell von Behin-

dings ersetzt diese Motivation erstens nicht die Begründungsleistung und ist zweitens auch ein schwaches Fundament, denn Motivationen können sich rasch wandeln und zudem auch nicht vorausgesetzt werden . Die moralische Motivation ist aber eine wichtige Brücke von Einstellungen und Gründen zum Handeln .

24 Inklusion und Gerechtigkeit

derung, ein, welches große Nähe zum ICF-Modell der WHO hat, diesem aber einen normativen Schluss hinzufügt .

Ein Wohlergehensmodell von Behinderung wiederum wirft die Frage auf, was man unter Wohlergehen verstehen soll . Eine bestimmte, für den vorliegenden Zusammenhang sinnvolle Auffassung von Wohlergehen wird im vierten Kapitel entwickelt . Dabei führe ich in verschiedene Auffassungen von Wohlergehen und gutem Leben ein und zeige auf, warum eine objektive Theorie des guten Lebens am überzeugendsten ist . Auch stelle ich an der Stelle eine bestimmte Auslegung einer solchen Theorie vor, den Capability-Ansatz oder Verwirklichungschancen-Ansatz, der in verschiedenen Entwür-fen vom indischen Ökonomen Amartya Sen und der us-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum entwickelt wurde . Allerdings ist auch der Capability-Ansatz berechtigter Kritik ausgesetzt . Ich lege dar, dass der Capa-bility-Ansatz, den Jonathan Wolff und Avner De-Shalit (2007; Wolff 2009) vertreten, die Problematik, vor der Menschen mit Behinderung in ihren In-klusionsbemühungen stehen, besser aufgreifen kann .

Das fünfte Kapitel nähert sich der Hauptfrage der Arbeit an . Dieses wid-met sich der Frage nach der Struktur von Inklusion . Dabei verfolge ich zwei Annahmen und vertiefe diese im Verlaufe des Kapitels . Die erste Intuition nimmt an, dass Inklusion mit Zugehörigkeit zu tun hat, die zweite, dass In-klusion an soziales Handeln gebunden ist . Die Hauptunterscheidung, die dieses Kapitel durchzieht, ist die Unterscheidung in gemeinschaftliche und gesellschaftliche Inklusion .

Das sechste Kapitel widmet sich der normativen Relevanz von Inklusion . An der Stelle werden auch die Stränge des dritten, vierten und fünften Kapi-tels zusammengeführt . Ich zeige auf, inwiefern Inklusion zu einem guten Leben beiträgt und welche Risiken in den Bemühungen ein gutes Leben zu führen für Menschen mit Behinderung bestehen . Dabei werden insbesonde-re die Bedeutung von Freiheit, Anerkennung und Entwicklung beleuchtet . Abschließende Gedanken zeigen die komplexen Beziehungen zwischen Frei-heit, Anerkennung und Entwicklung in Bezug auf Inklusion auf .

Das siebte Kapitel widmet sich der Hauptfrage der Arbeit: Haben Men-schen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Inklusion? Ausgehend von der Überlegung, dass Menschen mit Behinderung zu einer Gesellschafts-gruppe gehören, die unter sozialer Ungleichheit leidet, argumentiere ich ers-tens für ein Recht auf Nichtdiskriminierung und zweitens für ein weiterge-hendes, positives Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion . Hinzu kommt drittens ein Recht auf gesellschaftliche Inklusion, das aller-

Einleitung 25

dings nicht ausführlich erläutert wird, weil es kein spezielles Recht ist, son-dern allgemeinen Bürgerrechten entspricht . Die korrespondierden Pflichten werden dabei aus normativen und pragmatischen Gründen dem Staat als kollektivem Agenten übertragen . Das Kapitel zeigt auch auf, wo die Grenzen von Rechten liegen und was für den Bereich jenseits davon in normativer Hinsicht ausgesagt werden kann . Es zeigt sich, dass der Bereich, in welchem überzeugend für ein moralisches Recht argumentiert werden kann, klein ist und insbesondere die für Menschen wichtige Sphäre der gemeinschaftlichen Inklusion ausschließt . Auch die Idee von Onora O’Neill (1996), Pflichten an bestimmte soziale Tugenden zu binden, ist mit denselben Problemen wie ein Recht auf gemeinschaftliche Inklusion verbunden und kann daher nicht ver-teidigt werden . Der Bereich dessen, was von Menschen freiwillig geleistet werden muss, ist aus diesem Grund groß . Inklusion ist, mit anderen Worten, zu weiten Teilen eine Frage von Supererogation oder Freiwilligkeit .

Das achte Kapitel beleuchtet die bisherigen Erkenntnisse exemplarisch aus Sicht der Sonderpädagogik . Dabei geht es vordringlich um die Frage, welches Handeln und Wissen die Sonderpädagogik auf Disziplin-, Professi-ons- und Praxisebene auf der Basis von Rechten einfordern kann und wel-ches nicht . Nach einer programmatischen Skizze des Auftrags der Sonderpä-dagogik, welches Inklusion in den unterschiedlichen Wirkungsfeldern verortet, kommt dabei die Sprache insbesondere auf die Schwierigkeiten und Herausforderungen und damit auch die Grenzen des Inklusionsauftrags in der Sonderpädagogik .

Ein letztes, neuntes und abschließendes Kapitel fasst die Erkenntnisse der ganzen Arbeit zusammen und wagt einen Ausblick zur Zukunft der In-klusion behinderter Menschen in unserer Gesellschaft .

Nachdem ich damit den groben Aufbau der Arbeit skizziert habe, be-ginnt der erste Teil der Arbeit mit der Frage nach dem Begriff, der Struktur und der Funktion moralischer Rechte .

Teil I: Grundlagen

Einleitung

Der erste Teil der Arbeit widmet sich den Grundlagen . Um die Frage beant-worten zu können, ob es ein Recht auf Inklusion gibt und wie dieses aus-schauen könnte, müssen zuerst eine Reihe fundamentaler Fragen beantwor-tet werden . Dies kann an einem Beispiel gezeigt werden: Will man die Frage beantworten, ob Menschen einen freien Willen haben, müssen die zentralen Grundbegriffe Wille, Mensch und Freiheit, eventuell gar das Verb haben ei-ner grundlegenden Bedeutungsanalyse unterzogen werden . Tut man dies nicht, sind auch die Gründe, die zu einer bestimmten ethisch-normativen Position geführt haben, nicht interpersonell nachvollziehbar . Dies müssten sie aber sein, möchte man auf intersubjektive Verständigung und Berück-sichtigung der eigenen Forderung durch andere abzielen .

Dieselbe Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung zeigt sich auch bei der Frage, ob Menschen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Inklu-sion haben . Folgende zentralen Begriffe und Konzepte tauchen auf: Recht, Behinderung, Inklusion . Die Klärung der ersten beiden Begriffe oder Kon-zepte findet sich nachfolgend im ersten Teil dieser Arbeit . Prinzipiell gehört die Klärung aller drei Grundbegriffe zu den Grundlagen . Dennoch sollen in diesem Kapitel einzig die Begriffe und die Bedeutung von Rechten und von Behinderung im Zentrum stehen . Das hat weniger systematische, als viel-mehr praktische Gründe . Inklusion bildet gewissermaßen das Kernstück der Arbeit und soll aus diesem Grund sowohl in seiner begrifflichen Dimension wie auch seiner ethisch-normativen Bedeutungsdimension in einem eigenen zweiten Teil erarbeitet werden . Grundlegender – und damit einen ersten Teil der Arbeit umfassend – scheint mir die Klärung der Konzepte Recht und Behinderung .

Bezogen auf das vorliegende Thema kann folgendes konstatiert werden: Es geht nicht nur und vor allen Dingen nicht in einem ersten Schritt darum, diejenigen Handlungen und Einstellungen zu ermitteln, die vonnöten sind, um Inklusion umzusetzen . Darüber hinaus ist es aussichtslos, eine Bestim-mung der Begriffe zu finden, die von allen geteilt wird und mit jeder Praxis in Einklang steht . Die einzige Möglichkeit besteht darin, die Begrifflichkeit

30 Inklusion und Gerechtigkeit

konsequent zu verwenden . Um dies tun zu können, müssen Begriffe und Konzepte definiert und in ein kohärentes Verhältnis gebracht werden .

Genau diese Klärungen stehen im Folgenden im Zentrum . Dabei geht es im zweiten Kapitel einerseits um die Auslegung des Begriffs, der Struktur und der Funktion von Rechten . Der genaue Inhalt des Rechts auf Inklusion kann dabei noch nicht geklärt werden . Dies in erster Linie deshalb, weil die genaue Bestimmung des Begriffs Inklusion und die normative Bedeutung von Inklusion an der Stelle noch ausstehen . Andererseits steht die Frage nach dem Behinderungsbegriff respektive dem Behinderungsmodell im Zentrum . Auch diese Frage hat einen praktischen, lebensweltlichen Hintergrund . Spitzt sich die Frage nach der Bedeutung von Inklusion auf das Leben von Menschen mit Behinderung zu, stellt sich unweigerlich die Frage, in welcher Hinsicht Menschen mit Behinderung in ihrer Inklusion respektive den Be-mühungen dahin so gefährdet sind, dass sie als Ziel gefordert werden muss . Die Forderung nach Inklusion weist nämlich nicht nur darauf hin, dass of-fensichtlich lebensweltlich mangelnde Inklusion ein Problem darstellt . Sie zeigt auch, dass mangelnde Inklusion teilweise in der Behinderung der be-treffenden Menschen liegt . Dies wiederum wirft die Frage auf, was unter ethisch-normativen Gesichtspunkten eine Behinderung ist .

Die Klärung der Begriffe und der Bedeutung von Rechten und von Be-hinderung stehen folgerichtig in diesem ersten Teil der Arbeit im Zentrum . Ich beginne dabei mit dem Begriff und der Struktur von Rechten und gehe dann dazu über, mich dem Begriff und der Bedeutung von Behinderung anzunehmen .

2 . Begriff, Struktur und Funktion von Rechten

Die Frage nach Rechten ist zweifellos eine zentrale Frage der Philosophie wie auch der Politik und öffentlicher Debatten . In zahlreichen Kämpfen haben Menschen mit Beeinträchtigungen, ähnlich wie andere gesellschaftlich mar-ginalisierte Gruppen, inhaltliche Rechte erstritten und um gleiche Berück-sichtigung ihrer Anliegen gekämpft . Rechte haben daher unbestritten einen hohen Stellenwert im Kampf um die Anliegen dieser Gruppen .

Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Rechte nur einen kleinen Teil moralischer Forderungen abdecken . Rechte sind starke moralische An-sprüche, da sie immer auch Pflichten implizieren . Das heißt jemandem Rechte zuzusprechen bedeutet, auch Pflichten und Pflichtenträger zu be-stimmen . Dieses Faktum unterscheidet Rechte beispielsweise von sogenannt supererogatorischen Handlungen, also Handlungen, welche zwar moralisch gut und begrüßenswert sind, die aber weder verpflichtend sind noch korres-pondierende Rechte aufweisen .

Wenn ich demzufolge danach frage, ob Menschen mit Behinderung ein Recht auf Inklusion haben, frage ich danach, welche starke moralische For-derung sich bezüglich des Gegenstands Inklusion ziehen lässt . Es bedeutet auch danach zu fragen, ob den betroffenen Menschen ein Recht auf Inklusi-on als Individuen oder, beispielsweise, als Mitglieder einer sozialen Gruppe zukommt . Und es heißt zudem, sich nach der Pflicht und den Trägern der-selben zu erkundigen . Schließlich ist auch die Frage nach dem genauen In-halt eines solchen Rechts zentral .

Die Frage nach einem Recht auf Inklusion ist, wie ich eingangs bereits aufgezeigt habe, keine schlichte ja/nein- Frage, als die sie vordergründig er-scheint, sondern im Kern die Frage danach, wie ein solches Recht aussehen kann und wie es ausgestaltet werden sollte . Die Art und Weise, wie man die Hilfen für und Einstellungen gegenüber den Betroffenen begründet, kann sehr unterschiedlich ausfallen . Ist die Hilfe freiwillig, sind es gute Taten, die man vollbringen kann, aber nicht muss? Und hängt die Anteilnahme und

32 Inklusion und Gerechtigkeit

Hilfe von Gefühlen für die betreffenden Personen ab? Was geschieht, wenn jemand die Gefühle nicht empfindet? Ist das moralisch kritisierbar? Ist man moralisch verpflichtet zu helfen oder zu unterstützen? Falls ja: Wie begrün-det man solche Pflichten? Sind Hilfe und Unterstützung an einklagbare Rechte gebunden? Falls ja, wie begründet man diese Rechte und zu welchen Leistungen berechtigen sie? Reichen rechtlich einklagbare Hilfeleistungen aus oder sind Mitmenschen noch zu etwas anderem aufgefordert? Und ist überhaupt Hilfe oder nicht vielmehr Anerkennung des Andersseins verlangt? Dies sind einige der Herausforderungen, die sich im Zuge der Beantwortung der im Zentrum stehenden Frage ergeben .

Zwei Betrachtungsebenen

Wenn im Folgenden von Rechten die Rede ist, sind zwei Ebenen zu unter-scheiden, von denen nur die erste in diesem Kapitel behandelt wird . Erstens geht es um eine formale Ebene . Diese widmet sich, wie vorliegend, der Frage nach dem Begriff, der Struktur und der Funktion von Rechten . Zweitens geht es um die inhaltliche, substanzielle Ebene, die auf der formalen aufbaut und sich der Frage widmet, welches Recht auf Inklusion Menschen mit Be-hinderung konkret haben sollten . Diese Ebene wird im siebten Kapitel be-handelt . Die Frage nach dem Recht auf Inklusion bildet somit eine Klammer über die ganze Arbeit . Es wird sich zeigen, dass sowohl ein Verständnis von Behinderung wie auch ein Verständnis der Struktur und der normativen Be-deutung von Inklusion für die Beantwortung der Frage, welches Recht auf Inklusion Menschen mit Behinderung haben, zentral sind . Damit kommen unweigerlich auch die moralischen Bereiche neben dem Recht auf Inklusion zur Sprache . Es wird sich nämlich zeigen, dass Rechte generell nur einen kleinen Teil dessen ausmachen, was man moralisch als wünschens- oder ver-urteilenswert auszeichnen kann .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 33

Einige Qualifikationen

Die Frage nach dem moralischen Recht darf nun aber erstens nicht mit juri-dischem Recht verwechselt werden . Moralische Rechte fallen zweitens auch nicht zwingend mit Menschenrechten zusammen .

Abgrenzung zu juridischem Recht

Moralische Rechte sind moralisch begründete Rechte . Als Bezugsrahmen gelten hier normative Überlegungen . Juridisches Recht hingegen hat als Be-zugsrahmen Gesetze, Verordnungen und gegebenenfalls die Verfassung eines Staates . Moralische Rechte können zwar auch juridische sein, sie müssen aber nicht . Was allenfalls aus der Formulierung moralischer Rechte folgt, ist ihre Positivierung respektive Umformulierung in juridisches Recht . Mit die-ser kann eine lebensweltliche Durchsetzungsfähigkeit in vielen Fällen näm-lich erst erreicht werden . Das gilt vor allem dann, wenn sich in der Analyse der moralischen Verantwortung respektive in der Zuschreibung von Pflich-ten an Adressaten des Rechts zeigt, dass diese Verantwortlichkeiten geklärt und klar zugewiesen werden müssen . Gewisse moralische Rechte erfordern daher eine Institutionalisierung . Eine mögliche Form einer Institutionalisie-rung ist die Fassung in juridisches Recht .

Abgrenzung zu Menschenrechten

Moralische Rechte fallen auch nicht zwingend mit Menschenrechten zusam-men . Zwar gibt es innerhalb der Diskussion um die Menschenrechte Positi-onen, die Menschenrechte als moralische Rechte sehen (vgl . Griffin 2008) .1 Insofern man Menschenrechte auch als moralische Rechte sehen kann, wäre es somit durchaus vorstellbar, die Frage nach dem moralischen Recht behin-derter Menschen auf Inklusion als Frage nach einem Menschenrecht auf In-klusion zu stellen .

Allerdings wäre damit in gewissem Sinne dem hier geplanten Unterneh-men inhaltlich vorgegriffen, insbesondere dann, wenn man sich auf eine Menschenrechtsdeklaration bezieht, was fast immer der Fall ist . Vorgegriffen wird der Frage deshalb, weil die Deklaration bereits (politische) Antworten auf die von mir aufgeworfenen Fragen liefert . So listet sie erstens eine Reihe

1 Daneben gibt es Positionen, welche Menschenrechte zuvörderst in einem völkerrechtli-chen oder legalen Kontext verordnen (vgl . Beitz 2009) .

34 Inklusion und Gerechtigkeit

von konkreten Menschenrechten auf, währenddem dies in meiner Arbeit gewissermaßen Ziel und Zweck der Untersuchung ist . Zweitens richten sich die in der Deklaration genannten Rechte vornehmlich gegen Staaten und nicht gegen Individuen . Auch dies ist aber in meiner Untersuchung eine of-fene Frage .

Mein Unternehmen steht daher zwar nicht in Widerspruch zur Behin-dertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, aber es ist der Deklaration in gewissem Sinne vorgelagert, in gewissem Sinne auch anders gelagert . Denn anders als eine Deklaration, die ihre Wirkmacht vor allem im prakti-schen und politischen Bereich entfaltet und ihre Erfolge auch an diesen Bereichen messen muss, frage ich nach der Begründung von Rechten und danach, wie solche Rechte aussehen könnten . Dabei soll keineswegs abge-stritten werden, dass der Behindertenrechtskonvention lebensweltlich eine große Wirkmacht in der Durchsetzung von Teilhabe und Zugehörigkeit zu-kommen kann, zumal die Deklaration sowohl in den Allgemeinen Grundsätzen wie auch in zahlreichen Artikeln explizit von Rechten auf In-klusion, Zugehörigkeit oder Teilhabe spricht und diese in Hinblick auf un-terschiedliche Bereiche des menschlichen Lebens konkretisiert (vgl . Bundes-ministerium für Arbeit und Soziales 2008) .

2 .1 Der Begriff und die Funktion von Rechten

Um die konkrete Frage nach einem moralischen Recht auf Inklusion beant-worten zu können, muss man vorgängig eine Vorstellung dafür entwickeln, was Rechte überhaupt sind . Dabei ist auch die Frage zentral, weshalb man gerade von einem Recht auf Inklusion sprechen soll . Zwei Elemente machen Rechte zu besonders starken moralischen Forderungen .

Erstens sind Rechte mit Pflichten für den Adressaten von Rechten ver-bunden . Die mit Rechten korrespondierenden Pflichten, wie ich noch zei-gen werde, verlangen von einem Adressaten des Rechts die Ausführung oder Unterlassung einer Handlung . Sie haben daher eine freiheitseinschränkende Wirkung auf Seiten des Adressaten . Eng damit verbunden ist ein zweiter Punkt . Rechte stehen mir als Rechtsträgerin zu, sie verleihen mir eine beson-dere Position, die ich sonst nicht hätte . Was mir aufgrund meines Rechts geschuldet wird, ist keine Dienstleistung und auch kein Akt der Wohltätig-keit .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 35

Die Stadt Nowheresville

Um diesen letzten Punkt zu verdeutlichen, fordert Joel Feinberg (2007) seine Leser in einem fiktiven Beispiel auf, sich die Stadt Nowheresville vorzustel-len . In dieser leben die Menschen friedlich zusammen, sie helfen einander, wo sie können, ohne allerdings übermäßig altruistisch zu sein . Es sind Men-schen, die mit den edelsten Tugenden ausgestattet sind, mit Mitgefühl für andere, Sympathie, Wohlwollen und Solidarität . Auch haben die Bürger von Nowheresville Pflichten der Wohltätigkeit . Diesen Pflichten aber entspre-chen keine Rechte auf Seiten von Individuen, wohltätig behandelt zu wer-den . Das Spezifische an der Stadt Nowheresville ist also, dass ihre Bewohner keine Rechte kennen und haben . Sie kennen nur Tugenden und Pflichten der Wohltätigkeit . Was, so fragt uns Feinberg, wären die Auswirkungen einer solchen Gesellschaft ohne Rechte?

Das Leben in einer solchen Gesellschaft, wie sie Nowheresville darstellt, hätte nach Ansicht Feinbergs fatale Auswirkungen auf unsere Würde und unser Selbstverständnis, denn: »Der Besitz von Rechten versetzt uns in die Lage, ›aufrecht zu gehen‹, anderen in die Augen zu schauen und uns als allen anderen grundsätzlich gleichwertig zu fühlen . Sich als Träger von Rechten zu verstehen, bedeutet nicht ungerechtfertigt, sondern angemessen stolz zu sein, sich die minimale Selbstachtung entgegenzubringen, die nötig ist, um der Liebe und der Wertschätzung anderer Personen würdig zu sein« (Feinberg 2007, S . 194f .) . Die Bürger einer Gesellschaft, die im Gegensatz zu den Bür-gern von Nowheresville Rechte kennen, sind nicht hilflos auf die Mildtätig-keit und die Pflichterfüllung ihrer Mitbürger angewiesen . Sie haben Rechte, die ihnen zustehen und die sie notfalls einklagen und durchsetzen können . Genau diese Funktion von Rechten ist es, die ihnen zu Selbstachtung und Würde verhilft und die Rechte weiterreichender und stärker macht als Pflich-ten ohne korrespondierende Rechte .

Die Definition von Rechten

In einem sehr weiten und liberalen Verständnis von Rechten, das nicht be-reits von speziellen Annahmen ausgeht, kann man nach Peter Koller (2007, S . 86) folgendes unter einem Recht verstehen: Ein Recht ist eine normative

36 Inklusion und Gerechtigkeit

Position einer Person gegenüber einer anderen Position, beispielsweise einer anderen Person .

Die normative Position hat folgende Eigenschaften: Erstens eröffnet sie der Person, welche die Position inne hat (also dem Rechtsträger oder Rechts-subjekt) bestimmte Handlungsmöglichkeiten, die sie sonst nicht hätte und die in ihrem Interesse liegen . Zweitens begrenzt sie die Handlungsmöglich-keiten des Adressaten des Rechts, des Rechtsobjekts, indem sie ihm gewisse Pflichten auferlegt . Und drittens stellt sie einen gewichtigen Handlungs-grund dar, der in vielen Fällen Priorität vor anderen Handlungsgründen hat . Unter einem Recht versteht man einen valid claim, also einen legitimen An-spruch, den man anderen gegenüber geltend machen kann und welcher Pflichten auf deren Seite auslöst (vgl . Feinberg 2007) . Rechte zu haben be-deutet mit anderen Worten, starke moralische Gründe zu haben, die Freiheit anderer einzuschränken, mit dem Zweck, die andere Person von einem Han-deln abzuhalten respektive zu einem Handeln zu verpflichten (vgl . Frankena 1955) . Rechte stehen damit in einem Spannungsverhältnis zwischen Frei-heitsbegrenzung und Freiheitsermöglichung .

2 .1 .1 Freiheiten, Kompetenzen, Immunitäten und Ansprüche

Analytisch können nach der einflussreichen Analyse von Wesley N . Hohfeld (1913) im Wesentlichen folgende Typen von Rechten unterschieden werden: Freiheiten, Kompetenzen, Immunitäten und Ansprüche .2

Freiheiten

Freiheiten dienen der Sicherung von Alternativen sowie der Beseitigung von Hindernissen . Freiheitsrechte sind solche Rechte, bei denen es keine Regeln gibt, die jemanden verpflichten, etwas zu tun oder zu unterlassen . Hat je-mand beispielsweise das Recht Vögel zu füttern, ist das ein Freiheitsrecht . Es besagt nämlich, dass es keine Regeln gibt, die jemandem das Vögelfüttern verbieten würden .

In liberalen Gesellschaften werden Freiheitsrechte oft vorausgesetzt, da Bürger liberaler Gesellschaften davon ausgehen können, dass das, was nicht

2 Diese Trennung ist analytischer Natur, in der Praxis findet sich meist eine Mischung un-terschiedlicher Positionen (vgl . Alexy 1986, S . 209f .) .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 37

verboten ist, erlaubt ist . Auffallend sind formale Freiheitsrechte daher oft erst dann, wenn sie Ausnahmen von den generell geltenden Regeln betreffen, bei-spielsweise, wenn die Polizei bei der Verfolgung eines Verbrechers die gelten-den Geschwindigkeitsbeschränkungen ohne Sanktionen übertreten darf .3

Kompetenzen

Kompetenzen sind Befugnisse, die Rechte oder Pflichten einer anderen Per-son zu verändern, indem durch bestimmte Handlungen Rechte und Pflich-ten entweder erzeugt oder beseitigt werden . Hat eine Person A eine Kompe-tenz, bedeutet dies, dass A in der Position ist, durch eine Handlung eine rechtliche Situation verändern zu können . Das bekannteste Beispiel einer Kompetenz ist das Recht, anderen Menschen bestimmte Verhaltenspflichten aufzuerlegen, beispielsweise durch das Aufsetzen eines Vertrages .

Immunitäten

Immunität zu haben bedeutet, nicht der Kompetenz eines anderen unter-worfen zu sein . Sie kann damit auch als Negation einer Kompetenz bezeich-net werden (vgl . Koller 2007, S . 90) . (Negative) Freiheiten, Immunitäten und Kompetenzen sind eng miteinander verbunden . Durch das Einräumen von Kompetenzen werden die Handlungsspielräume und damit die negati-ven Freiheiten von Einzelnen größer .

Ansprüche

Zentral für die vorliegende Arbeit ist nun vor allem die Bedeutung von Rechten als Ansprüche auf etwas. Daher werde ich mich im Folgenden vor allem auf sie fokussieren . Anspruchsrechte umschreiben Ansprüche auf Handlungen oder Handlungsunterlassungen . Der relationale Charakter die-ses Rechts kommt in seiner allgemeinen Form – A hat gegenüber B ein Recht auf X – zur Geltung .

Der Träger des Rechts ist A, der Träger der Pflicht oder der Adressat des Rechts ist B und X entspricht dem Gegenstand oder dem Objekt des Rechts .

3 Daher nennt Hohfeld (1913) diese Rechte auch Privilegien .

38 Inklusion und Gerechtigkeit

Gegenstand des Rechts sind Handlungen oder Handlungsunterlassungen von Seiten des Adressaten des Rechts .

Damit sind zwei Elemente in Anspruchsrechte eingeschlossen: erstens die Pflicht des Rechtsobjekts oder des Adressaten des Rechts, ein bestimmtes Verhalten zu realisieren, zweitens die Ermächtigung des Inhabers des Rechts, die Erfüllung der Pflicht einzufordern und gegebenenfalls Schritte zur Er-zwingung derselben einzuläuten . Je nachdem, ob das Verhalten, worauf ein Anspruch besteht, aktives Handeln oder ein Unterlassen ist, kann man nega-tive und positive Rechte unterscheiden .

2 .1 .2 Positive und negative Rechte

Rechte können negativ oder positiv sein, wobei negative Rechte Unterlassun-gen umfassen . Negative Rechte begründen negative Pflichten, Unterlassungs-pflichten genannt . Unter die negativen Rechte fallen beispielsweise folgende Rechte: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit sowie das Recht auf Versammlungsfreiheit . Negative Rech-te gewähren negative Freiheiten . Sie stellen sicher, dass niemand daran ge-hindert wird, in bestimmter Weise zu handeln .

Negative Rechte können nach Robert Alexy (1986, S . 174) in drei Grup-pen unterteilt werden: Die erste benennt Rechte darauf, dass der Träger der Pflicht bestimmte Handlungen des Rechtsträgers nicht ver- oder behindert . Die zweite Gruppe besteht aus Rechten gegenüber dem Träger der Pflicht, bestimmte Eigenschaften oder Situationen des Rechtsträgers nicht zu beein-trächtigen, so zum Beispiel die Eigenschaft gesund zu leben oder die Situati-on der Unverletzlichkeit der eigenen Behausung nicht zu gefährden . Die dritte Gruppe schließlich meint Rechte darauf, dass der Träger der Pflicht bestimmte rechtliche Positionen des Trägers des Rechts nicht beseitigt . Ein Beispiel hierfür sind Eigentumsrechte .

Positive Rechte schützen demgegenüber Ansprüche auf bestimmte Güter . Beispielsweise impliziert das Recht auf Bildung, dass Bildungsmöglichkeiten bereitgestellt werden, damit das Recht auf Bildung auch wahrgenommen werden kann . Wäre das Recht auf Bildung ein negatives Recht, würde es nur darin bestehen sicherzustellen, dass jemand nicht in seinen Bildungsbemü-hungen gehindert wird . Offensichtlich genügt dies nicht, um das Recht auf Bildung abzusichern . Im Fall des Rechts auf Bildung impliziert die entspre-

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 39

chende Pflicht, den Rechtssubjekten Bildungsmöglichkeiten über die Insti-tutionen der Bildung, typischerweise der Schule, bereitzustellen .

Die den positiven Rechten entsprechenden positiven Pflichten sind für die Träger der Pflichten stärker freiheitsbegrenzend als negative Pflichten, weil sie nicht nur verlangen, nicht in einen Freiheitsbereich einzugreifen, sondern darüber hinaus bestimmte Handlungen zu tätigen . Im Gegensatz zu bloßen Unterlassungen ist die Freiheit des Rechtsobjekts damit stärker ein-geschränkt als das bei negativen Rechten der Fall ist . Gleichzeitig ermögli-chen positive Rechte dem Rechtssubjekt mehr oder substanziellere Freihei-ten (vgl . Boshammer 2003, S . 30) .

2 .1 .3 Rechtsobjekt, Rechtssubjekt, Rechtsgegenstand

Rechte haben eine dreistellige Relation: Rechtssubjekt, Rechtsobjekt, Rechts-gegenstand . Diese dreistellige Relation erscheint aber in vielen Fällen zwei-stellig . So liest sich zum Beispiel die Aussage »A hat ein Recht auf Leben« als eine zweistellige Relation zwischen einem Rechtssubjekt und dem Rechtsge-genstand . Auch ein Recht auf Inklusion, wie es in der Aussage »A hat ein Recht auf Inklusion« ausgedrückt werden könnte, hat diese Form . Das Rechtsobjekt, der Träger der Pflicht, muss in einer Analyse daher wieder sichtbar ge macht werden, damit die dreistellige Relation erscheint . Die voll-ständige Formel würde dann lauten: »A hat gegenüber B ein Recht auf Inklu-sion .« Dieses B kann dann, je nach Auslegung, beispielsweise ein anderer Bürger, eine Sonderpädagogin oder der Staat sein .

Die Beantwortung der Frage, was Rechte sind, ist eng an die Frage, wer Rechte haben kann, gebunden . Genau genommen ist die Beantwortung der zweiten Frage von der Beantwortung der ersten abhängig . Die Beantwor-tung der ersten Frage ist an dieser Stelle noch nicht vollständig möglich . Den meisten Auslegungen der zweiten Frage ist aber gemein, dass es sich bei den Rechtsobjekten oder Trägern der Pflichten um Wesen handeln muss, die ers-tens verstehen, was von ihnen gefordert wird, die zweitens sinnvollerweise für ihr Tun und Lassen verantwortlich gemacht werden können und die drit-tens im Blick auf ihr Verhalten entscheidungsfähig sind . So kann man prin-zipiell auch Steinen oder Bergen Rechte zusprechen, es macht aber wenig Sinn, diesen Entitäten Pflichten zuzuweisen . Das heißt, Steine oder Berge können zwar als Rechtssubjekte und somit als Träger von Rechten prinzipiell in Frage kommen, nicht aber als Rechtsobjekte . Denn Steine oder Berge

40 Inklusion und Gerechtigkeit

verstehen weder, was von ihnen als Pflicht gefordert wäre, noch können sie für ihr Tun oder Lassen verantwortlich gemacht werden . Darüber hinaus sind sie auch nicht entscheidungsfähig .

Was den Rechtsgegenstand X betrifft, können mindestens zwei – und bei der Interessentheorie, die anschließend vorgestellt wird, drei – Bedingungen formuliert werden (vgl . Boshammer 2003, S . 43ff .): Es muss sich erstens um Gegenstände handeln, die prinzipiell erzwingbar sind . Das ist die Erzwing-barkeitsbedingung .4 Auf Güter, zu deren Wert die Freiwilligkeit untrennbar dazu gehört, gibt es daher kein Recht . So existiert beispielsweise kein Recht auf Dankbarkeit oder Liebe .5

Zweitens muss die Erfüllung des Rechts auch in der Verfügungsmacht der jeweiligen Pflichtenträger sein . So kann es kein Recht geben, nicht von einer Naturkatastrophe heimgesucht zu werden, denn es liegt außerhalb der Macht von Menschen, Naturkatastrophen gänzlich zu verhindern .6 Es gibt aus diesem Grund auch kein (direktes) Recht auf Glück, da Glück zu ver-schaffen nicht ausschließlich in der Macht des Pflichtenträgers liegt (vgl . Thomson 1990, S . 37) . Diese zweite Bedingung kann man als Erfüllbarkeits-bedingung bezeichnen .

Schließlich kommt bei der Interessentheorie eine dritte Bedingung hin-zu . Rechte dienen dem Schutz derjenigen Interessen, die insofern als funda-mental zu gelten haben, als sie an sich bereits einen ausreichenden Grund für Freiheitseinschränkungen auf Seiten der Pflichtenträger darstellen .7 Recht-

4 Dies ist auch dann der Fall, wenn man keinen starken Begriff von Erzwingbarkeit vertritt, also beispielsweise nicht davon ausgeht, dass moralische Rechte nur dann existieren, wenn Sanktionen folgen . Erzwingbar sind Rechte auch dann, wenn man das Müssen im Sinne eines schwachen moralischen Müssens versteht .

5 Damit ist allerdings nicht gemeint, dass eine Liebesbeziehung nicht mit besonderen Rech-ten und Pflichten verbunden sein kann (vgl . dazu ausführlich Krebs 2002) . Der Unter-schied ist aber der, dass eine Liebesbeziehung bereits freiwillig eingegangen wurde und diese Beziehung dann anschließend mit speziellen Pflichten gegenüber der anderen, ge-liebten Person einhergeht . Ein Recht auf Liebe an sich zu behaupten scheint aber absurd zu sein, da es ein zentrales Motiv, die gegenseitige Anziehung aus freien Stücken, untergra-ben würde .

6 Das bedeutet nun nicht, dass nicht viel gegen Schäden bei Naturkatastrophen gemacht werden könnte, im Gegenteil . So wären die verheerenden Verwüstungen nach Naturkata-strophen oft vermeidbar, wenn adäquate Vorsorge, beispielsweise bessere Statik beim Häu-serbau, betrieben worden wäre . Die Aussage betrifft nur die grundsätzliche Wahrschein-lichkeit des Eintretens von Naturkatastrophen und nicht deren (durchaus von Menschen zu beeinflussenden) Auswirkungen .

7 Richard Brandt (1983, S . 43) spricht in diesem Zusammenhang von der Fokussierungs-funktion von Rechten, die ein Individuum und dessen Wohlergehen ins Zentrum stellen .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 41

lich beanspruchen lassen sich also nur diejenigen Güter, die in den funda-mentalen Interessen der Individuen liegen, und nicht irgendwelche Interes-sen im Sinne von Präferenzen oder momentanen Wünschen . Dadurch, dass es sich bei Rechten um fundamentale (das heißt grundlegende) und begrün-dete Interessen handelt, wird ihre Befriedigung zu einer gesellschaftlichen und nicht mehr bloß privaten Angelegenheit erklärt . Werden Rechte miss-achtet, wird das als Anlass legitimer, oft auch staatlicher, Interventionen ge-sehen .

2 .1 .4 Das Verhältnis von Rechten und Pflichten

Aus der Aussage ›A hat gegenüber B ein Recht auf X‹ folgt trivialerweise, dass sich ein Recht immer an eine Entität8 richten muss: »One cannot have a claim that is a claim against nothing – a claim out into the blue, as it were« (Thomson 1990, S . 41) . Die besondere moralische Bedeutung von Rechten liegt, wie ich gezeigt habe, unter anderem in der Korrelation von Rechten und Pflichten respektive in der Tatsache, dass Rechte Pflichten auf anderer Seite auslösen .9 Wo man von einem Recht auf etwas spricht, besteht immer auch eine entsprechende Pflicht zu etwas .10 Spricht man also von Rechten, meint man damit implizit auch korrespondierende, sich ergebende Pflichten auf anderer Seite . Umgekehrt ist dies nicht der Fall . Nicht in jedem Fall entsprechen Pflichten auch Rechte einer anderen Person oder Entität . Die Tatsache, dass Rechte Pflichten auslösen, macht Rechte zu besonders starken moralischen Ansprüchen, denn die den Rechten korrespondierenden Pflich-

Aus den Rechten von Personen ergeben sich laut Brandt verschiedene Pflichten, die sich alle am ultimativen Wert von Personen orientieren .

8 Diese Entität kann durchaus deckungsgleich mit dem Rechtssubjekt sein . Die damit ge-forderten Pflichten wären dann Pflichten gegen sich selbst .

9 Dies unterscheidet auch Rechte im strikten Sinne von Privilegien, denen keine Pflichten entsprechen . Daher bezeichnet man Privilegien auch oft als schwach (vgl . Thomson 1990, S . 46) .

10 Mit anderen Worten: Rechte sind Gründe für Pflichten für andere (vgl . Raz 1984, S . 196) . Was das bedeutet, schildert David Lyons (1970) in einem Beispiel . Geht man davon aus, dass Anna Ben zehn Franken schuldet, die sie sich von ihm geliehen hat, kann man daraus folgern, dass Ben ein Recht auf die Zahlung der zehn Franken durch Anna hat . Und man kann ebenfalls folgern, dass Anna die Pflicht hat, Ben die zehn Franken zu zahlen . Beide, Pflicht wie Recht, bedingen sich, sie koexistieren notwendigerweise . Das heißt, Rechte implizieren Pflichten, können aber nicht auf sie reduziert werden .

42 Inklusion und Gerechtigkeit

ten sagen nicht, was wünschenswert oder gut wäre, sondern machen eine Aussage darüber, was jemand, moralisch gesehen, tun oder lassen muss .

Pflichten, die auf Rechte zurückgehen, unterscheiden sich von anderen Pflichten durch die Form ihrer Gerichtetheit (vgl . Sumner 1987, S .  24) . Pflichten, denen Rechte entsprechen, sind gerichtete Pflichten . Es sind Pflich-ten, die man erstens jemandem schuldet . Zweitens schuldet man sie dieser Person oder Entität aufgrund eines Merkmals, einer Eigenschaft oder einer Disposition, die ihm oder ihr selbst zukommt und welche die Grundlage seines oder ihres Rechts darstellt . Anders gesagt, Rechte werden mit Verweis auf den grundlegenden Wert einer bestimmten Eigenschaft von Individuen begründet (vgl . Waldron 1989, S . 504) .

Für viele, aber eben nicht für alle Fälle gilt dabei, dass einem Recht eine inhaltsgleiche Pflicht entspricht . So haben Individuen beispielsweise Pflich-ten der Wohlfahrt gegenüber einer großen Anzahl möglicher Empfänger, die wiederum aber kein Recht auf deren Hilfe haben . Auch gibt es Rechte, die alleine aufgrund ihres Sachverhalts respektive des Gegenstands, den sie abde-cken, umstritten erscheinen lassen, wer nun genau Pflichtenträger ist . Bei-spielhaft dafür ist das Recht auf Bildung und die damit verbundene Frage, wer die Pflicht zur Bildung trägt: die Eltern, die Schule, die Gesellschaft als Ganzes?

Nicht in jedem Fall ist also eindeutig vorgegeben, welche Pflicht durch ein bestimmtes Recht begründet ist und wer Pflichtenträger ist . Das Recht einer Person löst eine Pflicht bei einer anderen Person aus, korreliert aber nicht logisch mit dieser . Rechte sind Grundlagen für Pflichten für andere Personen oder Entitäten . Manche Rechte können zudem mit verschiedenen Pflichten verbunden sein, die ihrerseits historischen Veränderungen unterlie-gen . Es gibt daher keine geschlossene Liste von den mit Rechten korrespon-dierenden Pflichten . Auch können Kernrechte – also Rechte, die sich auf kein anderes Recht weiter zurückführen lassen – zu neuen, aus ihnen abge-leiteten, Rechten führen (vgl . Raz 1984, S . 199f .) . Rechte haben, mit anderen Worten, einen inhärent dynamischen Charakter .

2 .2 Die Begründung von Rechten

Es gibt zwei widerstrebende Theoriestränge über die Begründung von Rech-ten (vgl . MacCormick 1982; Waldron 1984; Sumner 1987): die Willenstheo-

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 43

rie, auch choice theory, will theory oder Autonomietheorie genannt, und die Interessentheorie, auch interest theory, benefit theory oder wellbeing theory ge-nannt . Bei allen Unterschieden, die den zwei Theoriesträngen zugeordnet werden können, sind beide doch Konzeptionen desselben Konzepts von Recht . Sie teilen die Auffassung, dass die Funktion von Rechten Freiheitsein-schränkungen auf dritter Seite implizieren, die zur Durchsetzung eines sozi-alen Ziels legitim sind . Sie sind sich also einig darin, dass Rechte legitime normative Einschränkungen für das Rechtsobjekt zur Folge haben, dass sie also berechtigte Pflichten generieren .

Der Hauptunterschied der beiden Theorien liegt in der normativen Funktion, die sie Rechten zuschreiben (vgl . Sumner 1987, S . 97) . In der In-teressentheorie sind es Aspekte des Wohlergehens, welche mit Hilfe von Rechten geschützt werden . Bei der Willenstheorie sind es die Freiheit und die normative Kontrolle des Rechtssubjekts als autonom handelnder Agent .

Nicht überraschend ist, dass beide Theoriestränge jeweils unterschiedli-che Auffassungen sowohl der Person als auch des moralischen Lebens vertre-ten: »Structures which highlight autonomy will treat individuals as active managers of their own lives even when doing so will work to their overall detriment . On the other hand, structures which highlight welfare will treat individuals as managers when that is likely to be in their interest and will otherwise treat them as the passive beneficiaries of the services of others« (Sumner 1987, S . 97) . Beide Zugänge unterscheiden sich also hinsichtlich der Werte, die sie als zentral erachten, Autonomie oder Wohlergehen, und kommen damit verbunden zu jeweils unterschiedlichen konkreten Rechten .

Im Folgenden führe ich die beiden Zugänge aus und nenne Gründe, weshalb die Interessentheorie zu bevorzugen ist .

2 .2 .1 Willenstheorie

Bei der Willenstheorie steht die Autonomie des Rechtssubjekts im Zentrum . Das Rechtssubjekt wird als autonomes Wesen gesehen, dessen (Entschei-dungs- und Willens-)Freiheit als zentral zu schützende Fähigkeit angesehen wird . Eine autonome Person und damit ein potenzielles Rechtsubjekt ist je-mand, der erstens sein eigenes Leben führt und bestimmt und der zweitens Kosten und Nutzen der Wahl seiner Lebenspläne abwägen und notfalls an-passen kann .

44 Inklusion und Gerechtigkeit

In der Willenstheorie wird Autonomie aber nicht nur als deskriptives Merkmal der (potenziellen) Rechtssubjekte gesehen . Autonomie ist gleich-zeitig präskriptiv für diesen Zugang, denn die Willenstheorie besagt nicht nur, dass Menschen autonom sein müssen, damit ihnen Rechte zukommen können . Sie besagt darüber hinaus auch, dass diese (als spezifisch menschlich erachteten) Autonomiefähigkeiten zu respektieren sind (vgl . Oshana 2006) .

Rechte ermöglichen es der Willenstheorie nach dem Inhaber von Rech-ten, normative Kontrolle über das Rechtsobjekt auszuüben . Dazu benötigt das Rechtssubjekt Freiheiten und Entscheidungsmöglichkeiten . Rechte schüt-zen aber nun nicht die Autonomie des Rechtssubjekts, denn so wären sie nur instrumentell . Rechte werden vielmehr durch Autonomie konstituiert (vgl . Raz 1986, S . 204) . Autonom zu sein ist daher eine notwendige Bedingung dafür, überhaupt Rechte zu haben und als Rechtssubjekt zu gelten .

Die Willenstheorie vertritt explizit keine Auffassung des guten Lebens . Der Autonomieschutz der Rechtssubjekte ist Selbstzweck . Die Rechtssubjek-te können sich ihre Zwecke selbst setzen . Womit sie ausgestattet werden müssen, sind einzig die notwendigen Freiheiten dazu, Zwecke verfolgen zu können . Aus diesem Grund erfolgt ein Vorrang des Rechten vor dem Guten (vgl . Sandel 1995, S . 13) . Um die Autonomie des Einzelnen angemessen zu respektieren, ist diese Rechtstheorie neutral gegenüber verschiedenen Versi-onen des guten Lebens .

Drei Kritikpunkte an der Willenstheorie

Die Kritik an der Willenstheorie konzentriert sich auf drei Punkte, wobei der dritte direkt auf die Interessentheorie verweist .

Ausschließliche Betonung von negativen Rechten

Wer die Autonomie des Einzelnen als höchstes moralisches Gut ansieht, der erlaubt nur negative Rechte . Diese Sichtweise vertritt beispielsweise der li-bertäre Philosoph Robert Nozick (1974) . Es ist aber, wie ich im Fall des Rechts auf Bildung gezeigt habe, nicht überzeugend, alle Rechte ausschließ-lich als negative Rechte zu sehen . Philosophen wie Amartya Sen (1992) oder Charles Taylor (1999) sind daher der Meinung, dass die Freiheit, die durch negative Rechte gewährt wird, erst dann als substanzielle Ermöglichung in-dividueller Freiheit aufgefasst werden kann, wenn dem Einzelnen zugleich

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 45

die Fähigkeiten und Ressourcen zur Verfügung stehen, um von dieser Frei-heit sinnvoll Gebrauch machen zu können . Das bedeutet, dass eine substan-zielle Ermöglichung von Freiheit eine Ergänzung durch positive Rechte be-nötigt .

Der Ausschluss nicht-autonomer Menschen und die Ignoranz gegenüber Verletzlichkeit

Der gerade im Zusammenhang mit Behinderung wichtige Kritikpunkt an der Willenstheorie ist zweitens, dass viele Menschen als Rechtssubjekte gar nicht in Frage kommen, da sie kein ausreichendes Maß an Autonomie auf-weisen, um als Träger von Rechten zu gelten . Menschen, die nicht in subs-tanziellem Sinne als autonom gelten können, werden daher von der Theorie nicht abgedeckt . Darunter fallen Menschen, die noch nicht autonom sind, wie beispielsweise Kleinkinder, Menschen, die nicht mehr autonom sind, beispielsweise alte, demente Menschen, aber auch Menschen mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen, bei denen hinsichtlich ihrer Autono-mie zumindest epistemische Unsicherheit besteht . Gerade diese Menschen aber verdienen aufgrund ihrer Verletzlichkeit besonderen moralischen Schutz .

Darüber hinaus ist die Verletzlichkeit ein speziesspezifisches Faktum . Alle Menschen sind nämlich – im Gegensatz zu vielen anderen Lebewesen wie auch zu unbelebten Gegenständen wie Steinen – in bestimmten Phasen ihres Lebens hilflos und daher an die Hilfe und die Unterstützung durch andere Menschen existenziell gebunden, um ein gutes Leben führen zu können .

Die Willenstheorie unterschlägt zudem, dass Menschen nicht ihr ganzes Leben lang autonome Wesen sind, sondern zwingend einen Reifungsprozess durchleben müssen, um autonome Wesen zu werden . Diese Reifungsprozes-se sind nun aber nicht Prozesse, die wie ein automatisch generiertes Pro-gramm ablaufen würden . Es sind im Gegenteil Prozesse, die sich, je nach Qualität der Hilfe, Unterstützung und Begleitung, fördernd oder hemmend auf die Autonomie des Subjekts auswirken .11 Menschen sind zur Entwick-lung ihrer Autonomie immanent auf gehaltvolle Interaktion mit anderen Menschen angewiesen . Sie brauchen, mit Ernst Tugendhats Worten (1998, S . 58) »Eigenräume des Sichentfaltens und Gedeihens«, um zu autonomen Agenten ihres Lebens heranzureifen .

11 Vgl . dazu die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse Michael Tomasellos (2006, 2009; Tomasello und Rakoczy 2009), auf die ich später ausführlich zu sprechen komme .

46 Inklusion und Gerechtigkeit

Gerade diese wichtigen Fakten menschlichen Lebens – Menschen sind existenziell verletzlich und ihre Verletzlichkeit ist darüber hinaus auch sozial geprägt – sollten sich auch in Rechten für die Betroffenen niederschlagen, die verletzliche Phasen menschlichen Lebens mit besonders starken morali-schen Ansprüchen schützen .12

Autonomie ist nicht einziges Interesse und Ziel von Menschen

Das dritte und meiner Meinung nach überzeugendste Argument gegen die Willenstheorie leitet direkt zu der von mir bevorzugten interessenbasierten Theorie über . Diese Kritik besagt folgendes: Autonomie kommt eine wichti-ge Bedeutung im menschlichen Leben zu . Menschen haben ein Interesse daran, eigene Entscheidungen zu fällen, Optionen im Leben zu haben, selbstbestimmt zu sein . Es ist daher angebracht, diese Interessen über Rechte zu schützen .

Autonomie ist aber nicht das einzige Ziel von Menschen .13 Daher um-fasst die Willenstheorie die Rechte, welche Menschen haben oder haben soll-ten, auch nur ungenügend . So ist der Zweck eines Rechts auf Bildung nicht nur der, den Menschen Handlungsspielräume zu verschaffen . Durch Bil-dung wird Menschen auch die Möglichkeit gegeben, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, beispielsweise, indem sie lesend und schreibend mitei-nander kommunizieren oder sich Wissen über die Welt aneignen können . Bildung ermöglicht Teilhabe am menschlichen Leben, das Sammeln reicher innerer Erfahrungen und geht weit über bloßen Autonomiegewinn hin-aus .14

Es ist daher sinnvoll, Autonomie als ein für Menschen wichtiges Interes-se zu beschreiben, ohne in der Autonomie gleichzeitig den einzigen Wert menschlichen Lebens zu sehen, der mit Hilfe von Rechten geschützt werden

12 Zwar kann man hier argumentieren, dass der Schutz der Verletzlichkeit auch über Pflich-ten (ohne korrespondierende Rechte) gewährleistet werden kann . Die Folge einer solchen Sichtweise ist aber, dass auch Mitbetroffene, beispielsweise Angehörige, ungenügend ge-schützt sind . Sie können nicht stellvertretend für ihre Familienmitglieder Handlungen aufgrund eines Rechtsanspruchs einfordern, sondern sind selbst in einer moralisch schwä-cheren Position .

13 Menschen haben beispielsweise auch Interessen nach Sicherheit, Geborgenheit oder Schutz .

14 Auch lassen sich bestimmte Interessen, wie beispielsweise das Interesse eines indigenen Volkes auf kulturelle Selbstbestimmung, nicht ausschließlich über Autonomie beschrei-ben . Den Betroffenen geht es ja gerade nicht nur um ihre Autonomie, sondern auch um die Einbettung des Einzelnen in den Kontext einer kulturellen Gemeinschaft .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 47

sollte . Indem der Wunsch nach Selbstbestimmung als menschliches Interesse beschrieben wird, kann Autonomie als ein Bestandteil individuellen Wohler-gehens betrachtet werden, aber nicht als der einzige . Da die Interessenkon-zeption die Willenstheorie aufnehmen kann, indem sie Autonomie als ein wichtiges Interesse von Menschen integriert, nicht aber umgekehrt, ist sie der Willenstheorie vorzuziehen (vgl . Sumner 1987, S . 96) . Die Interessen-theorie ist breiter und umfassender als die Willenstheorie und wird im Fol-genden weiter verfolgt .

2 .2 .2 Interessentheorie

Bei der interessenbasierten Rechtstheorie stehen die Interessen und das Wohlergehen der Rechtssubjekte im Zentrum . Rechtssubjekte zeichnen sich dieser Theorie nach dadurch aus, dass sie die Fähigkeit haben, Interessen zu entwickeln und zu verfolgen . Die zentrale Funktion von Rechten besteht nach dieser Theorie in der Ermöglichung der Interessenbefriedigung (vgl . Boshammer 2003, S . 36f .) . Die korrespondierenden Pflichten sind dazu da, die durch die Rechte umschriebenen Interessen zu schützen .

Nun sind aber nicht alle Interessen von Menschen im Blickpunkt von Rechten, sondern nur die, welche zentral mit menschlichem Wohlergehen zu tun haben . Die Rechte sind mit Verweis auf fundamentale Interessen ih-rer Träger begründet . Der Rechtsanspruch ist nur dort begründet, wo be-stimmte Interessen eines Subjekts einen ausreichenden Grund dafür darstel-len, die Freiheit eines anderen einzuschränken . Nach Joseph Raz (1984, S . 195) ergibt sich folgende Definition von Rechten: »X has a right if and only if x can have rights, and other things being equal, an aspect of x’s well-being (his interest) is a sufficient reason for holding some other person(s) to be under a duty .«

Einem Individuum können nach Raz dann und nur dann Rechte zuge-schrieben werden, wenn sein Wohlergehen von ultimativem Wert ist . Rechts-subjekte sind nur diejenigen, bei denen man sinnvollerweise von Wohlerge-hen und Interessen ausgehen kann .15

15 Oft wird in einer interessenbasierten Rechtstheorie zudem davon ausgegangen, dass aus-schließlich menschliche Individuen Träger von Rechten sein können . Damit vertreten die meisten Autoren einen sogenannten anthropozentrischen Individualismus . Meiner Ansicht nach sind Rechte aber keineswegs zwingend auf Menschen beschränkt . Eine Schwierigkeit der Tierrechtsdebatte besteht darin, von der faktischen Feststellung, dass vielen Tieren keine Rechte zukommen, zu schließen, dass diese in der Konsequenz auch Menschen mit

48 Inklusion und Gerechtigkeit

Vorteile und Schwierigkeiten der Interessentheorie

Ein zentraler Vorteil der Interessentheorie gegenüber der Willenstheorie ist, dass die Interessentheorie offener ist hinsichtlich der Frage, wer als Subjekt von Rechten gelten kann . So ist es auch möglich, Menschen mit schweren geistigen Beeinträchtigungen als Rechtssubjekte zu sehen und grundsätzlich einer Zwei-Gruppen-Bildung (in diejenigen Menschen, welchen Rechte zu-kommen, und diejenigen, welche keine Rechtssubjekte sein können) zu ent-gehen . Allerdings läuft die Interessentheorie damit Gefahr, den Status eines Rechtssubjekts inflationär zuzuschreiben . Der Interessenbegriff muss somit dahingehend qualifiziert werden, was ein Interesse ist, und was es heißt, dass etwas im Interesse eines Rechtssubjekts ist .

Zwei Interessenbegriffe

Gemäß Christine Swanton (1980) kann man von zwei Interessenbegriffen ausgehen, einem evaluativen und einem deskriptiven . Dem ersten Verständ-nis nach ist die Aussage, dass etwas ein Vorteil für X ist, logisch äquivalent zur Aussage, dass etwas gut ist für X . Das bedeutet, dass jede Entität Interes-sen haben kann, von der behauptet werden kann, dass etwas gut oder ein Vorteil für sie ist .

Dieser Interessenbegriff ist evaluativ konnotiert . Das heißt, er setzt eine Wertung voraus . Daher wird dieser Interessenbegriff auch evaluativer Interes-senbegriff genannt . Der in einer evaluativen Konzeption umschriebene Kreis möglicher Rechtssubjekte ist potenziell sehr groß . In Frage kommen alle We-sen, denen man Interessen zuschreiben kann .

Dem evaluativen Interessenbegriff steht ein deskriptiver gegenüber . Die-ser fasst Interessen als mentale Phänomene . Der Kreis potenzieller Rechts-subjekte ist damit enger gezogen . Mit ihm werden bestimmte mentale Fähig-keiten vorausgesetzt, welche die Bedingung dafür darstellen, dass jemand oder etwas Interessen haben kann . In verschiedenen Auslegungen können

schweren Behinderung nicht zukommen sollten (vgl . McMahan 2005; Singer 1994) . Das ist eine Schlussfolgerung, die sich meiner Meinung nach aber keineswegs ziehen lassen muss . Vielmehr könnte man die Position vertreten, bestimmte Rechte auch Tieren zuzu-sprechen .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 49

diese Fähigkeiten beispielsweise Leidensfähigkeit16, Bewusstsein oder Er-kenntnisvermögen17 sein .

Die Vorteile eines evaluativen Interessenbegriffs

Es gibt verschiedene Gründe, einen evaluativen Interessenbegriff vorzuzie-hen .

Erstens kann etwas gut für mich sein, ohne dass ich es mir gleichzeitig wünsche oder – anders ausgedrückt – dass es in meinem (deskriptiven) Inte-resse begründet ist . Aus diesem Grund kann ich auch ein Recht auf etwas haben (weil es gut für mich ist), selbst wenn ich es mir nicht wünsche, oder es nicht in meinem (deskriptiven) Interesse ist . Dies wird deutlich an einem Beispiel . Es wäre unplausibel, das Recht auf Bildung nur denjenigen Kin-dern zuzuschreiben, welche ein deskriptives Interesse an Bildung zeigen . Vielmehr gehen wir davon aus, dass dieses Recht allen Kindern zukommt, weil Bildung gut ist für sie . Die schwache These, die besagt, dass der Besitz eines Rechts mindestens in einer Hinsicht gut sein muss für deren Besitzer, genügt .

Eine Bedingung für die Zuschreibung des Status als Rechtssubjekt ist demnach erstens, dass etwas gut sein muss für X . Nach Joseph Raz (1986, S . 166) können daher nur diejenigen Wesen oder Entitäten Rechte haben, welche intrinsischen oder ultimativen Wert haben, nicht aber bloß instru-mentellen Wert . Das schließt bestimmte Dinge bereits aus: Werkzeuge bei-spielsweise haben ausschließlich instrumentellen Wert, ihnen schuldet man kein bestimmtes Verhalten . Und man kann ihnen auch kein Unrecht tun . Etwas kann also auch nicht gut oder schlecht sein für sie, höchstens für den-jenigen, der sie braucht .18

Zweitens brauchen Menschen Rechte, weil sie Träger von Interessen sind, deren Befriedigung Teil ihres Wohlergehens und Bedingung für Wohlerge-

16 Eine solche Position vertritt beispielsweise Peter Singer (1994) . 17 Eine solche Position wird beispielsweise von Joel Feinberg (2007) vertreten . 18 Allerdings ist nicht alles, was intrinsischen Wert hat, bereits auch von ultimativem Wert .

Etwas kann intrinsischen Wert haben und dennoch an einen weiteren, ultimativen Wert gebunden sein . Joseph Raz (1986, S . 177f .) nennt hier das Beispiel des Werts eines Hundes für seinen Besitzer . Der Hund hat zweifelsohne intrinsischen Wert für den Besitzer, aber es ist das Wohlergehen seines Besitzers, das von ultimativem Wert ist . Der Hund trägt nicht-instrumentell zu diesem Wohlergehen bei . Also ist seine Existenz von intrinsischem, aber letztlich abgeleitetem Wert .

50 Inklusion und Gerechtigkeit

hen ist: »Weil die Befriedigung dieser Interessen im Kontext einer Gesell-schaft nicht zuletzt durch die konfligierenden Interessen anderer Individuen latent bedroht ist, benötigt der Einzelne Rechte, die sein Wohlergehen er-möglichen, indem sie den Schutz grundlegender Interessen sichern, die allen Individuen als Träger bestimmter allgemeiner Merkmale zugeschrieben wer-den« (Boshammer 2003, S . 35) .19

Die Möglichkeit einer Zuschreibung gilt nicht für alle Interessen, aber für bestimmte, grundlegende . Diese sind objektiv und können daher Men-schen auch dann zugeschrieben werden, wenn sie diese selbst nicht äußern (können) . Der Grund dafür ist, dass sie einer geteilten Bedürfnisstruktur des Menschen entstammen . »To ascribe to all members of a class C a right to treatment T is to presuppose that T is, in all normal circumstances, a good for every member of C, and that T is a good of such importance that it would be wrong to deny it or withhold it from any member of C« (MacCor-mick 1982, S .  160) . Verletzt man diese basalen Rechte auf die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse, so die Annahme, tritt ein substanzielles Leiden auf Seiten des Rechtssubjekts ein . Die betroffenen Menschen sind in ihrem Wohlergehen in der Folge fundamental gefährdet oder geschädigt .20

Die Erkenntnis, dass Rechte (objektive) Interessen schützen, wirft nun die Frage auf, welcher Art die Interessen sind, die es über Rechte zu schützen gilt . Zweifelsohne ist es notwendig, verschiedene Interessen zu unterschei-den . Von grundlegenden, basalen Interessen, beispielsweise nach Nahrung oder Obdach, müssen Interessen unterschieden werden, die bestimmte Men-schen haben, und welche sie zwar mit Gründen verteidigen können, die aber in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung nicht von allen Menschen geteilt wer-den .

Ich werde im Folgenden zwei Ebenen von Interessen unterscheiden: ei-nerseits Bedürfnisse, die universell sind und der menschlichen Natur ent-stammen respektive eng mit dieser verbunden sind, und andererseits Interes-sen, die man mit ›Plänen und Zielen‹ von Menschen umschreiben kann .

19 Vgl . hierzu ausführlicher und nicht nur auf Rechte bezogen Allen Buchanan (1990) . 20 Gerade für (sonder-)pädagogische Belange ist daher die (potenzielle) Gefährdung des

Wohlergehens ein wichtiger Grund und Auslöser für Unterstützung und Hilfe .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 51

2 .3 Zwei Ebenen von Interessen

2 .3 .1 Bedürfnisse

Menschen haben eine Reihe von Bedürfnissen, beispielsweise nach Nahrung, einem Obdach oder nach genügend Schlaf . Üblicherweise unterscheidet man zwischen absoluten und instrumentellen Bedürfnissen (vgl . Braybrooke 1987; Schramme 2006; Thomson 1987) . Instrumentelle Bedürfnisse verwei-sen dabei auf absolute Bedürfnisse, welche der Vermeidung von Leiden die-nen . »Absolute Bedürfnisse liegen dort vor, wo man an einen Punkt gelangt, an dem nicht mehr sinnvoll nach weitergehenden Zielen gefragt werden kann . Einen Verdurstenden in der Wüste beispielsweise wird man kaum fra-gen, warum er Wasser braucht . Die absoluten Bedürfnisse sind dadurch ge-kennzeichnet, dass sie auf einen möglichen schwerwiegenden Schaden oder ein Leid verweisen, das eintritt, falls das Bedürfnis nicht erfüllt wird« (Schramme 2006, S .  224) . Oft werden die absoluten Bedürfnisse auch Grundbedürfnisse genannt . Instrumentelle Bedürfnisse müssen sich also auf solche absoluten oder Grundbedürfnisse zurückführen lassen . So kann man beispielsweise das Bedürfnis, ein Glas Milch zu trinken, auf das absolute Bedürfnis, Nahrung und Flüssigkeit zu sich zu nehmen, zurückführen .

Die Struktur von Bedürfnissen

Bedürfnisse haben folgende dreistellige Struktur: X benötigt Y um zu Z . Bei absoluten Bedürfnissen steht bei ›um zu Z‹ das Ziel der Leidvermeidung . Da bei absoluten Bedürfnissen die Aussagen aber oft eine elliptische Form auf-weisen und damit zweistellig erscheinen, bleibt diese Grundlage oft verbor-gen und muss, wie bereits erwähnt, in der Analyse erst wieder sichtbar ge-macht werden (vgl . Schramme 2006, S . 224) . Man sagt dann beispielsweise nur: Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Nahrung . Der Zusatz aber, dass Nahrung der Leidvermeidung dient, bleibt verborgen . Und dieses tritt ja unbestritten ein, wenn Menschen keine Nahrung erhalten .

52 Inklusion und Gerechtigkeit

Determinierung durch die menschliche Natur

Bedürfnisse, im Besonderen die biologischen Bedürfnisse, werden durch die menschliche Natur determiniert . Das heißt, sie sind in spezifischer Weise an die menschliche Lebensform gebunden und bestimmen den Bereich dessen, was Menschen benötigen, um als Menschen überleben zu können . Bedürf-nisse betreffen, mit anderen Worten, die Subsistenz von Menschen . Sie kenn-zeichnen gewissermaßen die passive Seite des Menschen als bedürftiges, ver-letzliches und abhängiges Wesen (vgl . Doyal und Gough 1991; Laitinen 2009) .

Über Bedürfnisse können Menschen nicht in ausgeprägtem Maß ent-scheiden, wie sie über Wünsche und Interessen bestimmen können . Bedürf-nisse sind nicht an Wünsche und spezifische Ziele gebunden, im Gegenteil . Ein Bedürfnis existiert unabhängig von aktualen Wünschen . »Need turns on the observation that some things are required despite what one chooses, and however hard one struggles against the need« (Alkire 2005, S . 233) . Men-schen profitieren aus diesen Gründen auch unabhängig von ihren Wünschen von der Erfüllung von Bedürfnissen (vgl . Raz 1986, S . 260) .

Es gibt unterschiedliche Wege, Bedürfnisse zu erfüllen . Die Befriedigung des Bedürfnisses hängt dabei von der Art des Bedürfnisses ab . So kann ein Bedürfnis nach Nahrung durch Essen gedeckt werden, ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit durch Freunde oder Familie . Bedürfnisse können in der Regel nicht substituiert, also durch etwas Anderes ersetzt, werden . So kann das Bedürfnis nach Freundschaft nicht durch Nahrung befriedigt werden oder umgekehrt .21

Menschen sind in der Erfüllung ihrer Bedürfnisse von Ressourcen, aber auch anderen Menschen, speziell von deren Hilfe, abhängig . So haben Men-schen beispielsweise Bedürfnisse nach ausreichend Nahrung, bestimmten Temperaturen und Kleidung, die ihnen Schutz bietet, einem Obdach, nach Gesundheit oder der Abwesenheit von Schmerzen, nach Anregung und zwi-schenmenschlichem Kontakt . Während Letzteres direkt an die Hilfe und das Zusammensein mit anderen Menschen gebunden ist, sind Menschen hin-sichtlich anderer Bedürfnisse von Ressourcen und nur kontingenterweise

21 Interessanterweise zeigen gerade bestimmte Verhaltensweisen und psychiatrisch relevante Erkrankungen, beispielsweise Drogenmissbrauch oder Bulimie, dass der Versuch der Be-friedigung eines bestimmten Bedürfnisses durch Mittel, die einem anderen Bedürfnis ent-sprechen, nicht gelingt . Meistens führt dieser Versuch im Gegenteil zu psychischen Prob-lemen, weil das eigentliche Bedürfnis über die gewählten Mittel nicht befriedigt werden kann .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 53

von der Hilfe anderer Menschen abhängig . Menschen sind beispielsweise dann abhängig von der Hilfe ihrer Mitmenschen, wenn sie sich die Ressour-cen selbst nicht beschaffen können oder anderweitig Unterstützung oder Hilfe bei der Befriedigung eines Bedürfnisses benötigen . Diese Angewiesen-heit auf Hilfe trifft auf viele Menschen mit Beeinträchtigung, aber auch auf alte, pflegebedürftige Menschen sowie kleine Kinder zu .

Allerdings darf nicht vergessen gehen, dass Phasen der Abhängigkeit von anderen Menschen das Leben aller Menschen in vielfältiger Weise durch-dringen . Alle Menschen sind in der einen oder anderen Hinsicht von der Hilfe anderer abhängig und sei dies nur als Gegenüber in zwischenmensch-licher Interaktion . Feministische Ethikerinnen und Fürsorgeethiker weisen somit zu Recht auf Hilfe und Abhängigkeit als menschliche Grundkonstante hin (vgl . Feder Kittay 1999; Held 2006; MacIntyre 1985) .

Bedürfniserfüllung macht noch kein gutes Leben aus

Allerdings macht die Erfüllung von Bedürfnissen das Leben eines Menschen noch nicht gut . Dies wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, was es bedeuten würde, wenn in einem Leben sämtliche Grundbedürfnisse erfüllt wären, aber nichts darüber hinaus Gehendes . Ein solcher Mensch hätte ge-nügend zu essen, um nicht übermäßig zu hungern, er hätte ein einfaches Obdach, so dass er nicht Wind und Wetter ausgesetzt wäre, er hätte Klei-dung, um nicht frieren zu müssen und so weiter . Der Mensch müsste also nicht in substanziellem Sinne leiden . Sein Leben wäre aber noch kein gutes . Denn zu einem guten Leben gehört nicht nur die Deckung von Grundbe-dürfnissen . Zu einem guten Leben gehört auch die Verfolgung und Erfül-lung von Plänen und Zielen . Diese Pläne und Ziele kennzeichnen eine zwei-te Ebene menschlicher Interessen .

2 .3 .2 Pläne und Ziele

Im Gegensatz zu Bedürfnissen können Menschen zu ihren Plänen und Zie-len wertend Stellung nehmen . Dies können sie zu ihren Bedürfnissen nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maß . Die Unterscheidung zwischen Be-dürfnissen und Plänen und Zielen markiert denn auch eine moralisch be-deutsame Schwelle . Die grundlegenden Bereiche menschlichen Lebens sind

54 Inklusion und Gerechtigkeit

durch Bedürfnisse gekennzeichnet . Werden die Bedürfnisse von Menschen nicht gedeckt, beraubt man sie etwas ganz Grundlegendem im menschlichen Leben . Insofern ist die Erfüllung von Bedürfnissen basaler oder grundlegen-der als die Erfüllung von spezifischen Plänen und Zielen .22

Die aktive Seite menschlichen Lebens

Der Bereich der Pläne und Ziele kennzeichnet die aktive Seite menschlichen Lebens respektive den Menschen als aktives, unabhängiges, autonom han-delndes Wesen, das Ziele hat und sie verfolgt . Ziele und Pläne in einem weiten Verständnis decken nach Joseph Raz (1986, S .  291) beispielsweise Projekte, Pläne, Beziehungen, Ambitionen oder commitments ab . Da es die Ziele und Pläne von Individuen sind, prägen sie die Handlungen der betref-fenden Menschen . Sie färben die Wahrnehmung der Umgebung und der Welt und sie sind wichtig für emotionale Antworten und für die Vorstel-lungswelt von Individuen . Sie spielen aus diesen Gründen eine tragende Rol-le im Leben von Menschen . Ziele müssen dabei nicht gewählt und bewusst sein, sie können auch unbewusst sein . Auch können Menschen in sie hinein-wachsen und damit sozialisiert werden . So sind gewisse soziale Ziele an Kon-ventionen und geteilte Vorstellungen über Rollen und Funktionen von Menschen gebunden .

Die hierarchische Struktur von Interessen

Interessen haben offensichtlich eine hierarchische Struktur . Das heißt, Pläne und Ziele bauen auf Bedürfnissen auf . Oft ist es möglich, einen bestimmten Plan oder ein Ziel letztlich auf ein bestimmtes Bedürfnis zurückzuführen respektive in der Erfüllung des Plans oder des Ziels auch die Befriedigung eines Bedürfnisses zu sehen . So kann die Teilnahme in einem Fanklub neben dem Interesse an einem bestimmten Künstler auch die Befriedigung eines Bedürfnisses nach Gemeinschaft sein . Dass Pläne und Ziele auf Bedürfnissen aufbauen, weist darauf hin, dass die Befriedigung von einfacheren Bedürfnis-

22 Zweifelsohne ist es so, dass es einen relativ weiten Übergangsbereich zwischen Bedürfnis-sen und Interessen gibt, der auch davon abhängen kann, inwiefern das Individuum in der Lage ist, wertend zu seinen Bedürfnissen Stellung zu nehmen .

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 55

sen notwendig ist für die Erfüllung von komplexeren Zielen und Plänen .23 Der Erfolg von einzelnen Zielen bemisst sich dabei häufig nicht an den mo-mentanen Zielen, sondern an umfassenden, komplexen Plänen und Zielen, die den Charakter von Lebensplänen oder -zielen haben können . Ist dies der Fall, ist es nicht erstaunlich, dass sich große Lebensziele auf den Charakter oder die Ausgestaltung des Lebens als Ganzes beziehen . Scheitern Menschen an diesen großen Plänen und Zielen, fühlen sie sich nicht selten in ihrem ganzen Leben gescheitert . Sie empfinden dies mit anderen Worten als umfas-sendes Scheitern .

Der Bezug zu menschlichem Wohlergehen

Menschliches Wohlergehen ist in folgenden Hinsichten an die Ziele und Pläne von Menschen gebunden (vgl . Raz 1986, S . 308): Erstens ist mensch-liches Wohlergehen außer im Falle von biologischen und gewissen sozialen und kulturellen Bedürfnissen an die erfolgreiche Erfüllung von Zielen ge-bunden . Ziele und Pläne wiederum sind an Handlungsgründe gebunden, insofern Menschen ihr Handeln nämlich in den meisten Fällen mit Gründen unterlegen (können) . Zweitens glauben Menschen an den Wert von Zielen und Plänen, selbst wenn sie sich diese nicht wünschen . So kann es ein Mensch für gut befinden, gebildet zu sein, selbst wenn er sich das nicht wünscht . Daher können bestimmte objektive Faktoren eines guten Lebens, beispielsweise Bildung, als menschliches Ziel bestimmt werden, ohne not-wendigerweise Bezug auf die aktualen Wünsche einer Person zu nehmen .

In der Verbindung respektive dem Beitrag zu menschlichem Wohlerge-hen und menschlichem Leiden zeigt sich nochmals die hierarchische Di-mension von Interessen, beginnend bei menschlichen Grundbedürfnissen, deren Deckung fundamental ist . Garrett Thomson (2005, S . 185) betont ins-besondere die Wechselwirkungen zwischen Bedürfnisbefriedigung, der Mög-lichkeit, eigene Interessen in Form von Zielen und Plänen verfolgen zu kön-nen und menschlichem Leiden: »The concept of an interest must form an integral part of the concept of a fundamental need because our interests de-termine in general terms what types of activities and experiences we are de-prived of when we are harmed . We require the notion of an interest to ex-plain what harm is, and we require the notion of harm to explain what a

23 Darauf weist in gewisser Weise die Bedürfnispyramide von Abraham H . Maslow (1981) hin .

56 Inklusion und Gerechtigkeit

fundamental need is . The concept of an interest demonstrates in what sense our well-being consists of living in accordance with our nature, rather than consisting of getting what we desire . The significance of inescapable interests is that these define in what way we must treat this nature as given . They provide a certain starting-point for deliberation and a certain fixedness in what is to count as good and bad for a person .« Bedürfnisse stellen den Start-punkt für die Überlegungen, was für einen Menschen gut oder schlecht ist, dar . Sie sind die fixen Eckpunkte menschlichen Leidens und Wohlergehens .

2 .4 Fazit

Rechte decken einen wichtigen Teil moralischer Forderungen ab . Sie verlei-hen den Trägern erstens eine besondere Position, die sie sonst nicht hätten, und sie haben zweitens eine freiheitseinschränkende Wirkung auf Seiten des Rechtsträgers . Das heißt, sie sind mit Pflichten auf anderer Seite verbunden . Besonders dieser pflichtauslösende Charakter macht moralische Rechte inte-ressant .

Im Zuge der Überlegungen habe ich eine interessenbasierte Theorie mo-ralischer Rechte vertreten und eine andere Theorie, die Willenstheorie, zu-rückgewiesen . Die Interessentheorie geht davon aus, dass Rechte wichtige Interessen von Menschen schützen . Diese Interessen werden aber nicht de-skriptiv verstanden, sondern evaluativ .

Damit ist es möglich, auch Menschen mit schweren Beeinträchtigungen Rechte zuzuschreiben . Dies aus dem Grund, weil ihnen wie allen Menschen bestimmte Grundbedürfnisse zugeschrieben werden können . Ohne die Er-füllung dieser basalen menschlichen Bedürfnisse – beispielsweise nach Nah-rung, Obdach, aber auch menschlicher Zuwendung – leiden Menschen sub-stanziell . Über den Bereich von Grundbedürfnissen hinaus haben Menschen Pläne und Ziele . Diese kennzeichnen eine zweite Ebene wichtiger menschli-cher Interessen . Bedeutsam sind hierbei nicht die partikularen Pläne und Ziele an sich, sondern deren freiheitsfunktionale Wirkung . In der erfolgrei-chen Verfolgung von Plänen und Zielen, wie sich später noch vertiefter zei-gen wird, drücken sich nämlich die Freiheitsgrade aus, die Menschen ha-ben .

Auf diese Weise hat das vorliegende Kapitel den Grundstein zum forma-len Verständnis von Rechten geliefert . Begriff, Struktur und Funktion von

Begriff, Struktur und Funktion von Rechten 57

Rechten wurden darin geklärt . Die inhaltliche Füllung, insbesondere die Antworten auf die Fragen, wer nun genau als Rechtssubjekt in Frage kommt, wer Träger der Pflichten ist und welche Rechte inhaltlich genau bestehen, werden im siebten Kapitel geliefert .

Für meine Fragestellung hat sich insofern erst der formale Rahmen ge-zeigt, in welchem sich die Beantwortung der Frage bewegen kann . Dabei möchte ich insbesondere folgende Aspekte nochmals betonen: Erstens muss der Gegenstand – in diesem Fall Inklusion oder bestimmte Aspekte von In-klusion – erzwingbar sein . Für einige Gegenstände, beispielsweise Dankbar-keit oder Liebe, ist dies nicht möglich, da sie untrennbar an Freiwilligkeit gebunden sind . Es muss sich daher bei Inklusion zeigen, ob und wie sie er-zwingbar ist . Zweitens muss der Gegenstand, also Inklusion, in der Verfü-gungsmacht der Pflichtenträger liegen . Sind Menschen verpflichtet, Inklusi-on umzusetzen, weil dies einem Recht entspricht, dann muss sich zeigen, dass es tatsächlich in der Macht der Rechtsobjekte liegt, das Recht zu erfül-len . Auch hier gibt es Beispiele, die zeigen, dass das nicht immer möglich ist . So kann man zwar viel für das Glück einer anderen Person tun, es ist aber außerhalb der Macht von Menschen zu erreichen, dass sich diese Person auch tatsächlich glücklich fühlt . Es kann also, so kann man folgern, keine Pflicht darauf geben, jemanden glücklich zu machen . Drittens muss es um wichtige Interessen gehen . Diese Interessen messen sich daran, dass sie einen wichtigen Beitrag zum menschlichen Wohlergehen leisten . Wenn es bei-spielsweise um die Inklusion in einen Fußballklub geht, dann müsste man zeigen, inwiefern dies nun zu menschlichem Wohlergehen beiträgt . Da die Beantwortung der Frage aber davon abhängt, was man überhaupt unter menschlichem Wohlergehen versteht, muss ich die Frage noch eine Weile ruhen lassen . Ich werde sie im dritten und insbesondere im vierten Kapitel, welches sich dann zentral der Frage widmet, wieder aufnehmen .

Bis es möglich ist, die Frage nach dem Recht auf Inklusion zu beantwor-ten, sind noch einige Umwege vonnöten . Beispielsweise werden mit der Fra-ge, ob Menschen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Inklusion ha-ben, die Unterfragen aufgeworfen, was eine Behinderung ist und worin die normative Problematik besteht, eine Behinderung zu haben . Genau auf die-se Fragen will ich im Folgenden eingehen .

3 . Behinderungsmodelle

Die Beantwortung der Frage nach der normativen Bedeutung von Behinde-rung ist deshalb zentral, weil man nur so die normative Problematik der be-troffenen Menschen verstehen kann . Sind nämlich Menschen aufgrund ihrer Behinderung aus vielen Lebensbereichen ausgeschlossen, wirft dies die Frage auf, worin denn die Behinderung der betroffenen Menschen liegt respektive weshalb sie für Fragen von Exklusion oder Inklusion relevant ist . Auf Fragen der Inklusion und Exklusion gibt es ganz unterschiedliche Antworten oder Lösungsansätze, die alle damit zusammenhängen, welches Modell von Be-hinderung man vertritt .

Aufbau des Kapitels

In der Diskussion der Frage konzentriere ich mich auf folgende Modelle: das medizinische Modell von Behinderung1, das soziale Modell von Behinderung, das Wohlbefindensmodell von Behinderung sowie das von mir abschließend entwickelte Wohlergehensmodell von Behinderung, welches verwandt ist mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation WHO . Diesem Modell fügt es aber einen normativen Schluss an . Nicht diskutieren werde ich das Modell von Behinderung, wie es in der Rechts- und Versicherungs-sprache gebraucht wird, und welches Behinderung an Erwerbsminderung bindet (vgl . Welti 2005, S . 735) . Ein solches Verständnis von Behinderung scheint für den vorliegenden Zusammenhang nicht zielführend .

Das Kapitel zeigt auf, dass die Problematik von Behinderung vor allen Dingen in der Einschränkung des Wohlergehens liegt . Das an dieses Kapitel

1 Manchmal wird dieses Modell aufgrund seiner Annahmen und Implikationen auch als »personal tragedy concept of disability« (Christensen 1996, S . 64) bezeichnet .

60 Inklusion und Gerechtigkeit

anschließende vierte Kapitel beleuchtet aus diesem Grund die Frage, was man unter Wohlergehen verstehen soll .

Vier Fälle

Folgende reale Fälle sollen durch das Kapitel führen . An ihnen kann gezeigt werden, worin die normative Problematik einer Behinderung liegt respektive welche Antworten die jeweiligen Modelle auf die Frage, was eine Behinde-rung ist, bereitstellen .

Fall 1: Tom Shakespeare, Nachfahre des berühmten William Shakespeare, britischer Bioethiker und Soziologe sowie 3 . Baron von Lakenham, ist ein bekannter englischer Behindertenaktivist .2 Geboren mit der häufigsten Form von Kleinwüchsigkeit, Achondroplasie, einem Gendefekt auf dem vierten Chromosom, ist er aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit häufig Objekt von Schaulustigkeit . Manchmal macht er sich daraus einen Spaß und schneidet Kindern, wenn ihre Mütter das nicht bemerken, Grimassen, um sie zu er-schrecken . Tom Shakespeare hat einen beruflichen Alltag, den er sich zu wei-ten Teilen selbst einteilen kann . So arbeitet er morgens oft zu Hause und geht nachmittags von da aus in sein Büro in der Universität . Den Zeitpunkt des Wechsels von der Heim- zur Arbeitsstätte wählt er bewusst . So vermeidet er es beispielsweise, nachmittags, wenn Schulkinder auf ihrem Heimweg sind, auf der Strasse gesehen zu werden, weil es ihn ärgert, jeden Tag ange-starrt und ausgelacht zu werden .

Fall 2: Daniel ist ein junger Mann mit Down Syndrom,3 der lesen und schreiben kann, als Küchenjunge arbeitet und in einer Wohngruppe einer Behinderteneinrichtung lebt . Er hat ein ausgezeichnetes räumliches Vorstel-lungsvermögen und ein gutes Musikgehör . Am liebsten hört er Schlagermu-sik oder besucht mit jemandem aus der Familie ein Fußballspiel . Seine Freunde sind die anderen Bewohner seiner Wohngruppe . Außerhalb der Wohngruppe und seiner eigenen Kernfamilie hat Daniel keine Freunde . Sein größter Wunsch ist es, Mitglied eines Karnevalsvereins zu werden und in diesem Glockenspiel zu spielen . Er hat sich bei verschiedenen Gruppen be-

2 Dieses Beispiel verdanke ich einem Interview mit Tom Shakespeare in der Zeitschrift NZZ Folio (Schneider 2002) sowie einer persönlichen Konversation Jonathan Wolffs mit Tom Shakespeare .

3 Dieses Beispiel beruht auf einer persönlichen Begegnung respektive einem langjährigen Kontakt mit Daniel, der in Wirklichkeit anders heißt .

Behinderungsmodelle 61

worben . Bis auf eine haben ihn alle abgelehnt . Diese Gruppe hat sich offen gezeigt, ihn als Passivmitglied aufzunehmen . Als solches darf er eine Fahne tragen und die Gruppe bei Umzügen anführen .

Fall 3: N .E . war eine junge, erfolgreiche Studentin der Architektur .4 Nach einem erfolgreich abgeschlossenen Grundstudium arbeitete sie zwei Jahre in einem Architekturbüro und war gerade dabei, sich für ein Hauptstudium vorzubereiten, als sie einen Motorradunfall erlitt, der sie mit einem schweren Schädelhirntrauma zurück ließ . Nach ihrem Unfall und anschließendem Aufenthalt auf der Intensivstation einer Klinik verbrachte N . E . ungefähr ein Jahr in einer Rehabilitationsklinik, wo sie von Neuem lernen musste zu lau-fen, zu essen und für ihre alltäglichen Verrichtungen zu sorgen . Sie erhielt dazu verschiedene Therapien, unter anderem eine Beschäftigungstherapie, eine Sprechtherapie sowie Physiotherapie . N .E . wies nach ihrem Unfall kog-nitive Defizite und Schädigungen des Neuroverhaltens auf, welche mit einer mittelschweren Frontalschädelverletzung verbunden waren . Noch heute ist N .E . unaufmerksam, impulsiv und schnell gereizt . Sie hat Mühe, klare, ge-zielte Gedanken zu formulieren und Aussagen sowie ihr Verhalten zu organi-sieren . Bei fast allen alltäglichen Verrichtungen benötigt sie aufgrund ihrer geschädigten exekutiven Hirnfunktionen Hilfe . Die Hirnverletzung hat auch zur Folge, dass sich N .E . ihrer Defizite nicht bewusst ist . Die Rehabilitation in einem therapeutischen Umfeld halfen ihr zwar, sich dieser bewusst zu werden und Strategien zu entwickeln, wie sie damit umgehen kann . Den-noch sind die Beeinträchtigungen zu schwerwiegend, um ohne Hilfe den Alltag bewältigen zu können . Ein reduziertes Grundstudium in Psychologie bestand N .E . zwar mit Hilfe eines ganzen Unterstützerteams . Ihr nach eige-nen Aussagen wichtigstes Ziel, an ihr ursprüngliches Studium der Architek-tur anschließen zu können, erreichte sie aber nicht . Nach kurzer Zeit musste sie ein Programm, in das sie sich selbst eingeschrieben hatte, wieder verlas-sen . Diese Niederlage führte dazu, dass sich ihr subjektives Wohlbefinden stark reduzierte und ihre Grundstimmung von einem starken Gefühl des Versagens und einem niedrigen Selbstbewusstsein begleitet war .

Fall 4: Sue Rubin ist eine junge Frau mit Autismus, die nicht sprechen kann .5 Sie kommuniziert mit anderen Menschen über einen Computer, der unter-

4 Dieses Beispiel wird ausführlich beschrieben in Daniels et al . (2009) . Der Fall ist darin mit Akronymen beschrieben, die ich im Folgenden beibehalte .

5 Dieses Beispiel stammt aus dem für einen Oscar nominierten Dokumentarfilm Autism is a World (USA 2004), welcher das Leben von Sue Rubin zeigt und von ihr selbst geschrie-ben wurde .

62 Inklusion und Gerechtigkeit

stützte Kommunikation ermöglicht .6 Bis sie dreizehn war, gingen Therapeu-ten davon aus, dass Sue Rubin kognitiv schwer beeinträchtigt sei . Erst neue-re Tests an der Harvard Universität, angestrengt von der Mutter, die nicht glauben wollte, dass ihre Tochter geistig schwer beeinträchtigt sei, zeigten, dass Sue Rubin überdurchschnittlich intelligent ist .

Heute studiert Sue Geschichte mit Spezialisierung in lateinamerikani-scher Geschichte . Sie kann nicht alleine leben und erhält rund um die Uhr Unterstützung von einem Betreuerstab . Wenn sie besonders nervös ist, fällt sie in repetitives Verhalten, spielt mit Löffeln am Wasserbecken oder wieder-holt minutenlang unverständliche Laute .

Behinderung als ›thick moral concept‹

Ein Modell von Behinderung, das für die vorliegende Arbeit von Interesse ist, hat eine deskriptive und eine evaluative Seite . Damit gehe ich davon aus, dass Behinderung als ein dickes moralisches Konzept oder ein thick moral concept (vgl . Williams 1985, S . 141) betrachtet werden kann, ähnlich wie Frei-heit, Gleichheit oder Gerechtigkeit .

Verschiedene Modelle von Behinderung unterscheiden sich hinsichtlich ihrer deskriptiven wie auch hinsichtlich ihrer evaluativen, normativen Di-mension . Viele Autoren gehen von zwei unterschiedlichen Modellen von Behinderung aus, einem medizinischen und einem sozialen . Die binäre Dis-tinktion zwischen den beiden Modellen geht ursprünglich auf Gedanken des britischen Aktivisten und Wissenschaftlers Michael Oliver zurück, der in einem 1983 erschienen Buch ein individuelles einem sozialen Modell gegen-überstellte (vgl . Oliver 1983) . Im Verlaufe der letzten rund dreißig Jahren wurden die beiden Modelle mit ›medizinisch‹ sowie ›sozial‹ überschrieben . Das sogenannte soziale Modell von Behinderung wird in vielen Disziplinen, insbesondere der Sonderpädagogik aber auch in Selbsthilfegruppen favori-siert und dem abgelehnten, als veraltet eingeschätzten medizinischen Modell gegenübergestellt . Nicht zuletzt aus der Kritik am medizinischen Modell entwickelte die WHO ihr bio-psycho-soziales Modell, die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, kurz

6 Dabei wird ihre Hand von einer Hilfsperson geführt, so dass es Sue Rubin möglich ist, die Worte in ihren kleinen Taschencomputer einzutippen . Sobald sich die Worte erahnen lassen, spricht sie die Hilfsperson aus und Sue bestätigt ihre Korrektheit mit einem Ni-cken .

Behinderungsmodelle 63

ICF (vgl . World Health Organization 2001) . Aber auch von Vertretern eines sozialen Modells mehrt sich Kritik an der Einseitigkeit der beiden Modelle respektive deren Ausrichtungen . Beide Modelle, so Tom Shakespeare (2006), beschrieben die Erfahrungen behinderter Menschen nur ungenügend . Ein drittes Modell sei daher vonnöten .

Im Folgenden werde ich, an Shakespeare anschließend, eine ähnliche Richtung einschlagen . Dabei werde ich die jeweiligen Modelle vorstellen und kritisieren . Ich beginne mit dem medizinischen Modell .

3 .1 Das medizinische Modell von Behinderung

Das erste, von der Sonderpädagogik sowie von Selbsthilfegruppen abgelehn-te Modell, das medizinische, ist von einer Schwierigkeit begleitet: Es wird nämlich auf der Theorie- oder Modellebene von fast niemandem vertreten und scheint daher oft den Charakter eines Strohmanns zu haben . Die Be-zeichnung ›medizinisches Modell‹ geht, wie erwähnt, auf einen Text von Mi-chael Oliver zurück und dient Gegnern dieses Modells oft dazu, das eigene, soziale Modell zu legitimieren oder zu motivieren . Oft bleibt unklar, auf wen konkret sich die Kritik beziehen soll respektive von wem das medizinische Modell wirklich vertreten und wie es konkret begründet wird .

Ein medizinisches Modell muss zudem von einer medizinischen Sicht-weise unterschieden werden (vgl . Wolff 2004) . Eine medizinische Sichtweise auf Behinderung hat vier Bereiche: Ätiologie, Symptomatik, Therapie und Prävention . Dabei ist die Medizin im Besonderen an der Ätiologie einer Stö-rung interessiert, denn ohne diese können die Pathogenese, die Symptoma-tik, und die Wiederholungswahrscheinlichkeit nicht verstanden und die Prävention (im Sinne einer Verhinderung von schädigungsbedingten oder -assoziierten Komplikationen oder Erkrankungen) nicht adäquat geplant werden . Die normative Problematik des falschen Schlusses wird bei einer medizinischen Sichtweise vermieden, indem die normative Bewertung von der deskriptiv-biologischen Frage getrennt wird . Das bedeutet, dass in der medizinischen Sichtweise aus einer deskriptiven Dimension kein normativer Schluss gezogen wird (oder zumindest werden muss) . Die normative Bewer-tung wird im Idealfall den Betroffenen überlassen . Der Handlungsauftrag der Medizin ergibt sich aus dem subjektiven Leiden der Betroffenen, für das die Medizin Maßnahmen zur Minderung zur Verfügung stellen kann . Dass

64 Inklusion und Gerechtigkeit

es dabei in der Praxis zu Verstößen gegen diesen Handlungsauftrag kommen kann, spricht nicht per se gegen die Legitimität und Notwendigkeit einer medizinischen Sichtweise .7

Nimmt man aber an, dass ein medizinisches Modell existiert – und tat-sächlich gibt es Hinweise in der Bioethik, dass ein solches vertreten wird (vgl . Harris 2001, 2002) – dann fügt ein solches Modell einem rein biologischen Speziesnorm-Modell eine normative Dimension hinzu .

Die evaluative Seite interpretiert die Abweichungen von einer Norm so, dass sie annimmt, dass das Leben einer Person S aufgrund dieser Abwei-chung von der Norm schlechter ist und daher Grund gibt, diese Abweichung zu verhindern, zu bedauern oder zu korrigieren .

Das medizinische Modell besagt im Kern in seiner allgemeinen Form folgendes:

Eine Behinderung ist ein stabiles intrinsisches Merkmal, welches vom normalen Funktionieren einer Spezies abweicht und aufgrund dessen das Leben des Betroffenen schlechter macht .

Damit verordnet das medizinische Modell die normative Problematik einer Behinderung ursächlich und kausal in der individuellen Abweichung von ei-ner Norm . Soziale Bezüge spielen keine signifikante Rolle, zumindest nicht als Ursachenfaktoren, sondern höchstens im Rahmen sozialer Auswirkun-gen . So muss in einem medizinischen Modell von Behinderung zwar nicht abgestritten werden, dass Schädigungen soziale Auswirkungen haben kön-nen, die über eigentliche lebenspraktische Beeinträchtigungen hinausgehen, beispielsweise in Form sozialer Ausschlüsse . Es nimmt diese selbst aber nicht als Ursache oder konstitutives Element von Behinderung an .

Betrachtet man die vier beschriebenen Fälle aus der Perspektive des me-dizinischen Modells, ließe sich die Behinderung der vorhin vorgestellten Per-sonen folgendermaßen beschreiben:

Fall 1: Tom Shakespeares Behinderung liegt in seiner Kleinwüchsigkeit . Die-se Abweichung von der biologischen Norm (eine bestimmte, statistisch als

7 Auch ist die biologisch-körperliche Dimension des Menschen ganz allgemein nicht zu ig-norieren . Es ist ein Faktum, dass Menschen körperliche Wesen sind . Das heißt, sie besitzen eine biologische Dimension und sind durch andere in der Welt durch ihre Körper identi-fizierbar . Sie sind auch Mitglieder einer biologischen Spezies, der homo sapiens, durch die sie evolutionär mit anderen, ihnen verwandten Wesen verbunden sind . Weil sie körperli-che, biologische Wesen sind, unterliegen sie natürlichen respektive biologischen Geset-zen .

Behinderungsmodelle 65

normal erachtete Körpergröße, von der Shakespeare signifikant abweicht) macht Shakespeares Leben schlechter .

Fall 2: Daniels Behinderung liegt in seiner fehlerhaften Gen-Ausstattung . Sein 21 . Chromosom ist statt zwei- dreifach vorhanden . Diese Abweichung führt zu einer Reihe von Schwierigkeiten, unter anderem einer geistigen Be-einträchtigung . Diese sowie eine Reihe anderer Probleme (unter anderem Herzprobleme und Probleme beim Sprechen) machen Daniels Leben schlechter .

Fall 3: N .E .s Behinderung liegt in den mit der massiven Hirnverletzung ver-bundenen Problemen, ihre Gedanken sowie ihr Verhalten zu steuern, zu pla-nen und vorherzusehen .

Fall 4: Sue Rubins Behinderung liegt in ihrem stereotypen Verhalten, ihrer fehlenden Lautsprache und anderen, mit dem autistischen Schädigungsbild zusammenhängenden, Beeinträchtigungen im täglichen Leben .

Die Kritik am medizinischen Modell

Die Kritik am medizinischen Modell kann grundsätzlich drei Stoßrichtun-gen einnehmen . Erstens kann kritisiert werden, dass Behinderung eine kul-turelle, historische und soziale Dimension hat, welche das Modell nicht er-fasst . Zweitens kann bemängelt werden, dass das Modell einen falschen Schluss aus einer statistischen oder biologischen Norm zieht . Drittens zeigt eine Kritiklinie, die vor allem von behinderten Menschen selbst geäußert wird, dass im medizinischen Modell geteilte soziale Erfahrungen, beispiels-weise bestimmte Formen sozialer Benachteiligung, keine oder höchstens eine indirekte Rolle spielen .

Die kulturelle, historische und soziale Dimension von Behinderung

Der Umgang mit Behinderung besitzt, so ein Kritikpunkt am medizinischen Modell, eine kulturelle und soziale Dimension, die im Modell meist unter-beleuchtet bleibt (vgl . Reinders 2000; Scully 2008) . Dies zeigt sich beson-ders deutlich in den Fällen von Tom Shakespeare und Sue Rubin . Die sozia-le Reaktion, die Shakespeare erntet, und die ihn dazu bringen, das Haus nur zu bestimmten Zeiten zu verlassen, um nicht unter den sozialen Zuschrei-bungen zu leiden, ist keineswegs der Schädigung geschuldet . Sie ist vielmehr

66 Inklusion und Gerechtigkeit

sozialen Ursprungs . Auch die mangelnden Bildungschancen, die Sue Rubin zugesprochen wurden, sind nicht der Schädigung selbst zuzuschreiben, son-dern entspringen einer (sozialen) Fehldiagnose . Dies zeigt, dass die Behinde-rung nicht alleine durch die Schädigungsdimension beschrieben werden kann, sondern vielmehr eine Dimension hat (oder zumindest haben kann), die genuin sozial ist und welche unter anderem in den Einstellungen zu Be-hinderung und behinderten Menschen begründet ist .

Die kontingente strukturelle Dimension von Behinderung zeigt sich in der historischen, sozialen und kulturellen Dimension deutlich . So lässt sich nachweisen, dass verschiedene Kulturen und historische Epochen unter-schiedliche Vorstellungen darüber haben und hatten, was eine Behinderung darstellt und was nicht .8 Aus diesen Gründen kommt den Umweltfaktoren, den Ressourcen wie auch der sozialen Struktur der Gesellschaft eine hohe Bedeutung in der Bildung, Wahrnehmung und Beeinflussung von Behinde-rung zu .

In einer Untersuchung, welche die Lebenslage und das Wohlbefinden von Paraplegikern in Sydney, Australien, und diejenige von Paraplegikern in abgelegenen Gebieten Kameruns erfragte und verglich, zeigte sich diese sys-tematische soziale und kulturelle Dimension besonders drastisch . Während die befragten Paraplegiker in Sydney in ihrer Paraplegie keine nennenswerte Behinderung sahen, sahen viele Paraplegiker in den abgelegenen Gebieten Kameruns das Leben mit ihrer Beeinträchtigung als nicht lebenswert an (vgl . Allotey et al . 2003) . Die Studie zeigt deshalb eindrücklich die hohe Bedeu-tung von Umweltfaktoren auf, weil sich die sozialen und kulturellen Bedin-gungen in beiden Ländern stark unterscheiden . Während auf einen Rollstuhl angewiesene Menschen in Sydney nicht zuletzt dank der ausgezeichneten modernen Infrastruktur der Stadt (unter anderem den komplett zugängli-chen öffentlichen Verkehr) tatsächlich gegenüber nicht beeinträchtigten Menschen keine nennenswerten Lebenseinschränkungen verspüren, sind Rollstuhlfahrer in abgelegenen Gebieten Kameruns während mehrerer Mo-nate im Jahr ans Haus gefesselt, da sie während der Regenzeit aufgrund der schlechten Infrastruktur in den ländlichen Gebieten ihr Haus nicht verlassen können . Auch haben nur wenige von ihnen überhaupt einen Rollstuhl zur Verfügung . Ihre Mobilität ist in vielen Fällen so stark eingeschränkt, dass sie

8 So wurden beispielsweise psychische Erkrankungen sowie insbesondere auch Entstellun-gen und andere sichtbare körperliche Schädigungen historisch sehr unterschiedlich beur-teilt (vgl . Müller 1996) . Vgl . auch für eine Thematisierung der Problematik aus kulturwis-senschaftlicher Sicht die Publikationen von Christian Mürner (2003; Mürner und Schönwiese 2006) .

Behinderungsmodelle 67

nahezu vollständig immobil sind und ihren Alltag weitgehend liegend im Bett verbringen müssen . Unter diesen Umständen erstaunt es nicht, dass ein großer Teil der befragten Paraplegiker in diesen abgelegenen Gebieten Ka-meruns die eigene Lebenssituation als schlimmer als den Tod einschätzte .

Die unterschiedliche Einschätzung der eigenen Lebenssituation bei nota-bene gleichem Schädigungsbild – so einsichtig sie angesichts der unter-schiedlichen Lebensumstände bei gleicher körperlicher Schädigung auch ist – stellt ein Problem für das medizinische Modell dar . Das Modell kann näm-lich die Unterschiede in der subjektiven Beurteilung der eigenen Lebensqua-lität nicht, oder zumindest nicht direkt, erklären . Es verweist stattdessen auf die gemeinsame Schädigungsbasis als Grundlage der Behinderung . Damit sind aber offensichtlich wichtige Informationen ausgeblendet, die ebenfalls und in direkter Weise normativ zu bewerten wären .

Ein falscher normativer Schluss aus statistischen oder biologischen Normen

Ein weiteres Problem des medizinischen Modells besteht darin, dass es einen falschen Schluss aus den statistischen oder biologischen Normen zieht . Die Normen nämlich, auf welche der normative Schluss Bezug nimmt, sind sta-tistischer, biologischer und damit deskriptiver, aber nicht normativer Art . Aus den Fakten der Abweichung von einer biologischen oder statistischen Norm folgt noch lange kein Aufruf zum Handeln .

Eine Abweichung von einer statistischen oder biologischen Norm ist des-halb nicht normativ, weil keine intrinsische und kausale Verbindung zwi-schen Wohlergehen und normalem Funktionieren besteht . Dass aus der Ab-weichung von einer bestimmten statistischen oder biologischen Norm nicht direkt ein normativer Schluss gezogen werden kann, lässt sich durch zwei Beobachtungen aufzeigen: Vieles, was Menschen im Alter an Lebensein-schränkungen aufgrund ihrer Gebrechlichkeit erleben, stellt keine Abwei-chung vom (statistisch wie biologisch) normalen Funktionieren der Spezies dar, da es zum Alterungsprozess von Menschen gehört, dass ihre Funktions-fähigkeiten abnehmen . Dennoch stellen diese Altersgebrechen eine Ein-schränkung des Wohlbefindens dar . Viele würden daher sagen, im Alter an den Rollstuhl gefesselt, blind oder gehörlos zu sein, stellt für den Betroffenen genauso eine Behinderung dar, wie für jemanden, der aus anderen Gründen in jungen Jahren im Rollstuhl sitzt, blind oder gehörlos ist . Andere – statis-tisch wie biologisch gesehen – normale Fähigkeiten (beispielsweise die Zun-ge rollen oder mit den Ohren wackeln zu können) stellen für Menschen,

68 Inklusion und Gerechtigkeit

welche sie nicht ausführen können, keinerlei Einschränkung des Wohlbefin-dens dar . Wenn Abweichungen von einer statistischen oder biologischen Norm zu Reduktionen des Wohlbefindens führen, dann nicht kausal des-halb, weil sie Abweichungen von der Norm sind, sondern aus anderen Grün-den .9

Lebensweltlich hat der falsche normative Schluss aus dem medizinischen Modell allerdings für viele Menschen mit Behinderung fatale Folgen . Herrscht nämlich die Ansicht vor, dass ein Leben mit einer (negativen) Ab-weichung von einer biologischen Speziesnorm nur ein schlechtes Leben sein kann, prägt dies das Leben aller Menschen mit Behinderung negativ, und zwar schon bereits lebender wie auch zukünftig geborener . Denn sie werden in eine Kultur hineingeboren oder leben bereits in einer, in der behindertes Leben tendenziell abgewertet wird .

Die Ausblendung sozialer Erfahrungen

Als letztes kann auch kritisch beurteilt werden, dass die geteilte soziale Erfah-rung von Ausschluss und Benachteiligung in einem medizinischen Modell komplett ignoriert wird . Stattdessen wird auf die medizinische Dimension von Differenz fokussiert (vgl . Shakespeare 1999) . Diese wird dem Individu-um zugeschrieben und nicht den sozialen Umständen oder der (mangeln-den) Übereinstimmung zwischen internen Vermögen oder Fähigkeiten (bei-spielsweise Intelligenz, Kraft oder Körpergröße), Ressourcen (beispielsweise Geld oder Macht) sowie der sozialen Struktur einer Gesellschaft mit ihren Annahmen über Schönheit, körperliche Fitness oder normale Intelligenz . Alle weitergehenden Einschränkungen werden im medizinischen Modell mit anderen Worten als quasi ›natürliche‹ Folgen der Schädigung betrachtet (vgl . Maschke 2007, S . 300) . Die ›Lösung‹ des Problems der Behinderung wird in Folge dessen vorwiegend in Rehabilitation und Kompensation gesehen . An-dere Maßnahmen, insbesondere solche, welche gesellschaftliche Institutio-nen wie die Schule oder den Arbeitsmarkt direkt in den Blick nehmen, sind dabei nicht von Interesse .

9 Darüber hinaus gibt es noch andere Gründe, die zu einer Ablehnung eines normativen species norm account führen . Vgl . beispielsweise die Kritikpunkte von Jeff McMahan (2002, 2005) oder Anita Silvers (2003) .

Behinderungsmodelle 69

3 .2 Das soziale Modell von Behinderung

Das zweite Modell kann als soziales Modell von Behinderung bezeichnet werden . Die Beschreibung dieses Modells hat gegenüber der Beschreibung des medizinischen Modells die Schwierigkeit, dass es davon mehrere Ausprä-gungen gibt, die verschieden radikal ausfallen können . Gemeinsam ist allen Ausprägungen, dass sie mit der Verbindung zwischen Behinderung und Schädigung, letztere verstanden als negative Abweichung von einer biologi-schen Norm, brechen . Die Behinderung ist die Be-Hinderung durch die Ge-sellschaft und liegt nicht in irgendeiner Schädigung . Radikale Formen des sozialen Modells gehen soweit, dass sie reklamieren, eine Schädigung sei eine ›soziale Konstruktion‹ (vgl . Goodley 2001; Hughes und Paterson 1997) .10

Für den vorliegenden Zusammenhang ist das soziale Modell unter ande-rem deshalb interessant, weil es der Idee nach enge Verbindungen zu Exklu-sion aufweist . Bestimmte Auslegungen des sozialen Modells könnten auch als Exklusionsmodell von Behinderung beschrieben werden . So lautet die De-finition von Behinderung der UPIAS (Union of Physically Impaired Against Segregation), einer der ersten Behindertenselbsthilfegruppen weltweit, fol-gendermaßen: »In our view, it is society which disables physically impaired people . Disability is something imposed on top of our impairments, by the way we are unnecessarily isolated and excluded from full participation in society« (UPIAS 1976) . Und der bereits erwähnte Michael Oliver schreibt: »It is not individual limitation, of whatever kind, which are the cause of the problem, but society’s failure to provide appropriate services and adequate ensure the needs of disabled people are fully taken into account in its social organisation« (Oliver 1996, S . 32) . Behinderung wird in beiden Aussagen über Exklusion definiert .

Das soziale Modell besagt im Kern in seiner allgemeinen Form folgen-des:

Eine Behinderung ist ein stabiles intrinsisches Merkmal, welches vom normalen Funktionieren einer Spezies abweicht11 und dazu tendiert, das Wohlbefinden von S zu reduzieren, weil Angehörige der Spezies, zu der S gehört, Vorurteile gegenüber einer Abweichung von dieser Norm ha-ben .

10 Vgl . zu sozialer Konstruktion die erhellenden Ausführungen von Ian Hacking (1999) . 11 Auch möglich: Abweichung von einer statistischen Norm .

70 Inklusion und Gerechtigkeit

In diesem Modell kann der deskriptive Teil des medizinischen Modells zwar beibehalten werden,12 der evaluative wird aber in jedem Fall respektive jeder Ausrichtung des Modells verändert . Die Behinderung liegt nicht in der Schädigung selbst, sondern in der Einstellung einzelner Menschen, einer so-zialen Gemeinschaft oder der ganzen Gesellschaft . Behinderung ist deshalb schlecht, weil sie als schlecht angesehen wird .

In seiner politischen Auslegung erhält das soziale Modell eine politische Aussage: Die Gesellschaft soll sich ändern, nicht der einzelne Mensch mit einer Schädigung oder Beeinträchtigung . Die Zielsetzung des sozialen Mo-dells ist in der Folge nicht die Erforschung ›behinderter‹ Menschen, sondern die Behinderung als eine Form der – sozialen, gesellschaftlichen – Ausgren-zung (vgl . Felkendorff 2004) .

Betrachtet man die vier beschriebenen Fälle aus der Perspektive eines so-zialen Modells, lässt sich die Behinderung der vorhin beschriebenen Perso-nen folgendermaßen beschreiben:

Fall 1: Nicht in der Kleinwüchsigkeit, sondern im Anstarren durch andere Menschen liegt Tom Shakespeares Behinderung .

Fall 2: Nicht sein Gendefekt, sondern die diskriminierende Einstellung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Down Syndrom erschweren oder ver-unmöglichen es Daniel, aktives Mitglied eines Musikvereins zu werden . Die-se diskriminierenden Einstellungen sind Daniels Behinderung .

Fall 3: Nicht die Schädigung selbst, sondern die diskriminierende Einstel-lung der Gesellschaft gegenüber hirnverletzten Menschen stellen für N .E . eine Behinderung dar .

Fall 4: Nicht der Autismus an sich, sondern die diskriminierende Einstellung gegenüber Menschen mit Autismus und die vorherrschende Meinung, dass Menschen mit Autismus und im Speziellen Menschen ohne Lautsprache geistig beeinträchtigt seien, sind Sue Rubins Behinderungen .

Die Kritik am sozialen Modell

Auch das soziale Modell, obwohl es weit herum große Anerkennung genießt, ist der Kritik ausgesetzt . Diese kann drei Stoßrichtungen haben . Erstens kann kritisiert werden, dass die intrinsische Dimension, die Dimension der

12 Ausnahmen sind hier wie gesagt radikale Auslegungen des sozialen Modells .

Behinderungsmodelle 71

Schädigung, ausgeblendet wird . Zweitens kann auf die sozialpolitisch schäd-lichen Folgen eines solchen Modells hingewiesen werden . Und drittens kann kritisiert werden, dass das Modell offen lässt, wie Menschen – trotz Barrieren und Diskriminierung – handlungsfähig sein können .

Die Ausblendung der intrinsischen Dimension

Erstens scheint gerade eine radikale Auslegung des sozialen Modells nicht plausibel zu sein und/oder zu Missverständnissen und Ablehnung zu füh-ren .13 Soziale Modelle, insbesondere in der radikalen Auslegung, widerspre-chen den Intuitionen und Erfahrungen vieler – darunter auch selbst betroffe-ner – Menschen (vgl . Scully 2008; Shakespeare 2006) . Wenn beispielsweise dogmatisch festgelegt wird, dass Behinderung ausschließlich als soziales Konstrukt zu verstehen ist, dann werden die Erfahrungen von Menschen mit ihrem Körper und ihrer Psyche unwichtig . Dies schon aus systematischen Gründen, da sie gar nicht als zentrales Element einer Behinderung gesehen werden (vgl . Kuhlmann 2003) .

Das soziale Modell tendiert dazu, die Sichtweise derjenigen Menschen zu ignorieren, die sich mit den Schädigungen, Funktionsausfällen und intrin-sisch als negativ erlebten Aspekten ihrer Schädigungen, beispielsweise Schmer-zen, nicht anfreunden können . Für solche Menschen reicht es nämlich nicht, wenn die Gesellschaft (individuumsexterne) Barrieren beseitigt . Denn abfin-den kann man sich mit geschädigten Körperfunktionen oder -strukturen nur, wenn diese, so Andreas Kuhlmann (ebd ., S . 157), »nicht ständig Stör-feuer« aussenden .

Die Normativität von Schädigungen lässt sich denn auch nicht, oder nicht ausschließlich, auf soziale Reaktionen zurückführen . So wenden Men-schen mit Behinderung selbst ein, dass ihre Schädigung negative Folgen auf ihr Leben hat, die nicht aufgrund sozialer Reaktionen entstanden sind und die darauf hinweisen, dass etwas an der Schädigung selbst als normativ nega-tiv bewertet werden kann . Genau dies ist in allen Ausprägungen des sozialen

13 So richtet sich beispielsweise die Kritik von Becky Cox-White und Susanna Flavia Boxall (2008) gegen soziale Verständnisse von Behinderung, die der Gesellschaft unabhängig von einer bestehenden Schädigung eine kausale Verantwortung für eine Behinderung zuwei-sen . Die Implikationen dieser Annahmen halten die Autorinnen nicht nur für inkonsis-tent, sondern auch für ungerecht, nicht zuletzt gegenüber nicht behinderten Menschen, da in der mit sozialen Modellen verbundenen Gleichheitsforderung die Gefahr eines level-ling down, also einer Orientierung nach unten, bestehe . Vgl . auch die Selbstkritik von Vertretern des sozialen Modells, Ron Amundson und Shari Tresky (2007) .

72 Inklusion und Gerechtigkeit

Modells aber ausgeschlossen . Jenny Morris beispielsweise drückt die Gren-zen des sozialen Modells so aus: »While environmental barriers and social attitudes are a crucial part of our experience of disability – and do indeed disable us – to suggest that this is all there is to it is to deny the personal ex-periences of physical and intellectual restrictions, of illness, of the fear of dying« (Morris 1972, S . 10) .

Tom Shakespeare, einst Vertreter eines radikalen sozialen Modells, for-muliert die Gefahr einer einseitigen Fokussierung auf soziale Faktoren so: »While attention to labelling and discourse is important, there is a danger of ignoring the problematic reality of biological limitation . Linguistic distan-cing serves as a subtle form of denial« (Shakespeare 2008, S . 238) . Ein per-sönliches Erlebnis hat Shakespeare zum Umdenken geführt . 1997 war er von so starken Rückenschmerzen geplagt, dass er sein Bett ein halbes Jahr lang nicht verlassen konnte . Zuvor hatte er zwar gewusst, dass Kleinwüchsigkeit respektive die spezifische Genschädigung, die das Knochenwachstum behin-dert, häufig zu Rückenproblemen führen . Da er aber nie welche gehabt hat-te, sah Shakespeare seine Behinderung vor allem in der Ignoranz einer Mehr-heit der Gesellschaft gegenüber seiner abweichenden Körpergröße . Erst als die schweren Rückenprobleme ihn ans Bett fesselten, spürte Shakespeare nach eigenen Aussagen, dass diese nichts mit gesellschaftlichen Vorurteilen oder Diskriminierung zu tun hatten, sondern mit seinem Körper . Dieser Körper respektive die Schmerzen, die er verursachte, hatten keine gesell-schaftliche Quelle und waren auch nicht sozial geprägt . Es waren intrinsische Erfahrungen, die einen stark negativen Einfluss auf sein Leben hatten (vgl . Schneider 2002) .

Sozialpolitische Folgen

Die Ausblendung medizinischer Faktoren in sozialen Modellen hat auch so-zialpolitisch problematische Folgen . Erstens geraten Probleme, mit denen behinderte Menschen im Alltag konfrontiert werden, aus dem Blickfeld . So ist es zwar durchaus belastend und in bestimmten Fällen auch demütigend, wenn man andere ständig um Hilfe bitten muss . Besondere Hilfebedürftig-keit aber abzustreiten, kann sich mit sozialer Ignoranz, die man ja gerade bekämpfen wollte, hinsichtlich spezieller Hilfeerfordernisse rächen .14 Wenn

14 Zudem geht sie an den Erfahrungen schwerbehinderter Menschen, welche offensichtlich hilfebedürftig sind, vorbei: »If the important thing to liberate me from social stigma is that I reclaim the authority over my own story, then this is a serious setback for those who

Behinderungsmodelle 73

zudem zweitens reale (körperliche oder psychische) Bedürfnisse gar nicht betrachtet werden, muss man sich zudem fragen, auf welcher Grundlage Un-terstützung durch die Gesellschaft im Sinne einer Solidargemeinschaft ein-gefordert werden kann . Drittens wird auch die eigene Familie, das eigene Heim, als konfliktgeladener Ort von Beziehungen, Hilfeleistungen und So-lidarität ausgeblendet . Oftmals erbringen Angehörige einen Großteil der notwendigen Unterstützungsarbeit und Hilfeleistung . Nicht nur die Hilfe-bedürftigkeit selbst wird ausgeblendet, auch die von (meist weiblichen) An-gehörigen erbrachten Hilfeleistungen geraten aus dem Blickfeld und tauchen höchstens noch in der Sphäre privater – aber eben nicht mehr gesellschaft-lich relevanter – Dienstleistungen auf .

Drittens, so Andreas Kuhlmann (2003, S . 158), ist auch die angemessene Repräsentanz von Menschen mit Behinderungen, beispielsweise in bioethi-schen Kommissionen, fragwürdig, wenn die damit Angesprochenen selbst nicht denken, dass sie von medizinischen Erkenntnissen und medizinischem Fortschritt auch profitieren können . Nach Ansicht Anita Silvers (2003, S . 476) müssen sich Vertreter eines radikalen Modells an dieser Stelle auch den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die eigenen Prinzipien kaum konse-quent leben, denn letztendlich würden alle Betroffenen von medizinischen Erkenntnissen und neuen medizinischen Behandlungsmethoden profitieren wollen: »For whoever objects on the basis of principle to medical interventi-ons aimed at avoiding disability must for consistency’s sake eschew prophyl-actic medical treatment for all disabling conditions, both for themselves and their children . Yet there is no evidence that even the most ardent disability advocates are prepared to do so . Quite the contrary!«

Die spezifische Problemlage behinderter Menschen und ihre Handlungsfähigkeit trotz Barrieren

Das soziale Modell von Behinderung hat zudem zwei weitere Schwächen, welche oft fälschlicherweise als Stärken gesehen werden . Diese sind gerade in Bezug auf eine ethisch-normative Reflexion von Inklusion oder Exklusion zentral . Erstens macht das Modell keinen Unterschied zwischen Arten und Auswirkungen von Exklusion auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen .

cannot possibly know what it is to have a story« (Reinders 2008, S . 26) . Hier wäre es ge-rade wichtig, Hilfebedürftigkeit anzuerkennen und Mittel und Wege zu finden, Hilfe menschenwürdig zu gestalten . Da diese Hilfebedürftigkeit gerade auch von Selbsthilfe-gruppen manchmal zu wenig beachtet wird, finden sich schwerstbehinderte Menschen am untersten Ende der ›Behindertenhierarchie‹ (vgl . Gordon et al . 2004) .

74 Inklusion und Gerechtigkeit

Dies erlaubt zwar in politischer Hinsicht eine sinnvolle Verknüpfung und Solidarisierung mit anderen marginalisierten und exkludierten gesellschaftli-chen Gruppen, beispielsweise mit Frauen oder Homosexuellen . Die spezifi-schen Problemlagen von Menschen mit Behinderung geraten dabei in den Hintergrund . In den Vordergrund rücken geteilte Erfahrungen . Was in poli-tischem Kontext angebracht sein kann, gilt allerdings nicht für eine wissen-schaftliche Herangehensweise . In einer solchen müssen gerade auch die spe-zifischen Lebenslagen von Menschen mit Behinderung eruiert und beleuchtet werden . Genau das kann ein rein soziales Modell aber nicht leisten, da die Verbindung zur Handlungsfähigkeit von Individuen nicht gezogen wird . Ein Zugang, der nur die Barrieren betont, kann nämlich nicht nur wenig darüber aussagen, inwiefern Menschen mit Behinderung spezifisch in ihrer Handlungsfähigkeit betroffen sind – beispielsweise aufgrund von Auswir-kungen von Schädigungen . Auch kann er keine Auskunft darüber geben, wie betroffene Menschen selbst handeln können, um ihre Exklusion zu bekämp-fen und den notwendigen Wandel in der Gesellschaft voranzutreiben . Das soziale Modell bietet somit keine Erklärung für die Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderung (vgl . Shakespeare 1999) . Es ist also gerade für ein Inklusionsverständnis, welches auch die Handlungsfähigkeiten und -mög-lichkeiten von behinderten Menschen in Betracht ziehen will, zu eng . Auch die Betonung von Barrieren, so der zweite Kritikpunkt, kann sich als Schwä-che entpuppen .

Die Notwendigkeit eines neuen Modells

Ein neues Modell von Behinderung, so Shakespeare (2008), muss intrinsi-sche Faktoren (wie Natur und Schweregrad einer Schädigung, die Einstel-lung der Person ihr gegenüber, persönliche Qualitäten und Fähigkeiten, die Persönlichkeit als Ganzes und so weiter), kontextuelle, extrinsische Faktoren (Einstellungen und Reaktionen anderer Menschen, der Grad, zu welchem die Umwelt hinderlich oder förderlich ist sowie das weitere kulturelle, sozia-le und ökonomische Umfeld), aber auch wechselseitige Beeinflussungen (beispielsweise die Umwandlung von externen Mitteln in internes Vermö-gen) mit einbeziehen . Soziale Exklusion und Armut beispielsweise verstär-ken bereits existierende Schädigungen und kreieren in vielen Fällen neue Schädigungen . Um diese Exklusionsvorgänge zu verstehen, muss man auch die intrinsische Dimension von Schädigungen mit in die Überlegungen ein-beziehen . Denn in den meisten Fällen erleben Menschen mit Behinderung

Behinderungsmodelle 75

die intrinsische Limitierung ihrer Schädigungen und die extrinsisch verur-sachten sozialen Benachteiligungen .

Ein neues Modell muss aber nicht nur die Fehler, Grenzen und Einseitig-keiten beider Modelle vermeiden . Es muss auch die Plausibilitäten beider Modelle einfließen lassen . Beim medizinischen Modell sind dies die Schädi-gungen von Körperfunktionen und -strukturen, deren lebensweltliche Aus-wirkungen (beispielsweise große Schmerzen) nicht immer ausschließlich so-zialer Natur sind . Beim sozialen Modell schließlich ist es die Betonung der im weiteren Sinn sozialen Faktoren, welche einen wichtigen Teil der Erfah-rung einer Behinderung ausmachten . Ein Modell, das die Stärken der beiden Modelle verbinden und die Schwächen vermeiden möchte, ist das Wohlbe-findensmodell von Behinderung . Es wurde von Guy Kahane und Julian Savu-lescu (2009) entwickelt und vorgestellt .

3 .3 Das Wohlbefindensmodell von Behinderung von Kahane und Savulescu

Unter Behinderung verstehen Kahane und Savulescu (2009) folgendes:

Eine Behinderung ist ein stabiles physisches oder psychisches Merkmal eines Subjekts S, das in Umständen C zu einer Reduktion von Wohlbe-finden führt .

Die Veränderungen zum medizinischen und zum sozialen Modell von Behinderung

Das Modell unterscheidet sich vom medizinischen und vom sozialen Modell in vier Punkten: Erstens ist die Referenz zu einer statistischen oder biologi-schen Norm in diesem Modell der Beschreibung eines intrinsischen (physi-schen oder psychischen) Merkmals gewichen . Damit kommt der deskriptive Teil ohne Referenz zu Normalität, sei sie nun biologischer oder statistischer Art, aus . Ob etwas eine Abweichung von einer statistischen oder biologi-schen Norm ist, gehört nicht zum intrinsischen Merkmal einer Person . Da Menschen sehr viele intrinsische, stabile, physische und psychische Merkma-le aufweisen, fallen unter das Wohlbefindensmodell im Prinzip sehr viele Zustände: unter anderem Krankheiten, ausgesprochene Sturheit, mangeln-

76 Inklusion und Gerechtigkeit

des Selbstvertrauen und so weiter . Viele dieser Zustände werden gemeinhin nicht als Behinderung aufgefasst . Ich werde dazu weiter unten aufzeigen, inwiefern dieses sehr weite Verständnis ein Vorteil des Modells sein kann, aber auch, wo die Gefahren einer solchen Ausrichtung liegen .

Zweitens hat das Modell eine intrinsische und eine instrumentelle nor-mative Dimension . Das intrinsisch Schlechte ist die Reduktion des subjekti-ven Wohlbefindens . Die instrumentelle Schlechtigkeit ist relativ zur Person und ihren Umständen . Um den Schaden abzuwenden, kann man auch an den Umständen etwas ändern, nicht nur an der Person, wie es das medizini-sche Modell nahe legt .

Das Modell ist drittens personen- und kontextrelativ . Das heißt, es kann aufzeigen, weshalb dieselben physischen oder psychischen Merkmale eines Menschen in den einen Kulturen zu einer Behinderung führen, während sie in den anderen ohne Auswirkungen bleiben . So ist Illiteralität in einer Ge-sellschaft von Jägern und Sammlern keine Behinderung, in hoch technologi-sierten und entwickelten Gesellschaften aber schon . Dies, weil dasselbe phy-sische oder psychische Merkmal, beispielsweise eine leichte kognitive Beeinträchtigung, sich in unterschiedlichen historischen wie kulturellen Umständen und Gesellschaften unterschiedlich auswirkt . Das Wohlbefin-densmodell kann, anders als beispielsweise das medizinische Modell, auch die sehr unterschiedlichen Lebensqualitätseinschätzungen von Paraplegikern in Sydney zu solchen in abgelegenen Gebieten Kameruns erklären . Im Wohl-befindensmodell von Behinderung gibt es daher keine kontextunabhängige Behinderung wie im medizinischen Modell, da externe und interne Faktoren im Modell interagieren .

Viertens macht das Modell explizit Aussagen in Graden und legt keine Schwellen fest . Die dynamische Anbindung an Kontextfaktoren verhindert die Festlegung einer klaren Schwelle, denn dies würde stabile intrinsische und extrinsische Faktoren voraussetzen . Dass es diese so nicht gibt, und dass diese Feststellung auch für die Frage der Inklusion von Bedeutung ist, zeigen Erfahrungen von behinderten Menschen . So kann man durchaus in einem Kontext stärker behindert sein als im anderen . »Kaum ist die Sitzung vorbei und alle erheben sich von ihren Stühlen, bin ich behindert .« Diese etwas paradox anmutende Aussage eines Politikers im Rollstuhl, die in einer per-sönlichen Konversation gefallen ist, macht Sinn . Die zuvor ›vergessene‹ Be-hinderung, die aufgrund der sitzenden Lage aller nicht sichtbar war, rückt nach Ende der Sitzung wieder ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksam-keit . Die sozialen Reaktionen wie auch die Relevanz der Tatsache nicht ge-

Behinderungsmodelle 77

hen zu können, setzen an der Stelle ein, an der sich alle erheben . Sitzend war die Behinderung irrelevant und unsichtbar . Sie führte weder zu einer Ein-schränkung der Aktivität oder der Partizipation, noch führte sie zu weiterge-hendem sozialem Ausschluss oder zu Stigmatisierung .

Das Wohlbefindenmodell geht davon aus, dass jeder Mensch bis zu ei-nem gewissen Grad eine Behinderung hat . Diese auf den ersten Blick sehr ungewohnte Schlussfolgerung verletzt aber die Intuitionen vieler . Zur Veran-schaulichung kann man sich folgendes Beispiel vor Augen führen: Aufgrund eines operativen Eingriffs hat eine Person, die vor der Operation einen IQ von 180 hatte, nur noch einen IQ von 150 .15 Wenn man weiter annehmen würde, dass ein möglichst hoher IQ ein Leben besser macht, würde das be-deuten, dass eine Reduktion des Intelligenzquotienten das Leben des Betrof-fenen nicht nur schlechter macht, sondern dass dieser Mensch in der Folge behindert ist . Eine solche Schlussfolgerung erscheint aber auf den ersten Blick unplausibel .

Darauf kann mit zwei möglichen Antworten entgegnet werden . Die erste weist die Kritik teilweise zurück, die zweite spezifiziert die Kritik und führt weiter zu einer Anpassung des Modells . Die erste mögliche Reaktion ist eine Rückfrage: Ist es wirklich schlimm, wenn laut diesem Modell jeder Mensch eine Behinderung hat? Oder würde eine solche Erkenntnis nicht gerade dazu dienen, die von Menschen oft gefällte intuitive Unterscheidung in wir (die ›Nichtbehinderten‹) und die (die ›Behinderten‹) ins Wanken zu bringen? Zu-dem wird die ungewohnte Sichtweise auch durch Forschungsresultate bestä-tigt . Beispielsweise hat das Humangenomprojekt gezeigt, dass jeder Mensch Hunderte von Mutationen in seinem Genom hat, viele davon Prädispositio-nen für Krankheiten oder Schädigungen . Alle Menschen sind also in gewis-sem Sinne Mutanten . Die Tatsache, dass sich die meisten dieser Mutationen im Verlaufe des Lebens nicht zu Schädigungen oder Krankheiten ausbilden, kann nur als Glück oder Zufall bezeichnet werden (vgl . Leroi 2005, S . 19) .

Zweitens kommt den Umständen im Leben von Menschen im Wohlbe-findensmodell großes Gewicht zu . Diese veränderte Sichtweise hat weit rei-chende Folgen . Sie macht das Modell personenrelativ und damit personen-sensitiv . So kann ein hoch angesehener Mathematiker beim Verlust von 30 IQ Punkten tatsächlich in relevanter Hinsicht behindert sein . Denn seine

15 Dabei spielt es keine Rolle, ob man dem IQ adäquate Aussagekraft für Intelligenz zu-schreibt oder nicht . Es geht einzig um die Illustration eines relativen Verlusts internen Vermögens . Das Beispiel würde somit beispielsweise auch mit Verlust an Körperkraft auf-grund eines Unfalls funktionieren .

78 Inklusion und Gerechtigkeit

beruflichen Umstände sind so, dass er auf hohe Intelligenz angewiesen ist, um in seiner Disziplin bestehen zu können . Verliert er hier intrinsische Res-sourcen, wie es Intelligenz darstellt, kann dies für ihn unter Umständen den Verlust seiner Arbeitsstelle bedeuten .

Die zweite Antwort gibt zu, dass für die vorliegenden Fragen eine sehr weite Definition von Behinderung für ein normatives Unternehmen zu we-nig aussagekräftig ist . Je weiter zudem der Kreis der Menschen mit Behinde-rung gezogen wird, desto größer ist die Gefahr, dass einige der Separationen, Benachteiligungen und Ausschlüsse politisch nicht mehr bekämpft werden können (vgl . Barnes, Mercer und Shakespeare 1999) . Für Fragen der Vertei-lungsgerechtigkeit beispielsweise, bei denen es also darum geht, benennen zu können, wer aus Gerechtigkeitsgründen legitime Anrechte auf einen be-stimmten Anteil an knappen Gütern hat, müssen Zustände benannt werden können, die eine bestimmte Dringlichkeit aufweisen . Dies ist aus normati-ven und in der Folge auch politischen Gründen notwendig . Damit ist die Zentralität von Ansprüchen gemeint . Das Modell muss sich vor allem aus pragmatischen Gründen auf signifikante Reduktionen des Wohlbefindens beschränken .

Eine Anpassung des Wohlbefindensmodells

Wenn man zum Beispiel des Mathematikers zurück geht, zeigt sich, dass das eigentliche Problem bei genauerem Hinsehen nicht in erster Linie darin liegt, dass eine Schlechterstellung an sich schon eine Behinderung darstellt . Das Problem ist vielmehr, dass im genannten Beispiel bereits eine kompara-tive Sichtweise eingeführt wurde . So ist die Reduktion des IQs einer Person von 180 auf 150 eine, gemessen am früheren Zustand, relative Schlechterstel-lung der Person . In den seltensten Fällen würde man allerdings davon ausge-hen, dass aus dieser komparativen Schlechterstellung eine Behinderung in absolutem Sinn erfolgte . Das Modell müsste also dahingehend angepasst werden, dass es statt sämtlicher relativer Schlechterstellungen vor allen Din-gen die nonkomparativen Schlechtstellungen in den Blick nimmt . Denn es sind vor allen Dingen diese absoluten, nonkomparativen Schlechtstellungen – menschliches Leiden mit anderen Worten – deren Vermeidungen aus Ge-rechtigkeitsgründen an erster Stelle stehen sollten .

Ein angepasstes Modell kann beispielsweise die folgende Form anneh-men:

Behinderungsmodelle 79

Eine Behinderung ist ein stabiles physisches oder psychisches Merkmal eines Subjekts S, das in Umständen C zu einer signifikanten Reduktion von Wohlbefinden führt .

Allerdings löst auch diese Anpassung das Problem nur vordergründig . Denn was als signifikante Reduktion des subjektiven Wohlbefindens gilt, ist gerade Gegenstand berechtigter Auseinandersetzungen . Menschen scheinen diesbe-züglich sehr unterschiedliche Vorstellungen zu haben . Man benötigt mit an-deren Worten eine Vorstellung von menschlichem Leiden auf der einen und von menschlichem Wohlergehen auf der anderen Seite, um feststellen zu können, ob das Wohlbefinden von Menschen in signifikanter Weise getrübt ist .

Das Modell benötigt somit an zwei Stellen eine Modifikation . Erstens ist es unplausibel, jegliche Reduktionen von subjektivem Wohlbefinden in Be-tracht zu ziehen . Ja, es stellt sich gerade die Frage, ob überhaupt subjektives Wohlbefinden oder nicht eher objektives Wohlergehen in Betracht gezogen werden soll . Zweitens scheint es übertrieben zu sein, sämtliche stabilen psy-chischen oder physischen Merkmale in Betracht zu ziehen . Während ich zur ersten Kritik eine ausführliche Begründung im nächsten Kapitel liefere und daher an dieser Stelle nur kurz darauf zu sprechen komme, gehe ich im Fol-genden ausführlicher auf die Verbindung zwischen Schädigung und Wohler-gehen ein .

Schädigungen, Übel, Wohlergehen

Es ist für die Einschätzung von Gerechtigkeitsproblemen notwendig, die Ansprüche, die sich ergeben, als dringend und schwerwiegend auszuweisen . Gerade letzteres ist aber nicht möglich, wenn jedes psychische und physische Merkmal, das zu einer Reduktion von Wohlbefinden führt, bereits ein Grund darstellt, eine Ungerechtigkeit zu reklamieren . Vielmehr sollten sich Gerech-tigkeitsüberlegungen auf diejenigen Fälle beschränken, in denen jemand im Ausgang von einer Schädigung eine Reduktion des Wohlergehens erlebt .

Diese Einschränkung ist ihrerseits einer Kritik ausgesetzt . Die Kritik be-sagt, dass nicht jede Schädigung bereits ein Übel oder eine Einschränkung des Wohlergehens darstellt . Ihr kann aber entgegen getreten werden, wie Thomas Schramme (2003a, S .  184f .) aufzeigt . Denn oftmals steckt hinter der Gleichsetzung von Schädigung mit einem Übel ein sogenannter kontra-diktorischer Kurzschluss, der sich folgendermaßen präsentiert: Die erste Prä-

80 Inklusion und Gerechtigkeit

misse besagt, dass sich Gesundheit und Krankheit oder Behinderung wech-selseitig ausschließen . Mangelnde Gesundheit ist in diesem Denken gleich bedeutend mit Krankheit oder Behinderung . Die zweite Prämisse versteht Gesundheit als Bestandteil menschlichen Wohls . Im normativen Schluss aus den beiden Prämissen folgt, dass Behinderung oder Krankheit ein Übel sind . Versteckt darin ist eine dritte Prämisse, die besagt, dass Einschränkungen des Wohlergehens immer des Übels sind . Dies stimmt zwar in der einen Rich-tung, nämlich, dass mit einem Übel immer eine Einschränkung des Wohler-gehens einhergeht . Allerdings stimmt der Umkehrschluss nicht . Dies kann an einem Beispiel gezeigt werden: Mir ginge es besser, wenn ich Lachsbröt-chen essen oder Prosecco trinken könnte . Der Umkehrschluss aber, dass es mir schlechter gehen würde, wenn ich keine Lachsbrötchen essen oder Pro-secco trinken könnte, ist falsch . Dies würde zwar vielleicht zutreffen, wenn man eine relative Perspektive, nicht aber, wenn man eine absolute Perspekti-ve einnimmt . Die Analogie gilt auch für viele Schädigungen . So ginge es ei-ner Person vielleicht besser – aus relativer Perspektive – ohne die Schädigung der Körperstruktur oder -funktion . Es muss ihr deswegen aber noch lange nicht schlecht in einem absoluten Sinn gehen .

Man sollte also nach Thomas Schramme (ebd ., S .  185) adäquater von Nachteil in komparativem und Leid in absolutem Sinne sprechen . Denn es ist nicht per se ein Leid, wenn man nicht das Bestmögliche für sich und das eigene Leben erreicht .16 Wohl aber stellt es ein Leid dar, wenn einem lebens-wichtige Grundlagen für ein gutes menschliches Leben, beispielsweise mini-male Gesundheitsversorgung, Bildung oder bestimmte materielle Ressour-cen, vorenthalten werden . Ein Modell von Behinderung sollte daher vor allen Dingen die Wichtigkeit solcher objektiv bedeutsamer Güter betonen .

16 In der englischsprachigen Literatur besteht diesbezüglich die Schwierigkeit, dass mit dem Begriff disadvantage oft auf absolute, nonkomparative, und relative, das heißt komparati-ve, Gesichtspunkte Bezug genommen wird . Vgl . diesbezüglich beispielsweise das Buch von Jonathan Wolff und Avner De-Shalit (2007), in welchem beide Gesichtspunkte eine wichtige Rolle in der Theoriebildung spielen . Thomas Schramme hat in einem Vortrag auf diesen Punkt hingewiesen .

Behinderungsmodelle 81

3 .4 Das Wohlergehensmodell von Behinderung

Die Kritik am medizinischen, am sozialen sowie am Kahane und Savulescus Modell (2009) führt zur Entwicklung eines neuen, vierten Modells von Be-hinderung, das ich im Folgenden darlege und begründe . Dieses Modell hat auf der deskriptiven Ebene große Nähe zur Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltge-sundheitsorganisation WHO (2001)17, fügt diesem aber einen normativen Schluss hinzu .

Definiert werden können Schädigungen wie in der ICF folgendermaßen: Schädigungen sind Beeinträchtigungen von Körperfunktionen oder Körper-strukturen . Unter Körperfunktionen werden physiologische oder psycholo-gische Funktionen von Körpersystemen verstanden . Körpersysteme wieder-um sind anatomische Teile des Körpers, also Organe, Gliedmaßen sowie ihre Bestandteile (vgl . ebd ., S . 15) .

Die Beeinträchtigung eines Menschen kann sich laut ICF in zwei Berei-chen ergeben: Der Partizipation, also im Einbezogensein in Lebenssituatio-nen oder in der Aktivität und somit in den Schwierigkeiten bei der Durch-führung einer Handlung . Weiter ist eine Behinderung durch Kontextfaktoren geprägt . Das können einerseits personenbezogene Faktoren sein, also innere Einflüsse von Merkmalen einer Person . Es können andererseits aber auch Umweltfaktoren sein, die von außen auf die Person einwirken, beispielsweise materiale, soziale oder einstellungsbezogene Faktoren . Damit liefert das ICF Modell jenen mehrperspektivischen Blickwinkel sowohl auf innere wie auch äußere Faktoren, wie sich aus der Kritik am medizinischen wie auch am so-zialen Modell ergeben haben .

Nun ist es aber für die vorliegende Arbeit wichtig, dem deskriptiven Mo-dell der ICF einen normativen Schluss anzufügen . Denn erst so gelingt es, das Modell als Werkzeug für das weitere ethisch-normative Unternehmen zu nutzen . Ein neues Modell muss daher die Frage beantworten können, was schlecht daran ist, eine Behinderung zu haben . Die Antwort darauf lautet – anders als beim Wohlbefindensmodell – nicht, dass das Schlechte die Reduk-tion des subjektiven Wohlbefindens ist . Sie lautet vielmehr, dass das Schlech-te einer Behinderung darin liegt, dass das objektive Wohlergehen von Menschen eingeschränkt ist . Damit beschränken sich die Überlegungen auf

17 Vgl . zum Zusammenhang von ICF, Behinderung und Inklusion insbesondere die Publika-tion von Judith Hollenweger (2006) .

82 Inklusion und Gerechtigkeit

signifikante Einschränkungen, die (nicht nur subjektiv empfundenes) Lei-den verursachen .

Dadurch ist vor allen Dingen eine nonkomparative Sichtweise einge-nommen, allerdings nicht vollständig . Denn es wird zugegeben, dass sich bestimmte komparative Nachteile von Menschen in nonkomparative Leiden verwandeln können . Dies geschieht beispielsweise dann, wenn Menschen (trotz allgemein anerkannter, kultureller und sozialer Standards bezüglich eines bestimmten Gutes) keinen Zugriff auf dieses haben und im Endeffekt Gefahr laufen, auch unter nonkomparativen Gesichtspunkten zu leiden .18

Das Wohlergehensmodell kann damit die vom sozialen Modell richtiger-weise betonten Folgen für die individuelle Identität sowie das individuelle Selbstwertgefühl, welche durch soziale Ausgrenzungs- und Abwertungspro-zesse entstehen, bedenken . Damit ist es möglich, sozusagen als ›Kollate-ralschäden‹ (von Glasow und Dabrowska 2008, S . 71) entstehende Depres-sionen durch die Ablehnung von der Gesellschaft oder durch andere Menschen zu berücksichtigen und ins Behinderungsmodell zu integrieren . In einer solchen Sichtweise ist die Schädigung zwar eine notwendige Bedin-gung für das Vorliegen einer Behinderung . Aber erst die durch die Ableh-nung hervorgerufene Reaktion beim Individuum – die Depression – entsteht neben anderen Lebenseinschränkungen, die ebenfalls sozialer oder struktu-reller Art sein können, eine Behinderung im umfassenden Sinn .

Ein solches, nach diesen Überlegungen angepasstes, Wohlergehensmo-dell hat die folgende Form:

Eine Behinderung ist ein geschädigtes, stabiles, physisches oder psychi-sches Merkmal eines Subjekts S, das in Umständen C zu einer signifikan-ten Reduktion des Wohlergehens führt .

Eine Situation oder ein Prozess X ist also schädlich, falls er oder sie unter Umständen C zu einer Reduktion des Wohlergehens von S führt . Das Schäd-liche ist das, was zu Schaden führt, nämlich zur Reduktion des Wohlerge-hens .19

18 Aus diesen Gründen wird zumindest in westlichen, modernen Sozialstaaten die Menge und Art der Hilfe, die einem aus Gerechtigkeitsgründen zukommt, nicht auf das absolute Mindestmaß an Bedürfnisbefriedigung beschränkt, sondern bezieht auch Überlegungen komparativer Art ein .

19 Gewisse Zustände sind, so habe ich aufgezeigt, sowohl schädlich als auch ein Schaden . Dazu gehören beispielsweise starke Schmerzen . Schmerzen sind intrinsisch schlecht (also ein Schaden) und instrumentell schlecht (also schädlich), weil sie mich von wichtigen Projekten und Zielen abhalten .

Behinderungsmodelle 83

3 .5 Fazit

Das Kapitel hat gezeigt, dass die beiden einander entgegengestellten Model-le – medizinisches und soziales Modell – zwar eine gewisse Plausibilität be-anspruchen können, aber auch mit Schwierigkeiten verbunden sind . Diese Probleme kann auch ein Wohlbefindensmodell von Behinderung, welches von Kahane und Savulescu (2009) vorgestellt wurde, nicht lösen . Ich habe daher für ein viertes Modell von Behinderung, das Wohlergehensmodell von Behinderung, argumentiert . Dieses nimmt vor allen Dingen die nonkompa-rativen Folgen von Behinderung in den Fokus . Und es konzentriert sich, anders als das Wohlbefindensmodell, auf Schädigungen und nicht auf alle möglichen physischen und psychischen Merkmale von Menschen .

Damit schärft sich hinsichtlich der bis dann getätigten Überlegungen bereits Folgendes: In einer Interessentheorie, die ich vertrete und im siebten Kapitel inhaltlich wieder aufgreife, geht es darum, wichtige Interessen von Menschen zu schützen . Die Bedeutung dieser Interessen zeigt sich an ihrem Beitrag für menschliches Wohlergehen . Soweit diese Interessen nämlich wichtig sind für menschliches Wohlergehen, gilt es, sie mit Rechten zu schüt-zen .

Nun hat sich in diesem Kapitel gezeigt, dass die normative Problematik einer Behinderung darin liegt, dass – vor allem in nonkomparativer Hinsicht – menschliches Wohlergehen gefährdet ist . Dies kann mit der Schädigung in Zusammenhang stehen . Gewisse Aspekte von Schädigungen sind intrinsisch schlecht, also mit Leiden verbunden und ein Übel . Zwei Beispiele dafür sind starke und anhaltende Schmerzen oder Todesangst angesichts eines bevorste-henden oder zu befürchtenden Sterbens . Diese Auswirkungen von Schädi-gungen sind ohne gesellschaftliche Beeinflussung schlecht, sie mindern das Wohlergehen von Menschen und können in manchen Fällen zu großem Leiden führen .

Für viele Behinderungen respektive für viele Aspekte von Behinderung gilt dies aber nicht . Sie erhalten ihre komparative wie auch ihre nonkompa-rative Bedeutung erst in Zusammenhang mit bestimmten Umweltaspekten . Diese können vielfältig sein und von mangelnden Ressourcen – beispielswei-se fehlendem Geld – über diskriminierenden Einstellungen bis hin zu schlechter Zugänglichkeit von Gebäuden vieles umfassen . Das Wohlergehen von Menschen mit Behinderung respektive der Grad und das Ausmaß ihrer Behinderung hängen also in vielen Fällen davon ab, wie diese Umweltbedin-gungen gestaltet sind . Für die Beantwortung der Frage nach einem Recht auf

84 Inklusion und Gerechtigkeit

Inklusion für behinderte Menschen bedeutet dies, dass beide Aspekte – in-trinsische Aspekte und der heterogene Bereich der Umweltaspekte – wie auch die Dynamiken und Wechselwirkungen zwischen den unterschiedli-chen Aspekten respektive Ausprägungen im Auge behalten werden müssen .

Das Fazit dieses Kapitels, wonach das, was eine Behinderung ausmacht, letztlich die Reduktion von Wohlergehen ist, wirft die Frage auf, was im vorliegenden Kontext unter Wohlergehen verstanden werden soll . Eine sub-jektive Theorie guten Lebens habe ich implizit bereits verworfen . Dennoch verbleiben mindestens drei mögliche Auslegungen einer objektiven Theorie – hedonistische Theorien, Wunschtheorien, objektive Theorien –, wobei ich nur die letzte, wie es der Name schon sagt, als genuin objektive Theorie ver-stehen möchte .20 Die möglichen Theoriezugänge zu menschlichem Wohler-gehen stehen im folgenden vierten Kapitel im Zentrum .

20 Peter Schaber (1998, S . 150) beispielsweise geht davon aus, dass die hedonistische Theorie eine Spielart der objektiven Theorie darstellt .

4 . Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben

Gemeinhin gehen die meisten Autoren1 davon aus, dass man drei Zugänge zu Fragen des guten Lebens2 unterscheiden kann:3 hedonistische Theorien,

1 Davon gehen beispielsweise Dagmar Fenner (2007), Holmer Steinfath (1998) und Derek Parfit (1984) aus . Parfit (1984, S . 493) spricht von hedonism, desire-fulfilment theories und objective list theories . Scanlon (1998) ersetzt die letzte Kategorie durch substantive good theories . Thomas Schramme (2008, S . 1501) hält vor allem die letzte Kategorie bei beiden Autoren für verwirrend . Eine objektive Theorie beispielsweise kann seiner Ansicht nach nicht nur einfach Güter auflisten, sondern man muss sagen, warum ein Gut zum Wohler-gehen gehört . Daher sei Parfits Kennzeichnung dieser Theorien mit objectiv list theory missverständlich (vgl . Schramme 2003b, S . 188) .

2 Der philosophische Ausdruck ›gutes Leben‹ hat einen perfektionistischen Anstrich . Eine perfektionistische Interpretation würde demnach besagen, dass es ein ›bestes Leben‹ gibt, eine mögliche Lebensform, die für alle Menschen gut ist . Darum geht es im vorliegenden Zusammenhang aber nicht, zumindest nicht in einem starken, essentialistischen und de-terministischen Sinne . Im Zentrum der vorliegenden Überlegungen steht vielmehr, für Ressourcen zu argumentieren, die Menschen dazu verhelfen, ein gutes Leben nach ihrer eigenen Wahl zu führen . An dieser Stelle müssen somit zwei Fragen unterschieden werden: erstens die Frage, was ein gutes Leben ist; zweitens die Frage, was die Gesellschaft bereit-stellen muss, damit Menschen ein gutes Leben führen können . Werden die zwei Fragen vermischt, könnte der Schluss aus der zweiten Frage nämlich so lauten, dass den Bürgern einer Gesellschaft ein gutes Leben direkt geschuldet wird . Das wäre aber offensichtlich eine zu starke Forderung . Im Folgenden konzentriere ich mich auf den Ausdruck ›gutes Leben‹, weil er in der Philosophie etabliert ist, verstehe ihn aber nicht in starkem Sinne perfektionistisch . Vor allem darf der Begriff des ›guten Lebens‹ einen schwachen Perfekti-onismus nicht mit einem Essentialismus verbinden, der besagt, dass es eine gute Lebens-form für alle Menschen gibt .

3 Allerdings gehen andere Autoren, wie beispielsweise Peter Schaber (1998), davon aus, dass man von zwei Theorien des guten Lebens sprechen kann, nämlich von Wunschtheorien und objektiven Theorien . Die Kritik, dass man auch von zwei statt drei Theorien des guten Lebens sprechen kann, ist durchaus berechtigt . So sind erstens die Übergänge zwischen den einzelnen Theorien je nach Ausrichtung derselben fließend . Und zweitens kann man auch darauf hinweisen, dass es einen gemeinsamen Kern aller Theorien gibt . Die verschie-denen Theorien kommen nur aus unterschiedlichen Gründen dazu . Ich halte dennoch, aus pragmatischen Gründen, an der Dreiteilung fest, auch, um die Gründe aufzuzeigen, die für eine objektive Theorie des guten Lebens sprechen .

86 Inklusion und Gerechtigkeit

Wunschtheorien und objektive Theorien des guten Lebens .4 Ich stelle diese Theorien im Folgenden vor und zeige Gründe auf, die für eine objektive Theorie des guten Lebens sprechen .

4 .1 Hedonistische Theorien

Die hedonistische Vorstellung des guten Lebens ist die eines glücklichen Le-bens, wobei Glück als die Erfahrung von Lust und Freude interpretiert wird . Das gute Leben ist in diesem Verständnis ein glückliches, lustvolles Leben .5 Dabei kann nach Dagmar Fenner (2007, S . 31ff .) ein psychologischer Hedonis-mus von einem ethischen Hedonismus unterschieden werden . Der psychologi-sche Hedonismus ist oft das anthropologische Fundament für die normative hedonistische Theorie, muss aber von dieser getrennt betrachtet werden . Der psychologische Hedonismus geht von der anthropologischen Annahme aus, wonach der Mensch ausschließlich nach Lustgewinn strebt .6

Der ethische Hedonismus wendet nun die Aussagen des psychologischen Hedonismus ins Normative . Er besagt im Kern, dass menschliches Handeln auf Lustgewinn abzielen soll . Ein antiker Vertreter eines ethischen Hedonis-

4 Es muss nach Thomas Schramme (2008, S . 1501) unterschieden werden, ob eine Theorie in ontologischem Sinne objektiv oder subjektiv ist sowie, ob sie in evaluativem Sinne ob-jektiv oder subjektiv ist . Aus diesen Unterscheidungen ergeben sich vier Möglichkeiten der Auslegung . Die erste Unterscheidung (die ontologische) fragt danach, ob Wohlergehen durch subjektive mentale Erlebnisse bestimmt wird oder nicht . Die zweite Unterschei-dung (die evaluative) fragt danach, ob man die Inhalte des Wohlergehens von subjektiven Bewertungen allein abhängig machen soll, oder ob intersubjektive oder objektive Deter-minanten ins Spiel gebracht werden sollen . Als drittes könnte man thematisieren, ob sich eine Person über ihr Wohl täuscht oder ob sie in jedem Fall als Experte für ihr eigenes Wohlergehen gelten kann . Diese Unterscheidung könnte man epistemische Unterschei-dung nennen . Sie geht allerdings nach Schramme vollständig in den beiden anderen Ge-sichtspunkten auf und muss daher nicht eigens thematisiert werden . Damit ergeben sich vier Möglichkeiten einer Ausrichtung einer Wohlergehenstheorie: Erlebnistheorien, Da-seinstheorien, Wunschtheorien sowie Gattungs- oder Wesenstheorien . Für die vorliegende Arbeit ist diese Vierteilung aber meiner Meinung nach zu komplex . Zudem werden die verschiedenen Aspekte von mir in den drei ausformulierten Theoriezugängen themati-siert .

5 Um die stark hedonistischen Konnotationen zu vermeiden, die mit dem ›guten‹ Leben verbunden sind, wird zum Beispiel von Robert Spaemann (2006) der Begriff des ›gelin-genden‹ Lebens gewählt .

6 Ein Vertreter eines psychologischen Hedonismus ist Sigmund Freud .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 87

mus war Epikur, der die Forderung allerdings egoistisch auslegte . Erst die Utilitaristen entwickelten eine universalistische Spielart des ethischen Hedo-nismus . Zwei Annahmen zeichnen den ethischen Hedonismus, wie ihn der klassische Utilitarismus vertritt, aus: erstens, dass Glück messbar ist, zwei-tens, dass das Ziel der Moral sei, Glück zu maximieren . Verschiedene Glücks-zustände können also nicht nur gemessen und hierarchisiert werden, sie stel-len auch das Ziel moralischen Handelns dar .

Kritik an der hedonistischen Theorie des guten Lebens

Hedonistisches Grundparadox

Am ethischen Hedonismus wurde von verschiedenen Seiten Kritik geübt . Erstens scheint es so etwas wie ein ›hedonistisches Grundparadox‹ zu geben (vgl . Fenner 2007, S . 52): Glück lässt sich nicht erzwingen . Glück zeichnet sich im Gegenteil dadurch aus, dass es einem zufällt oder trifft . Nicht selten sind Versuche, das Glück krampfhaft zu erlangen, vom Ergebnis überschat-tet, dass es genau aus diesem Grund nicht gelingt . Man denke nur an Versu-che, einen Menschen für sich zu gewinnen, der einem diese Liebe nicht frei-willig erwidert .

Glück ist nicht das einzig Wichtige im Leben

Zweitens ist es fraglich, ob Glück das einzige Gut ist, wonach wir unser Le-ben ausrichten . Hätten wir, so fordert uns Robert Nozick (1974) in einem Gedankenexperiment auf, die Möglichkeit, uns an eine Glücksmaschine an-zuschließen, die uns mit immerwährenden Glücksgefühlen versorgt, würden wir das tun?7 Nein, würden mit Sicherheit die meisten Menschen sagen . Sie möchten ein Leben, das durch mehr geprägt ist als durch andauernde Glückszustände . Beispielsweise wollen sie ein autonomes, selbst bestimmtes Leben führen, eines, in dem sie eigene Entscheidungen treffen können . Und dies wollen sie nicht nur, weil sie davon ausgehen, dass ein autonomes Leben in jedem Fall glücksfördernd ist .

7 Interessanterweise dient das Beispiel der Glücksmaschine dazu, einerseits die inhärente Bedeutung von Freiheit aufzuzeigen, andererseits, um Glück als einziges Lebensziel zu re-lativieren . Das illusionäre Glück ist nach Georg Henrik von Wright (1963) nicht nur deshalb ein philosophisches Problem, weil es eine Illusion ist, sondern weil es eine Unauf-richtigkeit sich selbst gegenüber darstellt .

88 Inklusion und Gerechtigkeit

Ein Beispiel dafür ist Sigmund Freud, der in seinen letzten Lebensjahren an schwerem, unheilbarem Krebs und damit verbundenen großen Schmer-zen litt, die er mit starken Schmerzmitteln, beispielsweise Morphium, hätte lindern können .8 Freud aber verzichtete bewusst auf Schmerzmittel, um bei klarem Verstand bleiben und so weiter denken und arbeiten zu können . Nie-mand würde sagen, die Schmerzen hätten für Freud Glück bedeutet . Viel nahe liegender scheint die Erklärung zu sein, dass Freud klares Denken der Schmerzfreiheit vorgezogen hat . Der ›hedonistische Fehlschluss‹ in der Auf-fassung, Glück sei das einzige Lebensziel, scheint also der zu sein, dass aus der Tatsache, dass Menschen aus wertvollen Tätigkeiten Freude und Glück erzielen, geschlossen wird, alle menschlichen Tätigkeiten seien auf Lustge-winn ausgerichtet .

Nichtunterscheidung von wertvollen und nicht wertvollen Glückszuständen

Drittens scheinen bestimmte Auffassungen von Lustgewinn kaum vereinbar zu sein mit der Vorstellung von einem guten Leben . Ein Beispiel dafür ist Drogenabhängigkeit, die kaum in Einklang mit einem guten Leben steht . Die hedonistische Theorie aber bietet keine Handhabung, diese Glückszu-stände von anderen, ›wertvollen‹, zu trennen . Sie wertet alle Glückszustände gleich . Glück aufgrund eines Drogenschusses ist somit gleich wertvoll – und in der Folge in der normativen Wendung gleich erstrebenswert – wie andere Handlungen, von denen man gemeinhin davon ausgeht, dass sie wertvoll sind, beispielsweise den eigenen Freunden zu helfen oder sich um Notleiden-de zu kümmern .

Die Person rückt aus den Überlegungen

Ein vierter Kritikpunkt, der besonders an der klassisch-utilitaristischen Fas-sung des ethischen Hedonismus geübt wird, ist der, dass es nicht gelingt, die Person ins Zentrum zu rücken, sondern einzig das Glück selbst (vgl . Raz 2004, S . 269) . Personen, so die Kritik von Raz, gelangen nur aufgrund ihrer Glückszustände in den Fokus hedonistischer Überlegungen, nicht aber als Personen mit Bedürfnissen, Verpflichtungen, Zielen, Plänen und Werten . Damit sind offensichtlich verschiedene Dinge, beispielsweise nahe Bezie-hungen, ganz oder teilweise ausgeblendet . Denn Menschen empfinden ge-

8 Das Beispiel wird von James Griffin (1986, S . 28) verwendet .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 89

genüber ihnen nahe stehenden Menschen Verpflichtungen, aber nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) deshalb, weil diese glücksfördernd wären .

Fragmentierung des Lebens in einzelne Glückszustände

Auch das hedonistische Vorhaben, verschiedene Glückszustände zu addieren und in den summierten Glückszuständen ein gutes Leben zu sehen, scheint unplausibel zu sein . Ein gutes Leben wäre dieser Logik nach nämlich eines, das aus vielen einzelnen Glücksmomenten bestehen würde . So denken Men-schen aber nicht, wenn sie sich die Frage nach einem guten Leben stellen . Die Frage nach dem guten Leben bezieht sich vielmehr auf die »qualitative Ganzheit des Lebens« (vgl . Fenner 2007, S . 57) . Ein gutes Leben lässt sich nicht in einzelne Glücksmomente aufteilen, wie es hedonistische Theorien nahe legen .

4 .2 Wunschtheorien

Wunschtheorien des guten Lebens sind geprägt von der Auffassung, dass sich ein gutes Leben in Rekurs auf unsere kognitiven wie nonkognitiven Einstel-lungen, beispielsweise unsere Wünsche, Überzeugungen oder Gefühle, er-schließt . Menschen führen dann ein gutes Leben, wenn sie es affektiv und/oder voluntativ bejahen: »Ein gutes Leben ist demnach ein gutes Leben, wenn es uns das gibt, was wir von einem Leben wollen, oder: wenn es die Anforderungen, die wir an ein Leben stellen, erfüllt« (Stemmer 1998, S . 66) . Vertreter einer Wunschtheorie des guten Lebens sind James Griffin, Richard Hare oder Peter Singer .9

Die Kernaussage der Wunschtheorie besteht aus einer empirischen, zwei normativen Prämissen sowie einer normativen Konklusion:Erstens: Der Mensch hat Wünsche, zu denen er wertend Stellung nimmt (empirische Prämisse) .

9 Gerade das Beispiel Peter Singers zeigt, dass erstens hedonistische Theorien nicht mit uti-litaristischen Theorien gleichgesetzt werden können und dass zweitens die Übergänge von hedonistischen Theorien zu Wunschtheorien fließend sind . In der Philosophie Singers werden Wünsche als Präferenzen gesehen, daher ist diese Ausrichtung, in Abgrenzung zum klassischem, güterbezogenen Utilitarismus, auch als präferenzbezogener Utilitarismus be-kannt . Neben der Philosophie werden Wunschtheorien vor allem, wenig überraschend, in Spielarten ökonomischer Entscheidungstheorien vertreten .

90 Inklusion und Gerechtigkeit

Zweitens: Diese Wünsche sollen erfüllt werden (normative Prämisse) .Drittens: Die Wunscherfüllung gehört zum guten Leben (normative Prämis-se) .Viertens: Das gute Leben besteht in der Erfüllung von Wünschen (normati-ve Konklusion) .

Kritik an der Wunschtheorie des guten Lebens

Faktische Wünsche als Gegenstand der Wunschtheorie

Die erste Kritik, die man an der Wunschtheorie üben kann, ist die, dass es unplausibel ist, alle faktischen Wünsche einer Person zum Gegenstand der Reflexion eines guten Lebens zu machen . Dieser Kritik kann man aber rasch entgehen, indem man reflektierte Wünsche zum Gegenstand der Wunsch-theorie macht und nicht faktische, da diese auch schädlich sein können . Beispielsweise kann es kaum Inhalt einer Wunschtheorie des guten Lebens sein, wenn jemand den Wunsch entwickelt, andere Menschen zu verletzen oder zu töten .

Statt eines einfachen Subjektivismus stehen daher die meisten Vertreter einer Wunschtheorie des guten Lebens zu einem reflektierten Subjektivis-mus .10 Der Maßstab dessen, woran sich die Kritik messen müsste, wäre dann die Art und Weise, wie eine Person sich etwas wünscht und nicht, zumindest nicht in erster Linie, was sie sich wünscht . Die Forderung eines reflektierten Subjektivismus ist von einem seiner Vertreter folgendermaßen auf den Punkt gebracht worden: »Das Wollen sollte, was immer du vom Leben willst, auf-geklärt und nicht blind sein« (Stemmer 1998, S . 65) . Damit sind eine Reihe von sogenannt irrationalen Wünschen, beispielsweise der Wunsch eines Dro-genabhängigen nach neuem Stoff oder der Wunsch eines Mörders nach wei-teren Opfern, nicht Gegenstand einer modifzierten Wunschtheorie .

Erfahrungsbedingung

Selbst eine angepasste Wunschtheorie ist aber weiterhin der Kritik ausge-setzt . So scheint es beispielsweise notwendig zu sein, dass die Wunscherfül-lung am subjektiven Zustand einer Person etwas ändert, um tatsächlich ei-

10 In der Tat ist es so, dass eine sogenannte »unrestricted actual desire theory« (Scanlon 1993, S . 186) heute von niemandem mehr vertreten wird .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 91

nen Beitrag zu ihrem guten Leben leisten zu können . Nun kann es aber sein, dass die Wünsche einer Person in Erfüllung gegangen sind, ohne dass sie von dieser Wunscherfüllung etwas erfährt . Wie kann sich dadurch ihr Leben ver-bessern? Beispielsweise kann man sich vorstellen, dass sich jemand wünscht, eine Gruppe politischer Gefangener aus Tibet, die für die Ablösung ihres Landesteiles von China kämpfen, würde aus chinesischen Gefängnissen ent-lassen werden . Wenn diese nun tatsächlich freigelassen werden, die Person dies aber aufgrund einer Informationssperre des chinesischen Außenministe-riums nie erfährt, ist es dann plausibel zu sagen, das Leben der Person sei besser als vorher? Offensichtlich nicht, denn sie hat nie von der Erfüllung ihres Wunsches erfahren .

Auch haben verschiedene Wünsche im Leben schlichtweg keinen Ein-fluss auf das Leben eines Menschen, so beispielsweise der Wunsch, dass der Uranus 29 und nicht 27 Monde hat . Die Wunschtheorie muss also durch eine Erfahrungsbedingung ergänzt werden . Eine Person muss von der Erfül-lung ihrer Wünsche erfahren und die Erfüllung muss etwas an ihrem Leben ändern . 11

Wunschkonflikte

Eine reflektierte Wunschtheorie muss somit gegenüber einer, die sich an den faktischen Wünschen von Menschen orientiert, durch zwei Bedingungen ein-geschränkt werden: Erstens müssen die Wünsche reflektiert sein und zwei-tens müssen die Wünsche die Erfahrungsbedingung erfüllen . Dennoch ist die Wunschtheorie auch nach diesen Präzisierungen weiter der Kritik ausge-setzt: Es gibt nämlich drittens auch Wunschkonflikte . Jemand kann beispiels-weise gleichzeitig zwei Wünsche haben: mit dem Rauchen aufzuhören und eine Zigarette zu rauchen (vgl . Schaber 1998, S . 156) . Die Wunschtheorie bietet keine Handhabe, solche konkurrierenden Wünsche zu gewichten .

Wunschveränderungen

Viertens können sich Wünsche auch verändern . Alle Menschen wissen, dass die Wünsche, die sie als Kinder hatten, nicht mehr denjenigen von Erwach-senen entsprechen . Muss man also den Wunsch eines Kindes, das mit fünf

11 Unter der Erfahrungsbedingung kann beides subsumiert werden, wie die unterschiedli-chen Interpretationen von Thomas Scanlon (1993, S . 186) und Peter Schaber (1998, S . 155) zeigen .

92 Inklusion und Gerechtigkeit

Jahren sagte: »Ich wünsche mir, mit fünfzig Jahren an meinem Geburtstag wieder in den Europapark zu gehen«, erfüllen? Wohl kaum einzig aus dem Grund, weil sich dieser Mensch das einmal gewünscht hat . Eher ist anzuneh-men, dass die Person den Wunsch mit fünfzig nicht mehr hat, dass sich ihre Wünsche also verändert haben .

4 .3 Objektive Theorien

Objektive Theorien des guten Lebens schließen sich an die Kritik an der Wunschtheorie an . Zwar streiten sie die Bedeutung von Wünschen für das gute Leben nicht ab . Sie sind aber der Auffassung, dass mit der Aussage, ›et-was ist wünschenswert‹ auf etwas Bezug genommen wird, das unabhängig von Wünschen besteht . Und das sind Überzeugungen . Wünsche sollten da-her nicht als Wert selbst gesehen werden, sondern als formale Aussage darü-ber, was als wertvoll angesehen wird (vgl . Schaber 1998, S . 162) .

Objektive Theorien des guten Lebens oder substantive good theories (Scan-lon 1993, S . 189) besagen im Kern folgendes: Es gibt Dinge im menschlichen Leben, die wir unabhängig davon, ob jemand sie als gut oder schlecht befin-det, als gut oder schlecht einschätzen können . Schmerz ist ein Beispiel für etwas, das man als intrinsisch schlecht einschätzt, Liebe etwas, das intrinsisch gut ist .12 Die Neigungen und Wünsche einer Person müssen in einer objek-tiven Theorie des guten Lebens nicht irrelevant sein, man kann sogar sagen, dass nur das, was sich einer Person faktisch als Neigung und Vorliebe er-schließt, ihr auch zugänglich ist . Objektiv heißt nicht, dass das objektiv Gute völlig unabhängig von den subjektiven Erfahrungen und Wünschen von Menschen sein muss (vgl . Wolff 1998, S . 169) . Es wird einfach nicht gleich-gesetzt .13

12 Menschen können sich zwar zu ihren Empfindungen verhalten, das ist aber höchstens die sekundäre Bedeutung bestimmter Empfindungen wie beispielsweise Hunger oder Schmerz . Die Negativität dieser Empfindungen lässt sich durch die kognitive Einstellung nicht aufheben . Daher wäre das Leben der betroffenen Menschen selbst dann schlecht, wenn sie das nicht so empfinden würden .

13 Ein gutes Leben mag ein glückliches sein, aber die Übereinstimmung ist eine kontingente . Die meisten Menschen sind denn auch der Ansicht, dass ein gutes Leben nicht unbedingt jederzeit ein glückliches sein muss . Jemand kann glücklich sein, aber dieses Glück ist ein unreflektiertes Glück . Dann gibt es Menschen, von denen wir sagen würden, sie hätten allen Grund glücklich zu sein, die es aber trotzdem nicht sind .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 93

Im Gegensatz zur hedonistischen Auffassung des guten Lebens sind ob-jektive Theorien der Ansicht, dass das gute Leben nicht ausschließlich aus vielen einzelnen glücklichen Momenten besteht, sondern von einer generel-len Einstellung des Betreffenden zu sich und seinem Leben, im Speziellen einer Bejahung seiner selbst und dessen, was er ist, abhängt . Zweitens sind sie der Auffassung, dass sowohl glückliche Momente wie die generelle Ein-stellung zu sich selbst auf dem Glauben des Betreffenden beruhen, dass die Handlungen und Ereignisse, die er tätigt oder die ihm widerfahren, wertvoll sind . Damit nehmen Menschen in ihren Aussagen Bezug auf Aktivitäten und Zustände, von denen sie ausgehen, dass sie intrinsisch wertvoll sind .14

Die zentrale Aussage jeder objektiven Theorie ist folgende: Nicht, weil sich Menschen etwas wünschen, ist es gut, sondern weil es gut ist, wünschen sich Menschen dieses Gut .15 Die objektive Theorie geht davon aus, dass die Güter, die sich jemand wünscht, Resultat objektiv informierter Wünsche sind, dass sie also von Menschen gewünscht werden, wenn sie die Natur dieser Güter und die Natur des Lebens kennen . Die Reihenfolge ist gegen-über der Wunschtheorie eine andere (vgl . Scanlon 1993, S . 190) .

Das Gut wird gewünscht, weil es wertvoll ist und nicht umgekehrt . Dass etwas unabhängig von den Wünschen für Menschen gut ist, heißt aber nicht, dass für alle Menschen dieselben Dinge gut sind . Unterschiede in den Fähig-keiten, den Biografien und dem sozialen Umfeld können dazu führen, dass Menschen unterschiedliche Dinge als gut bewerten .

14 Damit macht aber nach Ansicht bestimmter Kritiker die Aussage ›Ein gutes Leben ist ei-nes, das gut ist für X‹ keinen Sinn mehr respektive der Zusatz ›für X‹ ist überflüssig, da er keine neue Information hinzufügt . Trifft diese Kritik zu, ist man aber wieder bei einer utilitaristischen Konzeption gelandet, die ein gutes Leben einzig auf Zustände und Aktivi-täten zurückführen möchte und die betroffene Person aus dem Fokus nimmt . Eine objek-tive Konzeption ist somit dazu verpflichtet, die Person ins Blickfeld zu nehmen, will sie nicht mit einer utilitaristischen Position, wie sie sowohl im Hedonismus als auch in der Wunschtheorie (zumindest in einer präferenzutilitaristischen Ausrichtung) möglich ist, zusammenfallen . Ich verfolge die Kritik nicht weiter, da ich im Folgenden eine objektive Theorie vorstelle, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie das betroffene Individuum ins Blickfeld nimmt .

15 Wunschtheorien müssen sich immer auf die Aussage zurückziehen, dass der Grund dafür, dass etwas für jemanden gut ist, der sei, dass die Person es sich wünscht, weil es einen Wunsch der Person befriedigt . Genau das lehnen objektive Theorien ab .

94 Inklusion und Gerechtigkeit

Zwei Vorteile objektiver Theorien

Objektive Theorien des guten Lebens haben gegenüber den anderen beiden zwei entscheidende Vorteile: Erstens kommen sie unserer Intuition entge-gen, dass das Gutsein unseres Lebens und auch unsere Zufriedenheit mit dem Leben zu einem signifikanten Teil davon abhängen, wie unser Leben tatsächlich objektiv aussieht . Dies gilt, auch wenn das subjektive Zufrieden-sein mit dem Leben und das objektive Gutsein des Lebens wechselseitig kei-ne Surrogate sind (vgl . Brock 1993) . Zweitens können objektive Theorien paradoxe Fälle, in denen Menschen hohe Zufriedenheit bei objektiv gesehen schlechten Lebensumständen äußern, besser erklären . Oft schätzen nämlich Menschen mit Behinderung verglichen mit nicht behinderten Menschen ihre Lebensqualität überdurchschnittlich hoch ein, weshalb dieses adaptive Verhalten oft auch als disability paradox bezeichnet wird (vgl . Rapley 2003, S . 31) .16 Würde man die faktischen Aussagen dieser Menschen als einzige Entscheidungsbasis für die Beurteilung ihrer Lebensqualität nehmen, hätte das zumindest in einem politischen und praktischen Kontext fatale Folgen, vor allem dann, wenn es um Verteilungsfragen geht . Menschen, die eine hohe Lebenszufriedenheit äußerten, bekämen dann – selbst wenn sie unter objektiv schlechten Lebensbedingungen leben würden – weniger Güter zu-gewiesen als andere, die niedrigere subjektive Zufriedenheit äußern, obwohl sie objektiv gesehen ein gutes Leben führen .

Das, womit man sich – insbesondere auch unter (sonder-)pädagogischen Gesichtspunkten – beschäftigen sollte, sind aber nicht subjektive Glückszu-stände (zumal nicht als einzigen Parameter des guten Lebens) und auch nicht Wunscherfüllung, sondern vielmehr mit der Frage, was Menschen in ihrem Leben tun und sein können . Was nach Ansicht Amartya Sens (1999a) letzt-

16 Adaptation oder Adaption bezeichnet das Phänomen einer Erwartungsreduktion als Folge einer Kluft zwischen Bewältigung von Aufgaben respektive Leistungen und den Erwartun-gen an diese . Die Spannung wird reduziert, indem die Erwartungen gesenkt werden . Die-ses Phänomen kann laut Dan W . Brock (1993) sowohl ein Akt der Selbstbestimmung, also des Lernens oder der Erfahrung oder aber ein sour grapes Phänomen (vgl . Elster 1985) und somit ein Akt der Resignation sein . Oft werden Präferenzen nach unten korrigiert, indem die unerreichbaren Optionen vom Radar des Angestrebten gestrichen werden . Das ist die externe Charakterisierung . Die interne Charakterisierung beleuchtet den Prozess der For-mierung von Wünschen und Präferenzen . Die Annahme ist, dass im Adaptationsprozess das gefühlte Wohlbefinden steigt, allerdings auf Kosten der Autonomie, welche sinkt . An-passung und psychische Konditionierung haben laut Sen (1999a) bei dauerhaft Benachtei-ligten oft zur Folge, dass sie sich ihrer Situation anpassen . Eine solche Form von Adaption kann von einem Sozialstaat nicht als Ziel anvisiert werden .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 95

lich im Vordergrund stehen muss, ist das Leben, das Menschen führen kön-nen sowie die Freiheit, ein Leben ihrer Wahl zu führen . Damit rückt das Leben, das Menschen führen, selbst in den Fokus der Überlegungen . Und auf diese Weise geraten auch die Güter, die Menschen erhalten, die Struktur der Gesellschaft sowie die Freiheiten, die Menschen genießen, ins Blickfeld . Fragen, die sich aus einem solchen Zugang zum Wohlergehen ergeben, lau-ten dann beispielsweise: Welche Möglichkeiten hat der Mensch überhaupt? Kann er wählen? Was kann er tun und sein? Letztlich sind damit auch die Bedingungsfaktoren angesprochen, unter denen ein gutes Leben stattfinden kann .

Ein objektiver Ansatz, der die oben genannten Fragen ins Zentrum stellt, ist der Capability-Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum . Diesen werde ich im Folgenden vorstellen .

4 .4 Der Capability-Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum

Der Capability-Ansatz wurde in unterschiedlicher Form und Ausprägung vom indischen Ökonomen Amartya Sen und der us-amerikanischen Philo-sophin Martha Nussbaum entwickelt .17 Die wichtigste Unterscheidung oder

17 Sein kritisches Profil gewinnt der Ansatz vor allen Dingen in seiner Kritik am Utilitaris-mus und – allerdings schwach und meiner Ansicht nach weniger überzeugend – an der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls . Die am Utilitarismus geübte Kritik betrifft die konsequentialistische Grundlage des Utilitarismus . Erstens kann die Ausrichtung einer solchen Theorie des guten Lebens, einzig auf die Konsequenzen von Handlungen zu schauen, kritisiert werden . Indem Zustände von Personen als Ziele angesehen werden, sind die Tätigkeiten oder Prozesse selbst nämlich unterbeleuchtet . Genau darauf sollte man aber in Fällen von Verteilungsgerechtigkeit schauen, denn oft ist der Prozess der Ver-teilung bereits ungerecht . Zweitens kann der Wohlfahrtsgedanke, der Rechte und Pflich-ten nicht unmittelbar, sondern nur hinsichtlich ihrer Konsequenzen beleuchtet, kritisiert werden . Der Utilitarismus vernachlässigt damit Rechte, Pflichten und Freiheiten sowie andere, nicht den Nutzen betreffende, Belange . Drittens kann der Summierungsgedanke kritisiert werden, weil er nicht beachtet, wie sich die Gesamtmenge an Gütern auf die In-dividuen verteilt . Damit ist der Ansatz in der Konsequenz Verteilungsfragen gegenüber indifferent, und zwar hinsichtlich der betroffenen Individuen wie auch hinsichtlich der Vorteile-Bürden Verteilung (vgl . Nussbaum 2006b) . Sein kritisches Profil gewinnt der Capability-Ansatz zudem neben seiner Kritik an den konsequentialistischen Grundlagen im Allgemeinen hauptsächlich durch die Zurückweisung der utilitaristisch geprägten Ideologie des homo oeconomicus . Diese unterstellt, dass Menschen rationale Akteure sind,

96 Inklusion und Gerechtigkeit

Terminologie des Ansatzes ist die Unterscheidung zwischen capabilities (Ver-wirklichungschancen) und functionings (Funktionen) .

4 .4 .1 Verwirklichungschancen und Funktionen

Das Wohlergehen von Menschen sollte nach Sen daran gemessen werden, was Menschen in ihrem Leben tun oder sein können, an ihren Funktionen also: »Functionings represent parts of the state of a person – in particular the various things that he or she manages to do or be in leading a life« (Sen 1993, S . 31) . Functionings oder Funktionen können beispielsweise sein genügend zu essen zu haben, Bildung genießen zu können oder mobil sein zu kön-nen .

Während functionings oder Funktionen Aktivitäten, die eine Person aus-übt, und Zustände, in denen sie sich befindet, kennzeichnen, nennt man die Gesamtheit der Funktionen, die eine Person p zu einem bestimmten Zeit-punkt t verwirklicht, Funktionenset . Das Funktionenset beschreibt die fakti-sche Lebenssituation dieser Person und somit die Gesamtheit dessen, was die Person sein und tun kann .

Capabilities oder Verwirklichungschancen widerspiegeln demgegenüber die alternativen Kombinationen von Funktionen, welche die Person errei-

die als Ziel Eigennutzoptimierung anstreben . Amartya Sen (1977) hat dafür den Ausdruck rational fools geprägt . Gegen dieses Bild wendet sich der Capability-Ansatz und steht da-mit den kritischen Intentionen des politischen Liberalismus sehr nahe . Vor allem die ver-einfachte Vorstellung menschlicher Handlungsmotivation wird von Sen wie auch dem großen Vertreter des politischen Liberalismus der letzten Jahre, John Rawls, zurückgewie-sen . Die Kritik besagt konkret, dass der Utilitarismus die Bedeutung von Verpflichtungen, Bindungen und sozialen Engagements, die Menschen eingehen, unterschlägt . Viele Ver-pflichtungen und Bindungen gehen Menschen nicht aus rationalem Eigeninteresse ein . Das Verhalten einer Mutter oder eines Vaters gegenüber einem Kind sind typische Beispie-le für solche Arten von Verpflichtungen und Bindungen, die Handlungen und Verhaltens-weisen zur Folge haben, die Menschen nicht aus reinem Eigeninteresse tätigen . Diese Be-reiche der menschlichen Handlungsmotivation umfasst Sen mit dem Begriff des commitments . Eine Gerechtigkeitstheorie sollte aus diesen Gründen ein reiches und vor allem realistisches Bild des Menschen zeichnen, nicht nur das eines rationalistischen Nut-zenmaximierers . Weiter ist der Umstand, frei handeln zu können, im Utilitarismus selbst egoistischer Nutzenkalkulation unterworfen . Wünsche und subjektive Präferenzen aber sind keine sicheren Indikatoren für die wahren Bedürfnisse einer Person . Vielmehr muss man davon ausgehen, dass sich die Präferenzen und Interessen von Menschen immer schon nach den Lebenslagen und Lebensbedingungen richten, in denen sie sich befinden . Präferenzen wie Interessen sind, subjektiv verstanden, adaptiv . Das Problem der adaptiven Präferenzen kann im Utilitarismus nicht angemessen beurteilt und gelöst werden .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 97

chen kann: »The capability of a person reflects the alternative combinations of functionings the person can achieve, and from which he or she can choo-se one collection« (Sen 1993, S . 31) . Capabilities oder Verwirklichungschan-cen sind somit »notions of freedom, in the positive sense: what real opportu-nities you have regarding the life you may lead« (Sen 1987, S . 36) .

Ingrid Robeyns (2000, S . 5f .) schildert den Unterschied in den Betrach-tungen von Funktionen oder Fähigkeiten und Verwirklichungschancen an-schaulich am Beispiel des Fahrradfahrens . Das Fahrrad ist ein Gegenstand mit der Eigenschaft, dass man sich mit ihm schneller bewegen kann . Kann man Fahrradfahren, hat man diese Fähigkeit oder Funktion, das functioning mit anderen Worten . Die Verwirklichungschance oder capability kann nun die Möglichkeit sein, Fahrradfahren zu erlernen . Diese ist von bestimmten Voraussetzungen abhängig, körperlichen wie auch sozialen (beispielsweise der Erlaubnis der Eltern, das Fahrradfahren zu erlernen oder auch dem Vor-handensein eines Fahrrades) . Diese beiden Voraussetzungen bilden die Kon-versions- oder Umwandlungsfaktoren von Möglichkeiten in tatsächliches Vermögen oder Können .

Zwei mögliche Interpretationen von Verwirklichungschancen

Es sind zwei Interpretationen von Verwirklichungschancen möglich: Erstens kann man sie als ein Set alternativer Funktionen sehen, das eine Person hätte erreichen können, ihre möglichen Lebensalternativen also . Die Verwirkli-chungschancen einer Person umfassen damit alle hypothetischen Lebenssi-tuationen, die im Wahlbereich der betreffenden Person liegen (vgl . Crocker 1995) . Zweitens können Verwirklichungschancen als Wertung positiver Frei-heit gesehen werden . Der Zugang zu Wohlergehen basiert in diesem Ver-ständnis auf der Fülle und Qualität zugänglicher, bewerteter Lebensentwürfe – Zustände wie Aktivitäten –, unter denen die Person tatsächlich auswählen kann .18 Verwirklichungschancen repräsentieren nach dieser Verwendungs-weise Freiheiten, können aber nicht mit diesen gleichgesetzt werden (vgl . Sen 1993, S . 33) . Freiheit ist weiter gefasst und umfasst auch soziale Ziele, die nicht mit dem eigenen Leben verbunden sind . Den objektiven Zug ge-

18 Vgl . für einen solchen Zugang beispielsweise Alkire (2002) .

98 Inklusion und Gerechtigkeit

winnt der Verwirklichungschancenansatz durch die Gründe, die eine Person hat, bestimmte Zustände oder Tätigkeiten als gut zu erachten .19

Interne Fähigkeiten und externe Möglichkeiten

Interne Fähigkeiten und externe Möglichkeiten sind beim Capability-Ansatz auf zweierlei Arten miteinander verbunden: Erstens sind die Fähigkeiten, Fertigkeiten, aber auch die Interessen von Menschen als menschliche Wesen von basalen (wie Gesundheits- und Ernährungsbedürfnissen) bis zu komple-xen (wie dem Ausüben praktischer Vernunft und dem Leben in Selbstach-tung in einer Gesellschaft) an einen gemeinschaftlichen oder gesellschaftli-chen Rahmen gebunden . Zweitens hängen die Möglichkeiten und Freiheiten, die Menschen haben, Funktionen und Fähigkeiten zu erwerben, auszuüben und zu erweitern, ihrerseits von den Freiheiten ab, die ihnen andere Men-schen, Gemeinschaften, aber auch die Gesellschaft (beispielsweise über poli-tische Entscheidungen) zubilligen . Damit ist ein komplexer Wechselwir-kungsprozess zwischen Ermöglichungen von und zu Freiheit und dem Erlernen und Ausüben von Fähigkeiten in der menschlichen Entwicklung angesprochen .

Die Informationen, die der Capability-Ansatz liefert

Das, was beim Capability-Ansatz der Wertung unterliegt, sind die realisier-ten Funktionen (also das, was eine Person tatsächlich tun oder sein kann) und die Menge der Verwirklichungschancen respektive verfügbarer Alterna-tiven (ihre wirklichen Chancen) . Beide liefern unterschiedliche Arten von Informationen: im ersten über Dinge, die jemand tun und sein kann, im zweiten über Dinge, die jemand zu tun oder zu sein substanziell frei ist . Auch Chancen, die nicht ergriffen werden, können so prinzipiell bewertet werden . Der Handlungsspielraum einer Person, der sich durch die Menge an Ver-wirklichungschancen ergibt, lässt sich nicht direkt empirisch erfassen, son-

19 Dieser objektive Zug und die strukturelle Anbindung an Begründung und Vernunft sind besonders auffällig in Sens jüngster Publikation (2009) . Hier lautet die Definition von capability folgendermaßen: »A person’s capability can be characterized as well-being free-dom (reflecting the freedom to advance one’s own well-being), and agency freedom (con-cerned with the freedom to advance whatever goals and values a person has reason to ad-vance (Hervorhebung FF)« (Sen 2009, S . 288f .) .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 99

dern nur das realisierte Bündel von Funktionen . Verwirklichungschancen respektive der Handlungsspielraum werden daher immer konstruiert respek-tive geschätzt (vgl . Sen 1992, S . 52) . Die Menge an Verwirklichungschancen bestimmt sich einerseits durch die Menge an Ressourcen, die eine Person hat, andererseits auch durch die individuellen Verwendungsmöglichkeiten .

Nun ist der Capability-Ansatz aber trotz der intuitiv einleuchtenden Grundstruktur mit Schwierigkeiten konfrontiert, auf die ich im Folgenden eingehen werde .

4 .4 .2 Die Schwierigkeiten des Capability-Ansatzes

Gemeinhin werden dem Capability-Ansatz vier Punkte vorgeworfen: erstens Schwierigkeiten mit der objektiven Grundstruktur des Ansatzes, zweitens methodologische Schwierigkeiten, drittens Schwierigkeiten mit der aristote-lischen Grundstruktur, speziell dem Essentialismus und dem Perfektionis-mus, der dem aristotelischen Zugang entspricht, und viertens begriffliche Schwierigkeiten . Während ich die ersten zwei Schwierigkeiten entkräfte, hal-te ich die letzten beiden für schwerwiegende Einwände, auf die eingegangen werden muss . Ich werde anschließend eine modifizierte Version des Capabi-lity-Ansatzes verteidigen, welche die Schwächen des ursprünglichen Ansat-zes vermeiden kann . Diese Vorstellung von Wohlergehen ist dann für den weiteren Verlauf der Arbeit tragend .

Schwierigkeiten mit der objektiven Grundstruktur des Ansatzes

Die erste Kritik am Capability-Ansatz richtet sich an seine objektive Grund-struktur . In Verbindung mit einer Art epistemologischem Individualismus wird von liberaler Seite Skepsis gegenüber Theorien des Guten angebracht . Diese Skepsis besagt, dass die Güte eines Lebens vom Individuum abhängt, welches dieses Leben lebt . Daher sollte alleine das Individuum über die Qua-lität seines Lebens Auskunft geben . Diese Kritik geht also davon aus, dass ein Individuum am besten entscheiden kann, was gut ist für das eigene Leben . Eine Theorie, die objektiv vorschreibt, welche Elemente ein gutes Leben hat, ist antiliberal und setzt eine bestimmte Konzeption des guten Lebens als die richtige und wahre .

Auf diese Kritik haben Martha Nussbaum und Amartya Sen (1993) selbst drei Entgegnungen angebracht . Erstens kann der Capability-Ansatz nach

100 Inklusion und Gerechtigkeit

Ansicht der beiden Autoren mit seiner analytischen Aufteilung in Funktio-nen und Verwirklichungschancen die Gleichheit von Verwirklichungschan-cen fordern und gleichzeitig bei den Funktionen Pluralismus walten lassen . Dies tut er, indem er offen lässt, was Bürger mit ihren Verwirklichungschan-cen anfangen . Zweitens kann der Capability-Ansatz die Bedeutung basaler Verwirklichungschancen wie angemessener Ernährung, Gesundheit, Erzie-hung, sozialer Anerkennung oder politischer Partizipation betonen, ohne eine bestimmte Konzeption des Guten vorauszusetzen . Auf die Bedeutung dieser Verwirklichungschancen können sich ganz unterschiedliche Richtun-gen und Menschen einigen . Drittens müssen und können Funktionen und Verwirklichungschancen immer konkret interpretiert werden, da sie auch an kulturelle, historische und lokale Kontexte gebunden sind . Diese Kontext-sensitivität bedeutet nicht, dass die Werte selbst relativ wären . Damit respek-tiert eine objektive Theorie des guten Lebens, wie sie der Capability-Ansatz vertritt, Pluralismus in Form unterschiedlicher Vorstellungen eines guten Lebens .

Martha Nussbaum wie Amartya Sen (1993) bauen Respekt für Pluralis-mus auf verschiedene Arten in ihre Konzeption ein . Erstens, indem sie die multiple Realisierbarkeit von Funktionen betonen . Die konkrete Ausgestal-tung der jeweiligen Funktionen und Verwirklichungschancen ist dabei von kulturellen, historischen und lokalen Gegebenheiten abhängig . Zweitens, indem sie klar machen, dass die Verwirklichungschancen und nicht die Funktionen in einer Umsetzung zentral sind . Gerade in der Auslegung von Sen sind die Freiheitsaspekte besonders betont . Drittens weisen beide darauf hin, dass Werte wie Autonomie selbst universelle Werte sind . Damit etwas universell wertvoll ist, muss es aber nicht überall und von allen geschätzt werden . Behauptet wird im Capability-Ansatz nur, dass Menschen überall Gründe hätten, etwas als Wert zu sehen (vgl . Sen 1999b, S . 349) .

Methodologische Schwierigkeiten

Ein zweiter Kritikpunkt am Capability-Ansatz richtet sich an seine metho-dologische Struktur . So kann dem Ansatz beispielsweise vorgeworfen wer-den, er beschreibe die Interdependenzen zwischen verschiedenen Funktio-nen und Verwirklichungschancen nur ungenügend . Der Besitz der einen Freiheit kann die Realisierung einer anderen negativ beeinflussen oder aus-schließen . Beispielsweise kann der ärztliche Rat für einen Asthmatiker, einen Kurort in den Bergen aufzusuchen und dort zu leben, zu einem Verlust an

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 101

wertvollen Beziehungen für eine Person führen, die ihr ganzes Leben in der Großstadt verbracht und dort ein dichtes Netz an Beziehungen hat (vgl . Dietrich 2000, S . 122; Williams 2000) . Was also soll die Person nun tun? Wie sind die verschiedenen Funktionen oder Verwirklichungschancen, bei-spielsweise Freundschaften und Gesundheit, zu gewichten? Der Ansatz gibt darauf keine Antwort .

Auch stellt die Erfassung sämtlicher möglicher Verwirklichungschancen jeden, der den Ansatz operationalisieren und anwenden möchte, vor große methodologische Probleme . Verzichtet beispielsweise ein vielversprechender Jungforscher auf seine Karriere, um Zeit für seine Familie zu haben, könnte man zwar sagen, dass er zugunsten seiner Familie auf seine Karriere verzich-tet und damit die Funktion, eine Familie zu haben, zugunsten einer anderen möglichen Option gewählt hat . Vielleicht aber wäre der junge Mann auch ein erfolgreicher Schauspieler geworden (vgl . Cohen 1995) . Man weiß also, mit anderen Worten, wenig über die potenziellen, aber nicht verwirklichten Chancen und Möglichkeiten eines Menschen .

Die Kritik fehlender Operationalisierbarkeit richtet sich vor allem gegen Sens Konzeption und wird insbesondere von ökonomischer Seite (vgl . Sud-gen 1993) geübt, sie wird aber auch von Vertretern des Ansatzes als Schwie-rigkeit gesehen (vgl . Wolff und De-Shalit 2007) . Martha Nussbaum bei-spielsweise (2000, S . 13) wirft Sen vor, er sei Distributionsfragen gegenüber inhaltlich unbestimmt . Diese Unbestimmtheit stellt laut Nussbaum ein Pro-blem für Fragen von Verteilungsgerechtigkeit in der realen Welt dar . Die Gewährleistung effektiver Freiheiten müsse angesichts knapper Ressourcen mit der Verteilungsfrage verknüpft werden . Der sozialtheoretischen Frage-stellung fehle aber ohne inhaltliche Ausgestaltung ein entscheidendes Ele-ment . Angesichts von Ressourcenknappheit gelingt es nämlich nur, eine be-schränkte Anzahl von Fähigkeiten bei einer begrenzten Zahl von Individuen zu fördern (vgl . Dietrich 2000, S . 123) . Daher muss man benennen können, um welche es sich dabei handelt, und zwar hinsichtlich der Individuen, die im Fokus der Überlegungen stehen, wie auch hinsichtlich deren Fähigkeiten oder Fertigkeiten .

Sieht man den Ansatz aber als inhaltlich beschränktes Unternehmen (beispielsweise auf Fragen der Behinderung) und vor allen Dingen als Heu-ristik oder methodologisches Werkzeug, dann können sich die vermeintli-chen Schwächen des Ansatzes aber auch als Stärken herausstellen . Denn be-grenzt man die in Frage kommenden capabilities oder Verwirklichungs- chancen auf bestimmte, begründete und realiter erreichbare Möglichkeiten,

102 Inklusion und Gerechtigkeit

dann erlaubt der Ansatz ein realistisches Betrachten der capabilities oder Möglichkeiten in Bezug zu aktual vorhandenen functionings oder Funktio-nen . Der Betrachtungsfokus liegt nämlich so auf der Lücke zwischen mögli-chen und tatsächlichen Zuständen, Fertigkeiten oder Fähigkeiten, eine gera-de für sonderpädagogische Belange hilfreiche Betrachtungsweise der lebensweltlichen Probleme behinderter Menschen bezüglich Zugehörigkeit und Teilhabe . Und selbstverständlich kann man auch zugestehen, dass es insbesondere in der Arbeit und Begegnung mit Menschen mit Behinderung gefährlich ist, diesen Bereich des Möglichen, des Begründeten, der erreich-baren Chancen eng zu fassen und tendenziell diskriminierenden oder abwer-tenden Beschränkungen zu unterliegen . Die gerade in der Arbeit mit Men-schen in Abhängigkeitsverhältnissen vorhandene Machtdimension muss denn auch immer wieder kritisch hinsichtlich ihrer freiheitseinschränkenden Wirkung befragt werden .

Schwierigkeiten mit der aristotelischen Grundstruktur

Eine weitere Kritik, welche sich an die Kritik an der objektiven Grundstruk-tur anschließt, aber spezifisch an den – vor allen Dingen von Nussbaum vertretenen – Aristotelismus richtet, fokussiert auf die Grundlagen des Capa-bility-Ansatzes, welche essentialistisch und perfektionistisch seien (vgl . Gose-path 1998, S . 187f .) . Die Kritik geht dahin, dass insbesondere essentialisti-sche Aussagen oder Stoßrichtungen entweder umstritten oder trivial seien . Trivial seien sie, wenn sie Bezug auf eine geteilte Bedürfnisstruktur des Men-schen nehmen würden, darüber hinausgehend umstritten, weil sie nicht mehr von allen Menschen mit guten Gründen geteilt werden könnten oder sich auf einen metaphysischen Realismus bezögen .

Diese häufig geäußerte Kritik lässt sich allerdings meiner Ansicht nach in ihrer Pauschalität nicht halten . So kann man zwar mit Gosepath durchaus der Ansicht sein, dass Hinweise auf die universelle Bedürfnisstruktur des Menschen trivial seien, sie müssen deswegen aber nicht gehaltlos sein . Gera-de weil nämlich bestimmte Bedürfnisse auf den ersten Blick grundlegend und daher nicht erwähnenswert erscheinen, sind Missachtungen, beispiels-weise in Form eines Vorenthaltens von oder einer Nichtversorgung mit zen-tralen Gütern zu ihrer Befriedigung, schwerwiegend . Rückgriffe auf die uni-verselle Bedürfnisnatur des Menschen sind also nur scheinbar trivial . In Wahrheit sind sie respektive ihre Befriedigung so grundlegend, dass sie oft nicht mehr erwähnenswert erscheinen . Dass zumindest einige Bedürfnisse

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 103

auch umstritten sind, zeigt zudem nur, dass sich die Inhalte und die Art der Befriedigung derselben nur über Kämpfe gewinnen lassen (vgl . Schramme 2006, S . 225) .

In der Kritik am Capability-Ansatz muss daher zwischen der berechtig-ten Kritik an essentialistischen Annahmen und nicht berechtigter Kritik an einer schwach perfektionistischen Auslegung unterschieden werden . Denn erst in einer stark essentialistischen Auslegung wird der Capability-Ansatz, zumindest aus moderner, liberaler Sichtweise unplausibel . Dies vor allem aus folgendem Grund: Aristoteles, auf den sich Martha Nussbaum (1990) be-zieht, ging davon aus, dass jedes Wesen und jeder Gegenstand ein ergon hat, einen bestimmten Zweck, nach dem dieses streben würde . Ein Messer bei-spielsweise hat das ergon zu schneiden . Sein Zweck liegt darin, schneiden zu können (vgl . Aristoteles 1969, Buch I) .

Nun mag die Frage nach dem ergon eines Messers noch vergleichsweise trivial sein, die Beantwortung der Frage nach dem ergon des Menschen aber gestaltet sich schwierig und führt zu antiliberalen Folgerungen, die zudem gerade in Bezug auf Menschen mit Behinderung fatale Folgen haben kön-nen . Denn es ist beispielsweise offen, was mit denjenigen Wesen geschieht, welche die Erfüllung des ergons nicht erreichen .

Insbesondere Martha Nussbaum (1992) hat in ihren Publikationen das Problem des Essentialismus thematisiert und sich für bestimmte Annahmen über die menschliche Bedürfnisnatur ausgesprochen, die Hilary Putnam (1980, S .  80; 1992, S .  30ff .) als ›internen Realismus‹ bezeichnet . Putnam spricht sich gegen einen metaphysischen Realismus aus, insbesondere die Annahme desselben, dass es genau eine wahre und vollständige Beschreibung des Seins in der Welt gäbe . Er postuliert demgegenüber, dass es möglich sei, Aussagen über die menschliche Bedürfnisnatur zu machen, die zwar kultu-rell geprägt seien, aber in ihrem Kern dennoch kulturell unabhängig . Die essentialistischen Aussagen einer Theorie des guten Lebens müssen sich da-her auf die Ebene der menschlichen Grundbedürfnisse beschränken . Ob eine solche Theorie aber noch als essentialistisch bezeichnet werden kann, ist fraglich, denn ein Essentialismus behauptet ja im Kern, der Mensch habe eine Zweckbestimmung, ein ergon .

Die Kritik am Capability-Ansatz greift nun nicht gleichermaßen bei der perfektionistischen Ausrichtung des Ansatzes . Hier zeigt sich, dass zumin-dest eine schwache – oder in Thomas Schrammes Worten20 negative – Ausle-gung unverzichtbar und auch plausibel ist . Der negative Perfektionismus

20 Für diese wichtige Klärung bedanke ich mich bei Thomas Schramme .

104 Inklusion und Gerechtigkeit

stellt die Frage ins Zentrum, was ein schlechtes Leben sei . Er geht damit von der Grundannahme aus, dass vor allen Dingen vermieden werden muss, dass Menschen ein schlechtes Leben führen, während über sicherlich weiterfüh-rende Forderungen eines guten Lebens Dissens bestehen kann . Ein schlech-tes Leben ist nicht nur eines, in welchem bestimmte menschliche Grundbe-dürfnisse nicht gedeckt sind, sondern auch eines, in dem Menschen keine Pläne und Ziele verfolgen können, weil ihnen die Verwirklichungschancen dazu fehlen . Damit weist dieser Ansatz auf die Minimalbedingungen eines gelingenden Lebens hin und bestimmt diese in einem übergreifenden Ver-ständnis des Menschen als entwicklungsfähiges Wesen, dessen Grundlagen der Selbstentwicklung nicht geschädigt werden dürfen . Ein solcher Ansatz ist konsensunabhängig respektive objektiv, da die Bedeutung solcher Ent-wicklungsbedingungen von allen anerkannt werden kann .

Die Notwendigkeit zumindest schwacher perfektionistischer Annahmen zeigt sich insbesondere in der pädagogischen Ausrichtung respektive in der Anwendung der Frage nach der Gestalt und dem Inhalt menschlichen Wohl-ergehens . Denn ein perfektionistischer Ansatz ist immer auch prospektiv . Das heißt, er nimmt Ziele menschlicher Entwicklung in den Fokus (vgl . Jentsch 2010, S . 782) . Eine solche Fokussierung ist pädagogischen Theorien nicht nur nicht fremd (vgl . Hanselmann 1941), es setzt sie geradezu voraus, denn Bildung und Erziehung setzen einerseits an bestimmten anthropologi-schen Grundannahmen an und sind andererseits selbst zielorientiert . Damit ergibt sich ein – wenn auch schwacher – pädagogischer Perfektionismus zwangsläufig .

Die berechtigte Kritik an einer essentialistischen Auslegung des Capabi-lity-Ansatzes führt also zur Einsicht, dass nur eine schwache perfektionisti-sche Grundstruktur behalten werden darf, welche Ziele und Güter impli-ziert, die Menschen nicht vorenthalten werden dürfen . Damit vermeidet man eine unplausible Auslegung des essentialistischen Aristotelismus respek-tive des metaphysischen Realismus . Eine überzeugende Auslegung des Capa-bility-Ansatzes trifft daher zwar Annahmen bezüglich einer universalistischen Bedürfnisstruktur des Menschen und nimmt einen schwach perfektionalisti-schen Zug an, vermeidet aber einen Essentialismus in starker Form .

Begriffliche Schwierigkeiten

Die begrifflichen Schwierigkeiten des Ansatzes, welche wiederum konzepti-onelle Probleme auslösen, beruhen auf der Verwendung des Begriffes capabi-

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 105

lity in seiner englischsprachigen Originalversion . Erstens stützt sich dieser nämlich auf die alltagssprachliche Verwendung von capability (auf Deutsch: Fähigkeit), weicht dann aber im Gebrauch innerhalb der theoretischen Kon-zeption von diesem Alltagsverständnis deutlich ab . Damit verändert sich die Bedeutung des Begriffs gegenüber der Alltagsverwendung . Diese Verände-rung kann in einer deutschen Übersetzung durch den Kunstbegriff Verwirk-lichungschancen gut gekennzeichnet werden . In der englischen Originalfas-sung aber wird die Doppeldeutigkeit beibehalten . Damit wird einer sehr heterogenen, uneinheitlichen Verwendung des Konzepts, auch bei seinen zwei Hauptvertretern Martha Nussbaum und Amartya Sen, Vorschub geleis-tet .21 Denn beide Vertreter sind in der Verwendung der Begriffe inkonsistent und tragen die inhärente Doppeldeutigkeit gegenüber der Alltagsverwen-dung weiter, statt sie begrifflich zu klären .

So zeigt eine Analyse, dass Nussbaum wie Sen drei verschiedene Bedeu-tungen von capability verwenden: capability als Fähigkeit22, capability als Po-tential23 und capability in einem aristotelischen Verständnis als ergon oder Funktion .24 Diese unterschiedlichen Verständnisse werden meistens durch einen Freiheitsaspekt ergänzt, der wiederum sehr unterschiedlich akzentuiert sein kann . So spricht Sen in der Umschreibung von capabilities abwechs-lungsweise von »social opportunities« oder sozialen Möglichkeiten (1993, S . 33), »choice« oder Wahl (ebd ., S . 31), »freedom to choose a certain lifestyle« oder Freiheit einen bestimmten Lebensstil zu wählen (1999a, S . 75), »real opportunities« oder echten Möglichkeiten (2009, S . 231) sowie »actual free-dom« oder aktueller Freiheit (1990, S . 114) . In der Folge ergeben sich grund-sätzlich viele verschiedene Möglichkeiten, capability zu definieren . Die ge-naue Begriffsverwendung respektive das damit verbundene Konzept bleiben damit diffus .

Im Folgenden möchte ich für eine komplexere, aber auch genauere Ver-wendungsweise von capabilities oder Verwirklichungschancen plädieren . Diese beruht auf einem Vorschlag von Jonathan Wolff und Avner De-Shalit

21 Teilweise werden die beiden Termini auch verwechselt . So schreibt Martha Nussbaum beispielsweise an einer Stelle in ihrem Buch Women and Human Development (2000, S . 5), Verwirklichungschancen oder capabilities bezeichneten das, »what people are actually able to do and be .« Diese Definition ist aber diejenige von Funktionen oder functionings .

22 Beispielsweise in Sen (1993, S . 30 und 33) . 23 Dies wird sichtbar in Nussbaums Verständnis von basic capabilities (vgl . Nussbaum 2000,

S . 84) . Sen vertritt diese Sichtweise nicht . 24 Dies wird vor allem in Nussbaums Ausführungen zu den aristotelischen Grundlagen des

Ansatzes deutlich (vgl . beispielsweise Nussbaum 1990) .

106 Inklusion und Gerechtigkeit

(2007; Wolff 2009), die von genuine opportunities for secure functioning spre-chen, also substanziellen Möglichkeiten, sichere Funktionen oder Fähigkei-ten erreichen zu können .

4 .4 .3 Ein modifizierter Capability-Ansatz

Der modifizierte Ansatz geht von folgenden Annahmen aus: Die Möglich-keiten, die ein Mensch in seinem Leben hat, sind von drei verschiedenen Faktoren abhängig – internen Ressourcen (oder internen Vermögen und Fä-higkeiten), externen Ressourcen (Gütern im umgangssprachlichen Sinn) so-wie der sozialen, kulturellen und materiellen Struktur der Gesellschaft, in der sich dieser Mensch befindet (vgl . Wolff 2009) . Eine Behinderung, wie ich sie im Wohlergehensmodell entwickelt habe, bedeutet erstens eine Schä-digung der internen Ressourcen respektive der Körperfunktionen und Kör-perstrukturen, die zu Beeinträchtigungen der Partizipation und Aktivität führen können, zweitens – hinzukommend – fehlende oder inadäquate Möglichkeiten (Umstände), die drittens in der Folge zu einer Reduktion des objektiven Wohlergehens führen . Fehlende oder geschädigte interne Res-sourcen in Verbindung mit inadäquaten oder fehlenden externen Ressourcen und mangelhaften beziehungsweise fehlenden Strukturen behindern das Le-ben dieser Menschen und können zu einer Reduktion ihres Wohlergehens führen .

Der Capability-Ansatz ermöglicht nun eine Analyse des Wohlergehens, einerseits in Hinblick auf die Verwirklichungschancen oder Freiheitsgrade von Menschen, andererseits dahingehend, was sie tun und sein können, ih-ren Funktionen . Besonders der Frage, welche Möglichkeiten oder Chancen respektive welche substanziellen Freiheiten Menschen haben, kommt dabei eine große Bedeutung zu . Was an dieser Stelle interessiert, sind nämlich die wirklichen, genuinen Möglichkeiten, nicht bloß die formalen (vgl . Wolff 2009, S . 119) . Dahingehend, die substanziellen Freiheiten von Menschen zu betonen, muss der Capability-Ansatz also erstens revidiert werden . Freiheit wird damit an eine objektive Theorie des guten Lebens gebunden . Im Blick-winkel ist die Vermeidung von Leiden, die mit der Nichterfüllung von sub-stanziellen Freiheiten zwangsläufig einhergeht .

Zweitens muss der Capability-Ansatz noch in anderer Hinsicht revidiert werden . Um nämlich zu sehen, welches die wirklichen, genuinen Möglich-keiten von Menschen sind, muss man auch verstehen, welchen Risiken Men-

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 107

schen ausgesetzt sein können . Nach Wolff und De-Shalit (2007) können drei verschiedene Arten von Risiken unterschieden werden: Risiken spezifi-scher Funktionen, Übertragungsrisiken (cross-category risks) sowie umgekehr-te Übertragungsrisiken (inverse-cross-category risks). Die Risiken und ihre Bedeutung für das Leben von Menschen mit Behinderung können exempla-risch aufgezeigt werden .25

Risiken spezifischer Funktionen

Menschen mit Behinderung haben erstens Risiken spezifischer Funktionen, beispielsweise das Risiko, dass sich ihr Zustand verschlechtert oder dass neue Komplikationen bei ihren Schädigungen hinzukommen .26 Dieses Risiko ist bedeutend höher als bei nicht behinderten Menschen, einerseits, weil bereits eine Schädigung vorhanden ist, andererseits, weil viele Krankheiten und Be-hinderungen chronisch sind und die Möglichkeit der Verschlechterung des Gesundheitszustandes in sich bergen .

Übertragungsrisiken

Zweitens sind Menschen mit Behinderung Veränderungen in der Umwelt stärker ausgesetzt als nicht behinderte Menschen . So schildert Anita Silvers (1998, S . 107ff .), dass die Umstellung von Microsoft von DOS auf Windows für viele blinde Menschen bedeutete, dass sie nicht mehr mit dem Computer arbeiten konnten, zumindest so lange nicht, bis blindengerechte Vorlesesys-

25 Die Risiken, dass Menschen, die bereits gefährdet sind oder die bereits wenig haben, ten-denziell stärker weiteren Gefährdungen ausgesetzt sind, ist auch unter dem Namen Matil-da-Effekt bekannt (vgl . Rossiter 1993) . Menschen, die über einen eingeschränkten Zugang zu Fähigkeiten verfügen, sind sozial verwundbar . Arbeitslose Menschen beispielsweise bauen oft auch aus dem Grund Fähigkeiten ab, weil ihre Identität beschädigt ist und sie die (nicht nur äußeren, sondern auch inneren) Voraussetzungen zur Kultivierung und dem Erhalt von Fähigkeiten nicht mehr mitbringen . Der Matilda-Effekt kann zudem stärker da einsetzen, wo Menschen bereits gesellschaftlich unter Einschränkungen sozialer Wert-schätzung leiden, wie dies bei behinderten Menschen oft der Fall ist (vgl . Sedmak 2011, S . 33) .

26 So sind beispielsweise Tom Shakespeares Rückenschmerzen Folge seiner Schädigung des Erbguts, die das Knochenwachstum behindert . N .Es Verhaltens- und Konzentrationspro-bleme sind Folgen ihrer schweren Schädel-Hirn-Verletzung .

108 Inklusion und Gerechtigkeit

teme entwickelt wurden . Risiken können sich also von einem Bereich (Tech-nik) auf andere Bereiche übertragen (Arbeit) und sich auch verstärken .

Besonders auf die spezifischen Verstärkungsprozesse bei Behinderung weisen zahlreiche Studien hin . So haben Menschen mit Behinderung ein deutlich höheres Risiko, arm zu werden, ihre Arbeit zu verlieren oder Opfer von Gewalt zu werden . Dabei sind die Beziehungen äußerst komplex, wie an einigen Studien exemplarisch gezeigt werden kann: Beispielsweise kann Ar-mut eine Ursache von Behinderung, aber auch umgekehrt Behinderungen eine Ursache von Armut sein . Einerseits kann Armut eine Ursache von Be-hinderung sein, weil arme Menschen einer Reihe von schädlichen Umwelt-faktoren und psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind, denen Menschen, die nicht arm sind, nicht ausgesetzt sind . Armut ist zudem ein Risikofaktor für Frühgeburten sowie geringes Geburtsgewicht . Diese stellen ihrerseits wiederum Risikofaktoren für Behinderungen dar . Andererseits führt die Hil-fe für und Pflege eines Angehörigen mit Behinderung zu unterschiedlichen Kosten für die Familien (vgl . Emerson 2007) . Zu Armut können erstens die direkten Kosten für Rehabilitationen, Therapien, Hilfsmittel, Transport und Reisen führen . Zweitens entstehen indirekte Kosten für diejenigen, welche nicht direkt betroffen sind, in der Regel Angehörige . Diese meist weiblichen Angehörigen erleben nicht selten aufgrund der Zeit, welche die Pflege und Betreuung ihres Familienmitgliedes in Anspruch nimmt, Ausschluss aus dem oder zumindest Reduktion des Erwerbslebens . Drittens können auch Op-portunitätskosten wegen des Einkommensverlustes aufgrund der Behinde-rung zu Armut führen (vgl . Department for International Development 2000; Emerson 2007) . Menschen mit Behinderung sind damit nicht nur häufiger von Armut betroffen, weil sie weniger oft Arbeit haben, ihr Bedarf an materiellen und anderen Ressourcen ist zudem auch größer als der von nicht behinderten Menschen . Dies, weil Menschen mit Behinderung mehr Ressourcen und Hilfe benötigen, um denselben Lebensstandard zu erreichen wie Menschen ohne Behinderung . Von diesen Faktoren betroffen sind, wie bereits erwähnt, in der Regel auch Angehörige, da sie Hilfe, Zeit und andere Ressourcen aufwenden, um ihren Familienmitgliedern ein gutes Leben zu ermöglichen .

Die sich wechselseitig verstärkenden Faktoren sozialen Ausschlusses zei-gen sich auch im Arbeitsmarkt . In einer Studie mit 2000 Befragten mit Be-hinderung führte über ein Viertel der Befragten, die ihre Arbeit aufgrund der Behinderung verloren hatten, aus, es wäre für sie möglich gewesen, ihre Ar-beit behalten und weiterhin ausführen zu können, wenn Anpassungen am

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 109

Arbeitsplatz vorgenommen worden wären . Weniger als ein Fünftel der Be-fragten aber gab an, dass ihnen ein solches Angebot für Anpassungen ge-macht worden wäre (vgl . Meager et al . 1998) . In derselben Studie sagten 16% der arbeitslosen Befragten mit Behinderung, sie hätten Diskriminierungen und unfaire Behandlungen am Arbeitsplatz erlebt . Die häufigsten Formen unfairer Behandlung waren dabei: die Vorannahme, sie könnten die Arbeit weniger gut als eine Person ohne Behinderung erledigen sowie eine starke Fokussierung auf die Beeinträchtigung statt auf die Fähigkeiten der Person .

Bereits eine Arbeit zu finden ist für Menschen mit Behinderung schwie-riger als für nicht behinderte Menschen . Ein Drittel aller, die eine Arbeit finden, so eine britische Studie, verliert sie im selben oder folgenden Jahr wieder (vgl . Burchardt 2000b) . Zwar sind die personellen und arbeitscharak-teristischen Merkmale ähnlich wie bei anderen marginalisierten Gruppen, sie treten aber bei Menschen mit Behinderung schärfer zu Tage . Letztere verlieren ihre Arbeit schneller und haben größere Mühe, neue Arbeit zu fin-den . Eine ebenfalls von Tania Burchardt (2005) in Großbritannien durchge-führte Studie zeigte, dass Jugendliche mit wie ohne Behinderung im Allge-meinen sehr ähnliche Erwartungen betreffend Berufsvorstellungen und -aussichten äußerten . Bei beiden Gruppen waren diese Wünsche stark beein-flusst durch den Bildungs- und Klassenhintergrund der Eltern . Mit 26 aber waren die jungen Erwachsenen mit Behinderung viermal häufiger arbeitslos als ihre nicht beeinträchtigten Altersgenossen . 39% der Menschen mit Be-hinderung waren unterhalb des Levels, den sie zehn Jahre zuvor angestrebt hatten, verglichen mit 28% der nicht behinderten jungen Erwachsenen . Der Einfluss dieser frustrierten Erwartungen war dabei signifikant: Die jungen Menschen mit Behinderung hatten weniger Vertrauen in die eigene Leis-tung, waren häufiger krank, hatten ein geringeres subjektives Wohlbefinden und weniger Glauben an die Möglichkeiten, im Leben etwas selbst bestim-men zu können .

Zahlen aus Deutschland (sowie anderen westeuropäischen Ländern) zeichnen ebenfalls ein düsteres Bild, was die Eingliederung behinderter Menschen in die Arbeitwelt betrifft . Trotz der gesetzlichen Beschäftigungs-pflicht ging in Deutschland die Beschäftigungsquote behinderter Menschen von den 1980-er Jahren bis ins Jahr 2000 stetig zurück . Heute ist die Arbeits-losenquote schwer behinderter Erwerbspersonen in Deutschland etwa dop-pelt so hoch wie diejenige nicht behinderter Erwerbspersonen . Das größte Risiko, keine Arbeit zu finden, haben Menschen mit kognitiven Behinde-

110 Inklusion und Gerechtigkeit

rungen, psychisch Kranke und Menschen mit schweren mehrfachen Behin-derungen (vgl . Maschke 2003, S . 169) .

Das Risiko einer Gefährdung oder des Verlusts einer bestimmten Funk-tion springt dabei, wie die Studien zeigen, auf andere Funktionen über und gefährdet diese ebenfalls . Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine bestehende Beeinträchtigung das Risiko ansteigen lässt, arm zu werden . In der Folge sind nicht nur Körperfunktionen und -strukturen gefährdet, son-dern auch die materielle Sicherheit .

Umgekehrte Übertragungsrisiken

Drittens können die Bemühungen, eine Funktion zu sichern, eine andere gefährden . Eine Person, die sich tagtäglich den Diskriminierungen am Ar-beitsplatz aussetzt, riskiert psychische Folgen, die sie vermeiden könnte, wenn sie zu Hause bliebe . Diejenigen, welche sich in der Verrichtung der alltäglichen Arbeiten von anderen abhängig machen, riskieren die Möglich-keit, ausgenützt zu werden . In Tom Shakespeares Fall gefährdet das ständige Anstarren und Auslachen durch andere Menschen sein psychisches Wohlbe-finden . Dieser Gefährdung kann er sich entziehen, indem er zu gewissen Zeiten nicht aus dem Haus geht . Dies aber bedeutet eine Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit .

Der Fokus der Bemühungen um Verwirklichungschancen

Man weiß also erst dann, welches die wirklichen, genuinen Möglichkeiten von Menschen sind, wenn man auf die Kosten schaut, welche Menschen auf-grund des Wählens haben . Diese Kosten sind die Risiken . Genuine Möglich-keiten für sichere Funktionen sind somit solche, bei denen Menschen kei-nem außergewöhnlichen Risiko im Erwerb oder der Ausübung bestimmter Funktionen ausgesetzt sind . Genau darauf sollte das geschärfte Konzept von Verwirklichungschancen fokussieren .

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 111

4 .5 Fazit

Das Kapitel hat die sich bereits im dritten Kapitel abzeichnende Feststellung, dass die Problematik von Behinderung in der Reduktion von objektivem Wohlergehen und nicht subjektivem Wohlbefinden liegt, geschärft, vertieft und begründet . Der Begründungsweg hat mich dabei über die Ablehnung von hedonistischer Theorie und Wunschtheorie des guten Lebens hin zu ei-ner objektiven Theorie geführt . Als bestimmte Auslegung einer solchen ob-jektiven Theorie kann der Capability-Ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum gesehen werden . Dieser sieht in den Verwirklichungschancen, den capabilities, die Freiheiten von Menschen, dasjenige Leben zu wählen, das sie mit guten Gründen verfolgen möchten . Der objektive Zug der Theo-rie besteht in den Gründen, die man für den Vorzug einer bestimmten Lebensweise anbringen kann . Mit Hilfe der Verwirklichungschancenorien-tierung gerät die Handlungsfreiheit von Menschen ins Zentrum der Über-legungen . Dies ist insbesondere bei Menschen mit Behinderung wichtig, welche oft unter Einschränkungen ihrer Selbstbestimmung leiden . Eine Ein-schränkung zeigt sich beispielsweise daran, dass ihre Bedürfnisse zwar ge-deckt sein können, sie aber aufgrund fehlender Freiheiten darin einge-schränkt sind, eigene Pläne und Ziele zu entwickeln und umzusetzen .

Berechtigte Kritik am Capability-Ansatz hat weiter gezeigt, dass nur eine Auslegung, welche einen Essentialismus weitgehend vermeidet, nur schwach perfektionistisch argumentiert und deren Verständnis des Begriffs capability geschärft werden kann, plausibel ist . Die Kritik, wonach der Ansatz auf-grund seiner Objektivität abzulehnen sei, kann aber mit guten Gründen wi-derlegt werden . Der Ansatz kann nämlich Pluralismus in seiner Auslegung zugestehen . Er kann auch offen lassen, was Menschen mit ihren Verwirkli-chungschancen tatsächlich anfangen, und er kann historisch und kulturell sensitiv interpretiert werden . Auch die methodologischen Schwierigkeiten können beseitigt werden, solange man den Ansatz als methodologische Heu-ristik und nicht als Rezeptbuchsammlung versteht .

Der modifizierte Capability-Ansatz, welcher auf die begründete Kritik antwortet, grenzt die Verwirklichungschancen auf substanzielle ein, die ge-messen werden an Vorstellungen menschlichen Leidens . Nach dem ange-passten Ansatz müssen vor allen Dingen drei Risiken vermieden werden: erstens Risiken, die in bestimmten Schädigungen und Beeinträchtigungen selbst liegen . Zweitens müssen Risiken vermieden werden, die man als Über-tragungsrisiken von bestimmten Funktionen auf andere verstehen kann .

112 Inklusion und Gerechtigkeit

Diese können, und das kennzeichnet ein drittes Risiko, auch umgekehrt ver-laufen . Menschen mit Behinderung, so zeigen empirische Studien, leiden unter allen drei Risikoprozessen stärker und in anderer Form als Menschen ohne Behinderung .

Menschen mit Behinderung leiden, und das ist im Kern ihre Behinde-rung, an einer Reduktion des (objektiven) Wohlergehens . Es ist aber an die-ser Stelle wichtig zu betonen, dass das nun nicht bedeutet, dass Wohlergehen gesamthaft für behinderte Menschen reduziert wäre oder dass Wohlergehen gar nicht mehr möglich wäre . Es heißt somit beispielsweise nicht, dass ihr Leben nutzlos wäre, im Gegenteil . Ein Leid fällt aber auch nicht einfach weg, wenn es einem in vielen Hinsichten gut geht (vgl . Schramme 2003a, S . 188) . Leiden und damit die Reduktion des Wohlergehens kann vielmehr partiku-lar sein und nur bestimmte objektiv wichtige Aspekte des menschlichen Le-bens betreffen – beispielsweise Kommunikation, Mobilität oder Wahrneh-mungsfähigkeit – es ist aber nichts desto trotz ein Leid, das es ernst zu nehmen und zu bekämpfen gilt .

Mit diesen Überlegungen ist der Grundstein für das eigentliche Haupt-stück der Arbeit gelegt . Der begriffliche Werkzeugkasten, der dafür notwen-dig ist, ist vorhanden . Ich habe im Zuge meiner Überlegungen geklärt, was ein moralisches Recht ist, was die normative Problematik an einer Behinde-rung ist und was man unter menschlichem Wohlergehen verstehen soll . Be-vor ich zum zweiten Teil der Arbeit übergehe, welcher die Struktur und die normative Relevanz von Inklusion zum Inhalt hat, möchte ich noch einmal den bisherigen Erkenntnisstand zusammenfassen .

Die formalen Überlegungen zum Begriff und der Struktur von morali-schen Rechten haben gezeigt, dass mit Rechten wichtige Interessen von Menschen respektive menschliches Wohlergehen geschützt werden . Diese Interessen umfassen einerseits menschliche Bedürfnisse, andererseits Pläne und Ziele von Menschen . Das dritte Kapitel hat gezeigt, dass die normative Problematik, der Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind, darin besteht, dass ihr Wohlergehen gefährdet ist . Der Capability Ansatz hat diese Aus-gangslage nochmals geschärft . Was also im Zentrum steht, ist die Gefähr-dung der Deckung von Bedürfnissen und damit menschlicher, universell geteilter Grundvoraussetzungen für menschliches Leben . Und zweitens sind auch Pläne und Ziele – und damit freiheitsrelevante Aspekte des menschli-chen Lebens – gefährdet . Insbesondere Menschen mit Behinderung sind hier diversen Risiken ausgesetzt . Unter anderem ist dies deshalb der Fall, weil ihnen interne Ressourcen, externe Ressourcen und/oder soziale, kulturelle

Mögliche Antworten auf die Frage nach dem guten Leben 113

oder materielle Strukturen fehlen, die sie für ihr Wohlergehen benötigen würden .

Die Herausforderung des zweiten Teils der Arbeit liegt darin, aufzuzei-gen, in welcher Verbindung diese Risiken zu Inklusion stehen . Zuerst aber gilt es, den Inklusionsbegriff zu klären (Kapitel 5) . In der Frage der normati-ven Relevanz von Inklusion (Kapitel 6) werden dann die Fäden, die ich bis dahin zu stricken begonnen habe, wieder aufgenommen und weiter getra-gen .

Teil II: Inklusion

Einleitung

Der zweite Teil der Arbeit widmet sich dem Konzept von Inklusion . In der Ausführung trenne ich die Struktur von Inklusion (Kapitel 5) von ihrer nor-mativen Relevanz (Kapitel 6) . Die Trennung der deskriptiven von der nor-mativen Ebene hat neben der Reduktion von Komplexität vor allem den Vorteil, dass es so möglich ist, in der normativen Analyse Rückgriff auf die Struktur zu nehmen .

Die Trennung ist im Besonderen bei sogenannt dicken moralischen Be-griffen wie Inklusion wichtig . Solche Begriffe haben sowohl deskriptiven wie auch normativen Gehalt . Exemplarisch lässt sich die Bedeutung dieser Tren-nung am Aspekt der Anerkennung als Element von Inklusion zeigen . Aner-kennung kann als soziale Reaktion auf individuelle Zugehörigkeitsgefühle sowohl deskriptiv als auch normativ verstanden werden . In einem deskripti-ven Sinn meint sie Identifikation, in einem normativen Sinn recognition .1 Mit Identifikation ist zunächst nur gemeint, dass man jemanden als zu einer Gemeinschaft zugehörig identifiziert, ohne allerdings – wie bei Anerken-nung im Sinne von recognition – diese Zugehörigkeit moralisch zu bewerten . Das erste, Identifikation, ist zweifelsohne Voraussetzung für das zweite, die eigentliche normative Anerkennung, welche meint, dass eine Person nicht nur als etwas erkannt, sondern auch an-erkannt, das heißt positiv bestätigt wird .2

1 Da die deutsche Sprache nur einen Begriff kennt, der sowohl die deskriptive wie auch die normative Verwendungsweise abdeckt, nämlich Anerkennung, benutze ich zur Kenn-zeichnung des normativen Gehalts an dieser Stelle den englischen Begriff recognition .

2 Eine moralische Bewertung, die über Identifikation hinausgeht, könnte die Legitimität der Zugehörigkeit oder die Legitimität der Kriterien zur Zugehörigkeit umfassen .

118 Inklusiion und Gerechtigkeit

Vorgehen

Die nächsten beiden Kapitel nehmen in ihren Ausgangspunkt in Annah-men, die ich anschließend unter Berücksichtigung verschiedener theoreti-scher Ansätze ausführe . Damit wähle ich ein anderes Vorgehen als in den letzten Kapiteln, das sich vorwiegend direkt an Theorien und Debatten ori-entierte . So galt es beispielsweise bei der Frage danach, was man unter Behin-derung in normativem Sinn verstehen soll, die gängigen Diskussionen um medizinische und soziale Modelle zu untersuchen . Diese führten von der Feststellung, dass beide Zugänge für den vorliegenden Zusammenhang un-genügend sind, hin zur Entwicklung eines an die ICF angelehnten normati-ven Wohlergehensmodells von Behinderung .

Ein Vorgehen anhand bereits bestehender Diskursstränge ist aber in der Analyse der Struktur und der normativen Relevanz von Inklusion nicht mit diesem direkten Zugang möglich . Dies, weil sich in den in Frage kommen-den Disziplinen, insbesondere der Sonderpädagogik, bislang keine relevante Diskussion zur Struktur und zum normativen Gehalt von Inklusion gebildet hat, die der Analyse des Begriffs besondere Beachtung hätte zukommen las-sen .3

Für die vorliegende Arbeit gewinnbringende Zugänge zum Konzept und zur normativen Bedeutung von Inklusion finden sich aber in zwei anderen Disziplinen, der Soziologie und der Philosophie . Beide Disziplinen legen dabei ein unterschiedliches Schwergewicht, das mit ihren Ausrichtungen zu tun hat . Während sich die Soziologie vor allen Dingen als deskriptiv-be-schreibende Wissenschaft versteht, wählt die Philosophie, insbesondere die Ethik als Teildisziplin der Philosophie, oft eine normative Herangehenswei-se . Beide Zugänge sind für den vorliegenden Zusammenhang brauchbar, allerdings auch mit Schwierigkeiten verbunden .

Der philosophische Zugang verwendet das Konzept von Inklusion meist nur implizit, in Verbindung mit anderen Werten, deren normative Gehalte

3 Damit setze ich zweifelsohne eine sehr hohe Messlatte in punkto Begründung der Struktur und der normativen Relevanz von Inklusion . Es ist ja beispielsweise nicht so, dass in der sonderpädagogischen Debatte Inklusion nicht definiert würde . Meist aber stellen die De-finitionen – intuitiv einsichtige – Annahmen dar und werden nicht weiter begründet . In-klusion ist in der Sonderpädagogik mittlerweile ein konsensueller Containerbegriff und als solcher oft auch unhinterfragt . Insbesondere werden die Definitionen von Inklusion nicht auf ihre normativen Konsequenzen hin befragt . Die kategoriale Analyse, darunter auch die Herleitung der normativen Implikationen des Begriffs, steht aber im Folgenden im Zent-rum .

Inklusion: Einleitung 119

die Autoren eruieren möchten . Anders als bei anderen dicken moralischen Begriffen wird aber der deskriptive Gehalt von Inklusion selbst selten offen gelegt .4 In der Soziologie wiederum ist es umgekehrt . Zwar wird der deskrip-tiven und vor allen Dingen empirischen Dimension von Inklusion viel Raum gewidmet, die normative Relevanz von Inklusion aber ist nicht – oder zu-mindest nicht direkt – Gegenstand soziologischer Untersuchungen .

Der Inklusionsbegriff in der Philosophie

Ist in philosophischen Zusammenhängen von Inklusion die Rede, werden die Struktur und die Relevanz des Konzepts meist erst durch die Bezüge zu anderen Konzepten, beispielsweise Anerkennung, Gleichheit oder Freiheit, deutlich . Dies ist zwar bei dicken moralischen Begriffen, wie es Inklusion zweifelsohne darstellt, üblich . Das Problem ist daher nicht, dass die norma-tive Relevanz von Inklusion nur indirekt ersichtlich wird . Das Problem ist vielmehr, dass der Begriff und die Struktur von Inklusion – und damit die deskriptive Dimension des Konzepts – unterbeleuchtet bleiben .

Ein gutes Beispiel für einen solchen impliziten Zugang zu Inklusion ist die Monografie Deprivation and Freedom von Richard Hull (2007) . Darin argumentiert Hull, dass das Problem mangelnder Inklusion für viele Men-schen darin besteht, dass sie keinen effektiven Gebrauch ihrer theoretisch zugesicherten Freiheit machen können . Dies geschieht nach Ansicht von Hull beispielsweise dadurch, dass ihnen der Zugang zu bestimmten Gütern faktisch verwehrt bleibt, obwohl sie theoretisch die Freiheit dazu genießen könnten, beispielsweise, indem sie ein Recht auf das Gut haben . Menschen, denen Ressourcen wie Zeit oder elementare Güter wie Bleistifte oder Bücher fehlen, können vom Gut der Bildung trotz formalem Recht darauf keinen Gebrauch machen . Indem der Zugang zu Gütern wie Bildung faktisch nicht gewährleistet ist, ist laut Hull die gewährte Freiheit nur eine formal-theore-tische und keine inhaltlich-substanzielle .

4 Eine einzige von mir eruierte Ausnahme stellt der philosophische Text von Heikki Ikä-heimo (2009) dar . In diesem fokussiert Ikäheimo insbesondere auf die Struktur und die Bedeutung von Anerkennungsprozessen für Inklusion, dargestellt am Beispiel Behinde-rung . Beispiele philosophischer Denker, die indirekt die Struktur und Bedeutung von Inklusion analysieren, sind Elizabeth Anderson (1999), Allen Buchanan (1993), Richard Hull (2007), Martha Nussbaum (2006a), Hans Reinders (2000) und Iris Marion Young (2000) .

120 Inklusiion und Gerechtigkeit

Die Argumentation von Richard Hull ist überzeugend . Die Begründung, und das ist der Punkt, läuft aber nicht über Inklusion, sondern über zwei andere normative Konzepte: Deprivation und Freiheit . In diesen liegt die eigentliche Begründungsleistung und hierin lässt sich auch die – implizite – Verbindung zu Inklusion sehen . Hull liefert aber keine Elaboration und Dis-kussion des Konzepts Inklusion als solches, vor allen Dingen nicht hinsicht-lich seines deskriptiven Gehalts . Die vorliegende Untersuchung will in diesem Punkt weiter gehen und die konstitutiven Elemente von Inklusion ebenso wie die normative Relevanz von Inklusion beleuchten . Dies erscheint mir deshalb notwendig, weil damit sowohl der deskriptive Beschreibungsge-halt wie auch der normative Bedeutungsgehalt eruiert werden können . Es ist so möglich, Inklusionsprozesse und -zustände einerseits deskriptiv zu be-schreiben, andererseits auch normativ zu bewerten .

Der philosophische Zugang ist gewinnbringend, vor allen Dingen, wenn es, wie im sechsten Kapitel, um die normative Relevanz von Inklusion geht . Er kann aber nicht der einzige sein, sondern muss durch einen anderen Zu-gang ergänzt werden . Insbesondere in der Ausdifferenzierung der Struktur von Inklusion nehme ich daher Bezug zur soziologischen Diskussion um Inklusion .

Der Inklusionsbegriff in der Soziologie

In der Soziologie nimmt der Inklusionsbegriff, anders als in der Philosophie, einen zentralen Platz ein . In der Disziplin können mindestens zwei Zugänge zum Inklusionsbegriff unterschieden werden . Ein Teil der Soziologie, der sich in Anlehnung an Niklas Luhmann systemtheoretisch versteht, unter-sucht das Phänomen unter strikt deskriptiven, systemischen Gesichtspunk-ten (vgl . Luhmann 2003; Merten und Scherr 2004; Nassehi 1997, 2003; Peters 1993; Stichweh 2009; Wilke 2000) .5 Vereinfachend gesagt fokussiert der systemtheoretische Zugang den Ein- respektive Ausschluss aus gesell-schaftlichen Teilsystemen . Nach Luhmann (2003) lässt sich das gesamte mo-derne Gesellschaftssystem aus einzelnen, funktional differenzierten Teilsyste-men beschreiben . Beispiele solcher Teilsysteme sind Gesundheit, Ökonomie,

5 In der sozialen Arbeit wird der systemtheoretische Zugang neben anderen von Heiko Kle-ve, Albert Scherr, Peter Fuchs oder Roland Merten vertreten . In der Sonderpädagogik ist vor allem Vera Moser zu nennen, die diesen Zugang für die Professionalisierungsdebatte in der Sonderpädagogik fruchtbar macht .

Inklusion: Einleitung 121

Erziehung, Wissenschaft, Kunst, Religion, Politik oder Recht . Inklusion und Exklusion kennzeichnen Zugehörigkeit oder Ausschluss aus solchen Teilsys-temen . Beide Begriffe sind also in der systemtheoretischen Zugangsweise termini technici, welche beschreiben, wie Systeme und insbesondere die Be-dingungen des Ein- und Ausschlusses funktionieren . Indem diese Funkti-onslogiken differenziert und deskriptiv analysiert werden, ist der systemthe-oretische Zugang zweifelsohne auch von Interesse für die Fragen der Gründe und Wirkungsweisen des Ein- oder Ausschlusses behinderter Menschen .

Zwei Punkte sind nun aber an der systemtheoretischen Herangehenswei-se für die vorliegende Arbeit von Nachteil: erstens die explizit nicht-norma-tive Verwendungsweise von Inklusion und Exklusion, zweitens die Tatsache, dass im systemtheoretischen Zugang nur ein ›Drinnen‹ oder ›Draußen‹ mög-lich ist, nicht aber ein ›mehr oder weniger drinnen oder draußen‹ (vgl . Wan-sing 2009, S . 67) . Genau um dieses Mehr oder Weniger geht es aber in der realen Lebenswelt behinderter Menschen oft .6

Die reine, explizit nicht normative Beschreibung ist zumindest für die vorliegende Hauptfrage des Rechts auf Inklusion für behinderte Menschen problematisch, denn unter einer konsequent systemtheoretischen Perspekti-ve ist Einschluss oder Ausschluss weder gut noch schlecht . Es sind rein de-skriptive Begriffe .7 Das Problem ist nun aber, dass Inklusion und Exklusion gut oder schlecht für jemanden sind, und zwar für bestimmte Individuen .8

6 Genau aus diesem Grund ist es auch nicht zutreffend, Inklusion als Gegenbegriff zu Ex-klusion zu verstehen . Denn realiter geht es meist nicht darum, drinnen oder draußen zu sein, sondern beispielsweise darum: Mehr oder weniger dazu zu gehören, das Gefühl zu haben, nicht mithalten zu können oder subtile Ausgrenzungen zu erfahren . Solche Vor-gänge aber befinden sich auf einem Kontinuum zwischen Ausgrenzung und Einschluss und sind keine Frage von entweder/oder .

7 Dies, obwohl Niklas Luhmann selbst gesehen hat, dass in seiner Theorie normativer Ge-halt impliziert ist (vgl . Luhmann 1998, S . 630f .) .

8 Gerade für Disziplinen wie die Sonderpädagogik sind daher die normativen Gehalte res-pektive die moralischen Implikationen von Inklusion oder Exklusion für die Betroffenen relevant (vgl . Liesen 2004, S . 79) . Vgl . auch die in der deskriptiven Darstellung von Inklu-sion und der Systemtheorie Luhmanns gewinnbringende Dissertation von Karsten Exner (2007), die allerdings in ihren Schlussfolgerungen für Disziplinen wie die Sonderpädago-gik oder die soziale Arbeit meiner Ansicht nach keine neuen Erkenntnisse bringt . So lautet das Fazit Exners, dass Exklusion für behinderte Menschen kein Problem darstelle, da die Systemtheorie Luhmanns ja gerade zeige, dass sie zu verschiedenen gesellschaftlichen Sys-temen dazu gehören würden respektive totale Exklusion nicht vorkomme (vgl . ebd ., S . 31f .) . Damit ist meiner Ansicht nach die soziale Situation der Betroffenen ungenügend analysiert . Ja, es zeigt sich gerade die Grenze des systemtheoretischen Ansatzes in der Luh-mannschen Auslegung für die Analyse der lebensweltlichen Lage behinderter Menschen,

122 Inklusiion und Gerechtigkeit

Aus diesem Grund muss nach einer normativ fruchtbar zu machenden Zu-gangsweise zu Inklusion und Exklusion gesucht werden, die Übergänge und Phasen von Ein- und Ausschluss thematisieren kann .

Ein solcher Zugang findet sich in dem Teil der Soziologie, welcher den Exklusionsbegriff als wichtige sozialwissenschaftliche Kategorie zur Analyse der sogenannten ›sozialen Frage‹ versteht (vgl . Castel 2000; Kronauer 2010) . Die gesellschaftsanalytische Kategorie der ›sozialen Frage‹ misst sich an der Feststellung, dass die Bedeutung von Teilhabe und Zugehörigkeit im 20 . Jahrhundert, unter anderem aufgrund der historischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, gestiegen ist . So zeigte sich, dass persönliche und politi-sche Rechte durch materielle und soziale Teilhabe abgesichert werden müs-sen, um überhaupt Demokratie zu ermöglichen . Erfahrungen von Massen-arbeitslosigkeit sowie zunehmend prekäre Erwerbsarbeitsverhältnisse, Folgen von Emigration und Immigration oder mangelnder Bildung haben zudem gezeigt, dass bestimmte Personen oder Gruppen der Gesellschaft offensicht-lich an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden und unter erheblicher sozialer Ungleichheit leiden .

Soziale Exklusion tritt in diesen soziologischen Analysen als komplexer Sammelbegriff für eine ganze Reihe gezielter Ausgrenzungen, formaler Aus-schlüsse sowie existenziell empfundener Überflüssigkeit in der Gesellschaft auf (vgl . Bude und Willisch 2006, S . 8) . Cornelia Bohn (2006, S . 7) schreibt dazu: »In den letzten Dekaden hat sich ein Feld intensiver Forschung zum Problem der Inklusion und Exklusion etabliert . Die Konzepte allerdings werden in höchst unterschiedlichen theoretischen und empirischen Kontex-ten und deshalb nicht einheitlich verwendet . Auch liegen der aktuellen De-batte in der wissenschaftlichen Forschung und in der politischen Öffentlich-keit eine Vielzahl unterschiedlicher Beobachtungen zugrunde […] . Je nach kategorialem Hintergrund und den zugrunde liegenden Annahmen über Strukturen und Operationsweisen der Gegenwartsgesellschaft stehen, so die Untersuchungen, gesellschaftliche Integration, gesellschaftsweite Solidarität und das Herausfallen aus gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnissen bzw . aus den multiplen Zugängen zur relevanten gesellschaftlichen Kommunika-tion auf dem Spiel .«

Es zeigt sich, dass sowohl die Analysekategorien dieses Teils der Soziolo-gie (vgl . Bude und Willisch 2006; Castel 2000; Kronauer 2010) wie auch der politischen Philosophie (vgl . Honneth 1994; Wolff 2008; Young 2000) für

da dieser Zugang die soziale und ethisch relevante Problematik, um die es gerade geht, nicht erfassen kann .

Inklusion: Einleitung 123

die Darlegung der Struktur und normativen Bedeutung von Inklusion fruchtbar gemacht werden können . Der Ausgang der Überlegungen beruht auf Annahmen, für die ich im Folgenden in einem ersten Schritt Plausibili-sierungsgründe anbringen werde .

Zwei Annahmen betreffend Inklusion als Ausgangslage

»Im Zentrum des Begriffspaars [Inklusion und Exklusion, FF] stehen gesell-schaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe, somit aber auch: die sozialen Grund-lagen einer demokratischen Gesellschaft« (Kronauer 2007, S .  4) . So um-schreibt der deutsche Soziologe Martin Kronauer die Begriffe Inklusion und Exklusion . Insbesondere weist Kronauer auf zwei Aspekte des Konzepts In-klusion hin: Zugehörigkeit und Teilhabe .

Zugehörigkeit kann sich in gesellschaftlicher Arbeitsteilung wie auch in zwischenmenschlichen, sozialen Netzen zeigen . Teilhabe hat Bezüge zu Par-tizipation und sozialem Handeln und zeigt sich in materieller, politischer, kultureller und sozialer Hinsicht . Zugehörigkeit und Teilhabe können sich dabei in verschiedenen Sphären manifestieren: Als Partizipation über den Bürgerstatus, als wechselseitige Abhängigkeiten oder Interdependenzen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sowie als Reziprozitätsverhältnisse in zwischenmenschlichen Beziehungen (vgl . ebd ., S . 4ff .) . Heinz Bude und An-dreas Willisch (2006, S . 14f .) machen in Rückgriff auf die begriffsgeschicht-liche Einbettung des Exklusionskonzepts in die Programmatik des Wohl-fahrtsstaates folgende zentrale Kriterien des Exklusionsbegriffs aus, nach denen sich ihrer Meinung nach auch Kriterien eines positiven Inklusionsbe-griffs ableiten lassen: Agency (Handlung, Eigentätigkeit, Empowerment), Kohäsion (Solidarität, sozialer Zusammenhalt) und Anschluss (an verschie-dene Kontexte oder Systeme wie Familie, Bildung oder Arbeit) .

Die von Kronauer (2007) sowie Bude und Willisch (2006) gewählten Zugänge zu Exklusion und Inklusion lassen sich, auch wenn die Begriffe unterschiedlich verwendet werden, folgendermaßen synthetisieren . Inklusi-on ist durch zwei Elemente gekennzeichnet: erstens durch Zugehörigkeit und zweitens durch soziales Handeln, das sich in sozialer Intentionalität zeigt . Inklusion kann sich zudem in zwei Sphären manifestieren: in einer gesellschaftlichen und in einer gemeinschaftlichen .

Das erste Element, Zugehörigkeit – in bestimmter, relevanter und noch zu bestimmender Weise dazuzugehören – muss sozial gespiegelt werden und

124 Inklusiion und Gerechtigkeit

zwar in Form von Anerkennung, welche unterschiedliche Formen anneh-men kann . Darüber hinaus muss Zugehörigkeit von Menschen erlebt wer-den können . Das zweite Element von Inklusion geht von der Annahme aus, dass Inklusion mehr ist als ein bloß zufälliges Zusammensein verschiedener Menschen, beispielsweise in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Einkaufszen-tren . Inklusion kennzeichnet nicht isoliertes, individuelles Handeln, son-dern kollektives oder geteiltes, soziales Handeln, welches sozial gerichtete Zie-le und Intentionen impliziert .

Die den zwei Elementen von Inklusion – Zugehörigkeit und soziales Handeln respektive soziale Intentionalität – übergreifende Differenzierung ist die soziologisch geläufige Unterscheidung in Gemeinschaft und Gesell-schaft . Diese Unterscheidung, die beispielsweise Max Weber in seinem Stan-dardwerk Wirtschaft und Gesellschaft (1922) vorgenommen hat, unterscheidet zwischen Kontexten, in denen sich Zugehörigkeit zuvörderst über affektive Zugehörigkeitsgefühle zeigt (Gemeinschaften), und solchen, die zumindest nicht über diese konstituiert werden und in denen vielmehr Interessenver-bindungen und Zweckrationalität von zentraler Bedeutung sind . Diese fun-damentale Unterscheidung hat, wenn auch in Realität meist beide Sphären überlappen, große Auswirkungen auf Anerkennungsvorgänge und auf die Aspekte sozialen Handelns . Aus diesen Gründen will ich in Punkt 5 .1 vertief-ter auf diese Unterscheidung eingehen .

Ausgehend von den zwei Annahmen betreffend Inklusion lässt sich wei-ter fragen, worin die Verbindungen zwischen Zugehörigkeit und sozialem Handeln oder sozialer Intentionalität bestehen . Daran anbindend werden eine Reihe von weiteren Fragen aufgeworfen, unter anderem folgende: Wie hängt soziale Anerkennung mit der Handlungs- und Zieldimension von In-klusion zusammen? In welchem Verhältnis stehen Zugehörigkeit und Aner-kennung? Inwiefern ist die soziale Zielgerichtetheit des Handelns notwen-dig, um von Inklusion sprechen zu können und wie drückt sich diese Zielorientierung sozialen Handelns aus?

Teilweise weisen diese Fragen über die Struktur bereits auf die normative Relevanz von Inklusion . So zeigt sich beispielsweise bei Anerkennung in ei-nem normativen Sinn die Art und Weise, wie und in welchen Kontext jemand inkludiert wird: als geliebter Partner, als Person mit gleichen Rechten, als Arbeitskollegin, die sozial wertgeschätzt wird, und so weiter . Gerade in dem für den vorliegenden Zusammenhang so wichtigen intrapersonalen Aspekt von Inklusion, nämlich der subjektiv empfundenen Zugehörigkeit, wird deutlich, dass Anerkennung eine Voraussetzung für das positive Selbstver-

Inklusion: Einleitung 125

hältnis von Personen ist (vgl . Honneth 1994) . Die in der Struktur von Inklu-sion erarbeiteten Aspekte weisen damit auf die normative Relevanz von In-klusion hin, die sich durch die Bedeutung der einzelnen Elemente für das gute Leben von Menschen ergibt .

Aufbau der beiden Kapitel

Um auf die genannten Fragen Antworten liefern zu können, gehe ich folgen-dermaßen vor: Als erstes liefere ich eine erste mögliche Strukturierung von Inklusion, welche die herausgeschälten Elemente aufnehmen kann . Die die beiden Elemente übergreifende Strukturierung ist dabei eine Unterschei-dung in gemeinschaftliche und gesellschaftliche Kontexte von Inklusion . Für das erste als wichtig erachtete Moment der Zugehörigkeit bedeutet die Tren-nung in gemeinschaftliche und gesellschaftliche Kontexte folgendes: Wäh-rend gemeinschaftliche Kontexte zentral auf interpersonaler Zugehörigkeit und Anerkennung von konkreten Anderen beruhen, weisen gesellschaftliche Kontexte auf abstraktere Sozialgebilde hin, welche sich durch Abstraktion von interpersonaler Zugehörigkeit auszeichnen . Damit nimmt Zugehörig-keit in gemeinschaftlichen Kontexten eine konkrete, interpersonale Form an, während sie in der gesellschaftlichen Sphäre nur noch abstrakt erscheint . Was das genau bedeutet, wird sich in Abschnitt 5 .1 zeigen .

Dasselbe gilt für die soziale Anerkennung . In der gemeinschaftlichen Sphäre werden konkrete Andere in Form von Liebe, Rücksicht, Umsicht oder sozialer Wertschätzung anerkannt . Anteilnahme, Fürsorge, Solidarität und Beistand denen gegenüber, mit denen wir gemeinschaftlich verbunden sind, beschreiben dabei den Bereich der konkreten Anderen . In der gesell-schaftlichen Sphäre werden abstrakte Andere, Bürger, anerkannt, indem ih-nen beispielsweise Rechte verliehen werden . Für die Anerkennung im inter-personalen Nah-Bereich sind Gefühle – beispielsweise der Solidarität, der Freundschaft oder der Liebe – eine notwendige Bedingung, während sie das in der gesellschaftlichen nicht sind .

Das zweite Element, das ich vertiefen möchte, betont das Motiv der Handlung als soziales In-Beziehung-Setzen zwischen Menschen – einerseits als interpersonales Moment, andererseits zwischen Menschen als Bürgern zu der Gesellschaft, in der sie leben . Dies geschieht einmal hinsichtlich der Be-ziehung zwischen Bürgern als Rechtsträger zueinander und einmal als Bür-ger hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Staat oder anderen Institutionen

126 Inklusiion und Gerechtigkeit

oder Organisationen .9 Der von mir vertretene Begriff sozialen Handelns ist dabei weit zu verstehen und umfasst neben Tätigkeiten auch Denken und Gefühle10 . Handeln ist nach Max Weber (1922) dann soziales Handeln, wenn es in seinem Sinn wechselseitig auf das Handeln anderer bezogen ist und sich in seinem Prozess und Verlauf auch danach ausrichtet . Bestandteil sozialen Handelns ist daher, dass Erwartungen hinsichtlich eines bestimm-ten subjektiv sinnhaften Verhaltens anderer Menschen gegenüber gehegt werden .11 Soziales Handeln zeigt sich damit in der Intentionalität, den Zie-len also, die mit dem Handeln verbunden sind und die auf andere Menschen gerichtet sind . Die normative und entwicklungspsychologische Relevanz so-zialer Handlungen respektive sozialer Intentionalität zeigt sich im sechsten Kapitel .

Weiter zeigt sich im folgenden fünften Kapitel, dass Inklusion sowohl in ihrer gemeinschaftlichen wie ihrer gesellschaftlichen Dimension eine aktive wie eine passive Form annehmen kann . So sind Menschen in Gemeinschaf-ten einerseits aktiv sozial Handelnde, andererseits auch passiv Partizipieren-de . Die passive Form gemeinschaftlicher Inklusion ist dabei eine Antwort auf die Herausforderung, die Kleinkinder, demente Menschen, aber auch Menschen mit schwerer Behinderung an Inklusion stellen . Denn damit In-klusion für diese Menschen möglich ist, müssen sich andere ihnen aktiv zu-wenden, ohne dass im Gegenzug eine (eng verstandene) Reziprozität erwar-tet werden kann .12 Ich werde zeigen, dass Intentionalität Menschen auch bei epistemischer Unsicherheit über ihr tatsächlich faktisches Vorhandensein zu-geschrieben werden kann . Das heißt, der Sinn eines bestimmten gezeigten Verhaltens kann auch dann zugeschrieben werden, wenn eine Person selbst nicht über die Sinnhaftigkeit ihres Verhaltens Auskunft geben kann, bei-spielsweise, weil sie nicht sprechen kann und in ihren kommunikativen Aus-drucksmöglichkeiten eingeschränkt ist . Eine Zuschreibung ist deshalb sinn-

9 Rechtlich finden beide Gesichtspunkte ihren Ausdruck in unterschiedlichen Bereichen des Rechts . Öffentliches Recht regelt das Verhältnis zwischen Bürger und Staat, während das Privatrecht das Verhältnis von Bürgern eines Staates untereinander zum Inhalt hat .

10 Letzteres impliziert eine kognitive Emotionstheorie, wie sie beispielsweise von Martha Nussbaum (2003) vertreten wird . Dieser Ansatz geht davon aus, dass Gefühle über Kog-nitionen gebildet werden, indem beispielsweise enttäuschte oder erfüllte Pläne und Ziele von Menschen ein notwendiges Element von Emotionen sind .

11 Luhmann (2008, S . 38) spricht hierbei von Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen . 12 Vgl . hierzu für die philosophische Problematik um die Grenzziehung zwischen Menschen

und Personen sowie die Bedeutung der Inklusion aller Menschen in eine Moraltheorie die Ausführungen von Sabine Jentsch (2010) .

Inklusion: Einleitung 127

voll, weil Intentionalität eine hohe Bedeutung für das Auslösen von Ent- wicklungsprozessen hat .

In der normativen Wendung dieser Zuschreibung zeigt sich dann die Bedeutung von Intentionalität für menschliche Entwicklungsprozesse und ihrer Voraussetzung für ein gutes menschliches Leben . Insofern man bei den meisten Menschen – Ausnahmen sind Fälle, bei denen dies erwiesenermaßen nicht der Fall ist13 – von Entwicklungsfähigkeit ausgehen kann, ist die Zu-schreibung intentionalen Verhaltens eine notwendige Bedingung für die Entwicklung von Menschen . Besonders deutlich zeigt sich dies zu Beginn jedes menschlichen Lebens . Menschen sind nämlich nur aufgrund dieser Zuschreibung sozialer Intentionalität in der Lage, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten – beispielsweise Sprache – zu erlernen .

Auch in der gesellschaftlichen Sphäre zeigt sich eine aktive wie eine pas-sive Form von Inklusion . Die aktive Form zeigt sich am deutlichsten im politischen Bereich, in welchem – zumindest in einem deliberativen Ver-ständnis von Demokratie – Menschen als aktive Bürger Demokratie mitge-stalten . Das passive Verständnis gesellschaftlicher Inklusion zeigt sich zuvör-derst im Sozialstaat, in welchem Bürger nach Maßgabe deklarierter Bedürf- nisse Empfänger sozialstaatlicher Leistungen werden können .

Die normative Relevanz von Inklusion, der sich das sechste Kapitel wid-met, nimmt Rückgriff auf die Struktur von Inklusion . Ich werde dabei aus-gehend von der Überlegung, dass Inklusion wichtige Interessen von Men-schen abdeckt, folgende Aspekte besonders vertiefen: erstens Inklusion als Bedingung, Voraussetzung und Folge der (vor allen Dingen geistigen und sozialen) Entwicklung von Menschen, zweitens Inklusion als Bedingung, Voraussetzung und Folge der Freiheit von Menschen, drittens Anerkennung als Bedingung, Voraussetzung und Folge von Inklusion . Die jeweils gewähl-ten Beispiele verdeutlichen die Problematik für die Thematik der Behinde-rung . Insbesondere auf der Negativfolie zeigen sich die wechselseitigen Beein-flussungen von Entwicklung, Freiheit und Anerkennung für die Inklusion von Menschen, insbesondere auch für behinderte Menschen, da diese Pro-zesse aufgrund verschiedener – interner wie externer – Faktoren bedroht sind . Vor dem Hintergrund der Annahme, dass alle diese Werte auch Bedin-

13 Beispiele dafür sind hirntote Menschen . Allerdings ist bei der Bestimmung, ob eine Person noch Hirnaktivität aufweist oder nicht, allerhöchste Vorsicht angebracht (vgl . Pidd 2009) . Vgl . die soziologisch sehr interessanten Untersuchungen von Gesa Lindemann (2002), die den Umgang des Ärzte- und Pflegepersonals mit hirntoten Menschen zum Inhalt hat .

128 Inklusiion und Gerechtigkeit

gungen und Voraussetzungen für ein gutes menschliches Leben sind, erhält Inklusion ihre hohe normative Relevanz .

5 . Die Struktur von Inklusion

Inklusion ist immer soziale Inklusion und meint im vorliegenden Kontext Einbindung in zwischenmenschliche, soziale Zusammenhänge (vgl . Ikä-heimo 2009) .1 Diese Zusammenhänge können partikulare Gruppen wie Familien, aber auch größere Gebilde wie eine Gesellschaft sein . Inklusion meint in einem noch näher zu bestimmenden Sinn: dazugehören, eingebun-den sein (vom lateinischen Verb includere = einschließen) .2

Mit dem Konzept der Inklusion ist immer auch Exklusion mitgedacht . Das bedeutet, dass, wenn von Inklusion gesprochen wird, nicht nur Aussa-gen darüber gemacht werden, wer dazu gehört, sondern auch, wer nicht dazu gehört und somit exkludiert ist . Zudem nimmt man Bezug auf ein Gebilde, das größer ist als die Summe der Elemente der Inkludierten . Mit der Aussa-ge, wer oder was dazu gehört, ist daher immer auch – allerdings oft nur im-plizit – die Aussage verbunden, was oder wer eben nicht dazu gehört .3 Lo-

1 Man kann einwenden, dass es auch so etwas wie strukturelle Inklusion gibt . Gesellschaft-liche Rahmenbedingungen, wie sie sich etwa in der technischen Infrastruktur zeigen kön-nen, sind beispielsweise nicht in engerem Sinne sozial . Sie beziehen sich allerdings letzt-endlich auch auf soziale Bezüge, wenn sich diese auch auf gesellschaftlicher Ebene befinden und nur noch abstrakt erscheinen .

2 Damit wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass ich einen dichteren, umfassenderen In-klusionsbegriff begründen und vertreten möchte, als dies in der Sonderpädagogik – insbe-sondere in der empirisch ausgerichteten – der Fall ist, wo meistens ein dünner, technischer und ›physischer‹ Inklusionsbegriff gewählt wird . Bei der Inklusion eines Kindes mit son-derpädagogischem Förderbedarf in eine Regelschule wird beispielsweise unter Inklusion meist die physische Anwesenheit eines betreffenden Kindes in einer Regelschulklasse ver-standen, jedenfalls wird nur dieser dünne Begriff operationalisiert . Ich vertrete dem gegen-über einen Inklusionsbegriff, der zwar physische Anwesenheit implizieren kann, nicht aber muss und insbesondere nicht in dieser aufgeht .

3 In den meisten Fällen hat dies keine erwähnenswerte normative Relevanz . Wenn man beispielsweise von allen Sternen des Sonnensystems spricht und dazu übergeht zu sagen, die Sonne sei ins Sonnensystem inkludiert, nimmt man damit nicht nur Bezug auf ein größeres Ganzes (das eben größer ist als das Element Sonne), sondern auch darauf, dass es Dinge jenseits des Sonnensystems gibt . Dinge also – andere Sterne vielleicht –, die nicht zu unserem Sonnensystem gehören .

130 Inklusion und Gerechtigkeit

gisch und begrifflich gesehen ist mit einer Aussage betreffend Inklusion daher immer auch eine Aussage betreffend Exklusion verbunden und umge-kehrt (vgl . Kastl 2010, S . 178) .

Zwei Sphären von Inklusion

Auch wenn Inklusion in lebensweltlichen Kontexten unzählige verschiedene konkrete Formen annehmen kann, ist es möglich, auf einer abstrakten Ebe-ne erste grobe Unterscheidungen einzuführen . Nicht alle Formen sozialer Inklusion haben nämlich dieselbe Grundstruktur . Vielmehr können, wie sich oben bereits gezeigt hat, zwei Sphären unterschieden werden, eine zwi-schenmenschliche und eine gesellschaftliche, welche sich nicht auf interper-sonale Bezüge reduzieren lässt .4 In der ersten Sphäre befinden sich Beziehun-gen mit – näherem oder weiterem – zwischenmenschlichem Kontakt, beispielsweise in der Familie oder in Vereinen . In der anderen, der gesell-schaftlichen Sphäre ist der Einzelne Teil eines größeren, gesellschaftlichen Ganzen . Menschen erscheinen hier als verallgemeinerte, abstrakte Andere .

Die beiden Sphären treten in eine komplexe Beziehung zueinander . So beeinflusst die interpersonale, zwischenmenschliche Sphäre die gesellschaft-liche Sphäre und umgekehrt . Beispielsweise prägen interpersonal geprägte

4 Karl Heinz Wisotzki (2000, S . 32) spricht im selben Zusammenhang von ›zwei Räumen‹ von Inklusion und schreibt dazu: »Auf der einen Seite haben wir einen Bereich, in dem die interpersonalen Beziehungen besonders zum Tragen kommen . Das ist für jeden Menschen zunächst einmal seine Familie und mit zunehmendem Alter die sich jeweils bildenden Peer-Groups . Auf der anderen Seite haben wir einen Bereich, der irgendwie dem ersten übergestülpt ist und in dem ein größerer Abstand zwischen dem Einzelnen und den ande-ren Mitgliedern der Gemeinschaft besteht . Das sind die verschiedenen staatlichen Organi-sationen, die von der Wohngemeinde bis hin zum Gesamtstaat reichen . Der personale Abstand wird hier immer größer . Beide Räume sind miteinander verflochten . Der kleinere Raum ist dadurch gekennzeichnet, dass bei den einzelnen Mitgliedern unmittelbare, inter-personale und emotionale moralische Verbindungen bestehen […] . Der größere Raum dagegen ist durch ein System von rechtlichen Regelungen strukturiert .« Ähnlich auch Otto Speck (1995), der die erste Form von Inklusion mit primärer Inklusion, die zweite mit gesellschaftlicher Inklusion überschreibt: »Während innerhalb der kleineren und intimeren Gruppe die Zugehörigkeit des Einzelnen mehr von unmittelbaren, interpersonalen und emotionalen moralischen Ansprüchen und Verbindlichkeiten bestimmt wird, man könnte auch vom sozialen Gewissen reden – bedarf es auf der gesellschaftlichen Sphäre rechtlich geregelter Strukturen . […] . Diese sind zwar nötig, sichern aber noch nicht unbedingt die persönliche Zugehörigkeit« (ebd ., S . 93) . Und auf die persönliche Zugehörigkeit kommt es nach Speck schließlich an .

Die Struktur von Inklusion 131

Rollenvorstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung und Erwar-tungshaltungen an sie die institutionelle Struktur demokratischer Prozesse, indem sich individuelle und interpersonale Verhaltensweisen und Einstel-lungen in gesellschaftlich-kollektive Sphären hinein verlängern . Am besten kann dies an den Resultaten demokratischer Abstimmungen gezeigt werden . Möchte die Mehrheit der Stimmberechtigten eines Landes keine ausgepräg-ten Gleichstellungsgesetze und lehnt diese an der Urne ab, weil sie im tägli-chen Leben keine Beziehungen zu behinderten Menschen pflegt, prägt dies das Leben der betroffenen Menschen in der individuellen wie der interper-sonalen Sphäre . Auch prägen institutionelle Rahmenbedingungen interper-sonale Bezüge, etwa in Form von Unterstützung für bestimmte Gemein-schaftsformen wie der Familie . Selbst wenn interpersonale Beziehungen die gesellschaftliche Sphäre nicht konstituieren, spielen sie insofern eine Rolle, als auch gemeinschaftliche Lebensbereiche – beispielsweise Familien – gesell-schaftlich gerahmt sind . Dies geschieht etwa über bestimmte, gesellschaftlich perpetuierte, Vorstellungen, was eine ›richtige‹ Familie ist und welche For-men von Familien gesellschaftliche Unterstützung genießen sollen: Patch-workfamilien, Alleinerziehende mit Kindern, homosexuelle Paare mit Kin-dern und/oder klassische Zweieltern-Familie? Die beiden Sphären sind aus diesen Gründen nicht als hermetisch abgeschlossene Bereiche menschlichen Lebens zu verstehen .

Die Bedeutung von Zugehörigkeit – das Beispiel von Anna und Bertha

Wenn man sich fragt, was das zentrale Moment an Inklusion ist, drängt sich ›Zugehörigkeit‹ auf . Inklusion wäre dann vorhanden, wenn jemand zu ei-nem bestimmten Kontext dazu gehören würde . Was aber ist mit ›Zugehörig-keit‹ gemeint?

In einer ersten Annäherung kann man sich dazu folgende zwei Fälle vor-stellen: In einem Fall ist eine Frau namens Anna Ehrenmitglied eines Ge-sangsvereins . Sie ist weit über 80 und hat seit rund 20 Jahren an keiner Sit-zung des Vereins mehr teilgenommen . Wenn es die Gesundheit erlaubt, nimmt sie einmal pro Jahr an der ordentlichen Generalversammlung teil . Alle Vereinsmitglieder freuen sich, wenn sie an dieser anwesend ist, selbst wenn niemand sie mehr aus der aktiven Zeit kennt . Sie begrüßen sie, spre-chen mit ihr und erkundigen sich angeregt, wie es ihr geht und was sie so tut .

132 Inklusion und Gerechtigkeit

In einem anderen Fall ist eine andere Frau, Bertha, ebenfalls Mitglied desselben Gesangsvereins . Sie nimmt an jeder Sitzung teil, wird aber von den anderen konstant ignoriert . Niemand grüßt sie, niemand geht auf sie ein, niemand mag sie . Wenn sie etwas sagen möchte, schweifen die Blicke über ihren Kopf hinweg, man ignoriert sie . Im besten Fall gibt man ihr höflicher-weise einige Augenblicke Zeit etwas zu sagen, um dann wieder zum ›ordent-lichen‹ Geschäft überzugehen . Welche dieser zwei Personen, Anna oder Ber-tha, ist in den Gesangsverein inkludiert?

Es fällt uns nicht schwer, Anna als inkludiert zu bezeichnen, während Bertha in höchstem Maß exkludiert erscheint . Das Beispiel zeigt, dass es bei Inklusion weniger um die physische Präsenz als um die emotionale Einbin-dung, das Eingehen auf jemanden sowie um die Wertschätzung geht .5 Damit scheint Inklusion letztendlich eine Form der Anerkennung im Sinne affektiv erteilter beziehungsweise empfundener Wertschätzung zu sein .

Dieser Schluss aber ist vorschnell und zwar deshalb, weil meine zwei Bei-spiele wichtige Vorannahmen bereits getroffen oder stillschweigend voraus-gesetzt haben . Erstens habe ich ignoriert, wie die Person selbst sich fühlt . Damit ist die Bedeutung der intrapersonalen Wahrnehmung angesprochen . Die auf die Person gerichteten Gefühle von Anerkennung müssen zweifels-ohne von den von der Person selbst empfundenen Gefühlen der Zugehörig-keit unterschieden werden respektive sie fallen nicht mit diesen zusammen .

Diese Präzisierung löst allerdings das Problem nicht, denn Wertschät-zung wäre immer noch ein ausschließlich affektives Phänomen . Eine solche Auslegung greift aber zu kurz, denn Inklusion, verstanden als subjektiv er-lebte Zugehörigkeit, muss von echten Gefühlen der Anerkennung begleitet werden . Andernfalls wäre auch jemand inkludiert, der sich über die Aner-kennung durch andere Menschen täuscht .6

5 Einer solchen Lesart schließt sich auch Otto Speck an . Der Einzelne kann »auf der Basis formaler Regelungen integriert arbeiten, es kommt aber in seiner Arbeitsgruppe nicht zu einer persönlichen Akzeptation . Dies bedeutet, dass es bei der ethischen Maxime der sozi-alen Integration nicht nur um formale Mitgliedschaft, sondern um die Qualität von Menschlichkeit [Hervorhebung FF] geht« (Speck 1995, S . 93f .) .

6 Damit ist zumindest der Anspruch verbunden, von bestimmten nahestehenden Personen und in wichtigen Situationen nicht bewusst getäuscht zu werden . Dies schließt viele Fälle des täglichen Lebens aus, in denen Menschen aus Regeln des Anstandes, der Höflichkeit und des reibungslosen zwischenmenschlichen Umgangs andere täuschen . Solche meist harmlosen zwischenmenschlichen Lügen führen zweifellos in den seltensten Fällen zu dra-matischem gemeinschaftlichem wie gesellschaftlichem Ausschluss . Eine Lüge oder Täu-schung ist vielmehr dann schlimm, wenn zwei Werte verletzt werden: erstens die Verlet-zung der Achtung der Freiheit und der Autonomie von Personen sowie zweitens die

Die Struktur von Inklusion 133

Aber auch ohne diese Qualifikation ist fraglich, ob subjektiv erlebte Zu-gehörigkeit in Form von Gefühlen in jedem Fall ein notwendiges Kriterium für Inklusion ist .

Es zeigt sich zweitens, dass man auch den Kontext von Inklusion betrach-ten muss . Ich habe in meinem Beispiel bereits einen Kontext unterstellt, bei dem es mit großer Wahrscheinlichkeit um affektive Zugehörigkeit und inter-personale Anerkennung geht, nämlich einen Gesangsverein . Ein solcher Ver-ein, bei dem sich die Mitglieder nicht wechselseitig interpersonal als Mitglie-der anerkennen, ist schwer vorstellbar . Ein Gesangsverein ist denn auch ein Beispiel für einen gemeinschaftlichen Kontext .7

Es gibt jenseits dieser gemeinschaftlichen Kontexte auch solche, die ganz anderer Art sind . So ist eine Person beispielsweise in die Marktwirtschaft inkludiert, wenn sie wirtschaftliche Potenz aufweist . Dieses Spiel aber zeich-net sich durch wechselseitige Interessenlagen aus und nicht durch affektiv empfundene Zugehörigkeit . Zwar kann sich jemand von marktwirtschaftli-chen Kontexten ausgeschlossen fühlen, sich auch zu einem gewissen Grad selbst daraus ausschließen – beispielsweise, indem er oder sie sich marktwirt-schaftlichem Konsumdenken radikal versagt –, aber das schmälert die Tatsa-che nicht, dass diese Kontexte nicht über Gefühle der Zugehörigkeit konsti-tuiert werden . Vielmehr werden solche Kontexte durch die Interessen und Präferenzen der Beteiligten gebildet .

Bereiche solcher zweiter Art kann man als gesellschaftliche Sphären be-zeichnen . Gesellschaftliche Sphären zeichnen sich dadurch aus, dass der Ein-zelne Teil eines gesellschaftlichen, übergreifenden Ganzen ist . Dieses Ganze übergreift damit auch gemeinschaftliche Bereiche wie beispielsweise Vereine . In diesen gesellschaftlichen Bereichen sind zwischenmenschliche Gefühle zwar nicht abwesend, aber sie konstituieren diese Kontexte nicht . Aus gesell-schaftlichen Kontexten ist jemand nicht aufgrund affektueller Zugehörigkeit

Verletzung von Vertrauen . Schwerwiegend ist eine Lüge insbesondere dann, wenn die Beziehungen von einem starken zwischenmenschlichen Vertrauensverhältnis geprägt sind . In ihnen sind die Dichte des Vertrauens sowie die Bedeutung für das Selbstverständnis von Individuen besonders hoch . Dementsprechend schlimm kann in engen zwischenmensch-lichen Beziehungen, beispielsweise in Liebesbeziehungen, eine Verletzung durch eine Lüge sein (vgl . Schmetkamp 2010) .

7 Dies gilt zumindest für einen prototypischen Verein wie beispielsweise einen kleinen Turn-verein . Hat der Verein aber verschiedene Abteilungen, beispielsweise eine Handball-, eine Basketball- und eine Badmintonabteilung, kann diese Anerkennung sehr schwach sein, da die Mitglieder mit Ausnahme der formalen Zugehörigkeit zum selben Verein wenig ver-binden mag .

134 Inklusion und Gerechtigkeit

oder interpersonaler Anerkennung ein- oder ausgeschlossen, sondern aus an-deren Gründen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde .

Damit zeichnet sich ein Inklusionsbegriff ab, der in den zwei Sphären jeweils eine unterschiedliche Form von Inklusion bezeichnet: Eine Inklusion im Nahbereich respektive auf gemeinschaftlicher Ebene, in welcher sich Menschen als konkrete Andere wechselseitig anerkennen, sowie eine Inklu-sion auf gesellschaftlicher Ebene, in welcher Menschen einander als abstrak-te Andere, als Bürger, gegenübertreten und deren Anerkennungsdimension einerseits über diesen Status, andererseits auch über Organisationen sowie Institutionen laufen kann .

Wechselseitige Beeinflussungen der Sphären

Ich habe bereits erwähnt, dass die Sphären Gemeinschaft oder Gesellschaft nicht trennscharf sind . So kann man sich erstens in vielen Fällen darüber streiten, inwiefern Kontexte eine gemeinschaftliche oder eine gesellschaftli-che Struktur aufweisen . Dies gilt im Besonderen für Kontexte, die man der Zivilgesellschaft zuordnen kann, beispielsweise Kirchen oder politische Parteien . Zweitens beeinflussen gemeinschaftliche und gesellschaftliche Prozesse sich wechselseitig . Ist jemand beispielsweise aus gesellschaftlichen Zusammen-hängen weitgehend exkludiert, hat dies auch Einfluss auf seine Inklusion in Gemeinschaften und umgekehrt . Insbesondere für Menschen mit Behinde-rung zeigt sich, dass die wechselseitige Beeinflussung gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Sphären erstens ihren Ausschluss aus gesellschaftlichen Kontexten befördert und zweitens in vielen Fällen ultimativ dazu führt, dass sich zum Gefühl, in konkrete Gemeinschaften nicht inkludiert zu sein, ein umfassendes Lebensgefühl, gesellschaftlich nicht inkludiert zu sein, gesellt . Dieses Gefühl kann dann beispielsweise in einer Aussage wie ›Ich gehöre ja sowieso nirgends dazu‹ Ausdruck finden . Es kann sich aber auch in Scham für den eigenen Körper, seinen Ausdrucksweisen und Begrenzungen, zeigen und zu massiven sozialen Problemen der Selbstausgrenzung und Vermeidung zwischenmenschlicher Kontakte führen .

Die Unterscheidung zwischen gemeinschaftlichen, ›primären‹ und gesell-schaftlichen Kontexten ist eine zentrale Unterscheidung in der soziologi-schen Tradition nach Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies und Max Weber und eine wichtige soziologische Grundkategorie . Die Unterscheidung nimmt das zentrale Moment – Kontexte, die vor allen Dingen über affektive Zuge-

Die Struktur von Inklusion 135

hörigkeit konstituiert werden und in denen folgerichtig Gefühle der Zuge-hörigkeit und interpersonale Beziehungen eine wichtige Rolle spielen, und Kontexte, in denen sie zwar eine Rolle spielen können, nicht aber über diese konstituiert werden – auf und qualifiziert sie . Ich werde im Folgenden in diese soziologische Diskussion einführen und dabei auch das Beispiel der Schule einbringen . In diesem zeigt sich, dass viele Kontexte Elemente beider Sphären aufweisen und damit einen Schnittbereich zwischen gesellschaftli-cher und gemeinschaftlicher Sphäre bilden .

5 .1 Gemeinschaftliche versus gesellschaftliche Inklusion

Die Unterscheidung zwischen Kontexten, in denen Zusammengehörigkeits-gefühle eine konstitutive Rolle spielen und solche, in denen sie nicht konsti-tutiv sind, kennzeichnet die soziologisch geläufige Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft .8

Bei der Unterscheidung in gesellschaftliche und gemeinschaftliche Kon-texte können soziologisch betrachtet grob soziale Beziehungen, die sich zweckrational formieren (gesellschaftliche Sphäre), von solchen, die nicht zureichend über Zweckrationalität verstanden werden (gemeinschaftliche Sphäre), unterschieden werden . Letztere beruhen nicht zuletzt unter ande-rem auf Zusammengehörigkeitsgefühlen von Individuen . Solche Zusam-mengehörigkeitsgefühle prägen soziale Beziehungen wie Freundschaften oder Liebesbeziehungen und andere zwischenmenschliche Sozialbeziehun-gen (vgl . Scherr 2006) . Sie zeichnen sich gegenüber Nicht-Nah-Beziehungen durch ein dichtes, unbedingtes Vertrauensmuster aus, während andere sozi-ale Beziehungen auf der gesellschaftlichen Ebene zumeist ein basales, so ge-nannt dünnes Vertrauen kennzeichnet .

Gesellschaft wäre allerdings unzureichend beschrieben als ein Beziehungs-geflecht zwischen Individuen oder verschiedenen Sozialbeziehungen, bei-spielsweise Formen ökonomischer, rechtlicher und politischer, zweckra tional ausgerichteter Beziehungen . An gesellschaftlichen Prozessen sind nämlich nicht nur Individuen, sondern auch Organisationen und der Staat als Insti-tution der Gesellschaft beteiligt . Diese allerdings können nicht einzig über die Ansammlung einzelner Individuen beschrieben werden . Zwar stehen

8 Nach Martin Hollis (1977) kennzeichnet diese Unterscheidung gar die Gründungslinien der Soziologie und des Verständnisses von Menschen in sozialen Bezügen .

136 Inklusion und Gerechtigkeit

sich auf gesellschaftlicher Ebene auch Individuen gegenüber, nämlich als Bürger . Die Bürger stehen aber auf gesellschaftlicher Ebene auch Institutio-nen – beispielsweise dem Staat – und Organisationen gegenüber .

Teilbereiche des Sozialen

Die zentrale Frage im soziologischen Diskurs ist nun folgende: Wie stehen Teilbereiche des Sozialen zueinander? Welche Verflechtungen, Abhängigkei-ten und wechselseitigen Einflussnahmen existieren beispielsweise in der Po-litik, der Wirtschaft, dem Recht, den Massenmedien, der Kunst, dem Sport, in der Religion, im Alltagsleben oder in der schulischen oder außerschuli-schen Pädagogik? Eine weitere zentrale Unterscheidung zur Beantwortung dieser Fragen ist dabei die Unterscheidung zwischen Individuum und Ge-sellschaft .9 Gesellschaften sind nicht auf direkte persönliche Beziehungen zwischen Individuen reduzierbar . Was aber sind sie?

Um dies zu klären, unterscheidet der Soziologe Max Weber zwischen Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung und greift damit auf die klassi-sche Unterscheidung von Ferdinand Tönnies, einem der Gründerväter der Soziologie, zurück .

Man sollte die Unterscheidung an dieser Stelle in den Blick nehmen, denn sie ist für die Beantwortung der Frage nach der genauen Ausformulie-rung von Anerkennung, Zugehörigkeit und sozialer Intentionalität von gro-ßer Bedeutung . So wird sich beispielsweise zeigen, dass insbesondere Inklu-sion in Gemeinschaften für Menschen mit Behinderung eine Herausforderung ist, da ihnen oft die notwendige interpersonale Anerkennung verweigert wird . Diese Schwierigkeit besteht auch dann, wenn ihr Status als gleichbe-rechtigte Bürger in einer Gesellschaft faktisch anerkannt ist .

9 Vgl . für den Gesellschaftsbegriff in der Philosophie beispielsweise die Schriften von John Rawls . Nach Rawls (1993, S .  23ff .) kann eine Gesellschaft als ein umfassendes, relativ selbständiges soziales Gemeinwesen beschrieben werden, das aus einer Vielzahl kleinerer sozialer Einheiten besteht und dies vermittels einer institutionellen Ordnung zu einem weitgehend selbstgenügsamen und in sich abgeschlossenen Gesamtsystem menschlicher Koexistenz zusammenfasst . In der gesellschaftlichen Sphäre ist Handeln und Verhalten unpersönlich und allgemein und lässt sich nicht mehr auf die Summe einzelner Akteure reduzieren . Aus diesem Grund kommt der Frage nach Institutionen auf der Ebene gesell-schaftlicher Inklusion eine so hohe Bedeutung zu .

Die Struktur von Inklusion 137

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft

Für Ferdinand Tönnies (2005)10 konstituiert sich Gesellschaft über Tausch-akte . Gesellschaft beginnt für ihn mit der Moderne und dem Kapitalismus . Sie ist gekennzeichnet durch einen rationalen, bewussten Kürwillen11 . Mit Kürwillen meint Tönnies (ebd ., S . 91ff .) die Form des Willens, mit deren Hilfe der Einzelne sich anderer in instrumenteller Weise zu eigenen Zwecken bedient . Beispiele eines solchen Gesellschaften auszeichnenden Kürwillens sind Aktiengesellschaften oder der moderne Staat . Beziehungen in Gemein-schaften demgegenüber beruhen auf Reziprozität . Sie sind keine vertragli-chen Tauschverhältnisse, sondern gründen auf gegenseitiger supererogatori-scher Stützung und Hilfe . Charakterisiert wird die Gemeinschaft von einem gefühlten, unbewussten Wesenswillen (vgl . ebd ., S .  73ff .) . Hier fühlt sich nach Tönnies der Einzelne als Teil eines größeren Ganzen, und er orientiert sein Handeln an den übergeordneten Zielen der Gemeinschaft . Die Rezip-rozität in der gegenseitigen Stützung und Hilfe kann durchaus im Ungleich-gewicht, asymmetrisch, sein, sie ist aber nach Tönnies (ebd ., S . 11) nie einsei-tig .

Die Familie ist für Tönnies die primäre, prototypische Gemeinschaft . Fa-milien sind Gemeinschaften von ›Blut und Boden‹12 (vgl . ebd ., S . 12f .) . In-nerhalb der Familie existieren drei Gemeinschaftskerne . In ihnen kann eine Abfolge von stärkerem zu schwächerem Zusammenhalt festgestellt werden: erstens die Mutter-Kind-Beziehung . Diese ist zuerst eine körperliche, später eine geistige Verbindung . Zweitens gibt es nach Tönnies die Mann-Frau-Beziehung, welche gekennzeichnet ist durch Instinkt – Anziehung – und Gewöhnung . Und drittens existiert die Gemeinschaftsbeziehung der Ge-schwisterbeziehung, welche durch gemeinsame Erinnerungen konstituiert ist . Neben dieser primären, prototypischen Gemeinschaft unterscheidet Tönnies Gemeinschaften des Geistes (Freundschaften) und Gemeinschaften des Ortes (Nachbarschaften) (vgl . ebd ., S . 12f .) .

10 Die erste Herausgabe des Buches ›Gemeinschaft und Gesellschaft‹ von Tönnies geht auf das Jahr 1887 zurück . Während die erste Ausgabe noch weitgehend unbeachtet blieb, än-derte sich das bei der zweiten 1912 . Die letzte und gegenwärtig einzig erhältliche Ausgabe stammt aus dem Jahr 2005 .

11 Bei Max Weber (1922) heißt das später Zweck- und Wertrationalität . 12 Insbesondere daran war eine damals sehr verbreitete völkische Ideologie anschlussfähig .

Dies, obwohl sich Tönnies nie als Deutschnationaler verstand und die verschiedenen Aus-gaben seines Werkes auch jeweils mit einem kritischen Vorwort zur gesellschaftlich-politi-schen Lage versah und dabei auf einschlägige Zeitdiskussionen Bezug nahm .

138 Inklusion und Gerechtigkeit

Kritik an Tönnies

Tönnies wurde für seine Konzeption von Gemeinschaft früh kritisiert, bei-spielsweise von Emile Durkheim, Max Weber oder Talcott Parsons (vgl . Opielka 2006, S . 11) . Die Kritik bezog sich dabei vor allem auf drei Punkte (vgl . Scherr 2006, S . 57): Erstens verwendet Tönnies geschlechtsbezogene Stereotype, indem er Gesellschaft als männliches und Gemeinschaft als weibliches Prinzip bezeichnet . Zweitens sind im Tönnies’schen Verständnis gemeinschaftliche Beziehungen vor- oder außergesellschaftlich und in ihrer Struktur nicht von gesellschaftlichen Strukturen und Dynamiken beein-flusst . Damit sind wechselseitige Beeinflussungen und Durchdringungen der Sphären bei Tönnies nicht mitgedacht . Drittens wird die quasi-natürliche Zugehörigkeit von Individuen zu allen Arten von Gemeinschaften nicht problematisiert .13 Die Zugehörigkeit zur Familie, aber auch zu Nation und Volk wird bei Tönnies zwar beschrieben, die kritischen Dimensionen, bei-spielsweise Abhängigkeiten und mangelnde Freiheiten von Individuen, aber nicht ausgeleuchtet .

Max Weber: ›Vergemeinschaftung‹ und ›Vergesellschaftung‹

Aufbauend auf den Überlegungen und kritischen Anmerkungen an Tönnies’ Konzeption entwickelte Max Weber in ›Wirtschaft und Gesellschaft‹ ein neues Verständnis der Unterscheidung Gemeinschaft-Gesellschaft, die er mit den Begriffen ›Vergemeinschaftung‹ und ›Vergesellschaftung‹ als soziale Prozes-se zu fassen versucht . »›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung hei-ßen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns […] auf subjektiv gefühlter (affektualer oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteilig-ten beruht« (Weber 1922, Art . 9) . Der ›Vergemeinschaftung‹ steht der Pro-zess der ›Vergesellschaftung‹ gegenüber, den Weber folgendermaßen um-schreibt: »›Vergesellschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweck-rational) motivierten Interessensausgleich oder auf ebenso motivierter Inter-essenverbindung beruht« (ebd .) . Die reinsten Typen der ›Vergesellschaftung‹ sind nach Weber der zweckrationale, freie Tausch auf dem Markt, der frei

13 Vor allem der letzte Punkt ist angesichts der zu Lebzeiten Tönnies entwickelnden national-sozialistischen Ideologie einer Volksgemeinschaft, welcher Tönnies entschieden ablehnend gegenüber stand, erstaunlich .

Die Struktur von Inklusion 139

handelnde Zweckverein (eine hinsichtlich Zweck und Mittel auf die Verfol-gung sachlicher Interessen der Mitglieder ausgerichtete Verbindung) und der wertrational motivierte Gesinnungsverein, die sogenannte ›rationale Sekte‹ . Den Prozess der ›Vergemeinschaftung‹ versteht Weber demgegenüber offe-ner . Er umfasst die sogenannte Brüdergemeinde, erotische Beziehungen, die nationale Gemeinschaft und die Familie . Neu gegenüber Tönnies ist insbe-sondere die Feststellung, dass die große Mehrzahl der Beziehungen sowohl den Charakter von ›Vergemeinschaftung‹ wie von ›Vergesellschaftung‹ trägt .

Die praktische Bedeutung der Unterscheidung für das Thema Behinderung

Ökonomische, rechtliche und politische Beziehungen, so hat sich gezeigt, sind nicht allein über Individuen beschreibbar, sondern umfassen auch Or-ganisationen und Institutionen, die in gewissem Sinne überindividuell, das heißt nicht durch die Summe aller Individuen substituierbar, sind .

Praktisch bedeutsam wird diese Feststellung für das Leben von Menschen mit Behinderung vor allem aus zwei Gründen: Erstens prägen gesellschaftli-che Institutionen und Organisationen ihr Leben in besonderem Maß, bei-spielsweise durch gesellschaftlich bereitgestellte Mittel der Hilfe und Unter-stützung im Falle von Berufsunfähigkeit, aber auch über Bildung und Erziehung, welche sich ebenfalls über staatliche Mittel finanziert . Diese ge-sellschaftlichen Institutionen und Organisationen beeinflussen auch den Grad und die Art ihrer gemeinschaftlichen Inklusion, etwa in konkreten Ar-beits- oder Bildungsgemeinschaften, zu denen Menschen mit Behinderung Zugang haben . Zweitens kann man mit Ferdinand Tönnies darauf hinwei-sen, dass gemeinschaftliche Beziehungen wechselseitig sein müssen, dass die Beiträge der Einzelnen aber durchaus im Ungleichgewicht sein können . Das bedeutet, eine Beziehung kann reziprok sein, ohne dass beide Seiten qualita-tiv wie quantitativ denselben Beitrag leisten . Es wird, mit anderen Worten, keine strenge Reziprozität erwartet . Damit ist es erstens möglich, die soziale Inklusion von Menschen mit schweren Behinderungen – die nicht in dem-selben Maß zu einem gemeinsamen Unternehmen beitragen können – zu beschreiben .14 Und zweitens wird es möglich, auf die Bedeutung von Zu-

14 Meiner Ansicht nach ist das entscheidende Kriterium daran, dass man glaubt, die eigene Intentionalität mache beim Anderen ›einen Unterschied‹ . Der Sinn dieser Zuschreibung liegt darin, dass sie Entwicklungsprozesse auslöst, die ohne diesen Vertrauensvorsprung

140 Inklusion und Gerechtigkeit

wendung und Hinwendung in Entwicklungsprozessen hinzuweisen . Denn Eltern wenden sich in der Erziehung ihrer Kinder deren Bedürfnissen nach Zuwendung und Vertrauen zu, ohne dass sie eine aktuale Gegenleistung er-warten . Im Gegenteil: Die bedingungslose Zuwendung ist Voraussetzung für die gedeihliche Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern (vgl . Brazel-ton und Greenspan 2002) .15

Im Folgenden möchte ich dazu übergehen, die beiden Sphären Gemein-schaft und Gesellschaft zu klären und zu erläutern . Für die gemeinschaftliche wie die gesellschaftliche Sphäre werde ich die beiden Annahmen – Zugehö-rigkeit respektive Anerkennung (im Sinne einer Identifikation) sowie soziale Intentionalität respektive soziales Handeln – erläutern und exemplifizieren . Ich beginne mit der Sphäre der gemeinschaftlichen Inklusion .

5 .2 Gemeinschaftliche Inklusion

Masons Gemeinschaftsbegriff

In der Gesellschaft und ihren Verbindungen interagieren Menschen auf kon-traktualer Basis, um ihre Selbstinteressen durchzusetzen . Eine Gemeinschaft demgegenüber kann laut Andrew Mason (2000)16 als eine Gruppe von

nicht in Gang gesetzt würden . Dies zeigt sich auch eindrücklich in Beziehungen zu Men-schen im Koma . So wenden sich Angehörige diesen erfahrungsgemäß so lange zu, wie sie davon ausgehen, dass sie von der Ansprache etwas mitnehmen . Vgl . dazu das ausführlich und interessant beschriebene Fallbeispiel von Steve durch Simo Vehmas (2010) . Erfahrun-gen von Eltern mit schwerstbehinderten, nicht lebensfähigen Säuglingen bestätigen darü-ber hinaus diese Erfahrungen . Auch zeigen soziologische Untersuchungen, dass vor allem diese Ansprache, das Wahrnehmen von Leben, entscheidend ist für die Zuschreibung von Intentionalität (vgl . Lindemann 2002, 2010) .

15 Allerdings muss diese Zuwendung zumindest von der Hoffnung getragen sein, dass die Zuwendung in Zukunft einmal erwidert wird . Erfahrungen von Angehörigen, die Men-schen betreuen, von denen keine Lebensreaktion erwartet werden kann, zeigen, dass die vollständige Nichtreziprozität von Zuwendung auf Dauer psychisch meist nicht ertragen werden kann .

16 Gemeinschaft ist ein wichtiger Begriff in der Diskussion zwischen Liberalen und soge-nannten Kommunitaristen . Letztere betonen den Wert von Gemeinschaft und kritisieren an liberalen Theorien, dass Gemeinschaften und vor allen Dingen der Wert von Gemein-schaft vernachlässigt würde (vgl . Buchanan 1989; Kymlicka 2002; MacIntyre 1985) . Aller-dings ist es dem Kommunitarismus nach Ansicht Wolfgang Kerstings (1997, S . 406) bis heute nicht gelungen, den Gemeinschaftsbegriff zu definieren . Ähnlicher Meinung ist

Die Struktur von Inklusion 141

Menschen verstanden werden, die erstens gemeinsame Werte und zweitens einen gemeinsamen Lebensstil teilen, in der drittens eine Identifikation mit der Gruppe und ihren Praktiken stattfindet und deren Mitglieder sich viertens wechselseitig als Mitglieder anerkennen: Beim gemeinsamen Handeln sind die gemeinsamen Ziele und Interessen nicht reduzierbar auf die der einzelnen Mitglieder .17

In der Realität überlappen sich beide Gesichtspunkte respektive beide Sphären zweifelsohne . So kann eine Firma, deren Arbeiter auf kontraktualer Basis interagieren, in dem hier vorliegenden Sinn als Gesellschaft bezeichnet werden, denn es sind vordringlich die von Weber und Tönnies genannten zweckrationalen Kriterien, an denen sich die Zugehörigkeit misst . Der Ein-zelne ist hier ›Arbeiter‹ . Darüber hinaus ist er aber, sobald sich der Fokus auf den gemeinschaftlichen Charakter – nämlich eine bestimmte Arbeitsgruppe – richtet, Teil einer Gemeinschaft . Hier wird dann der Arbeiter als Kollege oder Kumpel wahrgenommen . Der Punkt ist vor allem der, dass in beiden Sphären – die, wie das Beispiel des Arbeitsplatzes zeigt, auch überlappend sein können – unterschiedliche Modi von Zugehörigkeit und Anerkennung konstitutiv sind . Und auf diese Modi kommt es in der Analyse der normati-ven Relevanz von Inklusion insbesondere an .

Eine Gemeinschaft als spezifische Art von Gruppe hat zentrale Werte und Ziele . Diese umfassen laut Andrew Mason auch regelgeleitete Praktiken . Ein gemeinsamer Lebensstil bestimmt die zentralen Bereiche der sozialen,

Udo Tietz (2006, S . 48), der moniert, der Kommunitarismus habe »bisher keine Konzep-tion der Gemeinschaft vorgelegt, die den eigenen Themenbereich der sozialen und politi-schen Integration in einer Weise fasst, dass er mit dem Themenbereich der praktischen Verwirklichung des Liberalismus, der Stabilisierung und Kontinuierung liberaler, demo-kratischer Gesellschaften, kompatibel wäre .« Mason ist daher meines Wissens einer der wenigen Autoren, der in der Debatte eine explizite Definition von Gemeinschaft geliefert hat .

17 Vertritt man keinen stark normativen Gesellschaftsbegriff, wie das beispielsweise im Kom-munismus der Fall ist, ist eine Gesellschaft nicht gleichzeitig auch eine Gemeinschaft . Denn nur eine Gesellschaft, in welcher der Einzelne im kollektiv geteilten Gemeinwohl aufgeht, kann auch als Gemeinschaft bezeichnet werden . Dies ist aber in modernen Ge-sellschaften und Demokratien nicht der Fall, zumal es in zunehmend globalisierten Gesell-schaften noch viel weniger zutrifft . Zwar ist die gewünschte Beziehung zwischen Bürgern in einer wohlgeordneten Gesellschaft, wie sie beispielsweise John Rawls (1993) vertritt, eine Auffassung von Gesellschaft, die getragen ist von gegenseitiger Wertschätzung der Bürger untereinander und der wechselseitigen Bestätigung der Befähigungen derselben . Von Rawls (2003, S . 300) wird aber bestritten, dass die wohlgeordnete Gesellschaft eine Gemeinschaft sei, und zwar aus dem Grund, weil ihre Bürger keine umfassende Lehre teilen .

142 Inklusion und Gerechtigkeit

politischen oder ökonomischen Aktivitäten . Die Identifikation mit der Ge-meinschaft und ihren Praktiken beinhaltet normalerweise das Vorantreiben gemeinsamer Praktiken und Interessen, um sich der Gemeinschaft und ihren Handlungen zugehörig zu fühlen . Das setzt voraus, dass die Mitglieder die Gemeinschaft und ihre Ziele und Praktiken als wertvoll ansehen müssen .18 Eine Gemeinschaft setzt zu guter Letzt auch wechselseitige Anerkennung voraus, welche in einem nichtnormativen Sinne zunächst einmal als wechsel-seitige (gegenüber einer personalen) Identifikation dahingehend verstanden werden kann, dass andere Gruppenmitglieder als Mitglieder identifiziert werden .

Konflikte in der wechselseitigen Anerkennung können auftreten, wenn Uneinigkeit darüber besteht, ob jemand die Kriterien für die Mitgliedschaft erfüllt oder wenn (implizite oder explizite) Uneinigkeit über die Kriterien selbst besteht .19

Je nach Ausprägungen dieser Elemente lassen sich laut Mason nun ganz verschiedene Gemeinschaften identifizieren . Während einige Gemeinschaf-ten in ausgeprägtem Maße gemeinsame Werte und Ziele, einen gemeinsa-men Lebensstil sowie eine hohe Identifikation mit der Gemeinschaft verlan-gen, tun dies andere nur in sehr schwacher Weise . Ein typisches Beispiel für Gemeinschaften mit hoher Wert- und Lebensstilorientierung sowie einem hohen Maß an Identifikation sind orthodoxe religiöse Gemeinschaften, wie sie unter anderen die Amischen oder streng orthodoxe Juden in besonders deutlicher Ausprägung darstellen .

Kritik an Masons Gemeinschaftsbegriff

Der von Mason vertretene Gemeinschaftsbegriff ist allerdings sehr eng und daher abzulehnen . Dies zeigt sich bereits in seiner eigenen Auslegung der vier Elemente, die so schwach ausgeprägt sein können, dass ihr Status als Kriteri-um hinfällig wird . So schreibt Mason (ebd ., S . 39), dass sich die Mitglieder

18 Das bedeutet nicht, dass sie wertvoll sein müssen . Die Identifikation kann auch auf einer Illusion beruhen (vgl . Williams 1995) .

19 Die Annahmekriterien in eine Gemeinschaft können formell oder informell sowie freiwil-lig (und damit wählbar) oder nicht freiwillig sein . Formelle Aufnahmekriterien sind bei-spielsweise Prüfungen, die man bestehen muss, um in einem Kontext wie einem Gymna-sium aufgenommen zu werden . Ein Beispiel für ein unfreiwilliges Aufnahmekriterium ist die Geburt in die eigene Herkunftsfamilie.

Die Struktur von Inklusion 143

in Gemeinschaften nicht zwangsläufig kennen müssten und daher auch Na-tionen als Gemeinschaften bezeichnet werden könnten .20

Werden aber Nationen als Gemeinschaften bezeichnet, ist fraglich, was mit ›gemeinsamem Lebensstil‹ gemeint ist . Zweifelsohne pflegen Menschen in den Nationen, in denen sie leben, mit Ausnahme streng diktatorischer und abgeschotteter Nationen wie Nordkorea ganz unterschiedliche Lebens-stile . Masons Meinung ist mit Bestimmtheit nicht, dass nur Nationen wie Nordkorea als Gemeinschaften gelten können . Allerdings: Gelten Nationen generell als Gemeinschaften und will man darüber hinaus einen plausiblen Begriff von Lebensstil vertreten, stellt sich die Frage, inwiefern ein gemeinsa-mer Lebensstil eine notwendige Bedingung von Gemeinschaft sein kann .

In gewissem Sinn gilt diese Kritik für alle von Mason identifizierten Ele-mente von Gemeinschaft: Sind sie alle notwendige Bedingungen dafür, als Gemeinschaft gelten zu können, würden wohl nur noch wenige Gruppen als Gemeinschaften gelten . Dies träfe dann beispielsweise noch auf enge, relativ kleine, orthodox religiöse Gruppen oder enge Freundschaften zu, denn nur bei ihnen kann man von der Erfüllung aller vier Kriterien ausgehen .

Der Begriff der Gemeinschaft muss also deutlich schwächer respektive weiter ausfallen . Entgegen der Definition von Mason gehe ich davon aus, dass Gemeinschaften durch Identifikation mit der Gruppe (von Seiten der einzelnen Mitglieder) und von wechselseitiger Anerkennung geprägt sind, die zwei anderen Elemente (gemeinsame Werte und gemeinsamer Lebens-stil) aber wegfallen können . Dafür gibt es zwei Gründe . Den ersten habe ich bereits genannt: Die Definition umfasst, bei überzeugender Auslegung der einzelnen Elemente, zu wenige Phänomene und führt dazu, dass die Sphäre der Gemeinschaft kaum mit derjenigen der Gesellschaft kontrastiert werden kann . Zweitens können sowohl die Bedingung der geteilten Werte wie auch die Bedingung des gemeinsamen Lebensstils in ihrer plausiblen Auslegung unter die anderen zwei Bedingungen (Identifikation und wechselseitige An-erkennung) substituiert werden . Wie sich später noch genauer zeigen wird, ist nämlich sowohl in der Identifikation mit der Gemeinschaft als auch durch die wechselseitige Anerkennung bereits impliziert, dass zumindest gewisse Werte geteilt werden, nämlich diejenigen Werte, die bereits Grundlage dafür sind, dass wechselseitige Anerkennung und Identifikation überhaupt geleis-

20 Allerdings ist bei solchen Gemeinschaften immer die Gefahr der Entfremdung gegeben . Eine Beziehung zwischen Menschen, die sich nicht kennen, muss daher immer vermittelt sein . So erkennen sich Gemeinschaften wie die Juden auf der ganzen Welt an bestimmten Attributen der Kleidung und des Aussehens als Ausdruck ihres religiösen Glaubens (vgl . Mason 2000, S . 39) .

144 Inklusion und Gerechtigkeit

tet wird . Widmet sich beispielsweise die Gemeinschaft eines Fanclubs der gemeinsamen Fanarbeit, dann ist es naheliegend, davon auszugehen, dass sich die einzelnen Mitglieder wechselseitig vor allem darin anerkennen, wie sich dieser geteilte Wert, das Fansein, ausdrückt . In diesem scheiden sich dann die ›wahren‹ oder ›richtigen‹ von den ›falschen‹ oder bloß ›halbherzi-gen‹ Fans .

Die Konstituierung von Gemeinschaften

Die Identifikation von Gruppen als Gemeinschaften ist die eine Seite einer Deskription von Gemeinschaft . Die andere betrifft die Frage, wie sich Ge-meinschaften konstituieren . Damit wird der Prozess der Werdung einer Ge-meinschaft beleuchtet . Die Beantwortung der Frage, wie sich Gemeinschaf-ten bilden, hat Auswirkungen darauf, wie die einzelnen Elemente, welche eine Gemeinschaft ausmachen, ausgeprägt sind . Bildet sich beispielsweise eine Gemeinschaft dadurch, dass unterschiedliche Menschen ein bestimmtes Interesse teilen, sei dies das gemeinsame Interesse an einem Künstler oder ein Hobby wie Fußballspielen, ist es naheliegend anzunehmen, dass in solchen Gemeinschaften die Identifikation sowie die wechselseitige Anerkennung zum größten Teil über dieses freiwillig gewählte gemeinsame Interesse geht . In anderen Gemeinschaften, die sich über die Erfüllung bestimmter objekti-ver Kriterien (Alter, geographisches Einzugsgebiet) konstituieren, läuft die Anerkennung über die Erfüllung dieser objektiven Zugangsbedingungen . Es ist daher möglich und sinnvoll, unterschiedliche Gemeinschaften nicht nur dahingehend zu unterscheiden, wie einzelne Elemente in ihnen ausgeprägt sind, sondern, damit verbunden, auch hinsichtlich der Art und Weise, wie sie sich konstituieren .

Ich schlage vor, Gemeinschaften in dieser Hinsicht auf einem Kontinu-um einzuordnen . Dieses Kontinuum ist am einen Ende partizipativ, am an-deren Ende exklusiv .21 Dabei sind exklusive Gemeinschaften tendenziell über formelle Anerkennungsprozeduren gekennzeichnet, während sich par-tizipative durch informelle Selbstzuschreibung konstituieren . Die zwei Pole von Gemeinschaften schärfen die erste Intuition, wonach Inklusion mit Zu-gehörigkeit zu tun hat, für den gemeinschaftlichen Bereich .

21 Dabei sind beide Formen Idealtypen und in der Realität kaum so anzutreffen . Es geht also weniger darum, ob eine Gemeinschaft partizipativ oder exklusiv ist, sondern um die Frage, welches Motiv vor- respektive nachgelagert ist .

Die Struktur von Inklusion 145

5 .2 .1 Partizipative versus exklusive Grundstrukturen von Gemeinschaften

Gemeinschaften können tendenziell partizipativ und inkludierend sein, sie können aber auch exklusiv und damit tendenziell ausschließend sein . Dass beide nicht in Reinform existieren, sondern Idealtypen entsprechen, hat mit der Struktur von Inklusion zu tun . Wie ich bereits erwähnt habe, ist bei In-klusion immer auch komplementär Exklusion mitgedacht . Mit anderen Worten: Wer von einer Gemeinschaft spricht, also von ›wir‹, setzt damit nicht nur eine partizipative Struktur, sondern auch die Grenzen dieser Ge-meinschaften und meint auch ein ›Sie‹ als Unterscheidungsmoment zum ›Wir‹ . Die Grenze trennt die Mitgemeinten (wir), die Mitglieder der Ge-meinschaft, von den Ausgeschlossenen, den ›Anderen‹ (vgl . Tietz 2002) . Eine partizipative Seite von Gemeinschaft hat, mit anderen Worten, also auch immer eine exklusive Seite und macht Aussagen darüber, oft nur impli-zit, wer nicht dazu gehört .22 Wer ›wir‹ sagt, impliziert also zugleich mit der Struktur immer die Geltung von Zugehörigkeitsbedingungen oder Kriteri-en, welche eine bestimmte Auswahl von Individuen zum ›Wir‹ machen .23 Diese Anwendungskriterien können bewusst und explizit sein, müssen es aber nicht .24

22 Dabei muss man zwar nicht alle Mitgemeinten in einer Gemeinschaft kennen, denn diese kann durchaus sehr groß sein . Man braucht aber eine Vorstellung derer, die dazu gehören und derer, die ausgeschlossen sind .

23 Die der partizipativen Seiten entgegen gestellte exklusive Seite bedeutet zwar nicht, dass die meisten aus einem partizipativen Kreis ausgeschlossen wären . Selbst wenn aber unter ›wir‹ ein universelles ›Wir‹ gemeint ist, beispielsweise die Gemeinschaft aller Menschen, unterstellt man Kriterien dafür, wer ›alle‹ sind . Alle Lebewesen beispielsweise schließt alle Nicht-Lebewesen wie Steine oder Häuser aus . In sonderpädagogischem Zusammenhang wird dieser Aspekt selten beleuchtet . Auf diesen Punkt hat unter anderem John Wilson (1999) kritisch hingewiesen . Seiner Meinung nach macht es keinen Sinn, von Inklusion zu sprechen, wenn man nicht gleichzeitig Kriterien benennt, nach denen jemand inkludiert ist .

24 Explizite Kriterien kommen beispielsweise in Prüfungsreglementen zum Ausdruck . Benö-tigt jemand einen bestimmten Notendurchschnitt, um in eine nächste Schulstufe überzu-treten, sind dies explizite Kriterien . Ist beispielsweise ein Notendurchschnitt von 5 (im Schweizer Notensystem) Voraussetzung zum Besuch eines Gymnasiums, heißt das, dass bei unparteilicher Anwendung dieser Aufnahmeregel alle Mitglieder der Klassengemein-schaft diese Bedingung zur Aufnahme erfüllten und daher rechtmäßig Mitglieder der Klassengemeinschaft sind . Diese expliziten Kriterien kennzeichnen eine exklusive Ge-meinschaft, in diesem Fall die Schülerschaft eines Gymnasiums .

146 Inklusion und Gerechtigkeit

Zwei Pole von Gemeinschaften

In der Struktur von Gemeinschaften lassen sich also zwei Pole identifizieren, die das Verhältnis der beiden Momente kennzeichnen: Die eine Seite der exklusiven Gemeinschaft beschreibt die Mitgliedschaft in der vorgängigen Erfüllung bestimmter exklusiver Zugehörigkeitsbedingungen . ›Wir‹ heißt in diesem Fall, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft dieselben Zugehörig-keitsbedingungen erfüllen . Dies können unter anderem Eigenschaften, Qua-litäten oder Verhaltensweisen sein . Zum ›Wir‹ eines Opernorchesters gehö-ren beispielsweise alle, welche eine Aufnahmeprüfung oder ein Aufnahme- verfahren bestanden haben und ein bestimmtes, im Orchester benötigtes, Instrument hinreichend gut beherrschen .

Die andere Seite des Pols versteht die partizipative Selbstzuschreibung als primär . Zu ›wir‹ gehören also alle, die sich dem ›Wir‹ zugehörig fühlen oder fühlen wollen . Was ›uns‹ zu einem ›Wir‹ macht, sind also nicht irgendwelche Eigenschaften oder Qualitäten, sondern die Tatsache, dass die einzelnen Mitglieder sich selbst zur Gemeinschaft zugehörig fühlen . Damit sind in ei-nem partizipativen Gemeinschaftsverständnis die Zugehörigkeitsgefühle der einzelnen Mitglieder zentral . Wer sich nicht zur Gemeinschaft zugehörig fühlt und/oder von dieser nicht als zugehörig erlebt wird, gehört nicht dazu . Und im Gegenzug gehören diejenigen dazu, welche sich der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern zugehörig fühlen .25 Beispielsweise kann sich ein Ju-gendlicher in einer Skateboarder-Clique zugehörig fühlen und dieses Gefühl über Freundschaft konstituieren . Maßgeblich ist in diesem Fall dann nicht, dass alle in dieser Clique Skateboard fahren können (selbst wenn es so sein sollte), sondern dass sie sich als ein Miteinander in der Freundschaft verste-hen .

Ein exklusiver Gemeinschaftsbegriff setzt Exklusion hierarchisch vor Par-tizipation . Er fokussiert darauf, dass ›wir‹ diejenigen umfasst, welche die gel-

25 Ein typisches Beispiel für eine solche partizipative Gemeinschaft ist ein Fanclub . Ihm ge-hören in der Regel diejenigen an, die sich ihm zugehörig fühlen . So ist es absurd zu bestrei-ten, jemand sei kein Fan, wenn sich dieser selbst als solcher fühlt . Allenfalls könnte man einwenden, er wisse nicht, was dazu gehöre, ein Fan zu sein . Auch ist es möglich, jeman-den, der den jährlichen Vereinsmitgliederbeitrag nicht bezahlt, formell aus dem Fanclub (als organisierte Vereinigung) auszuschließen . Dann allerdings streitet man sich nicht über die Tatsache des Fanseins an sich, sondern um eine angemessene Beurteilung dessen, wann und wodurch man sich zugehörig fühlen kann und formell dazu gehört . Unumstritten scheint daher im Falle eine Fanclubs die Selbstzuschreibung das entscheidende Kriterium einer Mitgliedschaft in der Gemeinschaft zu sein .

Die Struktur von Inklusion 147

tenden Zugehörigkeitsbedingungen erfüllen . Die dabei unterstellte Selbst zu-schreibung gründet in einer vorgängigen Erfüllung der exklusiven Zugehörig- keitsbedingungen . Die Mitglieder der Gruppe teilen bestimmte Eigenschaften objektiver Art . Die subjektiv empfundene Gemeinsamkeit und Zugehörig-keit auf Seiten der Individuen hat ihren Ursprung in einer die relevanten Kriterien betreffenden, objektiven Gleichheit . Das Bewusstsein, eine Ge-meinschaft zu sein, weist dabei auf die Zugehörigkeitsbedingungen, es schafft sie aber nicht . Eine so verstandene Inklusion kann man sich wie die Zugehö-rigkeit zu einem exklusiven Club vorstellen, in welchem die Aufnahme auf-grund festgelegter, objektiver Kriterien erfolgt . Anerkennung wie auch Zu-gehörigkeitsgefühle sind dem nachgelagert, indem die Zugehörigkeit über die objektive Gleichheit verstanden wird .26

Demgegenüber steht ein partizipativer Gemeinschaftsbegriff . Hier folgen die exklusiven Zugehörigkeitsbeschreibungen den partizipatorischen Selbst-zuschreibungen . Mitglied der Gemeinschaft sind all diejenigen, welche sich dem ›Wir‹ zugehörig fühlen . Es ist also die subjektive Selbstzuschreibung, welche die Grenze zwischen den Inkludierten und den Exkludierten festlegt . Die Selbstzuschreibung oder Identifikation mit der Gemeinschaft kann die Grenzen auch unabhängig von den sich in der sozialen Wirklichkeit beob-achtbaren Grenzen gemeinschaftlicher Tätigkeit bilden . Jemand kann in die-sem Verständnis zu einer Gemeinschaft dazu gehören, obwohl er nie an einer Gruppenaktivität teilnimmt . Im Gegenzug kann jemand nicht zur Gemein-schaft gehören, obwohl er an sämtlichen Aktivitäten der Gemeinschaft teil-nimmt . In einem eher partizipativ geprägten Wir-Verständnis kann man sich selbst aus der Gemeinschaft ausschließen, indem man sich der Gemeinschaft nicht mehr zugehörig fühlt .27 Da in einem partizipativen Gemeinschaftsver-ständnis kein vorgängiges, exklusives und objektives Fundament bestimmter vorzuweisender Eigenschaften oder Qualitäten notwendig ist, ist die Mit-

26 Hierbei zeigt sich auch ein Großteil der Problematik für behinderte Menschen . Erstens, indem sie oft aufgrund bestimmter Schädigungen respektive deren lebenspraktischer Aus-wirkungen in Form von Beeinträchtigungen der Partizipation und Aktivität die exklusiven Aufnahmebedingungen in viele Gemeinschaften nicht erfüllen . Zweitens damit verbun-den auch, indem ihnen oft die notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten abgesprochen werden, selbst wenn sie diese erfüllen würden . Drittens kommt noch hinzu, dass die Legi-timität des Kontextes selbst in vielen Fällen nicht hinterfragt wird . Damit geht man still-schweigend davon aus, dass die Spielregeln, die über Zugang oder Ausschluss entscheiden, selbst gut, gerecht und nicht veränderbar sind . Auf diese komplexe Problematik, welches sie ›Dilemma der Differenz‹ nennt, hat Martha Minow (1990) hingewiesen .

27 So kann sich beispielsweise ein Fan, der die Kunstwerke eines bestimmten Künstlers nicht mehr als gut befindet, aufhören, Mitglied eines Fanclubs zu sein .

148 Inklusion und Gerechtigkeit

gliedschaft in dieser Gemeinschaft direkt an die wechselseitige Anerkennung und die Identifikation geknüpft und wird nicht über die vorgängige Erfül-lung objektiver Kriterien vermittelt .

Im Beispiel von Anna und Bertha haben sich beide Aspekte gezeigt . Bei-de Frauen erfüllen die exklusiven Zugehörigkeitsbedingungen, welche den Verein offensichtlich auszeichnen . Aber nur Anna wird von den anderen Mitgliedern auch als partizipativ zum Gesangsverein zugehörig verstanden . Die Anerkennung läuft also in diesem Gesangsverein über die vorgängige Erfüllung objektiver Kriterien, wie auch – wenn auch erst in zweiter Linie – über die partizipative Selbst- und Fremdzuschreibung .

Die beiden Momente – exklusives wie partizipatives – bedingen sich so-mit wechselseitig und stehen gleichzeitig in einem Spannungsverhältnis . Es sind zusammengehörende Gegensätze auf einem Kontinuum, innerhalb des-sen ein Moment besonders ausgeprägt sein kann . Nie aber wird nur eines von beiden Momenten in seiner Ausschließlichkeit anwesend sein . Das heißt, Gemeinschaften, die ausschließlich auf Zugehörigkeitsgefühlen basie-ren, existieren realiter genauso wenig wie Gemeinschaften, die rein exklusiv sind und bei denen Zugehörigkeitsgefühle vollständig abwesend sind . Dass die Übergänge fließend sind, zeigt sich zudem auch an Beispielen wie der Gemeinschaft der Skateboardfahrer: Das Skateboardfahren (exklusiv) könn-te der Beginn der Freundschaft (partizipativ) sein respektive von diesem ab-gelöst werden, beispielsweise dann, wenn sich die Mitglieder selbst dann noch als Gemeinschaft fühlen, wenn sie sich bereits einem anderen Hobby zugewandt haben und gar nicht mehr Skateboard fahren .

Das Beispiel Schulklasse

An der Gemeinschaft der Schulklasse lassen sich beide Momente nochmals deutlich veranschaulichen .28 Zudem lässt sich daran auch zeigen, dass in

28 Darüber hinaus ist die Schule als Institution von Bildung auch ein interessantes Beispiel, als sich in ihr auch gesellschaftlich komplexe Dimensionen bemerkbar machen . Bildung ist nämlich ein gesellschaftlicher Auftrag und bildet nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht . Insofern ist es den Einzelnen bei prekärer gemeinschaftlicher Stellung nur schwer möglich, sich Bildung in der Schulklasse ganz zu entziehen, da sie ja nicht – wie bei anderen gesellschaftlichen Rechten – auf die Ausübung des Rechts verzichten können . Als einzige Möglichkeit bleibt solchermaßen sozial gestellten Menschen nur, den Bildungs-kontext zu wechseln .

Die Struktur von Inklusion 149

Gemeinschaften beide Momente gleichzeitig anwesend sind, selbst wenn das eine dem anderen – beispielsweise in zeitlicher Hinsicht – vorgelagert ist .

Zwar ist jede Schulklasse in ihrer Grundform tendenziell eine exklusive Gemeinschaft . Meistens spielen – auf jeden Fall in Bezug auf die öffentliche Regelbeschulung – Kriterien wie Alter und geographisches Einzugsgebiet die wichtigste Rolle bezüglich Auswahl der Schülerschaft .29 Ist die Schulklasse aber erst einmal aufgrund dieser Kriterien konstituiert, muss sie sich als par-tizipative Gemeinschaft formieren, da nämlich nur so ein gedeihliches, un-terstützendes Klassenklima erwartet werden kann . Die Schüler also, wiewohl aufgrund objektiver Kriterien in diese Schulklasse gekommen, sollen sich fortan nicht nur bezüglich dieser Kriterien wechselseitig anerkennen, son-dern sich darüber hinaus auch partizipativ selbst zur Gemeinschaft zuschrei-ben und sich in ihrer Besonderheit und in den besonderen Beiträgen, die jeder zum gelingenden Ganzen liefert, anerkennen .

Für Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung können nun folgen-de Probleme auftauchen: Erstens kann schon bezweifelt werden, dass sie be-rechtigter Teil der exklusiven Gemeinschaft einer Schulklasse sind . Beispiels-weise kann bestritten werden, dass sie die objektiven Aufnahmekriterien in die Gemeinschaft erfüllen . So kann zwar unangefochten sein, dass sie das notwendige Lebensalter für eine Aufnahme in die Regelschulklasse erfüllen würden, es kann aber bezweifelt werden, – beispielsweise im Falle einer geis-tigen Behinderung – dass sie das notwendige Entwicklungsalter besitzen . Noch brisanter wird der Fall, wenn, wie bei sogenannten Verhaltensauffälli-gen, angezweifelt wird, dass eine partizipative Selbstzuschreibung überhaupt möglich ist . Verhaltensauffälligkeit wird nämlich oft so verstanden und ko-diert, dass sie sich in der Abweichung von Regeln und Praktiken des zwi-schenmenschlichen Benehmens zeigt und auch dadurch konstituiert wird . Die Schnur, an welcher sich Zweifel einer legitimen Zugehörigkeit messen, sind die (gesellschaftlich vorgegebenen) Lernziele, welche alle Schüler errei-chen müssen . Damit kann erstens bezweifelt werden, dass ein Kind mit Be-einträchtigung diese Lernziele überhaupt erreichen kann . Oder es kann zweitens, und dies ist faktisch oft der Fall, bezweifelt werden, dass die ande-ren Schüler die gesellschaftlich vorgegebenen Lernziele unter den gegebenen Umständen erreichen . Damit wird eine Gefährdung der Mitschüler auf-grund der Anwesenheit eines Einzelnen befürchtet . In der Folge findet eine Abwägung respektive Verrechnung der Interessen desjenigen, der zu einem

29 Vgl . hierzu die Analyse von John Wilson (2000), in dem er die Bedeutung der Kriterien respektive deren Konstituierung im pädagogischen Kontext hervorhebt .

150 Inklusion und Gerechtigkeit

Kontext dazugehören möchte, mit den Interessen derjenigen statt, welche sich bereits im Kontext befinden . Und in der Gewichtung ist es in der Folge oft so, dass zugunsten der Interessen der Mehrheit, welche sich schon im Kontext befindet, entschieden wird .

Aber auch wenn anerkannt wird, dass das zu inkludierende behinderte Kind30 die notwendigen objektiven Aufnahmekriterien erfüllt und daher le-gitimes Mitglied der exklusiven Gemeinschaft ist, können sich die anderen Mitglieder der Schulklasse weigern respektive nicht bereit sein, sich dem betroffenen Kind in affektueller Weise zuzuwenden . Damit wäre dem betrof-fenen Kind zwar nicht die Legitimität der Anwesenheit in der exklusiven Gemeinschaft abgesprochen, aber der Zutritt zu den partizipativen Dimen-sionen der Gemeinschaft verweigert .

Letzteres Problem der Verweigerung affektueller Zuwendung ist zwar nicht ausschließlich das Problem behinderter Kinder und Jugendlicher, es betrifft alle Menschen, die irgendwo dazu gehören möchten . Der Unter-schied aber ist bei vielen Menschen mit Behinderung, dass sie aufgrund von Gründen, die mit ihrer Behinderung zu tun haben, ausgeschlossen sind . Diese im weiteren Sinne sozialen Vorurteile und Diskriminierungen können sich beispielsweise im Widerstand gegenüber der Inklusion eines behinder-ten Kindes in die Regelschule zeigen . Meist wird damit nämlich nicht be-zweifelt, dass andere Kinder dem betroffenen Kind affektuelle Zuneigung entgegen bringen könnten, sondern es wird aufgrund eines exklusiven Ver-ständnisses von Gemeinschaft angezweifelt oder bestritten, dass das Kind ein legitimes Recht auf die Anwesenheit in dieser Schulklasse hat .31

Wird dieses Recht – sofern es denn eines ist – durchgesetzt, liegt zudem die Begründungslast, dass Inklusion ›funktioniert‹, schon zur Gänze beim betroffenen Individuum, welches dann beweisen muss, dass seine Anwesen-heit gerechtfertigt respektive legitim ist .

30 Es zeigt sich ja gerade in den Zuschreibungspraxen respektive den Abklärungsverfahren, dass in der Zuschreibung einer Behinderung, eines besonderen Unterstützungs- oder För-derbedarfs bereits unabhängig von individuellen Fähigkeiten der betroffenen Kinder po-tenziell inkludierende oder exkludierende Umweltfaktoren einwirken . Dies impliziert, dass potenzielle Exklusion oder Separation nicht unabhängig von der zugeschriebenen Behinderung des Lernens oder der Entwicklung gesehen werden kann .

31 Die Fachstelle für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und Diskriminie-rungsschutz in der Schweiz, Egalité Handicap, beispielsweise nennt auf ihrer Homepage mehrere Fälle, in denen der Ausschluss von Kindern oder Jugendlichen mit Behinderung aus der Regelschule mit Hinweisen auf fehlendes Verständnis, Geduld und Vertrauen sei-tens Betroffener oder derer Angehöriger begründet wird . Vgl . dazu www .egalité-handicap .ch .

Die Struktur von Inklusion 151

Die positive Bedeutung der Unterscheidung für behinderte Menschen

Für behinderte Menschen liegt die positive Bedeutung der Unterscheidung in partizipative und exklusive Gemeinschaften darin, dass partizipative Ge-meinschaften tendenziell offener sind als exklusive . Denn aufgrund des Kri-teriums der Selbstzuschreibung ist es leichter möglich, in solche Gemein-schaften inkludiert zu sein, man muss sich nur zugehörig fühlen . Zwar ist in solchen Gemeinschaften noch lange keine interpersonale Anerkennung ga-rantiert, sie ist aber leichter möglich als in exklusiven Gemeinschaften, in denen Menschen oft an zweierlei Anforderungen scheitern: erstens am Erfül-len der Zugehörigkeitskriterien selbst, zweitens am Unwillen derjenigen, die sich bereits in Gemeinschaften befinden, die Zugangskriterien zu ändern respektive möglicherweise bestehende Hürden des Zugangs zu senken oder zu beseitigen .

Zwischenfazit

Das Kontinuum zwischen partizipativen und exklusiven Gemeinschaften hat die erste Intuition, wonach Inklusion mit Zugehörigkeit zu tun hat, in gemeinschaftlicher Hinsicht geschärft . Während partizipative Gemeinschaften über ein subjektiv verstandenes Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft gebildet werden, sind exklusive Gemeinschaften über exklusive Zugangsbe-dingungen gekennzeichnet . Dies wird besonders deutlich bei Gemeinschaf-ten, in denen die Mitgliedschaft selbst eine Auszeichnung ist, beispielsweise die Mitgliedschaft im Orchester des Opernhauses Zürich .

Anerkennung im Sinne einer Identifikation impliziert im Fall exklusiver Gemeinschaften die Anerkennung, dass jemand diese Zugangsbedingungen erfüllt und legitimes Mitglied der Gemeinschaft ist, während dies im Fall partizipativer Gemeinschaften deutlich schwächer ausgeprägt ist . Im ersten Fall erfüllt Anerkennung ein ›meritokratisches Ideal‹, sie muss, insofern sie auf exklusiven Zugehörigkeitsbedingungen beruht, verdient werden .

Nachdem nun die erste Intuition geschärft wurde und sich gezeigt hat, dass sich die Zugehörigkeit in Gemeinschaften auf einem Kontinuum zwi-schen partizipativer und exklusiver Zugehörigkeit bewegt, gehe ich nun zur zweiten Intuition über, wonach Inklusion mit sozialem Handeln zu tun hat . Dabei gehe ich davon aus, dass sich der soziale Sinn einer geteilten Hand-lung in der Intentionalität des Handelns zeigt . Nachfolgend will ich zeigen,

152 Inklusion und Gerechtigkeit

was damit gemeint ist und inwiefern es bei gemeinschaftlicher Inklusion eine Rolle spielt .

5 .2 .2 Gemeinschaftliche Inklusion und die Bedeutung von Intentionalität

Die zweite Intuition, die ich zum Ausgang meiner Überlegungen gemacht habe, ist die, dass Inklusion mit sozialem Handeln zu tun hat . Ich habe dabei das Beispiel einer Zugfahrt angeführt . Demnach liegt Inklusion dann gerade nicht vor, wenn das – physische – Zusammentreffen von Menschen rein zu-fällig ist, wenn das Zusammentreffen oder -sein also nicht bezweckt ist . Wenn ein Mensch beispielsweise zusammen mit anderen Zugspassagieren jeweils morgens um sieben den Zug von Zürich nach Bern besteigt, würde niemand von diesem Zugspassagier automatisch sagen, er sei in die Gemein-schaft der Zugspassagiere inkludiert .32 Vielmehr wäre dies ein paralleles Handeln, im Gegensatz zu einem für Inklusion relevanten geteilten oder kollektiven Handeln . Die Zugspassagiere fahren zufälligerweise miteinander Zug, sie haben vielleicht sogar dasselbe Reiseziel, aber sie teilen dieses nicht, jedenfalls nicht in einem normativ anspruchsvollen Sinn .

Verhielte sich der Fall aber so, dass sich eine bestimmte Gemeinschaft – beispielsweise ein Arbeitsteam – jeden Morgen um sieben im Speisewagen des Zuges trifft, kann man durchaus von der sozialen Inklusion der einzelnen Teammitglieder in eine Gemeinschaft sprechen . Die Vermutung liegt also nahe, in dieser sozialen Handlung respektive der sozialen Zielorientierung, gemeinsam den Speisewagen zu besuchen, ein wichtiges Element von Inklu-sion zu sehen . Es wäre, mit anderen Worten, gemeinsames Handeln in nor-mativ anspruchsvollem Sinn . Was aber zeichnet gemeinschaftliches Handeln aus? Und inwiefern unterscheidet es sich von individuellem Handeln?

Soziales Handeln

Handeln in Gemeinschaften unterscheidet sich von individuellem Handeln . Im Unterschied zu individuellem Handeln ist es von zwei Eigenschaften ge-

32 Allenfalls kann man, wie sich später noch zeigen wird, sagen, er sei gesellschaftlich inklu-diert, da es ihm finanziell möglich ist, Zug fahren zu können, der Mann in Bern eine Ar-beitsstelle hat und so weiter .

Die Struktur von Inklusion 153

prägt: Subjekte sind erstens nicht mehr Individuen, sondern in einem be-stimmten Sinn die Gemeinschaft oder das ›Wir‹ .33 Das Handeln ist damit soziales Handeln . Zweitens reicht es nicht aus, dass mehrere Individuen am Zustandekommen einer sozialen Handlung irgendwie beteiligt sind . Sie müssen dies in einer Art und Weise tun, dass klar wird, dass sie ein gemein-sames Ziel verfolgen . Selbst wenn mehrere Individuen für sich gesehen das-selbe Ziel verfolgen, liegt noch keine soziale Handlung vor . So können zwar mehrere Menschen qualitativ dasselbe Ziel verfolgen, beispielsweise mit dem Zug von Zürich nach Bern zu fahren . Das genügt aber weder zum Vorliegen eines gemeinsamen Ziels noch als Kennzeichnung einer sozialen Handlung . Beides liegt erst dann vor, wenn alle Teilnehmenden weder viele verschiedene noch viele gleiche, sondern ein und dasselbe gemeinsame Ziel verfolgen (vgl . Schmid 2007) . Das kollektive Handlungssubjekt existiert somit nur, weil und insofern die beteiligten Individuen der Überzeugung sind, dass die Ge-meinschaft existiert und ihr Handeln danach ausrichten .

Das Beispiel Daniel

Um die Bedeutung sozialen Handelns für die Inklusion aufzuzeigen, möchte ich auf Daniel eingehen, den jungen Mann mit Trisomie 21 oder Down Syndrom, den ich bereits eingangs der Arbeit und im dritten Kapitel kurz vorgestellt habe . Daniels größtes Hobby besteht darin, in einer Karnevals-gruppe Glockenspiel zu spielen . Nach einigen Absagen ist er seit geraumer Zeit Passivmitglied einer schweizerischen Karnevalsgruppe, die sich im Win-terhalbjahr einmal pro Woche trifft, um die Lieder für den bevorstehenden Karneval zu üben . In dieser Karnevalsgruppe darf Daniel zwar in den Proben Glockenspiel spielen, nicht aber bei den Auftritten, in denen er Fahnenträger ist . Mit der Fahne des Vereins führt er die Umzüge seiner Gruppe an . Daniel hat in dieser Gemeinschaft eine Sonderstellung: Er ist offiziell nur Passivmit-glied . In den meisten Fällen bedeutet der Status eines Passivmitglieds, dass jemand mit dem Spenden von Geld oder anderen materiellen Ressourcen die Tätigkeit der Gemeinschaft zwar unterstützt, nicht aber aktiv an diversen Anlässen teilnimmt . Nun hat Daniel aber zweifelsohne eine Zwischenposi-tion inne: Einerseits ist er insofern Aktivmitglied, als er an den diversen Ak-

33 Handelnde sind damit Ich-Subjekte in einem ›Wir‹, sie können sich sowohl als ›ich‹ als auch als ›wir‹ oder besser gesagt, als zugehörig zu einem ›Wir‹ verstehen (vgl . Honneth 2010) .

154 Inklusion und Gerechtigkeit

tivitäten teilnehmen darf, andererseits aber dahingehend Passivmitglied, als er keine selbst gewählte Rolle in der Gemeinschaft einnehmen darf . Bei-spielsweise darf er nicht, wie von ihm gewünscht, Glockenspiel spielen, son-dern nur die Fahne tragen .

Für Daniel gelten einerseits die gleichen Regeln wie für alle anderen Ge-meinschaftsmitglieder . Beispielsweise darf er den Proben nicht fernbleiben . Andererseits ist er offensichtlich Sonderregelungen unterstellt . Die Vor-schrift, die ihm verbietet, an den Umzügen Glockenspiel zu spielen, ist nur eine davon . Wie Daniel selbst meint, ist er nicht sicher, ob er im Takt respek-tive schnell genug spielen kann und auch nicht, ob er die Fähigkeit hat, so viele Stücke auswendig zu lernen . Dennoch ist für ihn die momentane Situ-ation subjektiv unbefriedigend . Nicht nur hat Daniel den offiziellen Status eines Passivmitglieds inne, er ist auch weit davon entfernt, sein großes Ziel, neben den Proben auch an den Auftritten Glockenspiel spielen zu können, zu erreichen . Daniel fühlt sich mit anderen Worten nicht als vollwertiges Mitglied anerkannt, mit denselben Rechten und Pflichten . Insofern ist die Intuition, Daniel sei ›nicht ganz inkludiert‹, begründet .

Worin aber bestünde seine ›vollständige‹ Inklusion? Und welches speziel-le Moment kommt durch die Gruppenmitglieder und die gemeinsamen Aufführungen im Fall der Karnevalsmusikgruppe hinzu? Ich werde nachfol-gend dafür argumentieren, dass es die geteilte Intentionalität der Gemein-schaftsmitglieder ist .34 Diese würde sich daran zeigen, dass sowohl Daniel wie auch die anderen Mitglieder der Karnevalsgemeinschaft ihr Handeln so-zial aneinander ausrichten würden und dieses soziale Handeln auch Daniel mit seinen Bedürfnissen, Zielen, Plänen und Möglichkeiten umfassen wür-de . Das muss nun nicht heißen, dass sich die Ausrichtung der Ziele und Pläne nach den Möglichkeiten und Fähigkeiten von Daniel ausrichten muss, denn damit wäre zumindest im Hinblick auf den Zweck der Gemeinschaft, Musik zu spielen, eine Orientierung nach unten verbunden . Wohl aber könnte das beispielsweise bedeuten, dass die Möglichkeiten, Bedürfnisse, Pläne und Ziele von Daniel angemessen in Betracht gezogen werden . Im End-effekt könnte dies zwar immer noch heißen, dass Daniel an den Umzügen bloß die Fahne trägt . Man würde ihm aber – anders als dies aktuell der Fall ist – dieses Vorgehen erklären und begründen sowie Mittel und Wege su-

34 Intentionalität ist ein philosophischer Kunstbegriff, der Nähe zum Alltagsbegriff der Ab-sicht hat, allerdings mehr meint als Absicht . Intentionalität umfasst auch Wünsche, Über-zeugungen und Gefühle . Absichten sind damit nur eine Form von Intentionalität (vgl . Schmid und Schweikard 2009) .

Die Struktur von Inklusion 155

chen, ihn auf dem Weg hin zu seinem Ziel ein Stück weit zu unterstützen . Damit wäre für Daniel ein Möglichkeitenraum – im Sinne des Capability- Ansatzes sind Verwirklichungschancen gemeint – eröffnet .

Die Bedeutung partizipatorischer Intentionen

Bloß ›zufällige‹ Anwesenheit mehrerer Menschen konstituiert noch keine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft .35 Genauso wenig gilt dies für das (be-obachtbare) Verhalten der einzelnen Individuen . Das Verhalten mag in zwei Fällen dasselbe sein, der ›subjektiv gemeinte Sinn‹ (vgl . Weber 1922) ist aber ein anderer . Wie ich zeigen werde, sind es die Motive, welche Inklusion oder Exklusion konstituieren . Christopher Kutz (2000) spricht in diesem Zusam-menhang von partizipatorischen Intentionen . Diese sind Funktionen des Bei-trags der eigenen Handlung zu einem kollektiven Resultat . Erst darin zeigt sich, mit anderen Worten, das ›Ich‹ im ›Wir‹ (vgl . Honneth 2010) . Jede Form sozialen Handelns weist dieses Element in Form überlappender Intentionen auf .

Dabei können die Intentionen auch von außen gebildet oder vorgegeben werden, beispielsweise in Form von objektiven Zugehörigkeitsbedingungen und Erwartungen an und in der Gemeinschaft . Ob ein Handeln ein soziales Handeln ist, zeigt sich also weder am Verhalten noch am Kontext, sondern am Sinn hinter dem Handeln . Dieser Sinn hinter dem Handeln oder die par-tizipatorischen Intentionen also machen Handeln erst zu einem sozialen Handeln .

Praktische, kognitive und affektuelle Intentionen

Hans Bernhard Schmid (2005) unterscheidet folgende Arten von partizipa-torischen Intentionen: praktische Intentionen, kognitive Intentionen sowie affektuelle Intentionen . Unter praktischen Intentionen kann man Absichten oder Vorhaben verstehen, wie beispielsweise der Wille, jeden Freitagabend mit anderen Mitgliedern der Gruppe Stücke für die Karnevalsumzüge einzu-

35 Es kann gerade die physische Abwesenheit oder die Nicht-Interaktion sein, welche Zuge-hörigkeitsgefühle auslösen kann, etwa dann, wenn ein lange verheiratetes Paar von sich selbst sagt, eine physische Trennung durch lange Abwesenheit eines Partners hätte sie wie-der näher zusammengebracht .

156 Inklusion und Gerechtigkeit

studieren . Unter kognitiven Intentionen fasst Schmid Meinungen und Über- zeugungen . Darunter könnte beispielsweise in meinem Beispiel die Meinung fallen, dass es für die Qualität der einstudierten Stücke gut und wichtig ist, dass im Minimum einmal pro Woche geprobt wird .

Affektuelle Intentionen schließlich umfassen Gefühle wie Liebe, Hass oder Wertschätzung . So kann das Proben in der Karnevalsmusik von Gefüh-len der Wertschätzung für die Proben und die einzelnen Mitglieder getragen sein . Intentionen können sich somit auf mehreren Ebenen (kognitiv, prak-tisch oder affektuell) bewegen und müssen sich gegenseitig nicht ausschlie-ßen . Im Gegenteil: Im Normalfall scheinen alle drei Arten von Intentionen gemeinschaftsbildend zu sein .

Tätigkeits-, Erlebens- und Fühlensgemeinschaften

Nicht alle Gemeinschaften sind in einem ersten Sinn Tätigkeitsgemeinschaf-ten, denn es geht nicht in jeder Form gemeinschaftlichen Miteinanders dar-um, etwas gemeinsam zu tun respektive auf etwas hinzuarbeiten . Vielmehr sind viele Gemeinschaften in einem zweiten Sinn Erlebensgemeinschaften oder in einem dritten Sinn Fühlensgemeinschaften .

Fühlensgemeinschaften wie auch generell affektuelle Intentionen geraten bei der Betrachtung von Gemeinschaften oft aus dem Blickfeld . Dies, weil der ausschließliche Fokus vieler Theorien auf die Absichten von Handelnden die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen oft unterschätzt . Gerade Gefühle spielen aber für die Erklärung gemeinsamen Handelns als Element von Inklusion eine bedeutende Rolle . Denn gewisse gemeinsame Handlun-gen erfolgen nicht oder nicht ausschließlich aus dem Grund, ein gemeinsa-mes Ziel hervorzubringen . Sie erfolgen vielmehr auch, um die Beziehung selbst, die zwischen den betreffenden Personen besteht und welche von ih-nen wertgeschätzt wird, zum Ausdruck zu bringen (vgl . Betzler 2007) . Dies wird besonders deutlich bei bestimmten, stark durch Gefühle und Intimität geprägten Beziehungen wie beispielsweise Freundschaften .

In einer Freundschaft wird nicht nur der Freund als Person als wertvoll erlebt, sondern auch die Beziehung als solche .36 Für Aristoteles (1969, Buch

36 Beziehungen dieser Art sind für die Beteiligten aus deren Perspektive aber nur dann wert-voll, wenn beide explizit oder implizit wissen, was es heißt, den Wert einer solchen Bezie-hung zu realisieren . Wertvolles Engagement in diesen Beziehungen kann nur dann entste-hen, wenn sich die Personen wechselseitig auf angemessene Art aufeinander beziehen . Es genügt deshalb nicht, wenn eine Person zusammen mit anderen Erfahrungen macht . Die-

Die Struktur von Inklusion 157

VIII) ist daher die Freundschaft um des unersetzbaren Anderen willen – ne-ben der Freundschaft zum gegenseitigen Nutzen und der Freundschaft um des Angenehmen willen – auch die ideale Form von Freundschaft . In ihr wird der Andere um seiner selbst willen geschätzt . Freundschaften sind des-halb wichtig für ein menschliches Leben, weil sie zentraler Bestandteil eines guten Lebens sind und zudem Möglichkeiten bieten, unserer affektuellen Seinsdimension Ausdruck zu verleihen . Sie sind damit eine wichtige Quelle für menschliches Glück .

Die Herausforderung schwerer Behinderung

Der für gemeinschaftliche Inklusion zentrale Aspekt der geteilten Intentio-nalität wirft die Frage auf, wie für diejenigen Menschen Inklusion möglich ist, die aufgrund einer schweren Behinderung nicht oder nur in einge-schränktem Maße in der Lage sind, soziale Intentionen zu teilen, zumal nicht in einem normativ anspruchsvollen reziproken, also wechselseitigen, Sinn . Menschen mit schweren geistigen Behinderungen beispielsweise, die wegen einer Schädigung ihrer kognitiven Fähigkeiten Schwierigkeiten ha-ben, Pläne und Ziele zu entwickeln und mit anderen zu teilen, werfen die Frage auf, ob hier gemeinschaftliche Inklusion – und zwar in ihrem exklusi-ven wie auch in ihrem partizipativen Verständnis – überhaupt möglich ist .

Bei exklusiven Gemeinschaften besteht die Herausforderung im vorgän-gigen Erfüllen exklusiver Zugangsbedingungen . Dies ist gerade für Men-schen mit schweren Behinderungen in vielen Fällen nicht möglich . Exklusive Gemeinschaften bleiben ihnen somit, wie ich oben bereits angesprochen habe, oft verschlossen . Aber auch bei partizipativen Gemeinschaften, die sich über Selbstzuschreibung bilden, besteht die Herausforderung in der Erfül-lung der Bedingung, sich selbst zugehörig zu fühlen respektive diese Zuge-hörigkeit zeigen zu können, die ja meist in affektueller, praktischer und kog-nitiver Hinsicht gewünscht ist . Gibt es also eine Form von Inklusion, die auch für Menschen mit schweren Behinderungen möglich ist? Und wie müsste eine solche Form von Inklusion interpretiert werden?

se sind nicht hinreichend, um den Wert solcher Beziehungen zu realisieren . Das Gemein-schaftliche muss einen unabhängigen intrinsischen oder gar ultimativen Wert erhalten und darf nicht bloß instrumentell sein .

158 Inklusion und Gerechtigkeit

Ich bin der Meinung, dass es diese Form von Inklusion gibt und schlage vor, dass man sie als passive oder indirekte Partizipation verstehen sollte .37 Diese passive oder indirekte Form von Inklusion grenzt sich ab von einer aktiven, direkten Partizipation, die man mit sozialem Handeln respektive sozialer Intentionalität in reziprokem, normativ anspruchsvolleren Sinn meint .

Passive Partizipation zeigt auf, dass auf Seiten Dritter Intentionalität auch zugeschrieben werden kann . Dies selbst dann, wenn sie beim Gegenüber (noch) nicht vorhanden sein sollte .38

5 .2 .3 Passive Partizipation als Form von Inklusion

Da Inklusion in ihrer Struktur an soziales Handeln gebunden ist, stellt sich die Frage, ob Menschen, die keine sozialen Handlungen im Sinne einer af-fektiven, praktischen oder kognitiven Intentionalität ausführen können, ebenfalls in Gemeinschaften inkludiert sein können . Damit ist nicht in ers-ter Linie die Frage nach der faktischen Möglichkeit einer solchen Art gemein-schaftlicher Inklusion gemeint . Denn ganz offensichtlich sind Menschen auch dann – physisch wie emotional – in Gemeinschaften inkludiert, wenn sie keinen erkennbaren intentionalen Handlungsbeitrag leisten . Beispiels-weise sind schwer behinderte Menschen in ihre Familien inkludiert und zwar in Form von interpersonaler Liebe und Zuwendung, nicht bloß in Form räumlicher Anwesenheit . Auch Menschen mit Demenz werden in der Regel, trotz weitgehendem Verlust ihrer Selbständigkeit, von ihren Familien weiter-hin geliebt und unterstützt . Inklusionen in solch enge Gemeinschaften sind also zu beobachten, selbst wenn die Behinderung der Betreffenden so groß ist, dass unklar ist, ob und worin ihr intentionaler Beitrag zur Gemeinschaft besteht .

37 Ich gehe davon aus, dass der Partizipationsbegriff gegenüber dem Inklusionsbegriff vor allem die Handlungsdimension betont, also beispielsweise eine konkrete Tätigkeit, ein Gedanke oder ein gezeigtes Gefühl .

38 Hier ist besondere Vorsicht angebracht . Denn oft irrt man sich im Zuschreiben respektive im Absprechen von Intentionalität . Dies hat für die Betroffenen fatale Folgen, unter ande-rem kann das Absprechen von Intentionalität dazu führen, dass man den Betroffenen sterben lassen möchte, weil er angeblich ›von der Welt nichts mehr mitkriegt‹ . Vgl . für ein aktuelles und eindrückliches Beispiel Celeste Biever (2009) und Manfred Dworschak (2010) .

Die Struktur von Inklusion 159

Eine solche Form sozialer Inklusion wirft allerdings die Frage auf, wes-halb sie möglich ist respektive was ihr Sinn ist . Beruht sie auf einem Selbst-betrug dieser Familien, die meinen, ihre Angehörigen würden sozial intenti-onal handeln, obwohl dies in Einzelfällen vielleicht gar nicht der Fall ist? Oder ist es umgekehrt so, dass das Element sozialen Handelns respektive sozialer Intentionalität gar keine notwendige Bedingung für Inklusion ist?

Beide Interpretationen sind meiner Ansicht nach falsch . Es ist weder Selbstbetrug noch ist gemeinschaftliche Inklusion ohne soziale Intentionali-tät möglich . Vielmehr können Menschen, so meine These, auch passiv parti-zipieren . Die Leistung einer im weiteren Sinne sozialen Handlung respektive von sozialer Intentionalität wird in einem solchen Fall von Drittpersonen geleistet .39 Der Grund hierfür ist, dass es nicht nur möglich, sondern unter entwicklungspsychologischen (und damit letztlich auch biologischen oder bedürfnisbegründeten) Gesichtspunkten gerade sinnvoll ist, soziale Intentio-nalität zuzuschreiben . Diese Zuschreibung von sozialer Intentionalität ist nämlich bedeutsam für das Auslösen von Entwicklungsprozessen, wie zahl-reiche psychologische Studien eindrücklich belegen (vgl . Brandtstädter 2001; Tomasello 2006, 2009; Tomasello und Rakoczy 2009) . Der Sinn liegt in der Förderung und Anregung von Entwicklung, die eine solche Form von ge-meinschaftlicher Inklusion erbringen kann . Die Lücke zwischen faktischem (Noch-)Nichtvorhandensein sozialer Intentionalität und gleichzeitig not-wendiger Bedingung für soziale Inklusion kann durch die Zukunftsgerich-tetheit der Entwicklungsperspektive, die man einnimmt, überbrückt wer-den . Das bedeutet, die Zuschreibung wird mit der Hoffnung verbunden, dass sich die soziale Intentionalität durch die Zuwendung zum Anderen herausbildet . Dieser Vorgang ist, wenn er auch auf den ersten Blick exotisch klingen mag, normaler Teil jeder Erziehung von Kleinkindern . Denn selbst Babys spricht man mit komplexen Sätzen und Inhalten an, obwohl man

39 Damit wird an dieser Stelle eine vage, weite Bedeutung von sozialer Handlung respektive sozialer Intentionalität vertreten, denn die Intentionalität ist bei sehr schwer behinderten Menschen oft nicht in streng überlappendem Sinne möglich . Allerdings wird diese Über-lappung zugeschrieben, das heißt, der Sinn einer bestimmten Handlung wird adäquat gedeutet, selbst wenn sie vom Handlungssubjekt aus betrachtet intentionslos war . Solche Intentionalitätszuschreibungen zeigen sich auch am Verhalten von Eltern gegenüber Neu-geborenen . Eine ziellose Handlung wird als absichtsvoll gedeutet, indem das wilde Fuch-teln mit den Händen beispielsweise folgendermaßen gedeutet wird: »Ah, du wolltest dem Grosspapa auf Wiedersehen winken .«

160 Inklusion und Gerechtigkeit

weiß, dass sie die Aussagen in ihrem vollen Bedeutungsgehalt (noch) nicht verstehen können .40

Um zu veranschaulichen, was ich mit passiver Partizipation meine, greife ich ein Beispiel von Georg Feuser (1989) auf, interpretiere es allerdings an-ders als der Autor . Feusers eigenes Verständnis von Inklusion lässt sich als das einer aktiven Partizipation, also einer im engeren Sinn aktiv sozial handeln-den Form von Inklusion, beschreiben, zu der er auch ein didaktisches Ver-ständnis entwickelt hat, die so genannte ›entwicklungslogische Didaktik‹ und das ›Lernen am gemeinsamen Gegenstand‹ .

Gemeinsames Kochen einer Gemüsesuppe

Die Szene, die ich aufgreifen möchte, wird von Feuser (1989) folgenderma-ßen beschrieben: In einer Regelschulklasse befindet sich ein Junge mit schwe-rer mehrfacher cerebraler Behinderung, der in einem Liegerollstuhl in der Klasse anwesend ist . Er benötigt ständige Hilfe und auch Pflege, da er nicht in der Lage ist, dies selbst zu tun . Sein Blick ist statt auf die anderen Klassen-kameraden an die Decke gerichtet, da er aufgrund der sehr starken Spasmen im Liegerollstuhl sein muss . Er kann nicht lesen oder schreiben und auch nicht sprechen, wobei man allerdings nicht weiß, wie viel er selbst von der Kommunikation um sich herum versteht und mit Hilfe seiner Möglichkei-ten, beispielsweise Lautäußerungen, Lachen oder Weinen, auf diese reagiert . Mit anderen Worten: Man weiß nicht, ob seine Äußerungen intentional so-zial auf den Vorgang und seine Klassenkameraden gerichtet sind oder nicht .

Nun soll die Klasse, in welcher der Junge ist, eine Gemüsesuppe kochen . Feuser ist der Ansicht, dass es bei der Tätigkeit am gemeinsamen Gegenstand in diesem Beispiel nicht darum gehe, das Gemüse zu rüsten oder im Topf zu rühren, sondern um den Umwandlungsprozess der einzelnen Bestandteile zu einem Ganzen, der Gemüsesuppe . Insofern eine Person, selbst wenn sie schwer behindert ist, diesen Transformationsprozess mitbekomme, sei sie in-kludiert (wobei das nicht als deskriptive Beschreibung, sondern als normati-ve Forderung verstanden wird) . In der Küche, so Feuser, ist es auch möglich, den schwer behinderten Jungen in die Arbeit mit einzubeziehen, und zwar durch die Musik, wenn das Radio eingeschaltet wird, durch die Gerüche,

40 Man könnte also sagen, diese Zuschreibung von Intentionalität sei von ihrem Ziel her performativ, und zwar insofern, als man die Intentionalität durch Zuschreibung in ihrer Entwicklung anregen und hervorholen möchte .

Die Struktur von Inklusion 161

welche die Gemüsesuppe verströmt, und die Wärme, welche die heiße Suppe ausstrahlt . Die Kooperation mit den anderen Kindern hat nach Feuser einen ›nützlichen Endeffekt‹, für ihn wie auch seine Klassenkameraden .

Der Junge im genannten Beispiel ist insofern nicht in der Lage, zum Kochen der Gemüsesuppe beizutragen, weil er im Liegerollstuhl liegend kei-ne notwendige Tätigkeit ausführen kann . Da aber für eine soziale Handlung in meinem Verständnis auch keine Tätigkeit im engeren Sinne notwendig ist, wäre es für den Jungen auch möglich, soziale Intentionalität in anderer Weise als in ausgedrückter Tätigkeit zu zeigen, nämlich über praktische, ko-gnitive oder affektuelle partizipatorische Intentionen . So könnte er beispiels-weise Anweisungen geben, wie das Gemüse zu rüsten sei . Oder er könnte seine Freude darüber, dass man gemeinsam eine Gemüsesuppe kocht, sprach-lich äußern . Nun ist aber unklar oder unsicher, ob der Junge im Rollstuhl überhaupt soziale Intentionalität in einem normativ anspruchsvollen Sinn zeigen kann . Inwiefern also beschreibt das Beispiel soziales Handeln, das auch den Jungen einschließt?

Feuser scheint zudem davon auszugehen, dass die Anwesenheit der ande-ren Klassenkameraden einen Mehrwert für den betreffenden Jungen hat . Worin aber liegt dieser Mehrwert?

Ein alternatives Szenarium

Um diese Fragen respektive die damit verbundenen Probleme nochmals deutlicher zu veranschaulichen, kann man sich folgendes alternatives Szena-rium vorstellen: Derselbe Junge mit schwerer cerebraler Beeinträchtigung liegt immer noch im Liegerollstuhl in einem Raum, diesmal aber nicht um-geben von seinen Klassenkameraden, sondern vor ein Radio gesetzt, welches entspannende Musik von sich gibt sowie von einem Dampfgerät besprayt, welches den Duft von Gemüsesuppe versprüht und zwar direkt in das Ge-sicht des Jungen im Rollstuhl . Durch die halb geöffnete Tür sind zudem ab und zu Stimmen der Klassenkameraden zu hören . Ansonsten aber befindet sich der Junge ganz alleine im Raum .

Dabei bestehen in beiden Szenarien folgende Gemeinsamkeiten: In bei-den Fällen sind die sensorischen Eindrücke für den Jungen dieselben . Es riecht an beiden Orten nach Gemüsesuppe, die Gespräche der Klassenkame-raden und die Musik sind in beiden Fällen zu hören, und in beiden Beispie-len trägt die Person nicht mit einer Tätigkeit zum Ergebnis der Gemüsesuppe

162 Inklusion und Gerechtigkeit

bei . Zudem ist in beiden Fällen unklar, ob der Junge soziale Intentio nalität zeigen kann .

Was unterscheidet die beiden Fälle? Was, mit anderen Worten, macht die Anwesenheit des Jungen in der Klasse im ersten Beispiel überhaupt zu einer Form von Inklusion? Liegt diese in seiner bloßen physischen Anwesenheit? Wäre passive Partizipation – sofern sie überhaupt als Form von Inklusion bezeichnet werden kann – dasselbe wie bloße physische Anwesenheit eines Menschen in einer Gemeinschaft? Wohl kaum, denn physische Anwesenheit ist gerade keine Bedingung für gemeinschaftliche Inklusion, zumindest keine notwendige . Wäre dies der Fall, dann wäre auch das zufällige Zusammensein mehrerer Zugpassagiere, ja generell jede Form zufälligen Zusammentreffens von Menschen eine Form von Inklusion . Eine solche Definition von Inklu-sion ist aber zweifelsohne zu weit und trifft zudem kaum den sozialen Kern von Inklusion, der sich eben gerade dadurch auszeichnet, dass das Zusam-mentreffen von Menschen nicht zufällig ist .

Der zentrale Unterschied: die Möglichkeit der Zuschreibung von Intentionalität

Der zentrale Unterschied in den beiden Beispielen ist, dass im ersten Beispiel für seine Klassenkameraden die Möglichkeit besteht, auf den Jungen in sozi-aler Weise Bezug zu nehmen, während dies im zweiten nicht möglich ist . Der Junge im ersten (wie auch im zweiten) Beispiel kann zwar nicht im en-geren, körperlich-tätigen Sinn mitkochen und es mag vielleicht auch zweifel-haft sein, ob er überhaupt in relevanter Hinsicht Intentionalität zeigen kann und damit zu sozialem Handeln fähig ist . Aber es ist anderen Menschen – seinen Klassenkameraden oder seiner Lehrerin – möglich, intentional auf ihn Bezug zu nehmen, auf ihn einzugehen und damit vielleicht Intentionali-tät in Form gerichteter Gefühle in ihm zu erkennen oder zu wecken .41

Der große und wichtige Unterschied zwischen beiden Beispielen ist so-mit, dass nur im ersten Fall substanzielle Möglichkeiten vorhanden sind, aktiv auf den Jungen einzugehen . Damit erst ist Anerkennung im Sinne ei-nes ›Er ist einer von uns‹ möglich . Sitzt der Junge nämlich alleine in einem abgetrennten Zimmer, ist direkter Kontakt von ihm zu anderen wie auch – und vielleicht angesichts seiner starken körperlichen Beeinträchtigung, wich-

41 Vgl . hierzu insbesondere zum Zusammenspiel von Kognition und Emotion in der Moral-entwicklung von Menschen die Analyse von Monika Keller (2005) .

Die Struktur von Inklusion 163

tiger – das Eingehen und Bezugnehmen der anderen auf ihn gar nicht mög-lich .

Dabei geht es nicht zwangsläufig darum, dass das Eingehen auf ihn be-reits solidarisch und damit moralisch wünschenswert ist, es kann im Gegen-teil auch von Ablehnung und Ausschluss gekennzeichnet sein . Der Punkt an dieser Stelle ist nur der, dass ihm im einen Fall die genuine Möglichkeit zu einer, wenn auch eventuell passiven Teilnahme in einer Gemeinschaft offen steht, während sie ihm im zweiten Fall verschlossen bleibt . Der Kern einer passiven Teilnahme, die ebenfalls eine Form von Inklusion darstellt, ist also, dass so Kontaktfenster offen sind, während sie im anderen Fall geschlossen sind . Damit sind im einen Fall die Türen zu aktiver Partizipation offen, wäh-rend sie im anderen Fall bereits blockiert sind .

Die passive Form von Inklusion hat allerdings auch gezeigt, dass sie in hohem Maß von der Bereitschaft anderer Menschen abhängig ist, soziale Intentionalität trotz eventuell fehlender Belege zuzuschreiben . Im nächsten Kapitel, welches sich der normativen Relevanz von Inklusion widmet, wird sich zeigen, inwiefern diese Form von Inklusion für die Entwicklung und das gute Leben von Menschen wichtig ist, worin also gute Gründe bestehen, sie zu ermöglichen und zu fördern .

Nachdem ich diesen Grenzfall gemeinschaftlicher Inklusion in Form pas-siver Partizipation geklärt habe, möchte ich die gemeinschaftliche Sphäre verlassen . Ich wende mich im Folgenden der zweiten Sphäre – der gesell-schaftlichen – zu .

5 .3 Gesellschaftliche Inklusion

Es scheint unumstritten zu sein, dass Menschen nicht nur in interpersonale Bezüge zu ›konkreten Anderen‹, also in Gemeinschaften, inkludiert sind, sondern dass sich Inklusion auch in einer gesellschaftlichen Sphäre manifes-tiert . Dies kann man nun in zweierlei Hinsicht verstehen: als soziale Bedin-gung für gemeinschaftliche Formen von Inklusion sowie als – in direktem Sinne – Inklusion in gesellschaftliche Bezüge, die sich nicht gemeinschaft-lich verstehen lässt .

Erstens bestimmen bis zu einem gewissen Grad gesellschaftliche Rah-menbedingungen wie beispielsweise Gesetze, Verordnungen oder Normen die Freiheitsgrade von Menschen und damit die Möglichkeiten zu partizipie-

164 Inklusion und Gerechtigkeit

ren und inkludiert zu werden . Wenn beispielsweise eine gesetzliche Ver-pflichtung besteht, öffentliche Gebäude auch für Rollstuhlfahrer und gehbe-hinderte Menschen zugänglich zu machen, sind institutionelle Bedingungen für Inklusion angesprochen . Rampen, Lifte, bei denen sich die Türen nach beiden Seiten öffnen, Lautsprach- und schriftliche Ankündigungen in öf-fentlichen Verkehrsmitteln sind einige Beispiele technischer Art, welche die Inklusion für behinderte Menschen erleichtern und in einigen Fällen erst ermöglichen . Ohne diese gesellschaftliche Seite von Inklusion ist auch ge-meinschaftliche Inklusion für behinderte Menschen in vielen Fällen nicht oder nur sehr schwer möglich . Auch werden bestimmte gemeinschaftliche Kontexte – man denke da an die Familie oder bestimmte Verbindungen wie kleine Gemeinschaftszentren in Städten – gesellschaftlich gefördert oder un-terstützt . Damit beeinflussen die Strukturen gesellschaftlicher Inklusion auch die Ermöglichungsbedingungen gemeinschaftlicher Inklusion .

Zweitens gibt es gesellschaftliche Einflussbereiche, die sich nicht gemein-schaftlich beschreiben lassen . Diese im weiteren Sinne öffentlichen Sphären betreffen Institutionen des Staates, beispielsweise das Gesundheitswesen, das Bildungswesen oder – zumindest über bestimmte, gesetzliche Bestimmun-gen – die Arbeitswelt . Zwar überschneiden sich an diesen Stellen interperso-nale und gesellschaftliche Bezüge, so dass die Trennung zugegebenermaßen künstlich ist . Der Punkt ist aber, dass sie sich als gemeinschaftliche Bezüge alleine nicht angemessen beschreiben lassen .42 Für behinderte Menschen ist diese Sphäre von besonderer Bedeutung . Insbesondere fallen hierin die sozi-alstaatlichen Leistungen, die viele Menschen mit Behinderung in Anspruch nehmen müssen .

Gesellschaftliche Inklusion beeinflusst gemeinschaftliche Inklusion, kann aber nicht auf sie reduziert werden . Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass die Strukturmerkmale, die ich anhand zweier Intuitionen entwickelt habe, auch auf gesellschaftliche Inklusion übertragen lassen, in dieser allerdings einen anderen Charakter annehmen .

42 Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass sich nicht alle Kontexte im Leben gemeinschaft-lich verstehen lassen . Tut man das, vertritt man ein Gesellschaftsbild, das rückwärtsge-wandt ist, indem es eine Gesellschaft als Sozialverband beschreibt, in dem prinzipiell jeder mit jedem verbunden ist . Das trifft heute nur noch auf relativ kleine Stammesgesellschaf-ten zu, nicht aber auf hochindustrialisierte, komplexe Gesellschaftssysteme mit ihren viel-fältigen Interdependenzen, Institutionen und Organisationen, die auch eine überindivi-duelle Dimension haben . Eine solche Gesellschaft wurde im Zuge der Industrialisierung und der sie begleitenden politischen Prozesse Wirklichkeit . Ein Konzept von Inklusion muss diese Wirklichkeit angemessen berücksichtigen .

Die Struktur von Inklusion 165

Die erste Intuition, die ich verfolgt habe, ist das Motiv der Zugehörig-keit, die sich in der gesellschaftlichen Sphäre eben nicht wie in der gemein-schaftlichen Sphäre über (auch) affektive Zugehörigkeit zeigt, sowie soziale Anerkennung, die abstrakten Anderen, Bürgern, entgegen gebracht wird . So zeigt sich, dass die Gesellschaft nicht in engerem Sinne Menschen anerkennt, sie verkörpert vielmehr Anerkennung über ihre Institutionen . Institutionen bringen damit auf indirektem Weg Anerkennungsmodi zum Ausdruck . Pa-radigmatisch geschieht dies über Rechte .

Die zweite Intuition betraf das Motiv sozialen Handelns respektive sozi-aler Intentionalität . Die Intentionalität, welche gemeinschaftsbildend ist, macht den Kern gemeinschaftlicher Inklusion aus . Aber auch Intentionalität lässt sich auf gesellschaftliche Inklusion übertragen . Hierin spielt das Kon-zept von Demokratie eine tragende Rolle . Es kann nämlich gezeigt werden, dass Inklusion erstens konstitutiv ist für moderne, liberale und demokrati-sche Gesellschaften, insofern das Funktionieren moderner Demokratien auf die Inklusion ihrer Bürger angewiesen ist . Zweitens ist Inklusion auch ein Zweck von Demokratie, denn über demokratische Beteiligung werden die Bürger in den kollektiven Willensbildungsprozess einbezogen . Durch Inklu-sion werden somit Demokratie oder demokratische Resultate erreicht . Drit-tens stellt Inklusion, oder besser mangelnde Inklusion oder gar Exklusion, auch ein Problem für jede Demokratie dar .43 Exklusionsprozesse finden ins-besondere oft in der Gesellschaft – und somit in demokratischen, auf Inklu-sion der Bürger ausgerichteten Systemen – statt (vgl . Castel 2008; Kronauer 2010) .

Die Inklusion in verschiedene Teilsysteme modernen Lebens

In modernen Gesellschaften sind Individuen in verschiedene gesellschaftli-che Teilsysteme inkludiert: in das Wirtschaftssystem beispielsweise über ih-ren Beruf oder als Kunden von Dienstleistungen und Waren; in das Rechts-system als Träger von individuellen Rechten respektive als Rechtspersonen; in das politische System beispielsweise als Wähler, Abgeordnete oder ander-weitig aktiv politisch Tätige; über das Gesundheitssystem beispielsweise als

43 Zwar ist die Inklusion der Menschen auch Ziel totalitärer Gesellschaften, hier allerdings nicht als Bürger, sondern als eingeschränkte Träger bestimmter, gesellschaftlich fix zuge-schriebener Rollen . Die Inklusion der Bürger ist somit eine Zwangsinklusion und steht der für Inklusion zentralen Bedeutung von Freiheit entgegen, wie das nächste Kapitel noch vertiefter zeigen wird .

166 Inklusion und Gerechtigkeit

Kranke, als Ärzte; sowie über das Bildungssystem beispielsweise als Schüler oder Lehrer . Dies sind nur einige Beispiele der dominantesten gesellschaftli-chen Subsysteme, in die Menschen inkludiert sind und in denen sie verschie-dene Rollen (beispielsweise Patient, Arzt oder Sozialhilfeempfänger) inneha-ben .

Diese modernen, multiplen Inklusionen werfen einerseits ein Licht auf Individuen als freie Wesen . Menschen sind heute, anders als in früheren Ge-sellschaften, in liberalen politischen Systemen nicht mehr in ihrer ganzen Existenz von einem System, beispielsweise der Familie, abhängig . Anderer-seits sind Individuen heute gegenüber früheren Gesellschaften auch abhän-giger von diesen unterschiedlichen Gesellschaftssystemen, weil differenzierte, funktionale Abhängigkeiten zwischen ihnen bestehen .44 So sind beispiels-weise das Bildungs- und das Arbeitssystem in komplexer Weise aneinander gebunden . Eine gute Ausbildung erhöht die Chancen auf einen besseren Arbeitsplatz, und geringe Ausbildungsqualifikationen reduzieren Berufschan-cen massiv (vgl . Solga 2005) .

Zwei Bereiche gesellschaftlicher Inklusion: sozialer und politischer Bereich

Ich möchte, an Thomas Schramme (2006, S . 193ff .) anschließend, zwei Be-reiche gesellschaftlicher Inklusion unterscheiden: den sozialen Bereich mit seiner materiellen und soziokulturellen Dimension sowie den politischen Bereich mit seiner aktiven und passiven Bedeutung .

Im sozialen Bereich sind vor allem die Grundlagen und Leistungen der Institutionen des Sozialstaates zu erwähnen, welche die gesellschaftliche In-klusion aller Bürger ermöglichen . Im politischen Bereich wiederum werden Menschen mit den Möglichkeiten und Rechten ausgestattet, Kämpfe um Inklusion zu führen . Das heißt, sozialstaatliche Leistungen und politische Rechte werden in diesem Bereich gesellschaftlicher Inklusion überhaupt erst oder wieder erkämpft .

44 Diese vielfältigen systemischen Abhängigkeiten aufgezeigt zu haben, darin liegt ein großer Gewinn der Systemtheorie, insbesondere in der Ausrichtung von Niklas Luhmann .

Die Struktur von Inklusion 167

Die Problematik für Menschen mit Behinderung

Die Problematik für Menschen mit Behinderung besteht für beide Bereiche darin, dass sie oft aus den genannten gesellschaftlichen Systemen – Gesund-heitsversorgung, Arbeitswelt oder Politik – ausgeschlossen sind oder sich tendenziell an deren Rändern befinden . So ist nur ein verschwindend kleiner Teil der politisch tätigen Personen selbst behindert . In der schweizerischen Politik beispielsweise sind aktuell nur zwei Personen mit Behinderung im nationalen Parlament und nur wenige weitere zeichnen sich durch aktives Engagement in behindertenpolitischen Themen aus .45 Angesichts der sozial-politischen Bedeutung des Themas sowie der zahlenmäßigen Repräsentanz – man geht von rund 10 % der Bevölkerung aus – ist dies ein verschwindend kleiner Teil .

Aber auch auf sozialer Ebene führt die oft prekäre materielle und finanzi-elle Lage dazu, dass sich Menschen mit Behinderung viele mit finanziellen Ausgaben verbundenen sozialen Kontexte – beispielsweise Ferien zusammen mit anderen, Restaurant- oder Kinobesuche – nicht oder nur selten leisten können .

Diese sich oft über mehrere Bereiche verstärkenden Ausschlüsse können auch über die Zuweisung von sozialstaatlichen Leistungen nicht umfassend abgefangen werden, da sie oftmals nur den Minimalbereich eines guten Le-bens abdecken . Zudem besteht die Problematik, dass sich Menschen mit Behinderung mit der Nutzung sozialstaatlicher Leistungen bereits in der Pas-sivrolle der Leistungsabnehmer befinden . Diese Rolle und mit ihr die Leistun-gen, welche die Personen erhalten, sind mit potenzieller Stigmatisierung und möglichem Ausschluss verbunden . Sie sind zumindest unbestritten ambiva-lent . Die Institutionen ›inkludierender Exklusion‹, wie sie Rudolf Stichweh (2009) unter anderem in der institutionalisierten Behindertenhilfe sieht,

45 Im Schweizer Parlament befinden sich momentan zwei Personen mit (bekannter) Behin-derung . Der eine ist der Ständerat Luc Recordon, der andere der Nationalrat Christian Lohr . Dasselbe gilt in ähnlicher Weise für den deutschen Bundestag . Der einzige Minister mit sichtbarer und bekannter Behinderung ist aktuell der deutsche Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, welcher seit einem Attentat im Jahre 1990 vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt ist . Der erste Abgeordnete mit Behinderung im deutschen Landtag war der querschnittgelähmte Jurist Horst Frehe . In Österreich sind vor allem der Nationalrat, Germanist und Gründer des Wiener KrüppelKabaretts Franz-Joseph Huainigg sowie die gehörlose Nationalrätin Helene Jarmer als Politiker mit Behinderung bekannt . In Groß-britannien ist der blinde Politiker und Mitglied des Unterhauses, David Blunkett, be-kannt . Seine jeweils aktuellen Blindenhunde Ruby, Teddy, Offa, Lucy und Sadie, waren oder sind der britischen Öffentlichkeit wohl bekannt .

168 Inklusion und Gerechtigkeit

versuchen zwar die Ausgeschlossenen oder von Ausschluss bedrohten Men-schen in die Gesellschaft zurückzuführen, dies allerdings zum Preis einer sozialen Stigmatisierung und der Zuweisung von Sonderrollen .

Die Legitimität des Anspruchs sozialstaatlicher Leistungen muss zudem immer mit der potenziellen oder bereits eingetretenen Gefährdung von In-klusion und Lebensqualität erwiesen sein . Damit wird Inklusion mit dem Preis von – wenn auch oft in Form von Risiken – Exklusion erkauft .46

5 .3 .1 Inklusion in den Sozialstaat

Die Institutionen des Sozialstaates sind heute, zumindest was demokratische Gesellschaften betrifft, inklusiv . Das bedeutet erstens, dass sie niemanden prinzipiell ausschließen . Das heißt mit anderen Worten, dass die Leistungen und Hilfen, die der Sozialstaat bereitstellt, allen Bürgern des Staates im Be-darfsfall zukommen .47 Zweitens wenden sich sozialstaatliche Hilfen an alle Bürgerinnen und Bürger und bedürfen daher prinzipiell auch der Zustim-mung aller . Dies ist nicht zuletzt der Grund, weshalb die genauen Inhalte, Ziele und Mittel sozialstaatlicher Hilfe ständig umstritten und umkämpft sind und auch der dauernden Diskussion bedürfen .

46 Dies zeigt sich deutlich auf der rechtlichen Ebene . Erhält hier jemand das rechtliche Eti-kett eines ›Behinderten‹, hat dies zwar sozialen Schutz zur Folge, führt aber auch zu poten-zieller institutioneller – und nicht nur zwischenmenschlicher – Stigmatisierung . Das Di-lemma respektive die Ambivalenz lässt sich aber nicht lösen, sondern ist diesem Bereich inhärent eingebrannt . Auch zeigt sich die Grenze sozialstaatlicher Intervention da, wo private oder halbprivate Unternehmungen oder Institutionen exkludierend wirken . Im-mer wieder zeigt sich beispielsweise der Unwille von Arbeitgebern, ›bekanntermaßen‹ be-hinderte Menschen als Arbeitnehmer einzustellen . So stellte sich in einer Schweizer Unter-suchung heraus, dass viele Arbeitgeber lieber faule, unmotivierte Arbeitnehmer anstellen als solche mit einer – in diesem Fall – psychischen Behinderung . Die fiktiven Bewerber hatten dabei – bis auf einen Fall – eine chronische Krankheit mit unklarer Prognose, waren aber dank Behandlung und Medikamenten stabil, zu 100 % arbeitsfähig sowie gut qualifi-ziert . Nur einer der neun Bewerber war gesund, aber im Gegensatz zu den acht anderen Bewerbern mit Behinderung weder besonders zuverlässig noch ausnehmend leistungsbe-reit . Es zeigte sich, dass in den meisten Fällen der Job an den gesunden, aber faulen und unmotivierten Bewerber gegangen wäre . Dies galt für alle Branchen, die an der Befragung teilgenommen hatten, und war unabhängig von Alter, Geschlecht, Ausbildung oder ande-ren Merkmalen des ausfüllenden Personalverantwortlichen (vgl . Baer 2007) .

47 Darüber hinaus kommt jedem Menschen in einer Notlage soziale Nothilfe zu, also auch Menschen, die nicht Bürger des Landes sind, in denen sie sich in dieser Notlage befinden . Ein Beispiel dafür sind Asylsuchende .

Die Struktur von Inklusion 169

Die Aufgaben des Sozialstaates: Sicherheit und Befähigung

Die zwei Hauptaufgaben des Sozialstaates können nach Thomas Schramme (2006, S . 198) in der Sicherheit und der Befähigung der Bürger eines Staates gesehen werden . Unter Sicherheit fallen beispielsweise Prävention und Kom-pensation, letzteres vor allem für die unverdienten Folgen von Arbeitslosig-keit, Krankheit, Behinderung oder Alter . Verschiedene Institutionen des Sozialstaates, beispielsweise die Invalidenversicherung in der Schweiz, die Krankenversicherung oder die Unfallversicherung, haben die Aufgabe, die sozialen Folgen von Behinderung (aber auch Krankheit, Unfall oder Alter) zu bearbeiten . Die Aufgaben des Sozialstaates fallen zweitens in den Bereich der Befähigung . Diese Aufgabe betrifft hauptsächlich die Bereiche Bildung und Erziehung .

Das Beispiel Bildung

Bildung kommt deshalb eine solch hohe Bedeutung im Bereich sozialer ge-sellschaftlicher Inklusion zu, weil Bildung für den Einzelnen zunächst Er-werb von Grundkompetenzen und persönlichem Eigenwert ist, darüber hi-naus aber auch mit sozialen und gesellschaftlichen Folgen und Chancen verbunden ist .48

In gesellschaftlicher Hinsicht ist soziale Inklusion das Ziel von Bildungs-prozessen und wird ausgedrückt in der Weitergabe von kulturellen und sozi-alen Normen und kollektiven Ressourcen . Zur gesellschaftlichen Funktion von Bildung zählt denn auch zentral ihre integrative Funktion, insbesondere die kollektive, oft staatlich geplante Weitergabe von Wissen und Kompeten-zen . Auch die Sozialisation in die Gesellschaft und in Gemeinschaften gehört dazu . Das Bildungssystem dient somit nicht nur der Vorbereitung auf das spätere Leben, sondern bietet selbst Gelegenheit für praktische Inklusion . Bildung übt insofern eine Querschnittfunktion in gesellschaftlich-sozialer Hinsicht aus, weil Bildung gesellschaftliche Inklusion mehrdimensional zu leisten vermag . Bildung trägt nachweislich zur Erhöhung von Chancen in verschiedenen Bereichen, unter anderem zu besserer Gesundheitsversorgung,

48 Man kann also sagen, dass Bildung selbst eine Gatekeeping-Funktion hat, indem sie nicht nur den Erwerb von Fähigkeiten und Qualifikationen ermöglicht, sondern ebenfalls Vor-aussetzung für den Erwerb von weiteren Fähigkeiten und Qualifikationen darstellt .

170 Inklusion und Gerechtigkeit

besseren Berufschancen, höherer sozialer und politischer Beteiligung sowie dichteren sozialen Netzwerken bei (vgl . Hillmert 2009; Marmot 2006) .49

Unterschiedliche Akzentuierungen der Aufgaben

Je nachdem, welche Zielsetzungen Institutionen des Sozialstaates konkret verfolgen, können die beiden Aufgaben – Sicherheit und Befähigung – un-terschiedlich akzentuiert sein . Renten beispielsweise werden aus dem Grund der Aufgabe der Sicherheit zugeordnet, weil sie staatlich zugesicherte Leis-tungen im Bedarfsfall darstellen . Damit schützen sie die Betroffenen davor, aufgrund einer Notlage in Armut zu geraten . Sie entlasten die betroffenen Menschen davon, für den eigenen Lebensunterhalt wirtschaftlich tätig und kooperationsfähig sein zu müssen . Bei der Zusprache der Leistungen wird angenommen, dass die Notlage und deren Folgen unverdient sind und daher gesellschaftlicher und nicht nur individueller Bearbeitung bedürfen .

Das gilt für alle Bereiche sozialstaatlicher Hilfe . Die Basisannahme für die Hilfe ist folgende: Der Erfolg der individuellen Lebenskarrieren und -aussichten ist ungleich und zwar teilweise unverdienterweise ungleich . Er ist abhängig von den Voraussetzungen, die Menschen in ihrem Leben vorfin-den . Diese Voraussetzungen sind nicht vollumfänglich ihren eigenen Ent-scheidungen geschuldet . Dies gilt vor allem für das, was Menschen zu Be-ginn ihres Lebens vorfinden, beispielsweise, ob sie mit einer Schädigung auf die Welt kommen oder nicht .

Dasselbe gilt aber neben dem natürlichen Schicksal auch für das soziale Schicksal, das Menschen nicht gleich behandelt . Beispielsweise entspricht es dem sozialen Schicksal, in welche Familie man hineingeboren wird . Dieses soziale Schicksal prägt zweifelsohne die Ausgangslagen und Aussichten von Menschen, ist aber nicht gleichzeitig ein Element der Ausstattung an natür-licher Begabung . Der Konsens in liberalen demokratischen Gesellschaften geht denn auch dahin, nicht einfach der gesellschaftlichen Entwicklung zu überlassen, was Menschen an natürlicher Begabungsausstattung und an Zu-fälligkeit der Herkunft mitbringen . Sowohl Begabung wie auch Herkunft dürfen sich zumindest nicht ohne Schutzmechanismen in den gesellschaftli-

49 Damit kommt bei einer Schulklasse zur erwähnten hybriden Form von exklusiver und partizipativer Gemeinschaft hinzu, dass Bildung ein gesellschaftliches Gut darstellt und damit die in einer Schulklasse umgesetzte Bildungsarbeit einem gesellschaftlichen Auftrag entspricht . Schule befindet sich somit, je nach Betrachtung, in der gesellschaftlichen oder in der gemeinschaftlichen Sphäre .

Die Struktur von Inklusion 171

chen Bereich hinein verlängern und dort für massive – mit Leiden verbun-dene – Nachteile sorgen .

5 .3 .2 Inklusion in den politischen Bereich

Inklusion in den politischen Bereich verweist auf eine aktive und direkte Inklusion der Bürger qua Bürgerstatus . Politische Inklusion impliziert daher den Kampf um einen gleichberechtigten Status innerhalb einer Gesellschaft . Kämpfe um Inklusion sind aus diesem Grund oft auch Kämpfe um die Zugangsbedingungen zu bestimmten Institutionen oder Ressourcen (vgl . Schramme 2006, S . 201) .

Es erstaunt nicht, dass Inklusion, Demokratie und die zentralen Ideen des liberalen Kanons – insbesondere die Freiheit der Person und die Rechts-staatlichkeit – sich gegenseitig stützen . Mit anderen Worten: Demokratie ist als Idee der Inklusion verpflichtet (vgl . Taylor 2001, S . 30) . Demokratien behandeln ihre Bürger als Freie und Gleiche . Dies wird unter anderem da-durch ausgedrückt, dass ihre Normen und Werte allen gegenüber gerechtfer-tigt werden und dass ein System von Grundfreiheiten und politischen Parti-zipationsrechten allen offen stehen soll (vgl . Rawls 1993, S . 81) .

Zwei Modelle von Demokratie

Nach gängiger moderner politischer Theorie kann man zwei Modelle demo-kratischer Entscheidungsprozesse unterscheiden: ein aggregatives und ein de-liberatives Modell (vgl . Young 2000) . Das erste Modell sieht Demokratie vor allem als Prozess der Aggregation der Interessen von Individuen . Eine zent-rale Annahme des Modells ist, dass Individuen respektive deren Interessen als gegeben angenommen werden . Ob diese Präferenzen valide sind, ob sie aus egoistischen oder altruistischen Quellen entstammen, ist dabei nicht von Interesse . Das aggregative Modell nimmt an, dass Ziele und Werte subjektiv, nicht rational und exogen zum politischen Prozess sind und dass demokrati-sche Politik im Kern ein Kampf zwischen unterschiedlichen privaten Inter-essen ist (vgl . ebd ., S . 22) .

In den letzten Jahrzehnten sind Stimmen laut geworden, die argumentie-ren, dass Demokratie nicht ausschließlich als Prozess der Aggregation von Interessen verstanden werden sollte, sondern auch Aussagen über die delibe-

172 Inklusion und Gerechtigkeit

rative Transformation von Interessen beinhalten sollte .50 Ein solches delibe-ratives Modell versteht Demokratie oder demokratische Prozesse als Ent-scheidungsprozesse (vgl . Elster 1998, S . 8) . Es geht in diesem Modell also weniger darum, welche Interessen Menschen haben respektive welche Inter-essen von den meisten Bürgerinnen und Bürgern geteilt werden, sondern darum, welche Interessen durch die besten Gründe gestützt werden (vgl . Young 2000, S . 23) . Während das aggregative Modell ein Demokratiever-ständnis vertritt, in welchem das Zustandekommen der Interessen neben-sächlich ist, liegt in diesem gerade die zentrale Botschaft des deliberativen Modells .

Das deliberative Modell basiert auf zwei Annahmen . Erstens: Je mehr Menschen in einen demokratischen Deliberationsprozess inkludiert sind, desto besser funktioniert Demokratie . Zweitens: Diejenigen, die momentan aus dem deliberativen Prozess ausgeschlossen sind, sollen von denjenigen inkludiert werden, die bereits am demokratischen Prozess teilnehmen . Die Sprache von Inklusion setzt voraus, dass sozusagen von innen nach außen einbezogen und erweitert wird . Der Rahmen derjenigen, welche in demo-kratischen Prozessen Beachtung finden, erweitert sich daher ständig . Aber nicht nur der Kreis von Personen erweitert sich, auch die Rechte, welche diesen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zugesprochen werden, ent-wickeln sich weiter (vgl . Marshall 1992) .

Das deliberative Modell von Demokratie betont also, anders als das ag-gregative Modell, sowohl den Prozess wie auch das Ergebnis demokratischer Bemühungen . Die Bedeutung dieser beiden Aspekte ist für die Frage der Inklusion von behinderten Menschen von entscheidender Bedeutung . In den meisten Fällen ist nämlich weniger das Problem, dass Menschen mit Behinderung am Ausgang demokratischer Bemühungen keine offizielle Mit-sprache hätten . Dass sie dies haben, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der nun-mehr seit vier Jahrzehnten existierenden Selbstvertretung behinderter Men-schen in zahlreichen Betroffenenverbänden und politischen Organen . Das Problem scheint vielmehr oft zu sein, dass in demokratischen Prozessen selbst subtile Formen interner Exklusion eine Rolle spielen . Beispielsweise zeigt sich in vielen politischen Prozessen, dass die Voten behinderter Men-

50 Der berühmteste Vertreter eines solchen deliberativen Modells ist zweifelsohne Jürgen Ha-bermas .

Die Struktur von Inklusion 173

schen weniger ernst genommen werden oder dass mit Scheineinwürfen und -argumenten auf diese reagiert wird .51

Gesellschaftliche Exklusion als Herausforderung für Demokratien

Inklusion ist nicht nur ein wichtiger Aspekt und Zweck einer Demokratie . Sie ist auch eines der größten Probleme . Die Frage des Einbezugs von Grup-pen und Einzelnen hat die Demokratie seit ihrem Anbeginn verfolgt (vgl . Held 1987) . Die Geschichte von Demokratie kann daher auch als Geschich-te von Exklusion beschrieben werden . So wurden Menschen beispielsweise immer wieder mit der Begründung ausgeschlossen, sie seien nicht ›fit‹ für die Demokratie, entweder, weil sie die Fähigkeiten, die als zentral für eine Teil-nahme am politischen Prozess erachtet wurden, nicht erfüllten (beispielswei-se Rationalität oder Vernunft) . Oder weil sie die zentralen Werte der Demo-kratie (beispielsweise Freiheitsrechte) nicht unterschreiben wollten . Die Geschichte der Demokratie kann daher immer auch als Kampf um Inklusion oder als Kampf gegen Exklusion beschrieben werden .

Die Verbindung von Exklusion und Demokratie lässt sich auf zweierlei Weisen verstehen: Erstens ist die Erfahrung von Exklusion an Erfahrung von Missachtung gebunden, insofern Exklusion, sofern sie unbegründet oder willkürlich erfolgt, Missachtung und Demütigung ausdrückt . Dies ist aber mit den Werten von Demokratien, die auf Gleichheit und Freiheit ihrer Bürger setzen, nicht vereinbar . Damit ist das Ziel von Demokratie angespro-chen . Zweitens sind Menschen von vielen Entscheidungen des öffentlichen Lebens in einem Maß abhängig, dass sich unter ungünstigen Umständen ihre gesellschaftliche Exklusion weiter verstärken kann . Damit ist der Prozess von Demokratie angesprochen sowie die Art und Weise, wie demokratische Entscheidungen zustande kommen .

Bei behinderten Menschen zeigt sich die Verbindung von Demokratie und Exklusion oder Inklusion beispielsweise an der Art und Weise, wie ge-

51 Beispielsweise wird auch in reichen Städten oder Nationen oft schnell mit (zu) knappen Ressourcen argumentiert, wenn es um die Verbesserung der gesellschaftlichen Lage behin-derter Menschen geht, dies auch dann, wenn sich nicht nachweisen lässt, dass massive Ressourcenknappheit besteht . Frühzeitig bedacht, beträgt der zusätzliche Investitionsauf-wand für bauliche Anpassungen beim barrierefreien Bauen beispielsweise meist unter 3% der Bausumme . Zudem ist nur ein Drittel dieser Maßnahmen, beispielsweise Treppenlife, speziell für behinderte Menschen . Der Rest kommt nicht behinderten Menschen genauso zu (vgl . Rau 2008) .

174 Inklusion und Gerechtigkeit

sellschaftliche Hilfe und Unterstützung geleistet wird und wie die Entschei-dungen darüber zustande kommen . Es macht für das Leben behinderter Menschen etwa einen großen Unterschied, ob sie die Wahl haben, in einer Institution der Behindertenhilfe oder mit Hilfe einer persönlichen Assistenz in den eigenen vier Wänden zu leben . Die Entscheidung, ob es diese Wahl gibt, ist aber abhängig von einem demokratischen Willensbildungsprozess . Auch der technische oder technologische Wandel in einer Gesellschaft – der sich beispielsweise darin zeigen kann, ob Verkehrsmittel auch für Menschen im Rollstuhl zugänglich und die Meldungen in öffentlichen Verkehrsmitteln auch für taube oder blinde Menschen hör- oder lesbar sind – drückt demo-kratische Willens- und Sensibilisierungsprozesse aus . Insbesondere Men-schen mit Behinderung sind verletzlich dahingehend, dass ihr Status in der Gesellschaft davon abhängt, inwieweit ihnen die Gesellschaft Hilfen und Unterstützung zugesteht, wie sie das tut und wie Entscheidungen darüber zustande kommen . Hier ist es von zentraler Bedeutung, dass behinderte Menschen selbst aktiv an den demokratischen Willensbildungsprozessen be-teiligt werden und ihren Bedürfnissen, Zielen und Plänen Ausdruck verlei-hen können . Dies ist insbesondere in den Bereichen notwendig, denen eine sogenannte Gatekeeping-Funktion zukommt . Dies ist beispielsweise bei Mo-bilität und der Zugänglichkeit von Gebäuden und Dienstleistungen der Fall . Denn oftmals ist Mobilität eine Voraussetzung für das Erreichen anderer Güter, beispielsweise einer Theatervorstellung oder der öffentlichen Schule . Dasselbe gilt auch für Gebäude und Dienstleistungen selbst . Denn in vielen Fällen ist der Zugang zu Gebäuden und Dienstleistungen eine Vorausset-zung dafür, die damit verbundenen Güter überhaupt erreichen und in An-spruch nehmen zu können .

Zwei Formen von Exklusion

Vor allem im Prozess der Demokratie zeigen sich die Aspekte von Exklusion . Dabei können nach Iris Marion Young (2000, S . 53ff .) zwei Formen von Exklusion unterschieden werden: eine externe und eine interne . Externe Ex-klusion zeichnet sich nach Young dadurch aus, dass bestimmte Individuen oder Gruppen von der Debatte oder Meinungsbildungs- und Entschei-dungsprozessen ausgeschlossen sind oder ihnen Wahlrechte abgesprochen werden .

Die Struktur von Inklusion 175

Obwohl ein Großteil der Demokratien in ihrer Praxis alles andere als perfekt ist, ist die externe Exklusion für die meisten Menschen in heutigen Gesellschaften kein faktisches Problem mehr . Sie fallen mit anderen Worten nicht ›aus‹ der Gesellschaft, sondern werden ›in‹ der Gesellschaft an den Rand gedrängt und haben dort eine marginalisierte Position . Das von vielen Menschen mit Behinderung erlebte und erfahrene Übergangen- und Margi-nalisiertwerden in politischen Prozessen ist in den meisten Fällen denn auch keine externe, sondern eine interne Exklusion . Damit kann man diese Form von Exklusion auch als indirekte Exklusion bezeichnen, denn aus gesellschaft-licher Sicht ist sie ja nicht direkt intendiert . Sie ergibt sich vielmehr indirekt aus den Folgen demokratischer Entscheidungsprozesse, in denen behinderte Menschen häufig übergangen werden . Indirekt ist diese Form auch deshalb, weil den betroffenen Menschen die effektiven Möglichkeiten fehlen, Einfluss auf die Entscheidungsprozesse anderer Bürger zu nehmen, selbst wenn sie formal Zugang zu den Foren und Prozeduren der Entscheidung haben .

Exklusion vollzieht sich damit, anders als in historisch früheren Gesell-schaften, in denen die Exklusion von Menschen sich vorgängig über gemein-schaftliche Exklusion vollzog, zu nicht unwesentlichen Teilen in der Gesell-schaft und ihren Subsystemen . Exklusion ist dabei kein Prozess des Aus- schlusses aus der Gesellschaft, sondern vielmehr ein Prozess, der in der Gesellschaft stattfindet . Die Betroffenen fallen damit nicht, wie das nächste Kapitel noch vertiefter zeigen wird, aus der Gesellschaft heraus, sondern aus der Wechselseitigkeit von – auch moralisch-rechtlichen – Anerkennungsver-hältnissen, die in der Gesellschaft stattfinden . Dieses Herausfallen aus der Wechselseitigkeit von Anerkennungsverhältnissen respektive dem Verwei-gern oder Nichtzugestehen von Anerkennung hat zur Folge, dass die Betrof-fenen zwar Teil der Gesellschaft sind, nicht aber an den Möglichkeiten und wechselseitigen sozialen Beziehungen oder Institutionen der Gesellschaft teilhaben können (vgl . Kronauer 2007, S . 10) .

Diese subtilere Form von Exklusion kann sich beispielsweise dadurch auszeichnen, dass Menschen kein Gehör geschenkt wird, ihnen nicht ge-glaubt wird, ihre Perspektive nicht ernst genommen wird . Iris Marion Young (2000, S . 55) beschreibt dies folgendermaßen: »[…] others ignore or dismiss or patronize their statements and expressions . Though formally included in a forum or process, people may find that their claims are not taken seriously and may believe that they are not treated with equal respect . The dominant mood may find their ideas or modes of expression silly or simple, and not worth of consideration . They may find that their experiences relevant to the

176 Inklusion und Gerechtigkeit

issues under discussion are so different from others’ in the public that their views are discounted .«

Prozesse interner Exklusion sind ungleich schwieriger zu fassen und zu beschreiben als expliziter Ausschluss . In der Erfahrung der Betroffenen tau-chen sie oft als Ungewissheit über die eigene Stellung und den eigenen Status auf (vgl . Stichweh 2009, S . 31) . Diese interne Form von Exklusion ist, gerade weil sie subtiler und daher schwieriger zu belegen ist, auch ungleich an-spruchsvoller zu bekämpfen .52

Die Problematik für Menschen mit Behinderung

Bei behinderten Menschen lässt sich diese Form indirekter oder gesellschafts-interner Exklusion in vielerlei Formen und Facetten beobachten . Die Exklu-sion kann sich beispielsweise dadurch äußern, dass die Meinungen behinderter Menschen in der Hinsicht nicht ernst genommen wird, dass ihre Sichtweisen als kindlich und nicht entwickelt wahrgenommen werden und ihnen in der Folge (in umfassender Weise) kindliche Bedürfnisse und Interessen zuge-schrieben werden . Gerade im gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung lässt sich dies besonders häufig beobachten . Es zeigt sich beispielsweise, wenn Menschen mit geistiger Behinderung das Bedürfnis nach Sexualität und intimen zwischenmenschlichen Beziehungen nicht zu-gesprochen und in der Folge auch nichts unternommen wird, Möglichkeiten zu schaffen, diese Bedürfnisse decken zu können .53 In Schweizer Behinder-tenheimen waren beispielsweise bis vor wenigen Jahren oft nur Mehrbett-zimmer zu finden . Dass auch Menschen mit geistiger Behinderung Rück-zugsmöglichkeiten und Chancen zur Ausübung und Gestaltung von Intimität brauchen, wurde nicht gesehen und daher wurden auch keine Maßnahmen ergriffen, Räume dafür zu schaffen . Für die Entscheidungsfindung wurden die betroffenen Menschen zudem gar nicht befragt .

52 Vgl . hierzu die ausführliche Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth zu diesem Thema (vgl . Fraser und Honneth 2003) .

53 Zu fatalen Folgen hat dieses Nichternstnehmen der Einschätzungen und Meinungen be-hinderter Menschen in einem aktuellen Fall in der Schweiz geführt . So konnte ein Sozial-therapeut über 30 Jahre lang unbehelligt über 120 Menschen mit Behinderung sexuell missbrauchen, ohne dass Behörden oder Heimverantwortliche darauf aufmerksam wur-den . Dies, auch wenn bereits in früheren Jahren behinderte Menschen den Sozialtherapeu-ten des Missbrauchs beschuldigt hatten .

Die Struktur von Inklusion 177

In diesem Beispiel zeigt sich, dass die betroffenen Menschen nicht als das (an-)erkannt wurden, was sie sind, nämlich als Menschen mit den gleichen und besonderen Interessen wie andere Menschen auch . Stattdessen reagierte man entweder aus der Erst-Person-Perspektive und überstülpte behinderten Menschen die eigenen Bedürfnisse, Ziele und Pläne . Oder aber man meinte aus einer Dritt-Person-Perspektive zu wissen, was ein Mensch mit Behinde-rung braucht, was zu paternalistischen Folgen führte . Gefragt wären zwei-felsohne – in gesellschaftlicher wie gemeinschaftlicher Hinsicht – die Ein-nahme einer Zweit-Person-Perspektive und damit ein richtiges Ernstnehmen der betroffenen Person mit ihren eigenen Bedürfnissen, Plänen und Zie-len .54

Dass sich auch gesellschaftliche Exklusion auf einem Kontinuum zwi-schen drinnen und draußen bewegt, hat insbesondere der französische So-ziologe Robert Castel aufgezeigt .

Drei Zonen von Inklusion und Exklusion

Robert Castel (2008) unterscheidet drei Zonen von Inklusion und Exklusi-on . Die erste Zone ist die Zone der Integration, die ich Zone der Inklusion nennen möchte . In dieser gibt es ein hohes Maß an sozialer Stabilität, die beispielsweise über Arbeitsplatzsicherheit, tragfähige soziale Beziehungen und Freiräume in der individuellen Lebensgestaltung gekennzeichnet ist . Die zweite Zone ist die Zone der Verwundbarkeit. In dieser ist die weitgehen-de Stabilität und Sicherheit in verschiedenen Bereichen des Lebens nicht mehr gegeben . Stattdessen sind einer oder mehrere der Bereiche von Unsi-cherheit geprägt: berufliche Unsicherheit, unsichere private Netze, enge fi-nanzielle Möglichkeiten, die verhindern, einen Teil der individuellen Le-benspläne umzusetzen, und so weiter . Das Leben in dieser Zone ist weniger planbar als in der ersten und von ständigen Unwägbarkeiten geprägt . Die dritte Zone schließlich wird von Castel als Zone der Ausgrenzung bezeichnet . In dieser sind Menschen dauerhaft von verschiedenen Bereichen des Lebens ausgeschlossen, beispielsweise von der Erwerbsarbeit oder von gesellschaft-lich anerkannten Rollen (beispielsweise als Eltern oder als Liebespartner) .55

54 Für diesen wichtigen Hinweis danke ich Susanne Schmetkamp . 55 Letzteres muss zwar nicht in jedem Fall negativ respektive bereits normativ bewertet sein,

es zeigt sich aber, dass der Ausschluss von oder Mangel an sozial als positiv bewertete Chancen bereits an sich benachteiligend ist . Es findet, mit anderen Worten, unabhängig von einer ethisch-normativen Bewertung eine faktisch-gesellschaftliche Bewertung statt .

178 Inklusion und Gerechtigkeit

Soziale Beziehungen schrumpfen und beschränken sich auf Menschen in ähnlich prekärer Lage oder auf professionelle Helfer . Menschen sind im schlimmsten Fall sozial isoliert und haben keine Kontakte zu anderen Men-schen . An die Stelle der zwischenmenschlichen Einbindung in wechselseitige Sozialbeziehungen tritt die Abhängigkeit von institutioneller Hilfe, die mit Sanktionsgewalt ausgestattet ist .

Zweifelsohne ist das Leben vieler Menschen mit Behinderung von diesen multiplen wechselseitigen Exklusionsbeeinflussungen und -vorgängen, wie sie die dritte Zone bezeichnet, geprägt . Gerade bei Menschen mit Behinde-rung kommt es verstärkt zu Exklusionsverkettungen oder Kumulationen von Exklusionen in verschiedenen Bereichen . Die Exklusionsketten, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind, sind unter Umständen sehr lang und können sich auch in den gemeinschaftlichen Bereich hinein verlängern . Menschen mit schwacher gesellschaftlicher Stellung, unter ihnen auch Men-schen mit Behinderung, sind denn nicht selten auch in gemeinschaftlicher Hinsicht schlechter gestellt . Sie haben beispielsweise weniger Freunde und allgemein gesprochen ein weniger dichtes – qualitativ wie quantitativ – sozi-ales Netz (vgl . Todd, Evans und Beyer 1990) . Exklusionsverkettungen kön-nen zudem so funktionieren, dass sie Behinderung erst schaffen oder noch verstärken . In der Analyse dieser Exklusionsverkettungen zeigt sich, dass ge-sellschaftlichen Institutionen, beispielsweise der Bildung, bei diesen Prozes-sen eine besondere Bedeutung zukommt . Ich möchte daher abschließend auch hier exemplarisch auf den Bildungsbereich zu sprechen kommen .

Die ›Produktion‹ von Behinderung im Kontext Schule

Besonders im Kontext von Schule und Bildung lässt sich nämlich empirisch zeigen, dass durch bestimmte Zuschreibungen, beispielsweise ›Sonderschü-ler‹, Behinderungen oft erst geschaffen oder zumindest verstärkt werden . Sonderschulen selbst können daher als gesellschaftliche Orte der Bildung zu Orten des ›Behindert-Werdens‹ werden (vgl . Powell 2007, S . 321) .

Entscheidend und prägend daran ist, dass das in den Schulen vermittelte kulturelle Kapital, insbesondere in Form von Wissen und Bildungsabschlüs-sen als institutionalisierte Ausweise des kulturellen Kapitals, über weitere Chancen im Leben entscheidend ist . Und gerade fehlende Abschlüsse ver-schließen im Falle von Abgängern von Sonderschulen oft viele Türen . Heike Solga (2005) beispielsweise hat die Schwierigkeiten des Abgangs von der

Die Struktur von Inklusion 179

Schule sowie des Übergangs ins Berufsleben für Abgänger von Sonderschu-len sowie ihr Scheitern in erwarteten ›Normalbiografien‹ eindrücklich aufge-zeigt . Insbesondere für Abgänger der Sonderschule zeigt sich in ihrer Unter-suchung, dass diese in zirka 80 % der Fälle ohne Hauptschulabschluss entlassen werden . An diese Jugendlichen richtet sich aber nun – wie auch an die Jugendlichen mit Hauptschulabschluss – die Normerwartung, dass sie eine unbefristete Vollerwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt wahrnehmen können . Diese Erwartung kann aber meistens in dreierlei Hinsicht nicht erfüllt werden . Erstens ist zwar ein fehlender Schulabschluss an sich noch kein Ausschlusskriterium für eine reguläre Berufsausbildung . Oft hat aber der »amtliche Stempel des Defizitären« (ebd ., S . 208f .) faktisch zur Folge, dass die Chancen markant sinken . Dies vor allem aufgrund von zwei Prozes-sen: einmal aufgrund einer Verdrängung durch diejenigen mit Schulab-schluss (Verdrängungsaspekt), und einmal durch die Skepsis von Betrieben, auch diejenigen ohne gute Schulkarriere einzustellen (Diskreditierungsas-pekt) .

Zweitens landen diese Jugendlichen oft in der Mühle von Sozialmaßnah-men und damit direkt in weiterhin segregierenden Formen von Bildung . Sie sind damit wieder unter sich. Mit ihrer institutionellen Ausgliederung aber erhöht sich die bereits bestehende Stigmatisierungsgefahr . Der internen Ex-klusion wird damit Vorschub geleistet . Die Erwartung an eine Bildungs- und Ausbildungslaufbahn, die diese Jugendlichen nicht erfüllen, setzt sie zudem einem auch individuell empfundenen Scheitern und Versagen aus, was wei-tere Demotivationsprozesse zur Folge haben kann .56

Drittens tragen die Betroffenen, selbst wenn sie eine Ausbildung absol-vieren können, ein deutlich höheres Risiko, arbeitslos zu werden, als andere . Eine Ursache sieht Heike Solga (ebd ., S . 213) darin, dass diejenigen Berufe, die behinderten Menschen meist noch offen stehen, zu den besonders be-schäftigungsinstabilen, schrumpfenden und stärker von Arbeitslosigkeit be-troffenen Berufen gehören .

Damit ergibt sich für viele Menschen mit Behinderung eine prekäre Le-benslage, und zwar aufgrund einer sozialen Situation und der Einbindung in

56 Untersuchungen beispielsweise zeigen, dass die deutlich geringere Quote von Schulabgän-gern ohne Schulabschlüsse in regulären Ausbildungskontexten nicht nur das Ergebnis von Fremd-, sondern auch von Selbstselektionsprozessen ist . So antworteten in einer im Okto-ber 2001 in Deutschland durchgeführten Befragung von nicht vermittelten Ausbildungs-stellensuchenden ohne Schulabschluss 49 % auf die Frage, warum sie keine Lehre machen würden, dass ihre schulische Vorbildung nicht ausreichend sei und 14 %, dass sie keine Chance sehen würden, sich erfolgreich zu bewerben (vgl . Solga 2005, S . 211) .

180 Inklusion und Gerechtigkeit

bestimmte gesellschaftliche Subsysteme, beispielsweise die Schule oder den Arbeitsmarkt, die ihre Behinderung verstärken und in vielen Fällen gerade erst hervorrufen . Die gesellschaftliche und in der Folge auch gemeinschaftli-che Produktion und Verstärkung von Behinderung darf also nicht unter-schätzt werden . Versteht man nämlich Behinderung, wie ich das im vierten Kapitel vertreten habe, vor dem Hintergrund einer Gefährdung von Lebens-qualität, steht nichts weniger als das gute Leben von Menschen mit Behin-derung auf dem Spiel .

5 .4 Fazit

In der Klärung der Struktur von Inklusion bin ich von zwei Annahmen aus-gegangen . Erstens: Inklusion hat mit Zugehörigkeit zu tun, die sozial durch Anerkennungsprozesse gespiegelt wird . Und zweitens: Inklusion hat mit so-zialer Handlung oder sozialer Intentionalität zu tun . Zudem können bei In-klusion zwei Sphären unterschieden werden: eine gemeinschaftliche und eine gesellschaftliche .

Die beiden Sphären sind nicht trennscharf, vielmehr gibt es viele Lebens-bereiche, die durch beide Sphären geprägt sind . Paradigmatisch gilt das für die Schule .

Die Unterscheidung in gemeinschaftliche und gesellschaftliche Inklusion geht auf Soziologen wie Ferdinand Tönnies oder Max Weber zurück und kennzeichnet eine geläufige Unterscheidung in der soziologischen Theorie-bildung . Sie geht davon aus, dass es Lebensbereiche gibt, in denen Menschen auf interpersonaler Ebene miteinander verkehren, während es andere gibt (gesellschaftliche), die sich nicht auf interpersonale Beziehungen und daher auch nicht auf Zugehörigkeitsgefühle reduzieren lassen . In Bezug auf ge-meinschaftliche Inklusion, die gerade für Menschen mit Behinderung be-sonders gefährdet ist, zeigte sich, dass man Inklusion in Gemeinschaften auf einem Kontinuum zwischen exklusiv und partizipativ einordnen kann . Auch hier gilt, dass realiter beide Momente anwesend sind . Die analytische Unter-scheidung zeigt aber, dass es Kontexte gibt, zu denen sich Menschen tenden-ziell selbst zuschreiben können, die also partizipatorisch sind . Ein Beispiel ist ein Fanklub . Daneben gibt es Kontexte, die eher exklusiv sind, und zu deren Zugehörigkeit man vorgängig Zugangskriterien erfüllen muss . Ein gutes Beispiel dafür ist die Mitgliedschaft in einem Opernhausorchester . Die In-

Die Struktur von Inklusion 181

tentionen, die auf Gemeinschaften gerichtet sind, können Absichten oder Vorhaben (praktische Intentionen), Meinungen oder Überzeugungen (kog-nitive Intentionen), aber auch Gefühle (affektuelle Intentionen) beinhalten . Gerade affektuelle soziale Intentionen geraten oft aus dem Blickfeld .

In der gesellschaftlichen Sphäre kann ein sozialer und ein politischer Be-reich unterschieden werden . In ihr und insbesondere im politischen Bereich hat sich die Bedeutung von Demokratie für die Inklusion von Menschen gezeigt . Denn erst durch die Befähigung, politische Kämpfe um Inklusion führen zu können, ist es tatsächlich möglich, sich auch faktisch Gehör zu verschaffen . Genau aber das kennzeichnet eines der größten Probleme bei der Inklusion behinderter Menschen . Sie haben wenig Macht und Gehör in gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen . Sie sind damit, wie Martin Kro-nauer (2010) betont, vor allen Dingen Exklusionsprozessen in der Gesell-schaft besonders stark ausgesetzt . Diese Exklusionsprozesse können sich nach Robert Castel (2008) auch bereits im Übergang von einer Zone der Inklusion hin zu einer Zone der Verwundbarkeit ergeben .

Damit ist das, was bereits Jonathan Wolff und Avner de-Shalit (2007) in Bezug auf den Capability-Ansatz betont haben, nochmals hinsichtlich In-klusion geschärft . Denn bei Inklusion geht es nicht um entweder-oder, son-dern um ein mehr oder weniger Drinnen oder Draußen sein, das sich je nachdem, wieviel man in den jeweiligen Gemeinschaften oder Gesellschaf-ten tun und sein kann, unterschiedlich zeigt . Und dieses weniger Drinnen oder mehr Draußen, in gesellschaftlicher wie gemeinschaftlicher Hinsicht, ist durch erhöhte Risiken, beispielsweise in der Gefährdung bestimmter Funktionen, geprägt . Wer beispielsweise morgens jeweils stundenlang damit beschäftigt ist, das Bett verlassen zu können, sich zu duschen und anzuzie-hen, weil er eine schwere körperliche Beeinträchtigung hat, hat zweifelsohne weniger Zeit und wohl auch weniger Energie, sich tagsüber oder abends so-zialen Aktivitäten zu widmen . Oder anders gesagt: Die sozialen Aktivitäten sind mit einem hohen Aufwand psychischer, physischer oder organisatori-scher Art verbunden, der dann an einem anderen Ort wieder fehlt . Gerade im Falle psychischer Behinderung zeigen sich die Risiken, die mit den Be-mühungen, sozial doch noch Anschluss zu finden, verbunden sind, beson-ders deutlich . Denn oftmals steht der Wunsch dazuzugehören sowohl einem hohen intrapersonalen Preis (beispielsweise Kraft und Mut, sich anderen Menschen zu stellen) als auch zusätzlicher sozialer Stigmatisierung gegen-über . Damit tritt ein potenzieller Teufelskreis zwischen dem Gefühl, nicht dazuzugehören, und der sozialen Reaktion der Missachtung oder Stigmati-

182 Inklusion und Gerechtigkeit

sierung ein . Solche Prozesse zeigen sich zudem nicht nur auf zwischen-menschlicher Ebene, im Kontakt zwischen Menschen also, sondern auch auf gesellschaftlich-abstrakter Ebene . Wie sich beispielsweise im Zuge der soge-nannten ›Scheininvalidendebatte‹57 in der Schweiz gezeigt hat, wird man-gelnde Inklusion – beispielsweise in den Arbeitsbereich – besonders oft Menschen mit unklarer medizinischer Indikation (wie beispielsweise De-pressionen oder Schmerzerkrankungen) individuell als Versagen angelastet, was ihre prekäre soziale Lage weiter verstärkt .

Auch wenn analytisch die beiden Sphären Gemeinschaft und Gesellschaft getrennt betrachtet wurden, zeigt sich gerade am Beispiel Behinderung, dass die beiden Sphären im Lebensvollzug der betroffenen Menschen in einen oft unheilvollen Zusammenhang treten . Dies ist der Fall, indem mangelnde ge-meinschaftliche Inklusion zu Gefährdungen der gesellschaftlichen Inklusion führt und umgekehrt instabile gesellschaftliche Inklusion zu Gefährdungen der gemeinschaftlichen Inklusion .

Das nächste Kapitel beleuchtet nun die in diesem Kapitel gewonnen Er-kenntnisse auf normativer Ebene . Konkret frage ich nach der normativen Relevanz von Inklusion . Damit verbunden ist auch folgende Frage: Welche normativen Voraussetzungen und Bedingungen müssen gegeben sein, damit Inklusion gewährleistet werden respektive stattfinden kann?

Im sechsten Kapitel zeigen sich die Verbindungen zwischen Inklusion und Entwicklung . Diese Verbindung geht einerseits zurück auf die Überle-gungen zur Bedeutung sozialer Intentionalität für Inklusion und andererseits auf die dem Capability-Ansatz inhärente Entwicklungsorientierung im Hin-blick auf die Frage, was Menschen tun und sein können . Weiter beleuchte ich die Verbindung zwischen Anerkennung – die ich im vorliegenden Kapitel noch deskriptiv im Sinne einer Identifikation verstanden habe – und Inklu-sion . Als letztes kommt die Sprache auf Freiheit – insbesondere die Freiheit, sozial gerichtete Pläne und Ziele umzusetzen . Hier nehme ich insbesondere die Idee des Capability-Ansatzes wieder auf, der davon ausgeht, dass Men-schen – vor allen Dingen positive – Freiheit benötigen, das sein und tun zu können, was sie mit guten Gründen anstreben .

57 Hierbei hat eine politische Partei, die Schweizerische Volkspartei (SVP), damit geworben, die Schweizerische Invalidenversicherung wäre zu sanieren, wenn man allen Menschen, die nur vorgäben, eine Behinderung zu haben, eine Rente verweigern würde . Suggeriert wurde damit, dass ein bedeutender Teil derjenigen Bürgerinnen und Bürger, welche aktu-ell Renten erhalten, eigentlich Betrüger sozialstaatlicher Leistungen seien .

6 . Die normative Relevanz von Inklusion

Das vorangehende Kapitel ist von zwei Elementen von Inklusion ausgegan-gen: Zugehörigkeit, die in Form von Anerkennung sozial erwidert wird, so-wie soziales Handeln respektive soziale Intentionalität . Die Elemente von Inklusion, die sich in den beiden Sphären jeweils unterschiedlich zeigen und und die die Struktur von Inklusion ausmachen, sollen nun im vorliegenden Kapitel auf ihre normative Relevanz hin befragt werden . Damit verbunden ist auch die Frage, welche normativen Bedingungen und Voraussetzungen gewährleistet sein müssen, damit Inklusion stattfinden kann . Eine weitere Frage lautet, was daraus nun für Gerechtigkeitsfragen, genauer für morali-sche Rechte, folgt . Diese letztgenannte Frage aber muss für den Moment offen bleiben . Sie wird im siebten Kapitel beantwortet . Das Kapitel hat denn auch die Antwort auf die Hauptfrage der ganzen Arbeit zum Inhalt .

Der Aufbau des Kapitels

Das vorliegende Kapitel steht unter dem Aspekt des Beitrags von Inklusion zu menschlichem Wohlergehen . Damit Inklusion aber normativ an Überle-gungen zu menschlichem Wohlergehen angebunden werden kann, möchte ich erstens auf die Verbindung von Inklusion zu menschlichem Wohlerge-hen eingehen respektive genauer auf den Wert, den Inklusion für ein gutes menschliches Leben hat . Dabei beleuchte ich insbesondere nochmals die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen, Plänen und Zielen . In dieser Unter-scheidung wird sich neben der normativen die hohe entwicklungspsycholo-gische Bedeutung von Inklusion für das menschliche Leben andeuten . Wei-ter zeigt sich, dass Menschen für die Durchführung von Plänen und Zielen, die mit Inklusion verbunden sind, Freiheit benötigen . Freiheit hat damit enge Verbindungen zu Inklusion, auch wenn sie selbst kein Element von Inklusion ist .

184 Inklusion und Gerechtigkeit

Nach einer Einführung, welche die Verbindung von Inklusion zu mensch-lichem Wohlergehen aufzeigt, soll die normative Relevanz anhand der Bezie-hungen zu Entwicklung (hierin ist besonders die entwicklungspsychologi-sche Bedeutung von Intentionalität als Element von Inklusion zentral), zu Anerkennung (hier wird der Anerkennungsbegriff normativ gefüllt) und Freiheit aufgezeigt werden .

Erstens ist Inklusion bedeutsam, weil sie für menschliche Entwicklungs-prozesse, insbesondere in kognitiver und sozialer Hinsicht, von großer B edeutung ist . Die Voraussetzung von Inklusion für die menschliche Ontoge-nese zeigt sich dabei insbesondere in nahen zwischenmenschlichen Gemein-schaftsbeziehungen, beispielsweise in Familien . Umgekehrt zeigt sich auch, dass Entwicklung respektive ein bestimmter Entwicklungsstand eine wichtige Voraussetzung für weiterführende Inklusion ist . So ist beispielsweise das Errei-chen eines bestimmten Alters (bei dem man normalerweise die mit dem Be-griff Mündigkeit verbundene Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Han-deln zu übernehmen, voraussetzen kann) und eines bestimmten kognitiven Entwicklungsstandes notwendig für die Verleihung eines Wahlrechts .

Mit der Verbindung zu menschlicher Entwicklung deute ich das im fünften Kapitel erarbeitete Moment sozialen Handelns respektive sozialer Intentionalität normativ und zeige insbesondere dessen entwicklungspsy-chologische Bedeutung auf . Die normative Wendung des entwicklungspsy-chologischen Ansatzes ergibt sich vor dem Hintergrund der impliziten A nnahme, dass be stimmte Entwicklungsprozesse, beispielsweise die Ent-wicklung sozialer Intentionalität, wichtig sind für das gute menschliche Le-ben . Dies, weil sie Voraussetzungen für das Erlernen und Anwenden zahl-reicher wichtiger menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten sind, wie die empirischen Befunde des Entwicklungspsychologen Michael Tomasello (2006, 2009; Tomasello und Rakoczy 2009) zeigen . Diese Fähigkeiten ha-ben damit selbst eine Schlüsselfunktion .

Zweitens zeigen sich wechselseitige Beziehungen zwischen Inklusion und Freiheit . Menschen benötigen insbesondere dann Freiheit, wenn sie sich in diejenigen Kontexte inkludieren möchten, die mit ihren Plänen und Zielen verbunden sind . Hierin zeigt sich die Bedeutung von Freiheit, verstan den als Verwirklichungschancen, für die Inklusion von Menschen . Inklusion ist aber umgekehrt auch wichtig für Freiheit . Dabei kann man negative und positive Freiheit unterscheiden . Negative Freiheit wird als Abwesenheit bestimmter Beschränkungen verstanden, und positive Freiheit als Fähigkeit, bestimmte Dinge, die man tun will, auch tun zu können (vgl . Gosepath 2004, S . 296) .

Die normative Relevanz von Inklusion 185

Die Beschränkungen, denen Menschen ausgesetzt sind, können dabei natür-licher oder sozialer sowie interner oder externer Art sein . Meist sieht man in Gerechtigkeitstheorien von natürlichen Beschränkungen ab und geht nur auf die sozialen ein . Diese bilden dann ein Verständnis negativer Freiheit, das es – meist über Rechte – abzusichern gilt (vgl . Koller 1997) . Ein solches Ver-ständnis von Freiheit hat aber für den vorliegenden Zusammenhang einen gewichtigen Nachteil: Es ignoriert nämlich insbesondere die sozialen Bedin-gungsfaktoren für den Gebrauch von Freiheit . Dies ist gerade für das Beispiel Behinderung relevant . Der Wert der Freiheit ist nämlich für Menschen so lange nicht gleich, wie ihnen die äußeren und inneren Möglichkeiten zu deren Gebrauch fehlen . Daher benötigen Menschen mit Behinderung spezi-elle Ressourcen, beispielsweise Bildung, aber auch andere soziale Chancen und Handlungsressourcen, um den Wert von Freiheit zu realisieren respekti-ve die mit Inklusion verbundenen Pläne und Ziele ausführen zu können . (Nicht nur behinderte) Menschen benötigen, mit anderen Worten, auch positive Freiheit (vgl . Taylor 1999) .

Drittens zeigen sich wechselseitige Verbindungen zwischen Anerken-nung und Inklusion . Dies, weil verschiedene soziale Anerkennungsformen Inklusion ermöglichen . So ist es naheliegend, dass Anerkennung in Form von zwischenmenschlicher Liebe Inklusion in Freundschaft oder Liebesbe-ziehungen und damit gemeinschaftliche Inklusion ermöglicht, während An-erkennung als Rechtsträger oder Bürger Inklusion in die Gesellschaft ermög-licht . Umgekehrt gilt auch, dass Inklusion eine Voraussetzung für soziale Anerkennungsformen darstellt . So muss eine Person auch in interpersonale Beziehungen bestimmter Art inkludiert sein, um die dazu passende Form der Anerkennung empfangen zu können .

In diesem Teil bietet sich die Anerkennungstheorie von Axel Honneth (1994) als Analyseraster für verschiedene Anerkennungsmodi an . Liest man Honneths Theorie nämlich als Inklusionstheorie, zeigt sich die Wechselwir-kung zwischen Selbstbezug und sozial gerichteter Anerkennung als Bedin-gung und Voraussetzung für Inklusion . Inklusion geschieht über Prozesse wechselseitiger Anerkennung . Da Anerkennung verschiedene Formen an-nehmen kann, sind auch die entsprechenden Formen der Inklusion unter-schiedlich ausgeprägt . Liebe und Rücksicht sowie soziale Wertschätzung werden Menschen als konkreten Anderen in Gemeinschaften und Gesell-schaften entgegengebracht . Über Rechte werden Menschen als abstrakte An-dere anerkannt . Rechte sind damit auf der gesellschaftlichen Ebene angesie-delt .

186 Inklusion und Gerechtigkeit

Bevor ich die Verbindungen zwischen den einzelnen normativen Kon-zepten Entwicklung, Freiheit und Anerkennung aufzeige, möchte ich das Kapitel vor dem Hintergrund der Überlegungen zum guten menschlichen Leben situieren . Weiter weise ich auf die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Bedürfnissen sowie Plänen und Zielen nochmals in Bezug auf In-klusion hin . Einerseits zeigt sich hierbei der Freiheitsaspekt von Inklusion deutlich . Andererseits erhält Inklusion in Bezug auf Bedürfnisse eine ent-wicklungspsychologische Bedeutung .

Der Wert von Inklusion

Der Wert von Inklusion ergibt sich dadurch, dass Inklusion zum guten menschlichen Leben beiträgt sowie selbst Teil eines guten menschlichen Le-bens ist . Dies unter anderem, weil die beispielsweise in gemeinschaftlicher Inklusion gelebten Beziehungsformen wie Liebesbeziehungen oder Freund-schaften ohne Zweifel bedeutsam sind für ein gutes menschliches Leben . In sozialen Beziehungen dieser Art ist man nämlich direkt am Wohlergehen der anderen Person interessiert . Man nimmt mit anderen Worten deren Interes-sen in Blick . Dieses Sorgen um die Interessen des anderen zeichnet sich da-durch aus, dass es nicht instrumentell ist . Man sorgt sich für den anderen nicht, weil er eine bestimmte Rolle oder Fähigkeit hat oder anderweitig von instrumenteller Bedeutung für einen selbst ist . Man sorgt sich um den ande-ren in engen zwischenmenschlichen Beziehungen vielmehr (auch) um seiner selbst willen (vgl . Honneth und Rössler 2008, S . 11) .

Mit der Aussage, die moralische Bedeutung von Inklusion ergebe sich aus ihrem Beitrag für das gute Leben von Menschen, ist natürlich die Frage auf-geworfen, was man unter Wohlergehen verstehen soll . Ich habe im vierten Kapitel eine Theorie des guten menschlichen Lebens vertreten, den soge-nannten Capability-Ansatz, der Wohlergehen einerseits über functionings, Funktionen oder Fähigkeiten, fasst, andererseits aber auch die Verwirkli-chungschancen, capabilities oder Freiheitsgrade von Menschen in den Blick nimmt und damit die substanziellen Chancen, die Menschen haben, ihre Pläne und Ziele zu entwickeln . Mit dem Capability-Ansatz lassen sich zwei Aspekte untersuchen: erstens, was Menschen tatsächlich tun und sein kön-nen . Man kann also beispielsweise untersuchen, wo sie handlungsfähig sind, welche Beziehungen sie haben und wie die Qualität dieser Beziehungen ist . Man kann aber zweitens auch untersuchen, wozu Menschen substanziell frei

Die normative Relevanz von Inklusion 187

sind . Dieser Aspekt greift über den ersten hinaus und ermöglicht die Analy-se von Beziehungen oder Inklusionsformen, welche Menschen nicht oder noch nicht haben .

Die Bedeutung respektive der Beitrag von Inklusion zu menschlichem Wohlergehen zeigt sich deutlich, wenn man die im zweiten Kapitel einge-führte Unterscheidung in Bedürfnisse und Pläne und Ziele wieder in den Blick nimmt .

Inklusion als ein Interesse von Menschen

Menschen haben einerseits Bedürfnisse nach Inklusion, andererseits auch Pläne und Ziele, die mit Inklusion verbunden sind . Bedürfnisse nach Inklu-sion zeigen sich auf zwei Ebenen: erstens im Bedürfnis, nahe Bezugsperso-nen zu haben und interpersonelle Zuwendung und Liebe zu erfahren; zwei-tens im Bedürfnis, für spezifische Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Leistungen sozial wertgeschätzt zu werden und damit Zugang zu Kontexten zu erhalten, die den Erwerb und die Ausübung dieser Fähigkeiten, Fertigkei-ten und Charaktereigenschaften ermöglichen . Auf dieser Ebene zeigt sich auch die Anbindung an Pläne und Ziele von Menschen . Denn Menschen wollen, gerade weil sie spezifische Pläne und Ziele haben, in den dazu gehö-renden Bemühungen und Erfolgen sozial wertgeschätzt werden . Mit der Er-fahrung sozialer Wertschätzung geht ein gefühlsmäßiges Vertrauen in den eigenen Wert und die eigenen Leistungen und Fähigkeiten einher, die auch von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als wertvoll erachtet werden . Die damit erbrachte soziale Wertschätzung ist also mehr als Toleranz, sie ist viel-mehr »aktive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Per-son« (Honneth 1994, S . 210) .

Geht man davon aus, dass ein gutes Leben in der Erfüllung von Interes-sen – also Bedürfnissen wie auch Plänen und Zielen – besteht, dann bezieht sich die normative Relevanz von Inklusion einerseits auf Grundbedürfnisse nach Inklusion und dient primär der Vermeidung eines leidvollen Lebens . Andererseits bezieht sich die normative Relevanz auf Pläne und Ziele nach Inklusion und damit auf die faktischen und substanziellen Freiheitsräume von Menschen, bestimmte Pläne und Ziele überhaupt entwickeln und aus-bilden zu können . Beide, Bedürfnisse ebenso wie Pläne und Ziele, bilden das ab, was Amartya Sen und Martha Nussbaum functionings, Fähigkeiten oder Funktionen, nennen . Die Befriedigung oder Deprivation menschlicher

188 Inklusion und Gerechtigkeit

Grundbedürfnisse wie auch die Erfüllung respektive Nichterfüllung von Plä-nen und Zielen sind es demnach, was Sen unter beings und doings, Seinszu-stände und Tätigkeiten, versteht .

Die Deprivation der mit den Bedürfnissen nach Inklusion verbundenen Gefühle nach Zuwendung führt bei allen Menschen zu schwerem Leiden . Ein früher und grausamer Beweis für diese These lieferte der Stauferkönig Friedrich II zu Beginn des 13 . Jahrhunderts . Er ließ sieben Neugeborene von ihren Müttern trennen und von Ammen aufziehen . Diese hatten den Auf-trag, den Säuglingen zwar zu essen zu geben, ihnen aber darüber hinaus keine Zuwendung, beispielsweise in Form von Berührungen, zukommen zu lassen . Nach drei Monaten waren alle Säuglinge gestorben (vgl . Ide und Bor-chert 2008, S . 59) . Traurige Nachfolge dieser Versuche traten auch die rumä-nischen Kinderheime während des Ceauscesu Regimes an . Und heute noch dringen regelmäßig Meldungen über unmenschliche Behandlungen behin-derter Menschen in die Öffentlichkeit . In jüngster Zeit beispielsweise konnte man über die tierhaltungsähnliche Unterbringung von Menschen mit geisti-ger Behinderung in Bulgarien, das Verschwinden und Töten behinderter Kinder und Jugendlicher in Mexiko oder aber die Entführung geistig behin-derter Menschen zwecks Rentenerschleichung in den USA lesen .1

Die Form der Vernachlässigung in emotionaler (aber auch körperlicher) Hinsicht hinterlässt bei den Betroffenen schwere Entwicklungsstörungen in psychischer und auch physischer Hinsicht und ist heute, gerade auch nach den bahnbrechenden Studien von René A Spitz (2005), als Hospitalismus bekannt . Die Kennzeichen des hier interessierenden psychischen Hospitalis-mus (auch Deprivationssyndrom genannt) sind unter anderem Apathie, De-pression, Bindungsstörung, intellektuelle Retardierung (bis hin zu geistiger Behinderung) sowie mangelhaftes Vertrauen .

Anders als der Mangel an Deckung von Bedürfnissen betreffend Inklusi-on führt die Deprivation von individuellen Plänen und Zielen nicht zwin-gend zu Leiden . Dies vor allem aus dem Grund, weil Pläne und Ziele an spezifische Interessen von Menschen gebunden sind . Daher ist auch der Ein-fluss dieser Pläne und Ziele auf das Wohlergehen bei jedem Menschen an-ders . Ob es beispielsweise eine Einschränkung des Wohlergehens darstellt, ob mein Bus zu spät kommt oder ob ich nur vier Finger habe, misst sich zu nicht unwesentlichen Anteilen daran, welche Ziele ich verfolgen wollte res-pektive welche Ziele damit frustriert wurden . Kommt der Bus zu spät und ich wollte damit aus Lust und Laune etwas herumfahren, stellt dies neben

1 Aktuelle Fälle findet man beispielsweise unter www .disabilityrightsintl .org .

Die normative Relevanz von Inklusion 189

einer gewissen Verärgerung über die Verspätung keine nennenswerte Ein-schränkung meines Wohlergehens dar . Verpasse ich jedoch durch die Verspä-tung des Busses ein wichtiges Bewerbungsgespräch und die Stelle wird auf-grund meiner Verspätung jemand anderem zugesprochen, kann dies unter Umständen eine weitaus signifikantere Einschränkung meines Wohlerge-hens darstellen . Und während der Verlust eines Fingers für die meisten Men-schen, abgesehen von anfänglichen Schmerzen, keine nennenswerte Ein-schränkung ihres Wohlergehens darstellt, tut es dies unter Umständen für einen Pianisten in erheblichem Maß . Der Einfluss auf das Wohlergehen bei der Deprivation von Plänen und Zielen betreffend Inklusion muss sich so-mit an den Plänen und Zielen respektive deren Bedeutung und Beschaffen-heit für das betreffende Leben zeigen .

Beim Thema Inklusion zeigt sich auch, dass Interessen hierarchisch auf-gebaut sind . Grundbedürfnisse nach interpersonaler Zuwendung durch be-stimmte konkrete Andere, die sich uns um unser selbst willen zuwenden, sind offensichtlich Grundvoraussetzung für den Aufbau und die Entwick-lung weiterer Beziehungen, wie auch für den Aufbau und die Anwendung basaler zwischenmenschlicher und individueller Fähigkeiten . Wie weit ein konkreter Plan oder ein konkretes Ziel, das mit Inklusion verbunden ist, durch ein anderes substituiert werden kann respektive wann genau mensch-liches Leiden bei der Deprivation dieser Pläne und Ziele beginnt, misst sich am Beitrag, den diese zum menschlichen Leben haben . Einerseits kann sich dies in der Qualität von Zielen und Plänen, wie oben aufgeführt, zeigen . Aber auch die Quantität der Pläne und Ziele, die mit Inklusion verbunden sind, spielt eine wichtige Rolle . Ist jemand nämlich aus sehr vielen Lebens-kontexten ausgeschlossen, ergibt sich mit anderen Worten diese ›Zone der Verwundbarkeit‹ (Castel 2008), dann bröckeln Sicherheiten in vielen Berei-chen – im Arbeitsbereich, in sozialen Beziehungen, in der Bildung – weg . Ein solches Leben ist dann von sich verstärkenden Risiken, wie sie Jonathan Wolff und Avner De-Shalit (2007) benannt haben, geprägt .

Nachdem nun die Bezüge von Inklusion zu menschlichem Wohlergehen aufgezeigt worden sind, möchte ich vertiefter auf die Verbindungen zu Ent-wicklung, Anerkennung und Freiheit eingehen . Ich beginne bei der Ent-wicklung und greife dazu auf den im letzten Kapitel entwickelten Aspekt von Inklusion, die soziale Intentionalität, zurück . In dieser, so wird sich zei-gen, liegt eine hohe entwicklungspsychologische Bedeutung für die Inklusi-on von Menschen, die ihre normative Wendung über ihren Beitrag zum guten menschlichen Leben erhält .

190 Inklusion und Gerechtigkeit

6 .1 Die Bedeutung sozialer Intentionalität für Inklusion

Die Bedeutung sozialen Handelns respektive sozialer Intentionalität für In-klusion zeigt sich in folgenden Aspekten: Erstens führen viele Menschen eine Reihe von Tätigkeiten zusammen mit anderen Menschen durch . Sie kochen gemeinsam, spazieren gemeinsam oder singen gemeinsam Lieder, um nur einige Beispiele zu nennen . Zweitens verlangen bestimmte Tätigkeiten von vornherein soziale Intentionalität und soziale Ausrichtung, weil sie nämlich anders gar nicht möglich sind . Solche im engeren Sinne sozialen Tätigkeiten sind beispielsweise Tango tanzen, Fußball spielen oder auch Kommunikati-on . Darüber hinaus sind viele Dinge, die Menschen als Individuen tun, an einen sozialen Rahmen und damit an im weiteren Sinn soziale Handlungen gebunden . Beispielsweise sind Wahlen nur so möglich . Es muss nämlich Wähler und zu Wählende geben . Und ein Restaurantbesuch ist nur möglich, wenn im Hintergrund soziale Handlungen getätigt werden – indem ver-schiedene Köche gemeinsam kochen, ein Servicepersonal sich um die Bewir-tung der Gäste kümmert oder auch das Restaurant selbst in koordinierten Aktionen beliefert wird . In diesem Sinne sind soziale Handlungen konstitu-tiv für viele Formen individueller Handlungen .

Die Bedeutung sozialer Handlungen, die sich in der gemeinsamen Inten-tionalität der Beteiligten zeigt, kennzeichnet die Bedürfnisse und die Fähig-keiten von Menschen, Handlungen mit anderen auszuführen und sind Teil dessen, was man meint, wenn man sagt, der Mensch sei ein soziales Wesen . Intentionalität ist dabei sowohl Produkt oder Folge von Entwicklung wie auch Bedingung für Entwicklung . Entwicklungsprozesse werden damit einerseits durch intentionales Handeln verändert . Andererseits sind die Bedingungen intentionalen Handelns – Ziele, Überzeugungen, Gefühle und so weiter – selbst entwicklungsoffen (vgl . Brandtstädter 2001, S . 207) . Das heißt, Ent-wicklungsprozesse können, je nach Art der zugrunde liegenden Ziele, Über-zeugungen oder Gefühle, zu anderen intentionalen Handlungen führen . Gerade das Negativbeispiel des Hospitalismus zeigt, dass im schlimmsten Fall, mit der Nichtermöglichung von Entwicklungsprozessen durch Verwei-gerung interpersonaler Zuwendung, auch der Aufbau von sozialer Intentiona-lität verunmöglicht oder zumindest massiv erschwert wird . Die Betroffenen sind in der Folge teilnahmslos, bindungsgestört und haben kein Vertrauen in andere Menschen .

Intentionalität ist insofern Produkt von Entwicklungsprozessen, als es ein bestimmtes Entwicklungsniveau Menschen erst erlaubt, ihre Bedürfnisse

Die normative Relevanz von Inklusion 191

sowie Pläne und Ziele nach Inklusion selbsttätig zu decken oder zu verwirk-lichen . Als Bedingung für Entwicklung lässt sich die Bedeutung von Intenti-onalität insbesondere im Übergang von Bedürfnissen zu Zielen und Plänen zeigen . Die Erfüllung von zumindest elementaren Bedürfnissen nach Inklu-sion ist nämlich Bedingung für die Herausbildung von spezifischen Plänen und Zielen nach Inklusion . Ein Mensch, dessen tiefste Bedürfnisse nach menschlicher Nähe und Zuwendung nicht befriedigt werden, kann zwar so-ziale Intentionalität entwickeln . Diese aber ist von tiefstem Misstrauen ge-genüber anderen Menschen sowie psychischen Verletzungen geprägt, so dass sich Intentionalität mit großer Wahrscheinlichkeit nicht positiv gegenüber anderen Menschen zeigen wird . Für die Anwendung und Verwirklichung spezifischer Pläne und Ziele scheint daher die Erfüllung von elementaren Bedürfnissen, lebensweltlich betrachtet, eine notwendige Voraussetzung zu sein .

Die Bedeutung zwischenmenschlicher Kontexte für den Erwerb von sozialer Intentionalität

Gemeinhin gehen erwachsene Menschen davon aus, dass die für Inklusions-prozesse notwendige soziale Intentionalität automatisch und natürlicherwei-se bei ihnen vorhanden ist . Sie vergessen dabei, dass es sich um eine Fähigkeit handelt, die sich wie vieles andere beim Menschen entwickeln muss . Die empirischen Ergebnisse des us-amerikanischen Entwicklungspsychologen Michael Tomasello (2006, 2009; Tomasello und Rakoczy 2009) zeigen näm-lich, dass ein normaler Verlauf eines Entwicklungsprozesses, an deren Ende sozusagen automatisch der kompetente Mensch als Output generiert würde, keineswegs selbstverständlich ist . Es müssen im Gegenteil eine Reihe förder-licher Bedingungsfaktoren vorhanden sein, die dazu führen, dass sich ein Mensch entwickeln kann . Diese betreffen nicht nur seine genetische und sonstige körperliche Ausstattung, sondern vor allen Dingen auch das Um-feld, in dem sich der Mensch befindet .

Dies vor allem aus folgendem Grund: Menschen sind zwar bereits von Geburt an darauf eingestellt, kompetente, das heißt, mit bestimmten Fähig-keiten und Fertigkeiten ausgestattete, Erwachsene zu werden, denn sie haben – meistens jedenfalls – die notwendige genetische Ausstattung dazu . Zudem leben sie in einer bereits vorstrukturierten sozialen und kulturellen Welt, welche diese Entwicklung in der Regel unterstützt . Menschen aber sind bei

192 Inklusion und Gerechtigkeit

ihrer Geburt, anders als die meisten Tiere, nicht nur in körperlicher, sondern auch in psychischer und sozialer Hinsicht noch nicht entwickelt . Dazu be-nötigen sie viele Jahre des Lernens . Dieses Tun respektive Lernen, das zu weiten Teilen über automatisch ablaufende biologische Prozesse hinausgeht, ist moralisch relevant, da von Menschen gemacht respektive beeinflusst . Und es bedeutet auch, dass diese Prozesse von Menschen be- oder gar verhindert werden können . Während einige dieser Entwicklungsprozesse nur geringe Unterstützung benötigen, wie beispielsweise laufen, sind andere weitaus schwieriger, fragiler und daher auch gefährdeter zu scheitern . Dazu gehört beispielsweise die menschliche Kommunikation . Daher ist gerade beim Er-lernen von Kommunikation respektive von Sprache die Art und Weise, wie dieser Lernprozess geschieht, von entscheidender Bedeutung .

Im Folgenden möchte ich den Erwerb sozialer Intentionalität in der menschlichen Entwicklung, basierend auf den Forschungsergebnissen von Michael Tomasello (2006, 2009; Tomasello und Rakoczy 2009) nachzeich-nen und ihre Bedeutung für die vorliegende Fragestellung beleuchten .

Der Erwerb von sozialer Intentionalität

Ab etwa sechs Wochen nach der Geburt sind Säuglinge in sogenannte ›Pro-tokonversationen‹ mit denjenigen Personen eingebunden, die für sie sorgen . Auch ahmen sie bestimmte Körperbewegungen der Erwachsenen nach, in-dem sie beispielsweise wie der Erwachsene ebenfalls die Zunge herausstre-cken . So können bereits sechs Wochen alte Säuglinge ein bestimmtes Verhal-ten wie das Herausstrecken der Zunge so abwandeln, dass sie es dem Verhalten eines Erwachsenen anpassen (beispielsweise, wenn dieser die Zun-ge von einem Mundwinkel zum anderen bewegt) . Ob sie bereits zu dieser Zeit in einem umfassenden Sinn soziale, intentional handelnde Akteure sind, ist allerdings eine ungeklärte Frage .

Was empirisch aber als gesichert gelten kann, ist, dass im Alter von unge-fähr neun Monaten eine Revolution in der Entwicklung des Säuglings statt-findet . Während Säuglinge im Alter von circa sechs Monaten nur dyadisch agieren, das heißt, nach Gegenständen greifen und sie manipulieren, begin-nen Kleinkinder im Alter von neun bis zwölf Monaten damit, triadische Ver-haltensweisen an den Tag zu legen . Das bedeutet, dass nun eine Koordinati-on der Beziehung und Interaktion zu Gegenständen und Menschen zu beobachten ist, welche sich in einem sogenannten referenziellen Dreieck

Die normative Relevanz von Inklusion 193

zwischen Erwachsenem, Kind und Gegenstand befindet . Die geteilte Auf-merksamkeit der Partner ist dabei auf einen Gegenstand gerichtet . Sie zeigt sich zum Beispiel darin, dass Säuglinge in diesem Alter zum ersten Mal zu-verlässig in die Richtung zu blicken beginnen, in die die Erwachsenen bli-cken . Das heißt, sie verfolgen den Blick des Erwachsenen . Ebenfalls können die Säuglinge über längere Zeitspannen hinweg mit Erwachsenen sozial in-teragieren und sich gemeinsamen Beschäftigungen hingeben . Sie beginnen auch, Erwachsene als soziale Bezugspunkte zu sehen und auf dieselbe Weise wie Erwachsene mit Gegenständen umzugehen, sie also zu imitieren . In die-se Phase fällt denn auch der Beginn des sogenannten Imitationslernens . Be-sonders eindrücklich sind deklarative Äußerungen, die zeigen, dass das Kleinkind nicht an bestimmten Ereignissen interessiert ist, sondern dass es den Wunsch hat, der Erwachsene möge die auf einen Gegenstand gerichtete Aufmerksamkeit teilen .2

Was sind nun aber die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen für diese Art des Lernens? Kleinkinder nehmen dann an Interaktionen ge-meinsamer, geteilter Aufmerksamkeit teil, wenn sie andere Menschen als ge-zielt handelnde, intentionale Akteure wie sich selbst sehen . Die Interaktio-nen der obengenannten Arten können daher bereits als Vorstufen zu rationalen Handlungen gesehen werden . Dies aus folgendem Grund: Das Verhalten eines Individuums (oder eines Organismus) macht nur dann Sinn, wenn man versteht, wie diese Entscheidungen betreffend eines Verhaltens, die für das Erreichen eines Ziels instrumentell wichtig sind (vgl . Tomasello 2006, S . 93), zustande kamen . Beim Verständnis anderer Personen kommt neu der Bezug zum eigenen Selbst ins Spiel . Dieser ist nicht vorhanden, wenn sich Kleinkinder mit Gegenständen beschäftigen . Kleinkinder wenden also beim Versuch, andere Menschen zu verstehen, das an, was ihnen von sich selbst bereits bekannt ist . Sie beginnen nämlich damit, sich auf die Auf-merksamkeit und das Verhalten Erwachsener einzustellen, mit Erwartungen ausgestattet, die sie selbst von sich kennen . Diese frühen Formen sozialen Handelns respektive sozialer Intentionalität tauchen wie bereits erwähnt sehr bald in der Entwicklung von Kindern auf .

Damit lässt sich ein fortschreitender Aufbau der Entwicklung sozialer Intentionalität beim Menschen kurz beschreiben: Die erste Phase der Ent-

2 Der Akt des Deutens auf einen Gegenstand zum bloßen Zweck der Aufmerksamkeitsstei-gerung stellt eine spezifisch menschliche Fähigkeit dar, die von nichtmenschlichen Prima-ten nicht geteilt wird und deren Mangel auch ein wichtiger Aspekt des Autismussyndroms ist (vgl . Baron-Cohen 1993) .

194 Inklusion und Gerechtigkeit

wicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Säugling andere Menschen als belebte Akteure sieht . Diese Stufe der Entwicklung ist allen Primaten ei-gen . Sie äußert sich im (gerichteten) Blick und im Verhalten . Die zweite Phase zeichnet sich dadurch aus, dass Kleinkinder andere Menschen als in-tentionale Akteure erleben . Diese Entwicklungsstufe ist dem Menschen eigen und beinhaltet ein Verständnis von zielgerichtetem Verhalten sowie das Stre-ben nach der Aufmerksamkeit anderer Menschen . Diese Entwicklungsstufe beginnt mit circa neun Monaten und äußert sich in Aufmerksamkeit und Strategien . Die dritte Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass das Kleinkind andere als geistige Akteure zu verstehen beginnt . Dass heißt, es beginnt zu sehen, dass andere Personen nicht nur Absichten und Aufmerksamkeiten haben, die sich direkt in Verhalten äußern, sondern auch solche Gedanken und Überzeugungen, bei denen das nicht der Fall ist . Diese Gedanken und Überzeugungen, so hat das Kind gelernt, kennzeichnen die innere Welt des Menschen und müssen nicht zwingend in – äußerlich erkennbarem und mit den Gedanken identischem – Verhalten sichtbar werden . Diese Entwick-lungsstufe beginnt mit circa vier Jahren und beinhaltet Pläne und Überzeu-gungen .

Der Übergang von der zweiten zur dritten Entwicklungsstufe zeichnet sich dadurch aus, dass er hauptsächlich durch Gespräche mit anderen Men-schen entwickelt wird . Insbesondere entwickelt sich die dritte Stufe in Dia-logen, in denen das Kind andere (meist erwachsene Menschen) immer wie-der als intentionale Akteure erleben kann . In diesen Dialogen und sozialen Interaktionen mit konkreten Anderen lernen Kinder, über das Befolgen von Regeln qua Regeln hinauszugehen, sich mit den Gefühlen und Gedanken anderer Menschen als moralischer Akteure auseinander zu setzen und zu se-hen, dass diese ihnen ähnlich sind (vgl . Tomasello 2006, S . 229) .

Dabei ist insbesondere für den vorliegenden Zusammenhang interessant, dass es nicht so ist, dass Kinder vorgängig in der Lage sein müssen, Begriffe von ihren eigenen intentionalen Zuständen zu bilden, bevor sie diese Zu-stände zur Perspektivenübernahme oder -simulation benutzen können . Das Gegenteil ist der Fall . Es scheint empirisch erwiesen zu sein, dass Säuglinge oder Kleinkinder keine Begriffe von mentalen Zuständen von sich selbst bil-den müssen, bevor sie das bei anderen Menschen tun . Auch sprechen sie nicht davon . Es liegt also nahe, in diesem Prozess keinen expliziten Prozess zu sehen . Vielmehr zeigt sich, dass Kinder kategorische Urteile in dem Sinne ›der andere ist mir ähnlich, also sollte er auch so funktionieren‹, fällen .

Die normative Relevanz von Inklusion 195

Die wichtigste Auswirkung der Fähigkeit zu sozialer Intentionalität ist, dass dieses Verstehen anderer Menschen Kindern die spezifisch menschli-chen Formen kultureller Vermittlung (von Werten, Wissen und so weiter) erschließt: »Kinder, die verstehen, dass andere Personen intentionale Bezie-hungen zur Welt unterhalten, die ihren eigenen intentionalen Beziehungen ähnlich sind, können die Möglichkeiten nutzen, die andere Individuen sich ausgedacht haben, um ihre Ziele zu erreichen . […] . Kinder mögen zwar in eine reichhaltige kulturelle Umgebung hineingeboren werden, wenn sie aber andere nicht als intentionale Akteure verstehen – was Säuglinge vor neun Monaten, nichtmenschliche Primaten und die meisten Autisten typischer-weise nicht tun – dann sind sie nicht in der Lage, die kognitiven Fertigkeiten und das Wissen ihrer Artgenossen zu nutzen, das sich in diesem kulturellen Milieu manifestiert« (Tomasello 2006, S . 104f .) .

Diese Aussage weist auf zwei Dinge hin, die im vorliegenden Zusammen-hang von großer Bedeutung sind: Erstens ist Intentionalität als ein Aspekt von Inklusion notwendig für weitere Entwicklungsprozesse . Wer also Mühe in der Entwicklung von Intentionalität hat – wie das beispielsweise bei Men-schen mit Autismus der Fall ist – wird auch Mühe haben, gemeinschaftliche wie gesellschaftliche Inklusion zu erreichen, in der das Vorhandensein sozia-ler Intentionalität, einmal in Bezug auf interpersonale Beziehungen und ein-mal hinsichtlich der Rolle als Bürger in einer Gesellschaft, eine wichtige Rol-le spielt . Inklusion hängt also auch von den individuellen Fähigkeiten von Menschen ab . Zweitens: Werden Menschen in diesen Entwicklungsprozes-sen nicht angeregt, sind sie also nicht bereits in zwischenmenschliche Kon-texte inkludiert, die ihnen den Erwerb von Intentionalität ermöglichen, ist ein Aufbau derselben ebenfalls erschwert . Stark vernachlässigte, deprivierte Kinder, die ihre ersten Lebensmonate in einer Umgebung ohne oder mit wenig Liebe und Anregung verbringen müssen, sind daher einem großen Risiko von Hospitalismus und damit potenzieller geistiger, psychischer und körperlicher Beeinträchtigung ausgesetzt .

6 .2 Die Bedeutung von Anerkennung für Inklusion

Als relationales Konzept ist Inklusion an interpersonale und weitere soziale Bezüge gebunden, die ich einerseits im Kontext von Gemeinschaft, anderer-seits im Kontext von Gesellschaft situiert habe . In den ersten Kontexten spie-

196 Inklusion und Gerechtigkeit

len persönliche Zugehörigkeitsgefühle eine konstitutive Rolle . In nahen zwi-schenmenschlichen Beziehungen erfahren Menschen Bestätigung, beispiels - weise in Form von Liebe, Freundschaft oder partikularer Wertschätzung . Menschen wollen darüber hinaus aber auch in Gesellschaften inkludiert sein . In diesen erfahren sie Anerkennung als Bürger, beispielsweise in Form von Rechten, die ihnen zugestanden werden, aber auch in Form von sozialer Wertschätzung, etwa durch Arbeit oder adäquate Entlohnung . Gerade die Bedeutung von Entwicklungsprozessen und die Anregung sozialer Intentio-nalität haben zudem gezeigt, dass soziale Inklusion für das Fördern von Ent-wicklungsprozessen instrumentell wichtig ist . Nur mit Hilfe zwischenmensch-licher Zuwendung können Menschen soziale Intentionalität erwerben und anwenden . Soziale Intentionalität, menschliche Entwicklung und Sozialisa-tion treten daher in eine enge, wechselseitige Verbindung . So zeigt sich die entwicklungspsychologische Relevanz von Inklusion .

Ein Theoretiker, der diese Verbindungen – ähnlich wie Tomasello – zen-tral in seine Theorie eingebaut hat, ist Axel Honneth . Er schreibt zu dieser Verbindung von Anerkennung und Sozialisation sowie ihrer Verbindung zu sozialer Inklusion, dass man sich soziale Inklusion nur als Prozess der Inklu-sion durch geregelte Formen der Annerkennung vorstellen könne . »Gesell-schaften stellen aus der Sicht ihrer Mitglieder nur in dem Maße legitime Ordnungsgefüge dar, indem sie dazu in der Lage sind, verlässliche Beziehun-gen der wechselseitigen Anerkennung auf unterschiedlichen Ebenen zu gewährleisten . Insofern vollzieht sich die normative Integration von Gesell-schaften auch nur auf dem Weg der Institutionalisierung von Anerkennungs-prinzipien, die nachvollziehbar regeln, durch welche Formen der wechselsei-tigen Anerkennung die Mitglieder in den gesellschaftlichen Lebenszu- sammenhang einbezogen werden« (Fraser und Honneth 2003, S . 204) .

Inklusion ist damit an eine soziale Reaktion, eine soziale Antwort auf Individuen gebunden . Sie hängt mit anderen Worten von anerkennenden Einstellungen anderer ab . Ausgehend vom Hegelschen Modell eines Kampfes um Anerkennung entwickelt Honneth (1994) ein normatives Gesellschafts-modell, das drei Formen von Anerkennung postuliert, die sich stufenförmig entwickeln: Liebe, Recht und Wertschätzung beziehungsweise Solidarität3 . Mit jeder Stufe, so Honneth (ebd ., S . 151), wächst die wechselseitige Aner-kennung wie auch die subjektive Autonomie des Einzelnen . Das heißt, die Freiheit des Einzelnen wächst über enge zwischenmenschliche Bezüge hin

3 Honneth verwendet die Begriffe Wertschätzung und Solidarität wechselweise .

Die normative Relevanz von Inklusion 197

zum Status eines Bürgers in einer Gesellschaft und schließlich hin zur Rolle eines sozial wertgeschätzten Gesellschaftsmitglieds .

Die Anerkennungsformen, die Honneth herausschält, können in zweifa-cher Hinsicht als aufbauend betrachtet werden . Erstens können sie als histo-rische Kette normativer Ideale gesehen werden, die sich im Verlaufe der Menschheitsgeschichte, besonders nach dem Wegfall des ständischen Gesell-schaftsmodells, herausgebildet haben . So kann der Durchbruch der bürger-lich-kapitalistischen Gesellschaftsform auch als Resultat der Ausdifferenzie-rung der drei Anerkennungsformen gesehen werden . Zweitens können sie auch als Formen individueller Selbstentwicklung gesehen werden . Interper-sonale Anerkennung ist nach diesem Modell, ähnlich wie bei sozialer Inten-tionalität, eine Voraussetzung für personale Entwicklung .4

Somit ist die Möglichkeit der Identitätsbildung auch an die Teilnahme an sozialen Interaktionsformen geknüpft . Aus diesem Grund erhält Anerken-nung einen hohen Stellenwert für die menschliche Entwicklung . Menschen können nur frei sein und sich selbst verwirklichen, also über ihre Bedürfnis-se hinaus auch Ziele und Pläne verwirklichen, wenn sie in verschiedenen Ankerkennungsformen Akzeptanz und Sicherheit erfahren . Mit anderen Worten: Menschen müssen und wollen Liebe beziehungsweise Fürsorge, Rechte und soziale Wertschätzung genießen . Dazu benötigen sie emotionale Zuwendung, Achtung und soziale Wertschätzung durch Dritte wie auch durch Institutionen . Auf der Basis eines intersubjektivitätstheoretischen Per-sonenkonzepts erscheinen die drei Anerkennungsformen nun als notwendi-ge Bedingungen für eine ungestörte Selbstbeziehung . Negativistisch gespro-chen entsprechen den drei Grundformen der Anerkennung ebenfalls drei Typen der Missachtung (nämlich Misshandlung oder Vergewaltigung, Ent-rechtung oder Ausschließung sowie Entwürdigung oder Beleidigung), deren Erfahrung für die Individuen oder Gruppen die Motive sozialer Konflikte sind .

4 Die Anerkennungsformen entwickeln sich nach Honneth sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene stufenförmig . Honneth postuliert damit, dass sich Ge-sellschaften, historisch betrachtet, so entwickelt haben, dass sich aus engen, partikularen Anerkennungsformen erst rechtliche Anerkennung als Bürger sowie soziale Wertschätzung als wertvolles Gesellschaftsmitglied herausbilden konnte . Auch die individuelle menschli-che Ontogenese verläuft in diesen Stufen, so dass sich Anerkennungsformen im Prinzip auch als Entwicklungsstufen menschlicher Ontogenese deuten lassen .

198 Inklusion und Gerechtigkeit

Drei Formen der Anerkennung

Der Begriff der Anerkennung verweist dabei erstens auf einen Prozess, „in dem jedes Mitglied eines Gemeinwesens dadurch an persönlicher Autono-mie hinzugewinnt, dass die ihm zustehenden Rechte ausgeweitet werden; die Gemeinschaft5 ›erweitert‹ sich also in dem sachlichen Sinn, dass in ihr das Ausmaß der individuellen Freiheitsräume zunimmt . Zweitens meint dersel-be Begriff aber auch denjenigen Prozess, in dem die in einem bestimmten Gemeinwesen existierenden Rechte auf einen immer größeren Kreis von Per-sonen übertragen werden“ (Honneth 1994, S . 137f .) . Die Gemeinschaft er-weitert sich somit in einem sozialen Sinn, indem einer wachsenden Anzahl von Individuen Rechtsansprüche zuerkannt werden .

Ein dritter Prozess kann von diesen ersten beiden unterschieden werden . Es muss nämlich davon ausgegangen werden, dass Menschen sowohl als mo-ralisch Gleiche verkehren wollen, als auch, dass sie sich von anderen unter-scheiden möchten, um sich ihrer individuellen Einzigartigkeit zu vergewis-sern . Letzteres kennzeichnet nach Honneth (ebd ., S . 209) den Drang nach Selbstverwirklichung oder Selbstschätzung .

Honneths Modell ist aus verschiedenen Gründen für den vorliegenden Zusammenhang interessant . Erstens versteht Honneth sein Modell aus-drücklich als Inklusionsmodell . Damit macht er die Bezüge zu Inklusion, die zweifelsohne naheliegend sind, explizit . Zweitens ist Honneths Modell aus dem Grund interessant, weil es intrapersonale, interpersonale aber auch ins-titutionelle Bezüge zu Inklusion aufzeigt . Damit sind auch Verbindungen zu meinen Ausführungen zu Gemeinschaft und Gesellschaft möglich . Es zeigt sich insbesondere, dass die Wechselwirkung von Anerkennung und intraper-sonalem Selbstbezug auch Auswirkungen auf verschiedene Inklusionsformen hat . Beispielsweise ist die partikulare Form der Anerkennung in Form von Liebe zwingend an den partikularen Bereich der Gemeinschaft gebunden, während sich Rechte auf den gesellschaftlichen Bereich beziehen . Drittens ist der explizite anthropologische und moralpsychologische Begründungsan-spruch der Theorie Honneths interessant, denn er erlaubt es, innerhalb einer umfassender zu entwickelnden Theorie von Inklusion Bezüge zu anderen Elementen von Inklusion, insbesondere zu sozialer Intentionalität, herzustel-len . Viertens ist, auch wenn das von Kritikern wie Thomas Bedorf (2010, S . 75) an der Theorie Honneths bemängelt wird, der teleologische Zug sei-

5 Honneth verwendet den Gemeinschaftsbegriff allgemein und sehr weit . Daher ist seine Verwendung von Gemeinschaft nicht mit meinem Verständnis identisch .

Die normative Relevanz von Inklusion 199

ner Ausführungen ein Vorteil . Denn er erlaubt später eine stimmige An-knüpfung an pädagogische Zielkategorien . Bereits an früherer Stelle hat sich ja gezeigt, dass ein schwacher Perfektionismus kein Problem darstellt, son-dern – zumindest in der pädagogischen Anwendung – geradezu eine Not-wendigkeit darstellt . Honneths Theorie ist noch aus einem fünften, trivialen und pragmatischen Grund für den vorliegenden Zusammenhang interes-sant: Sie kann als die momentan dominanteste Sozialtheorie der Anerken-nung bezeichnet werden .6 Damit sind auch Bezüge zu anderen, bereits exis-tierenden Theorien leichter möglich, vor allen Dingen da, wo die Autoren selbst Bezüge zur Anerkennungstheorie von Honneth herstellen (vgl . Ikä-heimo 2009; Laitinen 2002, 2007) .

Berechtigt scheint die Kritik an Honneth aber mindestens in dreierlei Hinsicht zu sein . Erstens betont Thomas Bedorf zu Recht, dass die bei Hon-neth immer wieder betonte Identität, die erst durch Prozesse der Anerken-nung abgesichert wird, nie ohne Differenz zu haben ist (vgl . Bedorf 2010, S . 108) . Anerkennung muss immer von jemandem kommen, der unabhän-gig ist von uns selbst, einem anderen Menschen beispielweise . Dieses Selbst ist dann aber nicht als atomar, allein stehend und unabhängig von Beziehun-gen zu sehen, sondern als relationales, interpersonales und genuin soziales . Zweitens kann, ebenfalls mit Bedorf (ebd ., S . 95), gezeigt werden, dass An-erkennungsvorgänge immer auch an Unterwerfung und Macht unter beste-hende Diskurse verbunden sind . Dies zeigt sich insbesondere bei der sozialen Wertschätzung deutlich . Denn hier wird jemand, wie sich noch vertiefter zeigen wird, in einer Hinsicht anerkannt, die in bestimmten Gemeinschaf-ten oder Gesellschaften als wertvoll gilt . Damit ist der Einzelne, der von anderen anerkannt wird, in punkto Gegenstand der Anerkennung auf die soziale Auszeichnung desselben als auszeichnungswert angewiesen . Was also genau anerkannt wird, hängt von den anderen ab, von symbolischen Ord-nungen und von normativen Erwartungen (ebd ., S . 209) . Drittens, so be-tont Norbert Ricken (2009), ist Anerkennung ein performativer Prozess . Sie ist also nie nur Bestätigung dessen, was bereits vorhanden ist, sondern immer auch Schaffung desselben . Dieser Punkt ist insbesondere für die Thematik der Behinderung relevant . Denn bei Menschen mit schweren Behinderun-gen ist Anerkennung im Sinne eines eng verstandenen reziproken Anerken-nens oft nicht möglich . Versteht man Anerkennung aber explizit als perfor-mativen Vorgang, ist damit die Problematik lösbar . Denn es zeigt sich die

6 Diese (zumindest die ersten beiden) Gründe treffen auf andere Anerkennungstheorien, wie beispielsweise diejenige von Bedorf (2010) oder Ricoeur (2006) nicht zu .

200 Inklusion und Gerechtigkeit

entwicklungspsychologische Bedeutung von Anerkennung . Weiter ist diese Sichtweise auf Anerkennungsprozesse auch für den pädagogischen Kontext, dem ich mich später ausführlich widme, von höchster Bedeutung . Denn Anerkennung in pädagogischem Kontext meint eben nicht nur Anerken-nung für das, was das Kind oder der Jugendliche (wie auch der erwachsene Mensch mit Behinderung) bereits ist, sondern auch für das, was das Kind, der Jugendliche oder der erwachsene Mensch werden kann . Anerkannt wird damit nicht bloß das, was vorhanden ist und gezeigt wird, die Fähigkeiten und Fertigkeiten also, sondern auch die Zonen der nächsten – wie auch der weiteren – Entwicklung (vgl . Vygotskij 2002) .

Im Folgenden möchte ich die drei Anerkennungsformen, die Honneth unterscheidet, ausführen .

Liebe

Die Liebe als grundlegende und erste Form – entwicklungspsychologisch wie gesellschaftshistorisch betrachtet auch Stufe – der Anerkennung versteht Honneth in einem weiten Sinne . Gemeint sind nicht nur Liebesbeziehungen im engeren Sinn, sondern alle Primärbeziehungen, beispielsweise erotische Zweierbeziehungen, Freundschaften sowie Eltern-Kind-Beziehungen . Ange-sprochen sind somit alle Beziehungen, die aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen (vgl . ebd ., S . 153) . In der wechselseiti-gen Erfahrung liebevoller Zuwendung erleben Menschen, dass sie in der Er-füllung bestimmter affektiver Bedürfnisse voneinander abhängig sind . Da diese affektiven Bedürfnisse überhaupt nur dadurch erfüllt oder erwidert werden, indem sie Bestätigung durch andere erhalten, muss Anerkennung an dieser Stelle seinen Ausdruck in der affektiven Zustimmung oder Ermu-tigung konkreter Anderer erhalten (ebd ., S . 154f .) . Dieses Anerkennungsver-hältnis bildet die Basis nicht nur für die Erfahrung, sondern auch für die Äußerung von eigenen Bedürfnissen und Empfindungen und somit für alle anderen Anerkennungsformen (vgl . Gilbert 1991) . Die intersubjektive Er-fahrung von Liebe ist damit die Basis und psychische Voraussetzung für die Entwicklung aller anderen Formen von Anerkennung, in ihrem Fremd- wie in ihrem Selbstbezug . Die Möglichkeit, sich in dieser Weise positiv auf sich selbst zu beziehen, bezeichnet Honneth als Selbstvertrauen .

Diese Form von Anerkennung gewinnt ihre Bedeutung für Inklusion vor allem dadurch, dass sie in die Bereiche zwischenmenschlicher Beziehungen eindringt, in der Bedürfnisse nach Inklusion gedeckt werden .

Die normative Relevanz von Inklusion 201

Rechte

Die zweite Stufe der Anerkennung umfasst nach Honneth Rechte . Die The-se Honneths (ebd ., S . 176) ist die, dass »jedes menschliche Subjekt nur dann als Träger irgendwelcher Rechte gelten kann, wenn es als Mitglied eines Ge-meinwesens gesellschaftlich anerkannt ist: aus der sozial akzeptierten Rolle des Mitglieds eines arbeitsteilig organisierten Sozialverbandes ergeben sich für den Einzelnen bestimmte Rechte, deren Einhaltung er im Normalfall durch Anrufung einer mit Autorität ausgestatteten Sanktionsgewalt einkla-gen kann .«

Die dabei verlangte Form der Reziprozität ist im Unterscheid zur Liebe aber eine anspruchsvollere . Indem nämlich von der Bereitschaft zur Befol-gung rechtlicher Normen nur dann ausgegangen werden kann, wenn die Interaktionspartner sich als in substanziellem Sinn Freie und Gleiche begeg-nen, bedingt dies eine anspruchsvollere Form von Wechselseitigkeit und führt in der Folge auch zu anspruchsvolleren Formen von Reziprozität . Die Rechtssubjekte anerkennen sich wechselseitig als Personen, die über indivi-duelle Autonomie verfügen, über moralische Normen vernünftig entschei-den zu können .

Im Gegensatz zu Anerkennung als Liebe ist die rechtliche Anerkennung in modernem Sinn nicht mehr graduell abgestuft, je nach Verhältnis zwi-schen den Menschen . Die Idee des modernen Rechtsstaats ist nämlich gera-de, dass sie jedem Subjekt der Idee nach in gleichem Maße zukommt . Dies entspricht der modernen Idee moralischer Gleichheit von Menschen (vgl . Gosepath 2004, S . 128ff .; Pauer-Studer 2000) . Mit der Erfahrung rechtli-cher Anerkennung kann ein Individuum sich als eine Person betrachten, »die mit allen anderen Mitgliedern seines Gemeinwesens die Eigenschaften teilt, die zur Teilnahme an einer diskursiven Willensbildung befähigen« (Honneth 1994, S . 195) . Die Möglichkeit, sich in dieser Weise positiv auf sich selbst zu beziehen, bezeichnet Honneth als Selbstachtung .

Soziale Wertschätzung oder Solidarität

Die dritte Stufe der Anerkennung schließlich ist mit Solidarität respektive sozialer Wertschätzung zu überschreiben .7 Zusätzlich zu affektiver Zuwen-

7 Die Unterscheidung zwischen den Formen rechtliche Anerkennung und Solidarität ist insofern historisch begründet, als sie laut Axel Honneth (1994, S . 309) als Resultat einer Aufspaltung des traditionellen Ehrbegriffs in eine Form der Würde und eine Form des Status verstanden werden können . Später revidiert das Honneth insofern, als er stärker

202 Inklusion und Gerechtigkeit

dung und rechtlicher Anerkennung benötigen Individuen auch soziale Wert-schätzung, die es ihnen erlaubt, sich auf konkrete Eigenschaften und Fähig-keiten, die sie haben, positiv zu beziehen . Die soziale Wertschätzung bemisst sich dabei an dem Grad, an dem Individuen in der Lage sind, zu vielfältigen gesellschaftlichen Zielvorgaben beizutragen . Dabei gibt das kulturelle Selbst-verständnis einer Gesellschaft vor, was als gesellschaftlich erwünschte Hand-lungen und damit als Kriterien gelten sollen, nach denen Personen sozial wertgeschätzt werden . Fähigkeiten und Leistungen von Individuen werden demnach intersubjektiv danach beurteilt, inwiefern die Einzelnen an der Umsetzung kulturell definierter Werte mitwirken können . Mit der Erfah-rung sozialer Wertschätzung geht ein gefühlsmäßiges Vertrauen einher, dass die Leistungen, die man erbringt und die Fähigkeiten, die man hat, von der Gesellschaft als wertvoll und sozialkonstitutiv anerkannt werden . Insofern wird diese Art der praktischen Selbstbeziehung von Honneth (ebd ., S . 209) Selbstschätzung genannt .

Genau wie die rechtliche Anerkennung ist auch diese Form der Anerken-nung historisch kontingent . Da heute nicht mehr wie früher in Standesge-sellschaften von vornherein festgelegt ist, welche Formen der Lebensführung moralisch einwandfrei sind und welche nicht, sind es nicht mehr sozial geteilte Eigenschaften, nach denen sich die Einzelnen zu richten haben, son-dern die lebensgeschichtlich individuell entwickelten Fähigkeiten der Einzel-nen, an denen sich die soziale Wertschätzung orientiert . »Mit der Individua-lisierung der Leistung geht zwangsläufig auch einher, dass die gesellschaftlichen Wertvorstellungen sich für unterschiedliche Weisen der persönlichen Selbst-verwirklichung öffnen; fortan ist ein, nunmehr allerdings klassen- und ge-schlechtsspezifisch bestimmter Wertpluralismus, der den kulturellen Orien-tierungsrahmen bildet, in dem sich das Maß der Leistung des Einzelnen und damit sein sozialer Wert bestimmt« (ebd ., S . 203) .

zwischen anthropologischen Ausgangsbedingungen und historischen Veränderbarkeiten unterscheidet . Im Zusammenhang zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie sieht er die normativen Bedingungen der sozialen Inklusion: »Zu Mitgliedern von Gesellschaf-ten können Individuen nur werden, indem sie in Form der Erfahrung von wechselseitiger Anerkennung ein Bewusstsein davon erwerben, wie Rechte und Pflichten in bestimmten Aufgabenbereichen reziprok verteilt sind . […] . Einerseits bemisst sich die Chance einer positiven Selbstbeziehung für die Subjekte selber an Bedingungen, die einen gesellschaft-lichen Charakter besitzen, weil sie aus normativ geregelten Formen der wechselseitigen Anerkennung bestehen; andererseits bemisst sich die Chance einer bestimmten Gesell-schaft, auf die ungezwungene Zustimmung der eigenen Mitglieder zu stoßen, an ihrer Fähigkeit zur Organisation von Anerkennungsverhältnissen, die die individuelle Entwick-lung solcher positiven Formen der Selbstbeziehung ermöglichen« (ebd ., S . 310) .

Die normative Relevanz von Inklusion 203

Die Antwort auf die Frage, welchen dieser Werte, die den verschiedenen Formen von Selbstverwirklichung entsprechen, normative Relevanz zukom-men soll, wird dabei in gesellschaftlichen ›Kämpfen‹ ermittelt . Denn die In-terpretation der Bedeutung bestimmter Leistungen oder Lebensformen zeigt sich nicht zuletzt daran, welchen sozialen Gruppen es gelingt, ihre Fähigkei-ten oder Fertigkeiten als gesellschaftlich besonders wertvoll auszuweisen . Die Bedeutung, die den verschiedenen Formen der Selbstverwirklichung zuge-messen wird, aber auch die Art und Weise, wie die verschiedenen Fähigkei-ten und Fertigkeiten definiert werden, die eine Leistung zu einer für die Gesellschaft wertvollen machen, sind an historische Zielsetzungen gebun-den . Da diese wiederum davon abhängig sind, welchen sozialen Gruppen es gelingt, ihre Anliegen und Leistungen ins öffentliche Bewusstsein zu brin-gen, muss diese Deutungs- und Bestimmungspraxis als ständiger kultureller Konflikt verstanden werden . Beziehungen, in denen sich soziale Wertschät-zung zeigen kann, werden demnach fortlaufend in gesellschaftlichen oder sozialen Kämpfen erstritten (vgl . Schramme 2006, S . 222ff .) .

Soziale Wertschätzung erschöpft sich nicht in passiver Toleranz, sondern fordert gerade affektive Teilnahme am individuell Besonderen einer Person . Diese Form von Wertschätzung darf nach Heikki Ikäheimo (2009) weder auf intrinsisches Wertschätzen, beispielsweise für das Wohlergehen von Per-sonen, noch auf instrumentelles Wertschätzen reduziert werden . Wertschät-zung in der dritten Form der Anerkennung zeigt sich vielmehr dann, wenn jemand etwas beiträgt, dem man selbst Wert beimisst und indem man den Beitragenden selbst als solchen wertschätzt . Die Anerkennung ist somit in-trinsisch und zugleich instrumentell . Man schätzt den Beitragenden also nicht nur instrumentell, beispielsweise als Sklaven . Den anderen als genuin Beitragenden zu verstehen heißt also, ihn in beiderlei Hinsicht wertzuschät-zen . Das ist es, was Ikäheimo (ebd ., S . 81) meint, wenn er sagt, eine Person werde ›in vollem Sinne‹ wahrgenommen .

Allerdings stellt sich bei der dritten Stufe der Anerkennung die Frage, welche der Besonderheiten und Charakteristiken bei Menschen denn sozial wertgeschätzt werden sollen, zumal diese Wertschätzung an einem sozialen Wertekontext gemessen wird und damit an ein kollektives Bezugssystem ge-bunden ist (vgl . Bedorf 2010, S . 58) . Genau wie bei den Plänen und Zielen von Menschen sind nicht alle Besonderheiten und Charakteristiken für Menschen gleichermaßen wertvoll . Menschen wollen nicht wegen aller mög-licher Besonderheiten oder Charakteristiken wertgeschätzt werden, sondern nur aufgrund spezifischer, ausgewählter, die ihnen auch selbst wichtig sind .

204 Inklusion und Gerechtigkeit

Denn nicht jede partikulare Eigenschaft und Charakteristik erachten Men-schen an sich selbst als wertvoll . Vielmehr scheinen es gerade die an sich selbst als wichtig erachteten Selbstbezüge zu sein, die ich mit Plänen und Zielen überschrieben habe, die das nachzeichnen, was Menschen für ihre personale Entwicklung an sozialer Wertschätzung benötigen . Wenn es Men-schen also beispielsweise wichtig ist, für ihre Musikalität wertgeschätzt zu werden, sie stattdessen aber nur – für das ihnen selbst nicht wichtige – Koch-talent geschätzt werden, hat diese Wertschätzung keine oder zumindest kei-ne substanziell positive Wirkung auf ihre Selbstbeziehung . Bei Menschen mit Behinderung zeigt sich hier zudem oftmals ein ganz spezielles Problem: Viele behinderte Menschen erfahren Wertschätzung ›trotz‹ einer Behinde-rung, also beispielsweise dahingehend, dass sie trotz einer Querschnittläh-mung sportlich sein können . Sie erfahren aber nicht Wertschätzung für die Sportleistung als solche, sondern nur in Verbindung und Abgrenzung zu ei-ner bestimmten, meist nicht offen gelegten Normalitätsvorstellung, bei-spielsweise ›normalem‹ Sport respektive (statistisch oder biologisch) ›norma-ler‹ Funktionsfähigkeit.

Weniger in ihrer Positivumschreibung als in ihrer Negativfassung lässt sich das, was man unter sozialer Wertschätzung verstehen kann, besonders gut fassen . So schreibt John Rawls über die sozialen Grundlagen dieser Form von Anerkennung (die er allerdings, anders als Honneth, mit Selbstachtung umschreibt): »Wenn man das Gefühl hat, die eigenen Pläne hätten wenig Wert, dann kann man ihnen nicht mit Befriedigung nachgehen oder sich über ihr Gelingen freuen . Auch wenn man von Misserfolg oder Selbstzwei-feln verfolgt wird, werden die eigenen Anstrengungen gelähmt . Damit ist deutlich, warum die Selbstachtung ein Grundgut darstellt« (Rawls 1993, S . 479) . Selbstverwirklichung setzt damit für Rawls begrifflich wie inhaltlich eine positive Selbstbeziehung voraus, die mindestens das Vertrauen in den Wert der eigenen Person umfassen muss und auch das Vertrauen in den Wert der eigenen Fähigkeiten, Pläne und Ziele einschließt . Selbstwertgefühl erfor-dert daher »Wertschätzung und Bestätigung der eigenen Person und ihrer Handlungen durch andere, die die gleiche Wertschätzung genießen und in deren Gesellschaft man sich wohl fühlt« (ebd ., S . 480) .

Es zeigt sich, dass gerade diese dritte Stufe der Anerkennung für Men-schen mit Behinderung – sowohl in ihrer sozialen Wahrnehmung wie auch in ihrem Selbstbezug – vor allen Dingen ein Problem darstellt . In der öffent-lichen Wahrnehmung wird dies in bestimmten Begrifflichkeiten – wie bei-spielsweise ›Invalider‹ (von lat . invalidus = wertlos) oder durch die Substan-

Die normative Relevanz von Inklusion 205

tivierung ›Behinderter‹ (statt behinderter Mensch oder Mensch mit Behinderung) – deutlich . Damit wird angezeigt, dass behinderte Menschen sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung vor allem durch eines auszeich-nen – durch ihre angebliche Inkompetenz und ihre Behinderung respektive deren Schädigungsdimension .8 Schon allein durch die Begrifflichkeiten wird angedeutet, dass diese dritte Ebene der Anerkennung faktisch entzogen wird oder zumindest risikobehaftet ist . Dies geschieht zwar selten durch bewusste, direkt intendierte Abwertung ihrer Leistungen, sondern vielmehr in den meisten Fällen durch Ignorieren oder Wegsehen und damit in Form einer Abwertung durch Nicht-Wahrnehmung (vgl . Honneth 2003) .9

Versteht man Anerkennung zudem nicht nur unter personalen und ge-sellschaftlichen Entwicklungsaspekten, wie das Honneth tendenziell tut, sondern auch als Ausdruck einer Zuschreibung von Status, wie das beispiels-weise Nancy Fraser (2003) vorgeschlagen hat, so zeigt sich, dass auch kultu-relle und soziale Zuschreibungsprozesse bei der Hervorbringung und Ver-stärkung von Behinderung eine große Rolle spielen . So schreibt Nancy Fraser (ebd ., S . 45) in ihrer Replik auf die Ausführungen Honneths: »Wenn man Anerkennung als eine Angelegenheit der Gerechtigkeit betrachtet, behandelt man sie zugleich als ein Problem des Status . Dies heißt wiederum, dass man institutionalisierte kulturelle Bewertungsschemata anhand ihrer Auswirkun-gen auf den relativen Rang der sozialen Akteure untersucht .« In dieser Aussa-ge Frasers ist der Begriff der mangelnden Anerkennung nicht entwicklungs-psychologisch gefüllt, sondern vor allem politisch konnotiert . Er verweist auf etablierte kulturelle Wertmuster, nach denen Individuen daran gehindert werden, als Gleichberechtigte am Gesellschaftsleben zu partizipieren . Man-gelnde Anerkennung wird demnach nicht nur durch Einstellungen erzeugt, sondern auch durch gesellschaftliche Institutionen, welche behinderten Menschen einen tendenziell inferioren Status zuschreiben . Es ist damit die bereits eingangs in der Kritik an Honneth erwähnte Machtproblematik, wel-

8 Für Martha Minow (1990) ist diese Reduktion auf die Schädigung und ihre allumfassende Wirkung als ›Behinderter‹ ein zentrales Moment des sogenannten ›Dilemmas der Diffe-renz‹ .

9 Auch hier zeigt sich der identitätswirksame Charakter solcher Formen von verweigerter Anerkennung, denn sie stellen nicht nur eine Beleidigung des Betroffenen dar, sondern bestimmen die Identität respektive deren Aufbau insofern, als sie sich in die leibliche Exis-tenz einschreiben: Eine Identität wird übergestülpt, sie lässt sich aber nicht abschütteln oder ausziehen . Was dem Betroffenen daher oft nur bleibt, ist, sie zum Teil der eigenen Identität zu machen und somit dem objektivierenden Blick Legitimation zu verleihen .

206 Inklusion und Gerechtigkeit

che hier zum Ausdruck kommt und die sich insbesondere bei sozialer Wert-schätzung zeigt .

Die Bedeutung der drei Formen von Anerkennung auf gemeinschaftlicher wie gesellschaftlicher Ebene

Die drei Formen von Anerkennung eröffnen ein Modell der Beziehung zwi-schen individuell empfundener Zugehörigkeit und sozial gespiegelter Aner-kennung als notwendige Bedingungen für Inklusion . Da aber, wie ich im letzten Kapitel gezeigt habe, nicht nur in Gemeinschaften Inklusion stattfin-det, sondern auch in gesellschaftlichen Sphären, muss das Anerkennungs-modell auch danach befragt werden, wie es sich in gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht auswirkt . Es zeigt sich, dass neben Individuen auch Institutionen Anerkennung zeigen oder verkörpern: dies einerseits, in-dem sie über kollektive, demokratische Prozesse die Willensbildung einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger abbilden . Sie sind Konstellationen sozialer Normen, die kollektive Handlungen regulieren (vgl . Ikäheimo 2003); andererseits, indem sie tradierte, kulturell vermittelte Formen von Anerkennung widerspiegeln . Solche sind zwar nicht unabhängig von indivi-duellen Einstellungen zu sehen . Genauso wie gesellschaftliche Institutionen sind solche Anerkennungsformen aber in gewissem Sinn überindividuell .

Die drei Anerkennungsformen lassen sich folgendermaßen veranschauli-chen:

Liebe Rechte Soziale Wertschätzung

Gemeinschaft Zuwendung, Liebe Freundschaft durch konkrete Andere

Respekt oder Achtung als Gleiche in zwischenmenschlichen Bereichen

Personale Wertschätzung aufgrund individueller Leistungen mit gemeinschaftlicher Wertschätzung

Gesellschaft Verleihung von Rechten Bürgerstatus, gesellschaftlicher Status als Gleiche

Gesellschaftliche Wertschätzung aufgrund von Leistungen, die gesellschaftlich als wertvoll erachtet werden

Abb. 1: Anerkennungsformen und Inklusionssphären

Die normative Relevanz von Inklusion 207

Die Tabelle zeigt nochmals deutlich, dass sich mit den sich erweiternden Anerkennungsformen auch die Inklusionssphären auszudehnen beginnen . Währenddem nämlich Liebe strikt an eine gemeinschaftliche Sphäre gebun-den ist, beginnen sich Rechte in die gesellschaftliche Ebene hinein zu verlän-gern . Weiter zeigt sich die zweiteilige Form sozialer Wertschätzung hinsicht-lich Inklusion . Denn soziale Wertschätzung kann eine partikulare Form annehmen . In gemeinschaftlichem Bezug werden Leistungen geschätzt, die das Individuum hinsichtlich der Wertvorstellungen bestimmter Gemein-schaften erbracht hat . Diese müssen nicht gesellschaftlich positiv anerkannt und bestätigt werden, zumindest aber toleriert werden . Darüber hinaus kann das Individuum aber auch soziale Wertschätzung auf gesellschaftlicher Ebe-ne genießen, indem es hinsichtlich gesellschaftlicher Normen und Werte Wertschätzung erfährt .10

6 .3 Die Bedeutung von Freiheit für Inklusion

Freiheit ist ein komplexer Begriff . Dementsprechend anspruchsvoll ist es, die Beziehung von Freiheit zu Inklusion aufzuzeigen . Die Bedeutung von Frei-heit für die Inklusion von Menschen ergibt sich aus der Überlegung, dass Inklusion in Gemeinschaften und in die Gesellschaft wichtig ist, damit Men-schen ihre elementarsten Interessen schützen und wahrnehmen können (vgl . Buchanan et al . 2000, S . 291) . Um von Freiheiten und Grundrechten über-haupt Gebrauch machen zu können, müssen Menschen mit anderen Worten bereits in einen kooperativen Rahmen gemeinschaftlicher oder gesellschaft-licher Art eingeschlossen sein .

Die Definition von Freiheit bezieht sich gewöhnlich auf den Bereich von Handlungsfreiheit, »auf die Dimension sozialer Freiheit, die Sphäre der Moral im Sinne der inneren Selbstgesetzgebung, den durch subjektive Freiheits-rechte definierten Bereich der bürgerlichen Freiheit und auf die über die Gewährung politischer Teilnahmerechte bestimmte politische Freiheit« (Pauer-Studer 2003, S . 234f .) . Im Zentrum der meisten Theorien steht da-mit zuerst einmal die sogenannte negative Freiheit . Damit ist implizit eine

10 Die Unterscheidung von gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher sozialer Wertschätzung zeigt sich insbesondere dann, wenn – wie das beispielsweise in bestimmten Jugendkultu-ren der Fall ist – gemeinschaftliche Werte von der jeweiligen Gesellschaft nicht geteilt werden .

208 Inklusion und Gerechtigkeit

Unterscheidung zwischen sogenannt negativer und positiver Freiheit einge-führt, die ich im Folgenden erläutern möchte .

Positive und negative Freiheit

Isaiah Berlin (1969), auf den in der Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit meist referiert wird, definiert negative Freiheit als Abwe-senheit von Hindernissen oder Zwang . Unter Zwang versteht man einen willentlichen Eingriff anderer Menschen in einen Bereich, in welchem die Person ansonsten handeln könnte . Die zentrale Bedeutung von Freiheit in negativem Sinn, als Abwesenheit externer Beschränkungen, ist die dominan-te liberale Sichtweise auf Freiheit (vgl . Miller 2006, S . 3) .11 Das bedeutet, die Abwesenheit von Einflussnahme durch einen externen Agenten ist diesen Theorien nach ausreichend, um Freiheit sicherzustellen und realisieren zu können .

Als externe Hindernisse zählen in dieser Sichtweise auf Freiheit keine sogenannten ›natürlichen Hindernisse‹ wie beispielsweise fehlende Talente oder Fähigkeiten . So schreibt Tim Gray (1991, S . 22): »I am rendered unfree by an obstacle, only if that obstacle is imposed by another person, not if it is the result of an accident of nature .« So können Menschen zwar nach Ansicht Grays vor Hindernisse gestellt sein, die ihre Fähigkeiten behindern, nicht aber ihre Freiheit . Die Schädigungen von Menschen als Teil ihrer Behinde-rungen wären damit nicht Teil möglicher Unfreiheit . Dies ist auch die Sicht-weise, die viele Philosophen auf Behinderung haben und die erst seit kurzem auch Kritik innerhalb der Disziplin hervorruft (vgl . Feder Kittay und Carl-son 2009; Hull 2009; Nussbaum 2006a) . Denn ein Bild von Behinderung, das Schädigung mit Behinderung gleichsetzt, Freiheit auf nichtnatürliche (Un-)Freiheiten beschränkt und den realen Gebrauchswert der Freiheit, die einem Menschen theoretisch zustehen würde, nicht beachtet, hat zur Folge, dass Menschen mit Behinderung nicht als Unfreie gesehen werden . Ihre ein-geschränkten sozialen Möglichkeiten werden, mit anderen Worten, nicht unter dem Aspekt einer möglichen Freiheitseinschränkung betrachtet .

11 Eine Auffassung, die Gerechtigkeit auf die Sicherstellung negativer Freiheitsrechte be-schränken möchte, stellt die Theorie Robert Nozicks (1974) dar . Diese sogenannt libertäre Auffassung spricht sich beispielsweise gegen rechtlich abgesicherte Hilfsansprüche aus, weil sie diese als Eingriff ins Privateigentum des Individuums betrachtet .

Die normative Relevanz von Inklusion 209

Die Folgen einer Beschränkung auf negative Freiheit am Beispiel Behinderung

Die Folgen einer solchen Sichtweise auf die Benachteiligungen, denen Men-schen mit Behinderung ausgesetzt sind, sind folgende: Erstens blendet diese Sichtweise den Mangel an individuellen, instrinsischen – beispielsweise kog-nitiven – Fähigkeiten als Möglichkeit von Unfreiheit aus . Zweitens läuft sie Gefahr, bestimmte Ungerechtigkeiten, die sozialer Ursache sind, unter den Teppich zu kehren und mit der Aussage zu überdecken, dass die betroffenen Menschen – negativ gesehen – frei seien (vgl . Hull 2007, S . 30) . Drittens benötigen Menschen mit Behinderung, um in der gleichen Art Freiheit zu genießen wie andere Menschen, positiv gesprochen mehr Güter als andere Menschen . Auf diesen Punkt hingewiesen zu haben – die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung mehr Güter benötigen, wird als Konversions- oder Umwandlungsproblem (vgl . Kuklys 2005) bezeichnet – ist denn auch einer der zentralen Verdienste des Capability-Ansatzes . Ist das Ziel sozialer Bemühungen nämlich die Sicherung eines mindestens minimal würdigen Lebens, dann muss man die Mittel, die Menschen benötigen, um dieses füh-ren zu können, wie auch die Frage, was Menschen mit diesen Gütern anfan-gen können, ins Zentrum von Gerechtigkeitsüberlegungen rücken . Und diese veränderte Sichtweise kann in der Folge zur Einsicht führen, dass nicht alle Menschen die gleiche Menge an Gütern benötigen .

Gerade am Beispiel von Behinderung zeigt sich zudem, dass Menschen einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt sein können und dass es meist nicht ausschließlich interne Beschränkungen, mangelnde Fähigkeiten, Ta-lente oder andere Auswirkungen von Schädigungen sind, die die betroffenen Personen behindern . Dies kann an einem Beispiel erläutert werden . Eine Person im Rollstuhl hat den Wunsch, in einen Schachklub inkludiert zu sein . Sie kann nun auf verschiedene Weise Hindernissen ausgesetzt sein . Ers-tens kann ihre Inklusion in den Schachklub bereits daran scheitern, dass sie das Gebäude, in welchem der Schachklub trainiert, nicht erreichen kann, beispielsweise, weil das Gebäude oder die Räume in ihm für einen Menschen im Rollstuhl gar nicht zugänglich sind, da das Gebäude nur über Treppen und nicht über Rampen oder Fahrstühle erreichbar ist . Zweitens kann die Inklusion daran scheitern, dass die Person zwar gerne Schach spielen würde, aber die notwendigen kognitiven oder körperlichen Fähigkeiten dazu nicht hat . Drittens ist es auch möglich, dass die Person zwar Schach spielen und auch den Raum oder das Gebäude, in welchem Schach gespielt wird, errei-

210 Inklusion und Gerechtigkeit

chen kann, aber niemand bereit ist, mit der betreffenden Person Schach zu spielen . Vielleicht wird ihr unterstellt, dass sie als behinderte Person nicht in der Lage sei, Schach zu spielen . Oder es wird davon ausgegangen, dass sie stark hilfebedürftig sei . In der Folge hat niemand Lust, diese (vielleicht ver-meintlichen) zusätzlichen Hilfeleistungen an den Schachabenden anzubie-ten . Selbstverständlich können auch Kombinationen und wechselseitige Ver-stärkungen zwischen den drei Hindernissen oder Problemen entstehen . So ist der Person vielleicht das Schachspielen gar nie beigebracht worden, weil man dachte, sie könne ihre erlernten Fähigkeiten im späteren Leben sowieso nie anwenden, eine Investition in ihre Bildung würde sich also gar nicht lohnen .

Dieses fiktive Beispiel weist darauf hin, dass die substanzielle Freiheit, etwas tun oder sein zu können, von mindestens drei Faktoren sowie einer positiven Dynamik zwischen den Faktoren abhängig ist . Erstens ist sie ab-hängig von den internen Ressourcen und Vermögen, die Menschen haben, das heißt ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Talenten . Dies zeigt sich bei-spielsweise daran, dass eine Person die Schachregeln kennt und kognitiv und körperlich fähig ist, Schach zu spielen oder es zu erlernen . Zweitens ist sie von externen Ressourcen abhängig, beispielsweise einem Rollstuhl, der es ihr erlaubt, überhaupt mobil zu sein, sowie in der entsprechenden barrierefreien Zugänglichkeit zu Gebäuden . Drittens hängt ihre Inklusion in den Schach-klub respektive die Freiheit dazu auch von der sozialen Struktur der Gesell-schaft (und auch der konkreten Gemeinschaft des Schachklubs) und dem Maß an Anerkennung oder Zuneigung ab, welches die anderen Schachspie-ler der Person entgegenzubringen gewillt sind . Damit verbunden ist die Fra-ge, wie die Gesellschaft – oder in diesem Fall die anderen Mitglieder des Schachklubs – auf sie als behinderte Person reagieren, welche Einstellungen sie ihr gegenüber hegen . Während die ersten beiden Punkte die Steine – und damit die Grundlagen oder Voraussetzungen – benennen, mit denen jemand im Spiel mitspielen kann, bezeichnet letzterer Punkt die Regeln des Spiels selbst . Über diese haben einzelne Menschen wenig oder gar keine Macht, jedenfalls nicht als Einzelne .

Die Bedeutung positiver Freiheit

Nicht zuletzt aus den oben genannten Gründen hat die Beschränkung auf Freiheit als negative Freiheit denn auch wiederholt Kritik erfahren (vgl .

Die normative Relevanz von Inklusion 211

Honneth 2000; Schramme 2006, S . 215ff .; Taylor 1999) . Freiheit sollte nach Ansicht dieser Kritiker denn auch positiv gefasst werden, als Freiheit zu etwas im Unterschied zur negativen Freiheit von etwas . Der Wert positiver Freiheit leitet sich nach Joseph Raz (1986, S . 409) durch seinen Beitrag zur Autono-mie von Menschen ab . Autonomie und positive Freiheit beziehen sich beide auf wichtige Ziele, Pläne und Beziehungen von Menschen .12

Die Interpretation von Freiheit als positive Freiheit deckt sich mit dem Verständnis von Freiheit im Capability-Ansatz von Amartya Sen und Mar-tha Nussbaum . Dabei betont gerade Sen (2009, S . 228) in seiner Konzepti-on des Capability-Ansatzes sowohl den Prozess- wie auch den Möglichkei-tenaspekt von Freiheit, der als positive Freiheit gedeutet werden kann: »First, more freedom gives us more opportunity to pursue our objectives – those things that we value . It helps, for example, in our ability to decide to live as we would like and to promote the ends that we may want to advance . This aspect of freedom is concerned with our ability to achieve what we value, no matter what the process is through which that achievement comes about . Second, we may attach importance to the process of choice itself . We may, for example, want to make sure that we are not being forced into some state because of constraints imposed by others .« Freiheit erweitert also nach Sens Ansicht erstens die Möglichkeiten, eigene Ziele und Pläne zu verfolgen . Zweitens kann man auch den Prozess der Wahl selbst betrachten . Dieser muss ohne Zwang und Druck verlaufen .

Prozesse und Möglichkeiten

Freiheit hat damit einen Möglichkeiten- und einen Prozessaspekt . Freiheit kann mit anderen Worten danach beurteilt werden, wie sie zustande kommt und danach, was sie für Menschen aufgrund ihrer persönlichen und sozialen Situation an Möglichkeiten beinhaltet . Während der Prozessaspekt die Ver-fahren oder Prozesse von Freiheit beurteilt, wirft der Möglichkeitenaspekt einen Blick auf die faktischen, inhaltlichen Chancen, die jemand hat . Der Unterschied zwischen beiden ist substanziell . Verschiedene Theorien leiden darunter, dass sie entweder nur den Möglichkeitenaspekt von Freiheit be-trachten, ohne auf den prozeduralen Verlauf zu achten, unter denen diese

12 Der Bezug auf kleinere Ziele, Projekte und Beziehungen ist dabei insofern bedeutsam, als sie die Fähigkeit betreffen, größere und wichtigere Pläne und Ziele zu verfolgen .

212 Inklusion und Gerechtigkeit

Freiheiten zustande kommen . Oder aber, sie betrachten nur die Prozesse . Damit achten sie zu wenig darauf, ob die gewährten Freiheiten für Men-schen auch wirklich substanziell sind (vgl . Sen 1999a, S .  17) . Substanziell sind Chancen nämlich nur dann, wenn sie auch weitgehend frei von Risiken sind, das heißt, wenn Menschen in der Ausübung dieser Risiken nicht gro-ßen Gefährdungen – beispielsweise von Funktionen oder Fähigkeiten – aus-gesetzt sind, und wenn sie diese Chancen daher faktisch auch wahrnehmen können .

Gerade im Falle behinderter Menschen spielen beide Sichtweisen – Pro-zesse wie Möglichkeiten – eine große Rolle . Behinderte Menschen benötigen nicht nur inhaltlich substanzielle Chancen . Die Möglichkeit, diese Chancen in Anspruch nehmen zu können, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie die Möglichkeiten zustande gekommen sind .

Freiheitsbezogene Kontingenzen

Betrachtet man die substanzielle Freiheit, die jemand hat, etwas tun oder sein zu können – und zwar sowohl hinsichtlich ihres Möglichkeiten- wie auch ihres Prozessaspekts – werden verschiedene freiheitsrelevante Kontin-genzen sichtbar: Erstens die Heterogenität der Menschen, bei Behinderung beispielsweise bezüglich weiterer gesellschaftlicher Benachteiligungen wie Armut oder mangelnde Bildung, aber auch Alter, weiterführende Anfällig-keiten für Krankheiten oder Geschlecht als horizontale Faktoren . Schädi-gungen machen einen Teil der Behinderung von Menschen aus . Komplika-tionen betreffend ihrer körperlichen oder seelischen Befindlichkeit können dazu führen, dass sich Schädigungen und Beeinträchtigungen im Verlaufe des Lebens verstärken oder auf anderen Bereiche ausweiten . Zweitens liegen Variationen im sozialen Klima oder in der sozialen Umgebung vor, die zum Beispiel die Gesundheitsversorgung oder das Bildungssystem betreffen kön-nen . Ob Behinderung in einer Gesellschaft als (nicht freiwillig gewählte) Möglichkeit menschlichen Lebens gesehen wird, oder ob sie negiert und ig-noriert wird, hat große Auswirkungen darauf, wie Menschen mit Behinde-rung in ihrer Gesellschaft begegnet wird und welche Formen von Anerken-nung sie erfahren . Drittens gibt es Unterschiede in der physischen oder technischen Umwelt oder der Infrastruktur, die sich beispielsweise im Zu-gang zu Technologien oder Gebäuden zeigen kann . Umweltbedingungen sind zu einem großen Teil abhängig vom technologischen Stand einer Ge-

Die normative Relevanz von Inklusion 213

sellschaft . Viertens kommen auch Unterschiede in relationaler Hinsicht hin-zu, beispielsweise Ansichten darüber, was an (internen wie externen) Res-sourcen benötigt wird, um am Leben in der Gesellschaft teilnehmen zu können (vgl . Sen 2009, S . 255f .) . Das bedeutet, die als wichtig erachteten Güter unterscheiden sich in ihrer detaillierten inhaltlichen Ausgestaltung von Gesellschaft zu Gesellschaft – je nachdem, wie und in welcher Hinsicht damit gesellschaftliche und/oder gemeinschaftliche Inklusion erreicht wer-den kann . Während es in westlichen, reichen Gesellschaften beispielsweise mehr monetäre Ressourcen braucht, um gesellschaftlich ›mithalten‹ zu kön-nen, benötigt man in ärmeren Ländern weit weniger davon .

Inklusion respektive die Möglichkeit dazu hängt nun zu einem nicht un-bedeutenden Teil von der jeweiligen Auffassung von Freiheit ab . Hat jemand negative Freiheit, wird er oder sie nicht daran gehindert, sich selbst zu inklu-dieren . Dass das noch kein Garant dafür ist, wirklich inkludiert zu werden, dürfte deutlich geworden sein . Vielmehr benötigt der Mensch auch positive Freiheit, denn erst sie befördert einen Menschen in umfassendem Sinne dazu, inkludiert zu werden .

Es zeigt sich, dass nur ein kleiner Teil der tatsächlich realisierbaren Frei-heit von Menschen, sich selbst inkludieren zu können, von ihren individuel-len Fähigkeiten abhängig ist . Denn individuelle Fähigkeiten sind in mindes-tens zweierlei Hinsicht an soziale Formen geknüpft . Erstens, indem das Vorhandensein individueller Fähigkeiten oder Unfähigkeiten sozial bewertet wird; zweitens, indem das Erlernen wie auch das Ausüben von Fähigkeiten sozial ermöglicht, aber auch be- oder gar verhindert werden kann . Hierbei kommt der sozialen Einstellung gegenüber behinderten Menschen, ihren Fä-higkeiten wie auch ihrem Entwicklungspotenzial eine enorme Bedeutung zu . Wird nämlich Behinderung einzig als Reduktion von individuellen Fä-higkeiten gesehen, stellt diese Einstellung und Verhaltensweise gegenüber behinderten Menschen eine Freiheitseinschränkung dar, deren Ursache aber nicht (oder zumindest nicht nur) in mangelnden individuellen Fähigkeiten gesehen werden kann . Wird man beispielsweise als behinderter Mensch, ohne je die Möglichkeit erhalten zu haben, die eigenen Fähigkeiten zeigen zu können, gesellschaftlich als inkompetent und hilflos angesehen, ist das ein Moment von Unfreiheit für jeden Betroffenen, der diese Art von gesellschaft-licher Einschätzung erfährt . Die Unfreiheit selbst lässt sich aber nicht kausal auf die körperliche Einschränkung zurückführen, unter welcher der Betrof-fene gegebenenfalls leidet . Menschen mit Behinderung haben dann zwar eine hypothetische Freiheit, sie sind aber in substanziellem Sinn nicht frei,

214 Inklusion und Gerechtigkeit

da sie soziale Deprivation erfahren . Ihre Behinderung ist sozial (mit-)verur-sacht und kann ebenfalls als Moment von Unfreiheit gesehen werden (vgl . Hull 2007) .

In einer Gesellschaft, in der man beispielsweise von blinden Menschen erwartet, dass sie entweder Korbmacher oder Physiotherapeutin lernen und ihnen darüber hinaus keine substanziellen Chancen zum Erlernen anderer Berufe bietet, werden nicht nur die Interessen von Menschen depriviert, die kein Interesse daran ausgebildet haben, Korbmacher oder Physiotherapeutin zu werden . Die eingeschränkten Berufsmöglichkeiten, die mit der Schädi-gung sowie einer angenommenen Begabung im Tastvermögen begründet werden, haben zudem die Tendenz, sich zu verfestigen und zu perpetuieren . Damit führen sie im Endeffekt dazu, dass sich bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse – beispielsweise das mangelnde Angebot an Arbeitsplätzen für blinde Menschen – auch moralisch legitimieren .

Bis dahin hat sich in diesem Teil insbesondere die Bedeutung der positi-ven Freiheit gezeigt – beispielsweise danach, seine Pläne und Ziele betreffend Inklusion umsetzen zu können . Die positive Freiheit geht viel weiter als die negative Freiheit, die einzig darin besteht, dass niemand daran gehindert wird, sich selbst zu inkludieren . Gerade behinderten Menschen fehlen oft die internen wie externen Ressourcen zu ihrer Inklusion . Hinzu kommt, dass die sozialen Strukturen der Gesellschaft ebenfalls behindernd wirken kön-nen . Damit zeigt sich die normative Relevanz von – vor allen Dingen positi-ver – Freiheit für die Inklusion von Menschen als Ermöglichungsbedingung für Inklusion und insbesondere ihre Verbindung zu Plänen und Zielen nach Inklusion .

Im Folgenden möchte ich die komplexen Beziehungen zwischen Frei-heit, Entwicklung und Anerkennung im Kontext von Inklusion mit den Vo-raussetzungen oder Bedingungen für ein gutes menschliches Leben verbin-den . Ich bin damit bei der Frage, welche normativen Bedingungen oder Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Menschen ein gutes und in-kludiertes menschliches Leben führen können .

Die normative Relevanz von Inklusion 215

6 .4 Freiheit, Entwicklung, Anerkennung und Inklusion

Die Bedeutung von Freiheit, Entwicklung und Anerkennung für Inklusion zeigt sich besonders deutlich, wenn man – vornehmlich auf der negativen Folie ihrer Gefährdung oder Verletzung – die komplexen Beziehungen zwi-schen den einzelnen Momenten beleuchtet . Gerade in der Gefährdung des Wohlergehens zeigt sich die normative Relevanz von Inklusion noch einmal deutlich . Um diese aufzuzeigen, ziehe ich Überlegungen zu verschiedenen Grundbedingungen für ein gutes menschliches Leben heran, wie sie Arto Laitinen (2003) für die Analyse der normativen Relevanz von Anerkennung in die philosophische Diskussion eingebracht hat .

Laitinen geht davon aus, dass es fünf Grundbedingungen für das Führen eines guten menschlichen Lebens gibt: erstens materiale Bedingungen wie beispielsweise Geld, technische Infrastruktur oder die Möglichkeiten der In-bezugnahme spezieller Hilfe; zweitens psychologische Bedingungen wie bei-spielsweise Durchhaltewillen, Charakterstärke oder die persönliche Grund-stimmung;13 drittens die intersubjektive Umgebung, beispielsweise die Liebe und Unterstützung durch geliebte Menschen, aber auch die Einstellungen oder der Respekt anderer Menschen sowie soziale Wertschätzung und Sorge durch konkrete andere Menschen; viertens die kulturelle Struktur und damit die Möglichkeit, gesellschaftlich und kulturell als wertvoll erachtete Ziele und Pläne zu entwickeln und zu verfolgen . Fünftens beschreibt Laitinen das institutionelle Setting der Gesellschaft und damit die politischen und staat-lichen Institutionen einer Gesellschaft als eine wichtige Voraussetzung für ein gutes menschliches Leben .

Die fünf Voraussetzungen für ein gutes Leben treten untereinander in komplexe Beziehungen . Sie treten aber auch in Wechselwirkung zu Aner-kennung, Freiheit und Entwicklung . Laitinen zeigt dies exemplarisch an An-erkennung . Erstens ist Anerkennung direkt eine der fünf Bedingungen für ein gutes Leben und zwar über die intersubjektive Ebene und damit über die Einstellungen von Menschen zueinander . Auf diese Weise betrifft sie in sub-jektiver Hinsicht unser Wohlergehen direkt . Werden Menschen nämlich in-tersubjektiv nicht geachtet, geliebt oder wertgeschätzt, dann treten Gefühle der Entfremdung, einem Mangel an Liebe oder von Vernachlässigung auf . Zweitens bestehen Anerkennungsbeziehungen zwischen den Ebenen, bei-

13 Zu diesen psychologischen Bedingungen könnte man auch noch körperliche Bedingun-gen einfügen und diese im Verständnis der ICF als intakte, funktionierende Körperstruk-turen und -funktionen verstehen .

216 Inklusion und Gerechtigkeit

spielsweise zwischen individueller Selbstbeziehung, institutionellem Setting und interpersonaler Ebene .

Im Folgenden möchte ich noch einen Schritt weiter gehen als Laitinen . Denn nicht nur lassen sich die Beziehungen zwischen Anerkennung und verschiedenen Voraussetzungen für ein gutes Leben aufzeigen . Es bestehen auch komplexe Verbindungen darüber hinaus, nämlich zu Fragen von Frei-heit und Entwicklung . Insbesondere die Ergebnisse von Robert Castel (2000, 2008), Martin Kronauer (2010) aus der soziologischen Ungleichheitsfor-schung – sowie von Michael Maschke (2007) oder Justin J . W . Powell (2007) speziell in Bezug auf Behinderung – zeigen, wie die oft unheilvollen Wech-selwirkungen zwischen mangelnder Anerkennung, nicht gewährter Freiheit und Beeinträchtigung der Entwicklung zu sehen sind . Auf der Negativfolie zeigen sich diese drei Werte, die alle in enger Verbindung zu Inklusion ste-hen, in einer komplexen Form nochmals deutlich .

Anerkennung und Freiheit

Die Beziehung zwischen mangelnder Anerkennung und Freiheitseinschrän-kung zeigt sich in zweierlei Hinsicht: erstens in (gefühlter) Macht- und Chancenlosigkeit – beispielsweise hinsichtlich Chancen im Bildungs- und Arbeitsmarkt – und zweitens in einem Mangel an sozial realisierbaren Frei-heiten . Diese äußern sich einerseits in der Gefährdung oder in den Risiken, wie ich sie im vierten Kapitel genauer ausgeführt habe und andererseits hin-sichtlich der sozial bereitgestellten Freiheiten, wie sie sich beispielsweise in den Berufsmöglichkeiten für blinde Menschen gezeigt haben . Analysiert man diese auf den drei Anerkennungsebenen, die Honneth postuliert, dann präsentiert sich für die Ebenen folgendes Bild:

Bezüglich Liebe kann sich das in der Sicht oder Einsicht zeigen, dass Liebespartner, Freunde oder andere nahe Beziehungen schwierig oder un-möglich zu finden sind, jedenfalls nicht selbstwirksam und mit Hilfe eigener Anstrengung . In der Folge setzt eine Resignation ein, die auch Auswirkun-gen auf Entwicklungsprozesse haben kann . Menschen, die es nicht für er-reichbar erachten, dass sich ihnen andere in liebevoller, freiwilliger Weise zuwenden, werden misstrauisch und halten sich selbst nicht für liebenswert . Oder mit Honneth gesprochen: Sie entwickeln oder stärken kein Selbstver-trauen . Ein besonders eindrückliches Beispiel einer solchen Resignation lässt sich in der vierten Folge der TV-Serie ›Üsi Badi‹ beobachten . In dieser be-

Die normative Relevanz von Inklusion 217

richtet Niklaus, einer der sechs Menschen mit geistiger Behinderung, welche in der Doku-Serie begleitet werden, von der Unmöglichkeit, eine Partnerin zu finden . Er beginnt damit, von den Partnerinnen in seinem Leben zu er-zählen . Für die Zuschauer und Zuschauerinnen überraschend, beginnt Ni-klaus mit der Erzählung in einem dafür unüblichen Stadium des Lebens, dem Kindergarten . Die Geschichte jeder Beziehung, von der er berichtet, endet mit: »Und dann ist sie mir weggelaufen« oder »Und dann war Schluss .« Die letzte Beziehung, von der Niklaus erzählt, endet mit dem Eintritt in die Pubertät . Seither hat er, wie er selbst meint, ›abgeschlossen‹ mit den Wesen, die er nicht versteht, weil sie ›so anders sind‹ .

Mit dem Eintritt in die Lebensphase, die für die meisten Menschen auch der Eintritt in intime zwischenmenschliche Beziehungen bedeutet, endet für Niklaus also mit Resignation und der tiefen Einsicht, dass eine partnerschaft-liche Beziehung ›nichts für mich ist‹ . Der Wunsch nach einer erfüllenden Beziehung ist bei ihm und auch bei allen anderen Protagonisten (die mit Ausnahme einer Person alle keine partnerschaftliche Liebesbeziehung haben) zwar vorhanden und wird auch geäußert, ist aber nicht erfüllt und wird auch nicht als im Rahmen des aus eigener Kraft Erreichbaren erachtet .

Ähnliches gilt auch bezüglich sozialer Wertschätzung . Werden bestimmte Bereiche des menschlichen Lebens, über die soziale Wertschätzung erreicht werden kann, unsicher – ist beispielsweise die Arbeitslage prekär und die fi-nanzielle Situation von Engpässen begleitet – schränken sich die Bereiche, in denen man Freiheiten sozial realisieren und soziale Wertschätzung erreichen kann, weiter ein . Behinderte Menschen, die beispielsweise von materieller Armut betroffen oder bedroht sind, können schon allein aufgrund ihrer so-zialen Situation an vielen kulturell wertgeschätzten Lebenszielen und -kon-texten nicht teilnehmen . Hinzu kommt, dass die Kosten, die mit dem Zu-gang zu diesen Kontexten verbunden sind, aufgrund des behinderungsbe- dingten Konversionsrisikos oftmals höher sind als bei nichtbehinderten Menschen . Als sozialkonstitutiv können sich solchermaßen benachteiligte, behinderte Menschen darum nicht ansehen und sich daher auch nicht oder nur eingeschränkt selbst schätzen .

Bezüglich der Anerkennung in Form von Rechten bestehen verschiedene Risiken . Erstens besteht die Gefahr, dass Menschen Rechte abgesprochen oder vorenthalten werden . Dieses war historisch bei Menschen mit Behinde-rung der Fall und ist auch heute in vielen Ländern der Welt immer noch Realität . So beschreibt Sophia Isako Wong (2009) in einem Artikel einen geistig behinderten Mann namens Jorge, der, nach der Geburt ausgestoßen,

218 Inklusion und Gerechtigkeit

sein Leben in einem Tierkäfig verbringen musste, versorgt nur mit dem Le-bensnotwendigsten, das ihm durch die Gitterstäbe gereicht wurde, einem Loch im Boden für die Notdurft und ohne Elektrizität . Das Bild, das ihn zeigt, wurde 2008 in Asución (Paraguay) von Eugene Richards, einer Foto-grafin und Freiwilligen der Menschenrechtsgruppe ›Mental Disability Rights International‹ aufgenommen . Das Bild zeigt einen rechtlosen Menschen, der wie ein Tier gehalten wird .

Zweitens besteht ein Risiko darin, dass faktisch bestehende Rechte ero-dieren können, beispielsweise, indem die Fälle eingeschränkt werden, auf welche sie Anwendung finden oder indem die Rechte selbst eingeschränkt werden . Solche Vorgänge lassen sich insbesondere in Zeiten, in denen die Sozialstaaten selbst unter Druck stehen, verstärkt beobachten (vgl . Kronauer 2010, S . 175ff .) . In der Schweiz beispielsweise besteht ein solches Risiko als Folge der unterschiedlichen Revisionen der Invalidenversicherung, die nicht nur Leistungskürzungen für die Betroffenen zur Folge haben, sondern in denen Rechte auch dahingehend eingeschränkt werden, dass die geltenden Regelungen auf immer weniger Menschen Anwendung finden . Besonders betroffen sind Menschen mit unklaren medizinischen Indikationen, bei-spielsweise Schmerzpatienten oder Menschen mit psychischen Problemen wie Depressionen . Für diese Menschen tritt ein realer Verlust am Gehalt von Rechten ein, dies obwohl die Rechte ihnen formal immer noch zustehen .

Drittens können gesellschaftliche Institutionen durch die Unfähigkeit, soziale Teilhabe zu vermitteln, selbst exkludierend wirken . Institutionen der sozialen Sicherung sind nämlich selbst oft Weichensteller bezüglich weiterer Ausschlüsse aus anderen gesellschaftlichen Kontexten . Dies gilt bei Behinde-rung insbesondere für die Bereiche Bildung und Fürsorge . Martin Kronauer (ebd ., S . 179) nennt denn die Fürsorge auch die »institutionalisierte Gleich-zeitigkeit von Drinnen und Draußen« . Gemeint ist damit, dass Fürsorge in Form von sonderpädagogischer, aber auch medizinischer Hilfe oder von Kompensationsleistungen die betroffenen Menschen einerseits als Objekte ihrer Hilfsangebote betrachtet (und in der Logik auch betrachten muss), andererseits aber dem Hilfsanspruch eine Rechtsposition entspricht, die den Empfänger durchaus als Rechtssubjekt betrachtet . Die Paradoxie dieser bei-den Situationen ergibt sich dadurch, dass trotz Rechtsanspruch auf die Hilfe kein Anspruch darauf besteht, wie die Hilfe geleistet wird und was sie kon-kret beinhaltet . Dies wird vielmehr gesellschaftlich bestimmt und festge-legt .

Die normative Relevanz von Inklusion 219

Freiheit und Entwicklung

Das Gefühl, nicht mithalten zu können sowie faktisch reduzierte Chancen aufgrund von Ausschlüssen aus bestimmten Kontexten – insbesondere dem Arbeitsmarkt – führen zu quantitativ und qualitativ reduzierten Möglichkei-ten der personalen Entwicklung (und des guten Lebens) . Personale Entwick-lung, insbesondere die Entwicklung sozialer Intentionalität, ist damit nicht nur eine Voraussetzung für Inklusion, sondern selbst wiederum Folge von Inklusion . Dementsprechend gravierend sind die Auswirkungen vielfältiger Ausschlüsse aus kulturell und sozial als wertvoll erachteten Beziehungen und Kontexten für die betroffenen Individuen . Sie können ihrer Selbstbeziehung weder in – sozial wie kulturell – wertgeschätzten Beziehungen Ausdruck ver-leihen, noch können sie lernen und zeigen, dass sie der Wertschätzung wert sind . Sie können also weder erlernen noch zeigen, was es beispielsweise heißt, ein ›guter‹ Arbeiter, eine ›gute‹ Ehefrau, eine ›liebevolle‹ Mutter oder ein ›fürsorglicher‹ Vater zu sein . In vielen Fällen bleibt gerade behinderten Men-schen nur das, was das Leben schicksalsmäßig so mit sich bringt oder natür-licherweise bereits angelegt ist: Sohn oder Tochter zu sein, Bruder oder Schwester, Onkel oder Tante, um einige Beispiele zu nennen .

Ähnliches gilt für den Arbeitsmarkt . Keine Arbeitsstelle zu haben, bedeu-tet nicht nur, kein eigenes Geld zu verdienen . Es bedeutet auch, aus Arbeits-beziehungen ausgeschlossen zu sein, nicht in sozial anerkannter Weise Leis-tung zum eigenen Lebensunterhalt zu erbringen und Entwicklungsprozesse in punkto Arbeitsleistung und arbeitsverbundenen Fähigkeiten und Fertig-keiten nicht vollziehen zu können .

Das Gefühl, nicht mithalten zu können, zeigt sich insbesondere an den verschiedenen, auf unklare Schädigungsbilder zurückgeführte Behinderungs-arten wie beispielsweise psychische Behinderung, Lernbehinderung oder Verhaltensauffälligkeit . Zwar wäre es vermessen zu sagen, soziale Umstände und mangelnde Freiheiten würden diese Behinderungen in den meisten Fäl-len direkt produzieren . Es scheint aber zweifelsohne so zu sein, dass man-gelnde soziale Freiheitsgrade – beispielsweise aufgrund einer familiär prekä-ren sozialen Lage oder anderer sozialer Verletzlichkeiten wie Arbeits losigkeit – dazu führen, dass immer mehr Menschen die Diagnose ›Lernbehinderung‹, ›psychische Behinderung‹ oder ›Verhaltensauffälligkeit‹ erhalten oder be-

220 Inklusion und Gerechtigkeit

stimmte Menschen in prekären sozialen Lagen verstärkten Risiken ausgesetzt sind, solche Diagnosen zu erhalten .14

Umgekehrt ist es so, dass Entwicklungsbeeinträchtigungen auch soziale Freiheitsgrade betreffen, indem sie Freiheitsräume schließen . So ist jemand, der nicht sprechen, schreiben oder lesen kann, faktisch aus verschiedenen Bildungskontexten – beispielsweise höherer Schulbildung – ausgeschlossen, die wiederum ihrerseits das Eintrittsticket für die Teilnahme an weiterfüh-renden Kontexten – beispielsweise im Arbeitsleben – darstellen .

Anerkennung und Entwicklung

Die Beziehung zwischen Anerkennung und individueller Entwicklung ist ein zentraler Aspekt in der Anerkennungstheorie von Honneth . Honneth geht davon aus, dass Anerkennung zentral ist für eine ungestörte Selbstbezie-hung, die sich auf verschiedenen Ebenen – Selbstvertrauen, Selbstachtung, Selbstwertschätzung – vollzieht . Das Entziehen bestimmter Anerkennungs-formen, in den ersten Lebensjahren und bei vielen Menschen mit schweren Behinderungen über die ganze Lebensspanne, ist geradezu existenziell bedro-hend .

Allerdings führen umgekehrt auch verschiedene Entwicklungsstadien zu unterschiedlichen Formen der Anerkennung . Hierin zeigt sich die Verbin-dung von mangelnder Anerkennung und Entwicklungsbeeinträchtigung auf individueller Ebene . Menschen, die aufgrund einer Entwicklungsbeeinträch-tigung nur reduziert arbeiten können und in geschützten Arbeitsstätten im wahrsten Sinne des Wortes anspruchslose Arbeit erledigen, erhalten für die Erledigung derselben keine oder wenig soziale Wertschätzung . Oft werden solche Arbeiten denn auch in psychologisierender Sprache als ›Beschäfti-gung‹ oder ›Beschäftigungstherapie‹ und nicht als Arbeit klassifiziert . Dabei zählt nicht, ob die betroffenen Individuen sich anstrengen müssen, ob es in ihren Augen Arbeit und Leistung ist, sondern ob es in den Augen der Gesell-

14 Die genauen Umstände, wie es zu einem Ansteigen solcher Diagnosen kommt, sind zwar noch nicht großflächig empirisch erforscht . Allerdings sind die Korrelationen zwischen verschieden Faktoren horizontaler und vertikaler Ungleichheit offensichtlich . So befinden sich beispielsweise überdurchschnittlich viele Ausländerkinder an Schweizer Sonderschu-len, wie Winfried Kronig (2007) dokumentiert hat . Es zeigt sich also eine hohe Korrelati-on zwischen den beiden horizontalen Ungleichheitsmerkmalen Lernbeeinträchtigung (oder angebliche Beeinträchtigung) und Ausländerstatus, die letztlich zu einer vertikalen Ungleichheit, nämlich mangelnder Bildung, führen .

Die normative Relevanz von Inklusion 221

schaft als solche gelten kann . Die Frage, die implizit gestellt wird, ist folgen-de: Ist das, was diese Menschen tun, Arbeit und Leistung, auf welche die Gesellschaft nicht verzichten kann, oder ist sie das nicht? In den meisten Fällen lautet die Antwort: Sie kann verzichten, das Geleistete ist eben kein nachgefragter Beitrag, für den man soziale Wertschätzung verlangen könnte . Gleichzeitig attestiert man den betroffenen Menschen ein Bedürfnis nach Arbeit und Selbstwertschätzung . Weil damit ein Dilemma entsteht, das nicht gelöst werden kann, verpackt man das Ganze in einen therapeutischen Zusammenhang . Was nicht der Gesellschaft als Leistung zukommen soll, soll sich wenigstens für die Individuen auszahlen . Sie werden nämlich thera-piert . Damit, so die implizite Hoffnung, können sich diese Individuen in ihrer individuellen Selbstentfaltung trotz verweigerter Anerkennung weiter entwickeln .

Genau mit diesem Absprechen von gesellschaftlicher wie gemeinschaftli-cher Anerkennung in Form sozialer Wertschätzung werden aber nicht nur der Aufbau einer individuellen positiven Selbstbeziehung ver- oder behin-dert . Es kann auch gemutmaßt werden, ob dieses Absprechen sozialer Wert-schätzung nicht Folgen für die Selbstwahrnehmung der Gesellschaft an sich hat . Denn eine Gesellschaft, die einer bestimmten Gruppe in der Gesell-schaft kollektiv oder systematisch soziale Wertschätzung verweigert, ist eine Gesellschaft, welche sich durch latente Abwertung des Lebens bestimmter Gruppen von Menschen und damit durch versteckte Feindseligkeit gegen-über diesen Formen menschlichen Lebens auszeichnet . Eine solche Gesell-schaft äußert in der Folge wohl nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene, sondern auch auf institutioneller Ebene mangelnde Anerkennung .

6 .5 Fazit

Dieses Kapitel hat die enge Verbindung von Anerkennung, Freiheit, Ent-wicklung und ihre jeweiligen Wechselwirkungen im Kontext von Inklusion aufgezeigt . So hat sich bereits im sechsten Kapitel abgezeichnet, dass soziale Intentionalität ein wichtiger Aspekt von Inklusion ist und erlernt werden muss . In diesem Kapitel hat sich nun mit den Erkenntnissen des Entwick-lungspsychologen Michael Tomasello gezeigt, dass die Fähigkeit zu sozialer Intentionalität erstens genuin menschlich ist und zweitens in einem komple-xen Lernprozess erworben werden muss . Im Erlernen dieser Intentionalität

222 Inklusion und Gerechtigkeit

kommt engen zwischenmenschlichen Beziehungen – insbesondere zu den eigenen Eltern sowie anderen nahen Bezugspersonen – eine große Bedeu-tung zu . Behinderte Menschen, allen voran Menschen mit schweren Ent-wicklungsbeeinträchtigungen kognitiver Art, benötigen Unterstützung im Erlernen dieser Fähigkeit, weil ohne sie komplexere Inklusionsformen nicht möglich sind .

Anerkennung zeigt sich nach Axel Honneth auf drei Ebenen – der Liebe, bei Rechten und in Form sozialer Wertschätzung . Während die erste und die dritte Form partikular geleistet werden und zumindest die erste auch auf Gemeinschaften beschränkt ist, wird Anerkennung in Form von Rechten Menschen als Bürgern einer Gesellschaft entgegengebracht . Im nächsten Ka-pitel wird sich noch vertiefter zeigen, was aus diesen Unterscheidungen für die Frage nach Rechten auf Inklusion konkret folgt .

Bezüglich Freiheit hat sich gezeigt, dass eine Beschränkung auf negative Freiheit nicht genügt . Denn Menschen möchten nicht nur nicht daran ge-hindert werden, sich zu inkludieren, sie benötigen auch positive Freiheit – und damit eine Reihe von sozialen Gütern – um sich inkludieren zu können . Hier zeigen sich schon enge Verbindungen zu Anerkennung . Denn die For-derung geht auch damit einher, anerkannt und nicht bloß toleriert zu wer-den .

Das Kapitel hat die normative Relevanz von Inklusion beleuchtet . Es hat unter anderem die komplexen Beziehungen von Inklusion zu Aspekten des guten Lebens aufgezeigt und damit vor allen Dingen geklärt, in welchen Hinsichten Inklusion wichtig ist für ein gutes Leben . Diese Beziehungen dürfen nun aber nicht vorschnell mit Gerechtigkeitsfragen gleichgesetzt wer-den, denn mit diesen sind sie nicht in jedem Fall und zwingend deckungs-gleich . Die Frage, was aus Gerechtigkeitsgründen nun aus dem bisher Eru-ierten folgt, ist Gegenstand des nächsten Kapitels . Dabei verschiebt sich der Fokus von der Frage nach dem guten Leben oder dem menschlichen Wohl-ergehen hin zur Gerechtigkeit . Bestimmte Anteile des guten Lebens sind, so das vorweggenommene Fazit, auch unter Gerechtigkeitsaspekten und damit unter dem Gesichtspunkt moralischer Rechte, wichtig, aber eben nicht alle .

Das nächste, siebte Kapitel widmet sich der Hauptfrage der ganzen Ar-beit: Haben Menschen mit Behinderung ein moralisches Recht auf Inklusi-on?

7 . Das Recht auf Inklusion

Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, dass Inklusion eine hohe normative Relevanz hat . Und bereits im zweiten Kapitel habe ich ausgeführt, weshalb Rechte besonders starke moralische Forderungen darstellen . Sie sind dies vor allem aus zwei Gründen: Erstens sind Rechte mit Pflichten auf anderer Seite verbunden . Wo man von Rechten spricht, bestehen immer auch korrelieren-de Pflichten ausgelöst . Pflichten, welche sich auf Rechte beziehen, zeichnen sich zweitens durch die Form ihrer Gerichtetheit aus . Es sind Pflichten, die man einem Rechtssubjekt schuldet und zwar aufgrund eines Merkmals, ei-ner Eigenschaft oder einer Disposition, die dem Rechtssubjekt selbst zu-kommt und welches die Grundlage seines Rechts darstellt . Ich habe im zwei-ten Kapitel eine Theorie moralischer Rechte verteidigt, die besagt, dass man gute Gründe hat, diese Merkmale in den Interessen von Subjekten zu sehen, welche es zu schützen gilt .

Evaluative Interessen als Grundlinie

Das zweite Kapitel hat zudem gezeigt, dass diese Interessen, um Grundlage eines Rechts zu sein, nicht deskriptive, aktuale Interessen von Individuen sind, sondern evaluative . Damit ist es erstens denkbar, Interessen auch den-jenigen Menschen zuzuschreiben, die sie selbst nicht äußern können, bei-spielsweise, weil sie mit einer schweren Beeinträchtigung ihrer kommunika-tiven Fähigkeiten leben . Zweitens ist es möglich, eine Reihe von Interessen, die Menschen faktisch und aktual haben können, davon auszuschließen, Grundlage moralischer Rechte zu sein . Dies gilt im Besonderen für schädli-che Wünsche wie beispielsweise dem Wunsch, Heroin zu konsumieren .

Evaluative Interessen von Menschen beziehen sich auf normative Annah-men bezüglich des Wesens des guten Lebens . Das gute Leben von Menschen ist, so die normative Annahme, von zwei Arten von Interessen geprägt: einer-

224 Inklusion und Gerechtigkeit

seits von menschlichen Bedürfnissen, andererseits von Interessen, die man als Pläne und Ziele von Menschen bezeichnen kann .

Bedürfnisse beziehen sich dabei auf eine anthropologisch geteilte Bedürf-nisstruktur des Menschen . In Bezug auf Inklusion kann sich dies beispiels-weise im Wunsch auszudrücken, enge zwischenmenschliche Beziehungen zu haben . Hier zeigt sich die Bedeutung von Inklusion für das gute menschliche Leben auf direkte Weise, nämlich über die Bedeutung von Inklusion für die Entwicklungsprozesse von Menschen . Werden Bedürfnisse nach Inklusion nicht gedeckt, leiden Menschen substanziell . Sie können sich nicht entwi-ckeln, wenn sich andere, meist nahestehende, Menschen, ihnen nicht in em-pathischer, intentionaler Hinsicht zuwenden . Dies gilt im Besonderen für die zentralen Entwicklungsprozesse der ersten Lebensjahre und kennzeich-net generell einen wichtigen Aspekt menschlichen Lebens: Menschen sind verletzliche Wesen .

Pläne und Ziele bilden demgegenüber einen Bereich, der eng mit der Freiheit von Menschen verbunden ist, ihre Eigenheiten und persönlichen Ziele auszubilden . Dieser Bereich menschlicher Interessen kennzeichnet daher das, was die Persönlichkeit und den Charakter von Menschen wider-spiegelt . Bezogen auf Inklusion zeigen sich diese Interessen in vielfältigen, individuell gewählten und als wichtig erachteten Lebensbereichen, in die Menschen inkludiert sein möchten . Hier lässt sich die universelle Bedeutung von Interessen für das gute menschliche Leben nur indirekt zeigen, nämlich über die Bedeutung von Freiheit respektive Verwirklichungschancen für das menschliche Leben . In der konkreten Ausgestaltung aber sind solche Inter-essen partikular .

Der Bereich derjenigen Interessen, welche Grundlage für moralische Rechte darstellen können, beschränkt sich auf besonders zentrale, evaluative Interessen von Menschen . Um die Grundlage von Rechten sein zu können, sind aber noch zwei weitere Bedingungen zu erfüllen . Erstens muss das, was mit einem Recht gefordert wird, einforderbar sein, und zweitens muss es in der Verfügungsgewalt des Pflichtenträgers liegen . Wie sich noch zeigen wird, bestehen die Schwierigkeiten in der Formulierung von Rechten nach Inklu-sion gerade darin, dass bestimmte Interessen die zweite und/oder die dritte Bedingung dafür, Grundlage eines Rechts sein zu können, nicht erfüllen .

Das Recht auf Inklusion 225

Im Aufbau des Kapitels werde ich ähnlich verfahren wie im zweiten Kapitel, welches die Struktur und Funktion von Rechten zum Inhalt hatte, nämlich anhand der dreistelligen Relation Rechtssubjekt – Rechtsobjekt – Rechtsge-genstand . Von hauptsächlichem Interesse ist dabei der Rechtsgegenstand re-spektive die genauen Inhalte eines möglichen Rechts auf Inklusion . Aber auch in der Frage, wer aus welchen Gründen Rechtssubjekt sowie Rechtsob-jekt ist, ist in der vorliegenden Arbeit von Interesse . Im Folgenden werde ich die zentralen Punkte des Kapitels aufzeigen .

Rechtssubjekt

Erstens werde ich mich der Frage widmen, wer nun genau Rechtssubjekt der Rechtsforderungen nach Inklusion sein soll . Es stellt sich nämlich die Frage, ob ein Recht auf Inklusion allen Menschen oder speziell Menschen mit Be-hinderung zukommen soll . Falls letzteres der Fall ist, müssten sich die Grün-de dafür in der speziellen Lage, in welcher sich Menschen mit Behinderung befinden, eruieren lassen . Vertritt man eine solche zweite Position, stellt sich weiter die Frage, ob dieses Recht behinderten Menschen als Gruppe oder als Individuen zukommt . Vertritt man ersteres, tritt man für sogenannte Grup-penrechte ein, wie man sie beispielsweise in der Debatte um Rechte für kul-turelle oder ethnische Minderheiten kennt (vgl . Boshammer 2003) . Vertritt man Letzteres, meint man individuelle Rechte .

Meiner Ansicht nach lassen sich pragmatische Gründe dafür anbringen, Rechte auf Inklusion behinderten Menschen qua Mitgliedstatus in einer so-zialen Gruppe zuzuweisen . Damit kommen diese Rechte zwar immer noch Individuen zu, sie sind also individuelle Rechte . Sie kommen Menschen aber nur zu, weil und insofern sie Mitglieder einer sozialen Gruppe sind .

Eine solche Auslegung der Frage nach dem Rechtssubjekt bezieht sich auf Argumente aus dem dritten und vierten Kapitel zu Behinderung und Wohl-ergehen . Ich habe dort ein Modell von Behinderung vertreten, welches dann von einer Behinderung bei einem Menschen ausgeht, wenn sich aus einer Schädigung und unter bestimmten Umweltaspekten eine Reduktion des (objektiven) Wohlergehens ergibt . Damit wären all jene Menschen mit Schä-digungen behindert, welche – aufgrund intrinsischer oder umweltbedingter, extrinsischer und kontingenter Faktoren – kein gutes Leben führen können oder zumindest im Führen eines solchen signifikanten Risiken ausgesetzt sind .

226 Inklusion und Gerechtigkeit

Genau dieser Bezug zum menschlichen Wohlergehen ist im Fokus eines Modells, wie es beispielsweise Iris Marion Young (2008) vertritt und welches Menschen mit Behinderung als strukturell benachteiligte Gruppe betrachtet . Träger von Rechten auf Inklusion sollten nach Young demnach all jene Men-schen sein, welche Mitglieder der strukturell benachteiligten Gruppe der ›Behinderten‹ sind . Ziel der Bemühungen von Rechten wäre es – auf den ersten Blick paradox anmutend – die betroffenen Menschen mit Hilfe von Rechten aus diesem Status struktureller Benachteiligung und damit aus be-stimmten Aspekten der Behinderung herauszuführen . Genau diesem Zweck dienen diese speziellen, nur ihnen zukommenden Rechte .

Rechtsobjekt

Zweitens stellt sich die Frage, wer als Rechtsobjekt respektive als Pflichten-träger gelten soll . Auch hier ist zunächst offen, ob dies einzelne Individuen oder Gruppen von Menschen – bis hin zur Gesellschaft als Ganzes – sind . Mit anderen Worten gefragt: Entsprechen Rechte auf Inklusion Pflichten auf Seiten anderer einzelner Menschen oder betreffen sie Kollektive, beispielsweise den Staat als Institution der Gesellschaft? Ich vertrete die Ansicht, dass man die Pflichten aus pragmatischen und auch aus normativen Gründen dem Staat als Institution der Gesellschaft übertragen sollte . Die pragmatischen Gründe liegen in der Fähigkeit des Staates, soziales Handeln auf gesellschaft-licher Ebene zu koordinieren . Die normativen Gründe wiederum liegen in der (potenziellen) Überforderung von Individuen . Die zwei Gründe aber entlasten Individuen nicht von individueller Pflicht . Vielmehr ist auch die Existenz des Staates sowie sein Handeln, zumindest in demokratischen Ge-sellschaften, auf das Ergebnis von kollektiven Willensbildungsprozessen zu-rückzuführen . Im Zustandekommen dieser trägt der einzelne Bürger Verant-wortung .

Rechtsgegenstand

Ausgehend von der Überlegung, dass zwei Interessen unterschieden werden können – ein Interesse, nicht exkludiert zu werden sowie ein Interesse, inklu-diert zu werden – untersuche ich, inwiefern diese Interessen über Rechte geschützt werden können . Da das erste Interesse weit einfacher zu erfüllen ist, weil es weniger anspruchsvoll ist, beginne ich damit . Es zeigt sich, dass diesem Interesse ein Recht auf Nicht-Diskriminierung entspricht . Ein sol-

Das Recht auf Inklusion 227

ches findet sich de facto auch in der juridischen Rechtssprechung . Rechte auf Inklusion aber sind weitaus schwieriger zu verteidigen . Hier zeigen sich denn auch die Grenzen von Rechten: Erstens können viele Interessen nicht über Rechte geschützt werden, weil sie aufgrund ihres verpflichtenden Charakters das Gut, das es gerade zu schützen gilt, zerstören würden . Dies gilt insbeson-dere für Güter wie Freundschaft und damit verbundene soziale Gefühle wie Zuneigung oder Empathie . Zweitens liegen viele Interessen auch nicht in der Verfügungsgewalt des Pflichtenträgers . Beispielsweise liegt es nicht im Machtbereich von Dritten, – zumindest nicht direkt – dass sich andere Men-schen geliebt oder wertgeschätzt fühlen .

Damit sind den Rechten auf Nicht-Exklusion und Inklusion enge Gren-zen gesetzt . Gerade die partikularen Aspekte von Inklusion, die an Gemein-schaften gebunden sind, können nicht über Rechte geschützt werden . Die damit verbundenen Elemente der Bedeutung von Inklusion, insbesondere partikulare Anerkennung in Form von Liebe und sozialer Wertschätzung (letztere in deren gemeinschaftlicher Ausprägung), die besonders wichtig wä-ren, sind deshalb ebenfalls nicht über Rechte schützbar . Was aber verteidigt werden kann, ist das Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion . Welche Inhalte sich daraus ergeben, zeige ich auf einer individuellen, einer interpersonalen, einer Ebene externer Ressourcen sowie einer strukturellen Ebene auf .

Das Fazit des Kapitels ist – vorerst zumindest – ernüchternd . Es zeigt die engen Grenzen des Rechts auf Inklusion für behinderte Menschen deutlich auf . Auch Pflichten, soziale Inklusionstugenden umzusetzen, scheitern, da sie sich in dieselben Probleme manövrieren wie Rechte . Zentrale Bereiche sozialer Inklusion, welche die Struktur gemeinschaftlicher Inklusion aufwei-sen, lassen sich weder über Rechte noch über Pflichten absichern .

Dennoch möchte ich ein positives Schlussfazit wagen . Erstens will ich dafür plädieren, dass jenseits der Rede von Rechten auch Inklusionstugen-den wichtig sind . Empathie und Solidarität beispielsweise, betreffend derer es zwar weder Recht noch Pflicht gibt, sind nichtsdestotrotz wichtige soziale Tugenden . Sie sollten daher in (beispielsweise pädagogischer) Praxis sowie der Politik besonders betont und gefördert werden . Zweitens zeigt sich, dass die Forderung nach Ermöglichungsbedingungen für Inklusion auf den zwei-ten Blick radikaler ist, als sie auf den ersten Blick erscheint . Denn liegt die relevante Behinderung, wie ich im vierten Kapitel aufgezeigt habe, für viele betroffene Menschen tatsächlich in mangelhaften Umweltbedingungen (bei-spielsweise fehlenden Ressourcen und der sozialen Struktur der Gesellschaft),

228 Inklusion und Gerechtigkeit

dann ist die Forderung, die mit den Ermöglichungsbedingungen für Inklu-sion verbunden ist, radikal . Sie verlangt nämlich in einigen Fällen den weit-gehenden Umbau gesellschaftlicher Institutionen . Der genaue Inhalt eines solchen Umbaus ist aber wiederum an Vorstellungen darüber gebunden, was eine gute Gesellschaft ausmacht .

Zusammenfassend sei noch einmal der Argumentationsschritt skizziert: Anhand der im zweiten Kapitel bereits eingeführten analytischen Aufgliede-rung in Rechtssubjekt, Rechtsobjekt und Rechtsgegenstand möchte ich ers-tens aufzeigen, dass man Rechte behinderten Menschen als Mitglieder einer sozialen Gruppe zuweisen sollte . Zweitens möchte ich vorschlagen, dass man den Staat als Rechtsobjekt oder Pflichtenträger sehen sollte . Und drittens werde ich zeigen, dass das Recht auf Inklusion1 sich folgendermaßen aufglie-dert: in ein Recht auf Nicht-Diskriminierung oder gesellschaftliche Nicht-Exklusion, in ein Recht auf gesellschaftliche Inklusion sowie in ein Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion .

Ich beginne mit der Frage, wer Rechtssubjekt eines Rechts auf Inklusion sein könnte .

7 .1 Soziale Ungleichheit und strukturelle Benachteiligung

Im Folgenden möchte ich die nachstehende These verteidigen: Das Recht auf Inklusion kommt behinderten Menschen als Mitglieder einer strukturell benachteiligten sozialen Gruppe zu . Es ist daher in dem Sinne ein individu-elles Recht, als es Individuen zukommen . Man kann dieses Recht aber auch als ›instrumentelles Gruppenrecht‹ bezeichnet werden, insofern es Individu-en nämlich aufgrund ihres Status als Mitglieder einer sozialen Gruppe zu-kommt und den Zweck hat, die spezielle Lage, in der sich diese Gruppe von Menschen in der Gesellschaft befindet, zu verändern .

Der Unterschied zwischen Gruppenrechten im engeren Sinn und Rech-ten, die Menschen aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer strukturell benach-teiligten, sozialen Gruppe zukommen, zeigt sich dann, wenn man sich fragt, was passieren würde, wenn die Gruppe aufhörte zu existieren . Im ersten Fall,

1 Dabei ist der Ausdruck ›Recht auf Inklusion‹ als Oberbegriff für die sich noch zeigenden inhaltlichen Formulierungen dieses Rechts, das Recht auf Nicht-Exklusion, das Recht auf gesellschaftliche Inklusion und das Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklu-sion, zu verstehen .

Das Recht auf Inklusion 229

bei eigentlichen Gruppenrechten, würde etwas Positives wegfallen, nämlich das, was man gerade mit Rechten zu schützen versuchte . Dies zeigt sich bei-spielsweise bei den Rechten indogener Gruppen auf den besonderen Schutz ihrer Kultur . Mit dem Wegfall der Gruppe würde die mit Rechten geschütz-te Kultur dieser Gruppe ebenfalls wegfallen . Denn es ist ja gerade die Kultur, welche die Gruppe als solche beschreibt . Diese Kultur zu schützen, ist der Zweck von Gruppenrechten .

Der Fall scheint aber anders zu liegen bei behinderten Menschen . Mit dem Wegfall der Gruppe würde nicht eine schützenswerte Kultur wegfallen, sondern der stigmatisierende, lebensqualitätseinschränkende Status behin-derter Menschen . Es könnte daher argumentiert werden, dass der Wegfall dieses Status intendiert und angestrebt werden sollte . Bezogen auf behinder-te Menschen würde das bedeuten, dass die Zuschreibung eines Rechts auf-grund ihrer Mitgliedschaft in einer Gruppe den Zweck hätte, ihren Status als Benachteiligte zu beseitigen .

Was aber sind nun die genaueren Gründe, Menschen mit Behinderung als soziale Gruppe zu beschreiben? Anders gefragt: Was kennzeichnet eine soziale Gruppe und inwiefern sind Menschen mit Behinderung Mitglieder einer solchen Gruppe? Zweitens: Inwiefern hat diese Zuweisung von Rech-ten Vorteile vor rein individuellen Rechten, die einem als Mensch mit Be-hinderung ohne Bezug zu einer Gruppe zukommen, beispielsweise als Bür-ger eines Staates?

Soziale Gruppen sind nach Iris Marion Young (1990, S . 43) folgenderma-ßen gekennzeichnet: »A social group is a collective of persons differentiated from at least one other group by cultural forms, practices, or way of life . Members of a group have a specific affinity with one another because of their similar experience or way of life, which prompts them to associate with one another more than with those not identified with the group, or in a different way . Groups are an expression of social relations; a group exists only in rela-tion to at least one other group . Group identification arises, that is, in the encounter and interaction between social collectives that experience some differences in their way of life and forms of association, even if they also re-gard themselves as belonging to the same society .« Soziale Gruppen existie-ren damit nicht als Substanz, sondern aufgrund ihrer sozialen Beziehungen . Sie bilden einen Teil der individuellen Identität, wenn auch oft unfreiwillig . Das heißt nun nicht, dass Individuen ihre Gruppenzugehörigkeiten nicht zu einem gewissen Teil ablehnen oder ablegen könnten . Und es bedeutet auch nicht, dass Individuen keine Attribute aufwiesen, die unabhängig von ihrer

230 Inklusion und Gerechtigkeit

Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bestehen . Der Punkt ist vielmehr, dass ihnen der Status, Mitglied einer Gruppe zu sein, aufgrund einer Zu-schreibung oder eines Labels – beispielsweise ›die Behinderten‹ – zukommt . Dieser Status ist mit einer Reihe von Zuschreibungsmerkmalen2 verbunden, über die einzelne Menschen keine oder nur geringe Deutungsmacht besit-zen .

Die normative Problematik am Mitgliedstatus ist, dass die betroffenen Menschen aufgrund ihres Mitgliedstatus letztlich in ihrem Bemühen, ein gutes Leben zu führen, benachteiligt sind . Sie liegt also, mit anderen Wor-ten, nicht an den Zuschreibungen als solche, sondern an der Tatsache, dass Menschen damit einhergehend Benachteiligungen erfahren, die sie sozial schlechter stellen und die mit einer Reduktion des Wohlergehens verbunden sind . Dieser Zustand wird in soziologischen Theorien auch mit dem Begriff der sozialen Ungleichheit umschrieben (vgl . Bourdieu 1987; Giddens 2001; Kreckel 2004) . So schreibt Reinhard Kreckel (2004, S .  17): »Soziale Un-gleichheit im weiteren Sinne liegt überall dort vor, wo die Möglichkeiten des Zuganges zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Inter-aktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfah-ren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschafen beeinträchtigt bzw . begünstigt werden .«

Horizontale und vertikale Ungleichheit

Der Status sozialer Ungleichheit zeigt sich in Verhältnissen von horizontaler Ungleichheit – beispielsweise Schädigung, Geschlecht, Alter, ethnische Zu-gehörigkeit oder sexuelle Orientierung – zu vertikaler Ungleichheit (bei-spielsweise Einkommen, Vermögen, Bildung oder Beruf ) . Während vertika-le Ungleichheit immer zu sozialer Ungleichheit und damit gesellschaftlicher Benachteiligung führt beziehungsweise diese bereits impliziert, muss das im Fall horizontaler Ungleichheit nicht in jedem Fall so sein (vgl . Maschke 2007) .3 Viele Menschen mit Behinderungen sind aber Prozessen sozialer

2 Ausdrücken können sich diese beispielsweise in Idealen körperlicher Schönheit, Standards in der baulichen Umwelt, Zugänglichkeit zu Techniken oder Vorstellungen von Gesellig-keit .

3 Es ist ja beispielsweise nicht per se ein gesellschaftlicher Nachteil, eine Frau zu sein . Mit anderen Worten: Das horizontale Merkmal Geschlecht führt nicht in jedem Fall zu gesell-schaftlichen Nachteilen . Elemente horizontaler Ungleichheit sind daher erst einmal des-

Das Recht auf Inklusion 231

Ungleichheit ausgesetzt, Prozessen also, die über die horizontale Ungleich-heit hinausgehend mit einer möglichen Reduktion des Wohlergehens ver-bunden sind .

Dies ist aufgrund von folgenden Faktoren oder Prozessen möglich: Er-stens kann es sein, dass sich die Unterschiede in der horizontalen Ungleich-heit kumulieren und insgesamt so groß werden, dass das Wohlergehen der betroffenen Menschen, relativ oder absolut betrachtet, stark eingeschränkt ist . Das ist insbesondere bei denjenigen Menschen der Fall, die mehrere po-tenziell benachteiligende Faktoren auf sich vereinen . So sind beispielsweise Frauen mit Behinderung stärker von sozialer Ungleichheit betroffen als Männer mit Behinderung, da sich die Kumulation dieser zwei Faktoren ho-rizontaler Ungleichheit in vielen Fällen besonders benachteiligend auswirkt . Dasselbe gilt für Menschen mit Behinderung, die gleichzeitig bestimmte an-dere Faktoren horizontaler Ungleichheit aufweisen, beispielsweise sexuelle Orientierung (insbesondere Homosexualität oder Transsexualität) oder eth-nische Zugehörigkeit (beispielsweise Migrantenstatus) . Zweitens ist es häufig der Fall, dass Menschen mit Behinderung sowohl in der vertikalen, als auch der horizontalen Dimension von Ungleichheit betroffen sind . Dies ergibt sich dann, wenn zusätzlich zur Behinderung beispielsweise Einkommens-, Vermögens- oder Bildungsungleichheiten zu beobachten sind und die Be-troffenen damit teilweise oder komplett aus gesellschaftlichen Institutionen wie der Bildung oder dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind . Ein ähnliches Resultat käme dadurch zustande, wenn horizontale Ungleichheit – also Un-terschiede in Geschlecht, Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit oder Beein-trächtigung – selbst als Anlass für eine ungleiche Behandlung genommen wird, die Behandlungen sich aber nicht kausal und berechtigterweise darauf zurückführen lassen . Ein solcher Prozess wird gemeinhin als Diskriminierung bezeichnet . Der zweite Prozess impliziert damit Ungleichheit in vertikaler und horizontaler Hinsicht, währenddem der erste sich vor allen Dingen als Verstärkung und Verkettung innerhalb von Faktoren horizontaler Ungleich-heit verstehen lässt .

In der Theorie struktureller Ungleichheit, wie sie beispielsweise Iris Ma-rion Young (2000, 2008) vertritt, geht man nun vom Vorhandensein sozialer Ungleichheit aufgrund von sich verstärkender horizontaler Ungleichheit, die sozial bewertet zu einer vertikalen Ungleichheit führt (Beispiel Frau mit Be-hinderung) . Oder man geht von einer Mischung aus vertikaler und horizon-

kriptive Fakten und nicht bereits normativ bewertet . Dies ist anders bei Faktoren vertika-ler Ungleichheit . Sie gehen immer mit einer normativen Bewertung einher .

232 Inklusion und Gerechtigkeit

taler Ungleichheit aus und sieht gerade darin die Problematik, mit der viele Menschen mit Behinderung leben müssen . Der Umstand, im Führen eines guten Lebens benachteiligt zu sein, ist dabei nicht einzig ein Umstand feh-lender interner Ressourcen, also Schädigungen oder mangelndem Talent . Vielmehr ist es Resultat eines lack of fit zwischen den internen Ressourcen von Menschen – beispielsweise Körperstärke, geistiger oder psychischer Fä-higkeit –, mangelnden externen Ressourcen und der dominanten sozialen Strukturen der Gesellschaft, ihren Praktiken, Normen und ästhetischen Standards (vgl . Young 2008, S . 83) . Wie sehr sich eine Beeinträchtigung auf die Lebensqualität der betroffenen Menschen auswirkt, hängt vor allen Din-gen davon ab, wie ihre vertikale Situation beschaffen ist respektive wie das Verhältnis zwischen ihrer Beeinträchtigung und Faktoren wie Einkommen, Vermögen, Bildung oder Beruf beschieden ist .

Im vierten Kapitel habe ich bereits auf die verschiedenen Risiken hinge-wiesen, denen Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind . Insbesondere setzen bei behinderten Menschen sogenannte ›spill-over-Effekte‹, also Über-tragungseffekte, ein (vgl . Maschke 2007, S . 309) . Diese sind dann vorhan-den, wenn sich mangelnde Zugangschancen von bestimmten Lebensberei-chen auf andere übertragen und sich in der Folge Verwirklichungschancen auf Inklusion einzuschränken beginnen . Dies ist beispielsweise der Fall, wenn schlechte oder fehlende Bildungsabschlüsse zu reduzierten oder feh-lenden Chancen im Arbeitsbereich führen . Diesen besonderen Risiken sind Menschen mit Behinderung, wie ich aufgezeigt habe, deutlich stärker und nachhaltiger ausgesetzt als nicht behinderte Menschen .

Die Bedeutung der strukturellen Dimension von Behinderung

Die Theorie struktureller Ungleichheit wirft im Besonderen Licht auf die Bedeutung der strukturellen Dimension von Behinderung . Dies in dreierlei Hinsicht: erstens hinsichtlich sozialer Beziehungen und Prozesse im weiteren Sinne, welche die sozialen Möglichkeiten von Menschen prägen . Darunter fallen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme sowie die Qualität und Quanti-tät interpersonaler Beziehungen, die beispielsweise über Rollenbilder oder Ansichten darüber, wer als erstrebenswerte ›Partie‹ gilt, strukturell beeinflusst werden . Die strukturelle Dimension zeigt sich zweitens hinsichtlich der Res-sourcen, beispielsweise in Formen von Hilfen und besonderer Unterstüt-zung, zu denen Menschen mit Behinderung zwecks ungehinderter Entwick-

Das Recht auf Inklusion 233

lung Zugang haben sollten und welche auf institutioneller, gesellschaftlicher Ebene bestimmt werden . Das heißt, die Ansprüche, welche Menschen mit Behinderung qua Behinderung geltend machen können, sind abhängig von gesellschaftlichen Aushandlungen und Übereinkünften und daher gesell-schaftlichen Kontingenzen unterworfen . Und drittens wird die strukturelle Dimension bezüglich der Entscheidungsmacht deutlich, die behinderte Menschen über ihr eigenes Leben haben . Sie äußert sich auch im Status, den sie verliehen bekommen, und der sich in Respekt, der ihnen entgegenge-bracht wird, ausdrückt . Dieser Respekt hat neben einer zwischenmenschli-chen auch eine strukturelle Dimension (vgl . Margalit 1997) . Der Zugang zu Lebensbereichen wie Arbeit, Bildung, Wohnen, Kultur oder Sport, um eini-ge, keineswegs distinkte Lebensbereiche zu nennen, ist damit nicht zuletzt auch durch Barrieren begrenzt, die sich nicht auf individuelle, finanzielle oder technische Faktoren reduzieren lassen . Vielmehr können Barrieren auch institutionell verankert sein und über die Einstellungen von Menschen wei-ter perpetuiert werden .

Kritik am Ansatz struktureller Benachteiligung

Das Vorhaben, Rechte an den Status der Mitgliedschaft in einer strukturell benachteiligten, sozialen Gruppe zu binden, ist nun aber seinerseits dem Vorwurf ausgesetzt, genau diese soziale Lage, welche bekämpft werden sollte, zu betonen und damit zu verstärken . So schreibt beispielsweise Tom Shake-speare (1999, S . 31):4 »The danger of a minority group approach is that disa-bled people again become ghettoised . Many people with impairment only want to be considered as ordinary, normal people, but the minority group approach demands that they be considered as a separate political and social constituency . Disability, once again, becomes the defining characteristic .« Der Einwand von Shakespeare scheint gewichtig zu sein . Man kann sich berechtigterweise fragen, ob die strukturelle Benachteiligung und Ungleich-heit nicht durch die Zuschreibung des Gruppenstatus verstärkt und damit die Stigmatisierung, Marginalisierung und Exklusion von behinderten Men-schen gefördert statt bekämpft wird . Young selbst erkennt das Dilemma der Differenz, das damit evoziert wird: »Contemporary social movements seek-

4 Shakespeare bezieht seine Kritik auf Gruppenrechte im engeren Sinn, denn er spricht von Minderheitenrechten . Dennoch trifft seine Kritik auch auf Rechte zu, wie sie Young ver-tritt und die keine Gruppenrechte im engeren Sinne sind .

234 Inklusion und Gerechtigkeit

ing full inclusion and participation of oppressed and disadvantaged groups now find themselves faced with a dilemma of difference . On the one hand, they must continue to deny that there are any essential differences between men and women, whites and blacks, able-bodied and disabled people, which justify denying women, blacks, or disabled people the opportunity to do anything that others are free to do or to be included in any institution or position . On the other hand, they have found it necessary to affirm that there are often group-based differences between men and women, whites and blacks, able-bodied and disabled people that make application of a strict principle of equal treatment, especially in competition for positions, unfair because these differences put those groups at a disadvantage« (Young 1989, S . 268) .

Benachteiligung als Teil der Behinderung

Der Vorwurf, intuitiv einsichtig wie er ist, beruht aber zumindest teilweise auf einem Missverständnis . Denn vertritt man ein Behinderungsmodell, das Behinderung gerade nicht mit Schädigung gleichsetzt – wie das beim medi-zinischen Modell in der Regel der Fall ist –, sondern Behinderung als kom-plexen Interaktionsprozess zwischen individuellen und umweltbedingten Faktoren begreift, dann ist ein Teil der Behinderung ja gerade die Benachtei-ligung . Die Benachteiligung bekämpfen hieße dann, diejenigen Elemente der Behinderung abzubauen, die struktureller, sozialer oder institutioneller und veränderbarer Art sind .

Die sich aus einer Behinderung ergebenden relativen und absoluten Be-nachteiligungen kann man aber nur bekämpfen, indem man auf sie hinweist respektive ihre individuumsexternen Ursachen und Verstärkungsmechanis-men aufzeigt und verdeutlicht, worin dabei die Ungerechtigkeit liegt . Denn diese liegt ja nicht in der Beeinträchtigung als solcher, die in vielen Fällen eine Folge einer – meist von niemandem verschuldeten – Schädigung ist, sondern gründet unter anderem in den die ursprünglichen Beeinträchtigun-gen verstärkenden sozialen und strukturellen Prozesse . Nicht zuletzt aus dem Grund, die lebensqualitätseinschränkenden Folgen dieser Prozesse für Men-schen mit Behinderung verstehen zu wollen, ist ein offenes Sprechen über die verschiedenen Arten von Behinderungen und Benachteiligungen, welche die betroffenen Menschen erfahren, vonnöten . Ohne alle diese Faktoren und ihre Wechselwirkungen anzusprechen, ist es nicht möglich, Forderungen der

Das Recht auf Inklusion 235

Beseitigung von Exklusion, Benachteiligungen oder Ausgrenzungen, die ja behinderte Menschen nicht nur individuell betreffen, als Gerechtigkeitsfra-gen zu thematisieren (vgl . Collins 2003; Kauffman 2004) . Dass gerade die sozialen und strukturellen gesellschaftlichen Bedingungen oft die zentralen Behinderungen darstellen, darauf weisen diese ›instrumentellen Gruppen-rechte‹, wie sie Iris Marion Young (2008) beschreibt, gerade hin .

Der Punkt, den Young in ihrer Theorie der sozial benachteiligten Gruppe besonders betonen will, ist der, dass diese verschiedenen Risiken – insbeson-dere auch die strukturell verstärkten sowie die sozialen Zuschreibungsprozes-se – auf Menschen mit Behinderung überdurchschnittlich oft und in ähnli-cher Qualität zutreffen . Dieses Faktum rechtfertigt es aus pragmatischen Gründen, behinderte Menschen als Gruppe zu bezeichnen . Die Rechte, die ihnen zukommen, haben instrumentellen Charakter . Sie sollen helfen, den Status der Benachteiligung zu beseitigen und so ein gutes Leben zu ermögli-chen .

Allerdings ist Shakespeare (1999) in zweierlei Hinsicht Recht zu geben . Erstens ist die inhärente Ambivalenz in der Zuschreibung von besonderen Rechten und ihre potenziell stigmatisierende Kraft ernst zu nehmen . Rechte dürfen aus diesem Grund nicht zusätzlich stigmatisierend wirken . Insbeson-dere in der Umsetzung der Rechte muss daher darauf geachtet werden, dass die Würde und die Selbstbestimmung behinderter Menschen respektiert wird . Auch ist Shakespeare insofern entgegenzukommen, als mit der Aus-zeichnung von speziellen Gruppenrechten in der Folge nicht alle Menschen mit einer Schädigung auch in normativ relevantem Sinn als behindert gel-ten . Dies ist vor allem dann nicht der Fall, wenn die Umweltanpassungen trotz einer Schädigung bei einem Menschen so gut sind, dass er oder sie in der Führung eines guten Lebens nicht oder nur marginal eingeschränkt ist .5

5 Darauf hat die Studie von Allotey et al . (2003), die ich im dritten Kapitel bereits erwähnt habe, eindrücklich hingewiesen . Darin hatten Paraplegiker in Sydney keine nennenswerte Einschränkung ihrer Lebensqualität ausgewiesen, während Menschen mit derselben Be-hinderung in abgelegenen Gegenden Kameruns ihre Lebensqualität als nahe beim Tod einschätzten . Der Grund lag darin, dass behinderte Menschen in Sydney mit der moder-nen, städtischen Infrastruktur, in denen der Zugang zu öffentlichen Gebäuden und Trans-portmitteln vorbildlich umgesetzt war, keine nennenswerte Einschränkungen in ihrem täglichen Leben erfuhren . Paraplegiker in Kamerun hingegen waren während mehreren Monaten des Jahres in ihrem Haus eingeschlossen, das sie aufgrund der lange dauernden Regenzeit nicht verlassen konnte . Viele besaßen zudem gar keinen Rollstuhl und mussten ihre Tage weitgehend im Bett liegend verbringen . Die gesellschaftliche Ächtung behinder-ter Menschen in der afrikanischen Gesellschaft führte darüber hinaus dazu, dass sich die Menschen auch sozial isoliert fühlten .

236 Inklusion und Gerechtigkeit

Eine solche Person wäre denn auch nicht zwingend im Fokus spezieller Gruppenrechte . Dies insbesondere dann nicht, wenn sie ausschließlich von horizontaler Ungleichheit betroffen ist, die sich nicht auf ihr Wohlergehen auswirkt .6

Insbesondere sind nicht alle Menschen mit Schädigungen ihrer Körper-funktionen oder -strukturen in ausgeprägtem Maß von negativen gesellschaft-lichen Zuschreibungen betroffen . Ein historisches Beispiel zeigt dies besonders deutlich: Auf Martha’s Vineyard, wo ein bedeutender Teil der Bevölkerung über Jahrhunderte gehörlos war, waren die gehörlosen Menschen vollständig in die dortige Gesellschaft inkludiert .7

6 Dies gilt beispielsweise für Fälle von Menschen, die zwar mit einer Schädigung leben, aber aufgrund anderer vertikaler Faktoren gesellschaftliche Vorteile genießen, beispielsweise, weil sie ein gutes Einkommen, ein stabiles soziales und gesellschaftliches Netzwerk, Ver-mögen oder/und gute Bildung haben .

7 Die Geschichte der vor Boston gelegenen Insel Martha’s Vineyard ist sowohl eine Ge-schichte vererbter Gehörlosigkeit wie auch ein eindrückliches Beispiel von vollständiger Inklusion der Betroffenen in die dortige Gesellschaft . Als sich die us-amerikanische Eth-nologin Nora Ellen Groce 1978 daran machte, der Geschichte von Gehörlosigkeit auf Martha’s Vineyard nachzugehen, war der letzte vererbt gehörlose Bewohner der Insel be-reits seit 26 Jahren tot . Die Erinnerung an die Menschen aber war noch lebendig und ebenfalls die Fähigkeit bei einigen älteren hörenden Einwohnern, die Gebärdensprache zu beherrschen . Die früheren Bewohner der Insel waren perfekt zweisprachig . Sie beherrsch-ten Englisch und die Gebärdensprache der Insel . Die gehörlosen Menschen konnten an allen Aktivitäten des Insellebens gleichberechtigt teilnehmen . Sie wuchsen auf, gingen zur Schule, heirateten, bekamen Kinder (mit hörenden oder gehörlosen Partnern) und hatten in jeder Hinsicht dieselben Möglichkeiten wie ihre Nachbarn, Freunde und Verwandten . Dies zeigte sich auch in den Einstellungen gegenüber den gehörlosen Bewohnern der In-sel . Auf die Frage, was die Hörenden von den Gehörlosen gehalten hätten, antwortete der Herausgeber einer kleinen Zeitung, welcher Groce für die Recherchen zur Seite stand: »[…] they didn’t think anything about them, they were just like everyone else« (Groce 1985, S . 2) . Einer der stärksten Belege dafür, dass die Gehörlosen der Insel vollständig in die Gesellschaft inkludiert waren, zeigte sich auch darin, dass Groce große Mühe hatte, von den Interviewten überhaupt zu erfahren, welche Bewohner denn gehörlos gewesen waren und welche nicht . Auf die Frage, was zwei Männer namens Isaiah und David ge-meinsam gehabt hätten (von denen Groce durch bereits durchgeführte Interviews wusste, dass sie beide gehörlos gewesen waren), antwortete eine befragte Frau: »Sie waren beide sehr gute Fischer . Sehr gute, wirklich .« Auf die Nachfrage, ob sie nicht auch gehörlos ge-wesen seien, antwortete die Frau: »Ja, jetzt, wo Sie mich darauf hinweisen, erinnere ich mich« (ebd ., S . 4, Übersetzung FF) . Das vielleicht beste Beispiel für den Status, den die gehörlosen Bewohner der Insel im Vergleich zu den hörenden hatte, ist folgendes . Auf die Frage an eine rund 80-jährige Frau, was sie als Mädchen von den ›Handicappierten‹ gehal-ten habe, unterbrach sie die Frau und sagte: »Oh, those people weren’t handicapped . They were just deaf« (ebd ., S . 5) .

Das Recht auf Inklusion 237

Das Beispiel zeigt, dass eine körperliche Schädigung nicht in jedem Fall eine negative Zuschreibung und in der Folge Benachteiligung und Exklusion auslösen muss . Die Reaktion auf Menschen mit Gehörlosigkeit auf Martha’s Vineyard kann im Gegenteil gerade als Nicht-Reaktion klassifiziert werden (vgl . Kastl 2010, S . 169) . Gehörlosen Menschen auf Martha’s Vineyard wären daher trotz ihrer körperlichen Schädigung unter den dort herrschenden Um-welt- und Strukturbedingungen keine besonderen Rechte zugekommen . Denn es hätte sich gerade nicht zeigen lassen, dass sie in signifikanter Weise als Gruppe gegenüber Menschen mit gutem Hörvermögen benachteiligt oder gar exkludiert waren sowie ultimativ unter einer Einschränkung des Wohlergehens litten .

Die gehörlosen Bewohner von Martha’s Vineyard sowie andere Men-schen mit Schädigungen, welche aus genannten Gründen nicht im Fokus von instrumentellen Gruppenrechten sind, könnten dies allenfalls dann sein oder werden, wenn eine signifikante Veränderung ihrer Körperstrukturen oder -funktionen,8 von Beeinträchtigungen in der Lebensführung9 oder Ver-änderungen in den Umweltbedingungen – respektive Wechselwirkung zwi-schen den verschiedenen Faktoren – ihre Risiken kein gutes Leben führen zu können, ansteigen lassen würde .

Diejenigen, denen besondere Rechte zugesprochen werden, erhalten die-se aufgrund ihres Mitgliedstatus in einer Gruppe der Gesellschaft, die beson-ders benachteiligt ist . Behinderte Menschen sind damit keine richtige Gruppe . Die Zuschreibung eines Gruppenstatus ist aber aus pragmatischen Gründen sinnvoll . Denn so können Ansprüche geltend gemacht werden, die aus einer – größtenteils geteilten – Lebenserfahrung einer Benachteiligung entstam-men .

Nun gibt es sowohl pragmatische wie auch normative Gründe, spezielle Gruppenrechte allen Menschen mit Behinderung zuzusprechen, auch denje-nigen, welche nicht in umfassendem Sinne behindert sind, also nicht unter

8 Beispiele einer Veränderung der Körperstrukturen und Funktionen bei bestimmten Be-hinderungen gibt es viele . So leiden viele Menschen mit Down Syndrom in mittleren Jahren an verfrühter und stärkerer Demenz als Menschen ohne dieses Syndrom . Dies deshalb, weil ein Gen für das Amyloid-Vorläufer-Protein, welches Alzheimer auslöst, auf dem 21 . Chromosom liegt und Menschen mit Down Syndrom drei statt zwei Chromoso-men 21 haben . Aus diesem Grund führt bei diesen Menschen die vermehrte Produktion des Proteins oft zu einem frühen Ausbruch von Demenz .

9 Auch hier gibt es viele Beispiele . Besonders Menschen mit körperlichen Beeinträchtigun-gen spüren in mittleren Jahren die Abnützungserscheinungen des Körpers aufgrund ein-seitiger Belastungen bestimmter Gelenke, Muskeln oder Knochenstrukturen .

238 Inklusion und Gerechtigkeit

einer lebensqualitätseinschränkenden Benachteiligung leiden . Denn erstens kann der Nachweis, dass der Anspruch nicht berechtigt ist, also keine Be-nachteiligung vorliegt, im Einzelfall nur schwer erbracht werden . Im Falle einer relativ homogenen Gesellschaft wie derjenigen auf Martha’s Vineyard bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts, lässt sich vielleicht noch nachweisen, dass die gehörlosen Menschen gegenüber ihren hörenden Mitbürgern nicht benachteiligt sind . In modernen, heterogenen, liberalen Gesellschaften mit ihren vielfältigen möglichen Ungleichheitsfaktoren aber sind Menschen mit Beeinträchtigung immer latent dem Risiko gesellschaftlicher Benachteili-gung ausgesetzt .

Zweitens ist es auch so, dass der Nachweis, in umfassendem Sinne behin-dert zu sein, stigmatisierend und entwürdigend erlebt werden kann . Es ist daher eine Vorsichtsmaßnahme, spezielle Rechte aufgrund eines Status in einer Gruppe, zu der man zwar streng genommen nicht gehört, aber in Zu-kunft gehören könnte, zu verleihen . Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass jeder Schädigung ein Gefährdungspotenzial inne wohnt und erspart damit den Betroffenen, dieses Gefährdungspotenzial aktual aufzuzeigen .

Nachdem ich an dieser Stelle dafür plädiert habe, ein mögliches Recht auf Inklusion behinderten Menschen zwar als Individuen, aber aufgrund ih-res Status in einer Gruppe zuzusprechen, kommt die Rede nun auf das Rechtsobjekt . Hier werde ich Gründe dafür aufzeigen, die Pflicht, das Recht auf Inklusion umzusetzen, dem Staat zuzuweisen .

7 .2 Der Staat als moralischer Agent

Zwei mögliche Entschuldigungen

Selbst wenn man sich darauf geeinigt hätte, dass die Interessen nach Inklu-sion moralisch so bedeutsam sind für das Leben von Individuen, dass daraus noch ein näher zu bestimmendes moralisches Recht auf Inklusion erwächst, kann unklar bleiben, wer die moralische Pflicht trägt respektive wer Rechts-objekt ist . Individuen können sich, bei gleichzeitiger Zustimmung zum Ide-al von Inklusion, auf zwei Arten von Pflicht und Verantwortung entbinden: Erstens können sie darauf hinweisen, dass es zwar richtig sei, dass etwas ge-tan werde, dass es aber falsch sei, Individuen zu etwas zu verpflichten . Eine zweite Möglichkeit besteht darin, ebenfalls zuzugestehen, dass es moralisch

Das Recht auf Inklusion 239

richtig sei, dass etwas getan werde, aber dass es nicht in der Verantwortung von Individuen liege, etwas zu tun (vgl . Goodin 1989, S . 124) .

Ich will mich vor allem der zweiten Entschuldigung zuwenden, die mei-ner Meinung nach spezifiziert und abgewendet werden kann . Die erste Ent-schuldigung, dass es falsch sei, Individuen zu verpflichten, ist meiner Ansicht nach ein zumindest für bestimmte Güter respektive Kontexte gewichtiger und ernst zu nehmender Einwand . Da er aber auch damit zu tun hat, wie der Rechtsgegenstand selbst gebildet ist, verschiebe ich diesen Einwand auf den nächsten Abschnitt (7 .3) .

Das Überforderungsargument

Die Entschuldigung, wonach es nicht in der Verantwortung von Individuen liege, etwas zu tun, verweist auf einen normativen Einwand, nämlich den, dass Individuen überfordert sein können . Dieser Einwand wird oft so ausge-drückt, dass die mit Rechten verbundenen Pflichten potenziell bodenlos sei-en (vgl . Fishkin 1982) . Dies meint, dass, wenn relativ weit gehende Rechte verliehen werden, Menschen gar nie in die Lage kämen, der Pflichterfüllung Genüge getan zu haben . Zweifellos würde das Menschen in psychischer Hin-sicht – wenn auch nicht nur – überfordern . Angesichts der vielfältigen Le-bensbereiche, in die Menschen inkludiert werden können sowie der großen Anzahl von Menschen, denen man in diesen Lebensbereichen begegnet, scheint eine Überforderung von Individuen tatsächlich einer realistischen Gefahr zu entsprechen . Menschen wären so nämlich, etwas überspitzt for-muliert, den ganzen Tag damit beschäftigt, andere, ihnen weiter und näher stehende Menschen in irgendwelche Lebensbereiche zu inkludieren . Der Wert von Freiheit für das Leben von Menschen wäre somit mit Sicherheit verletzt . Da mit Rechten auch immer Pflichten verbunden sind, wäre mit einer Absage an individuelle Pflichten zudem zweifelsohne auch eine Absage an Rechte verbunden .

Das entstehende Dilemma

Mit dem Einwand ist nun aber offensichtlich ein Dilemma folgender Art verbunden: Auf der einen Seite steht die hohe normative Relevanz von In-klusion für das gute Leben von Menschen . Die mit der normativen Bedeu-

240 Inklusion und Gerechtigkeit

tung von Inklusion verbundenen Interessen, verstanden als Bedürfnisse, Plä-ne und Ziele, sollten daher durch ein Recht auf Inklusion geschützt werden .10 Auf der anderen Seite stehen die möglichen Einwände auf Seiten von Indivi-duen, welche die Übernahme von Pflichten abwenden, weil sie mit dieser Pflicht überfordert sind . Dies selbst wenn anerkannt wird, dass Individuen wichtige Interessen nach Inklusion haben, von denen zumindest einige mit einem Recht abgesichert werden sollten . Wie also kann diesem Einwand entgangen werden?

Die Zuweisung der Verantwortung an kollektive Agenten

Robert E . Goodin (1989) schlägt vor, Pflichten statt Individuen dem Staat als kollektiven Agenten zu übertragen . Er beginnt damit, die Entschuldi-gung, Individuen wären überfordert, zu qualifizieren . Die Annahme, dass es nicht meine Aufgabe sei, etwas zu tun, impliziert oft, dass es die Aufgabe ei-ner anderen Person sei . Jeder kann sich mit anderen Worten auf dieselbe Begründung der Überforderung berufen und reklamieren, es sei nicht seine Aufgabe . Die Verantwortung wird also, selbst bei voller Anerkennung der Berechtigung von Ansprüchen, weiter gereicht und landet schließlich – bei niemandem . Was aber niemandes Verantwortung ist, ist bei Anerkennung von Rechten, die Verantwortung aller . Was also tun?

Die Antwort verweist auf Kollektive . Viele Fässer nämlich, die bodenlos scheinen, sind es nur aus individueller Sicht, nicht aber aus Sicht eines Kol-lektivs . Bei Inklusion, im Besonderen da, wo es um die Verteilung von Gü-tern, beispielsweise in Form pädagogischer Hilfe oder materieller Ressourcen geht, entstehen Koordinationsprobleme . Oft sind Koordinationsprobleme dafür verantwortlich, dass etwas wie ein bodenloses Fass erscheint, ohne dass es das in Wirklichkeit ist .11

10 Dies gilt zumindest für einige, qualifizierte Interessen, deren Bedeutung für ein gutes menschliches Leben belegt werden kann und die eine bestimmte Dringlichkeit aufwei-sen .

11 Beispielsweise ist die Forderung behinderter Menschen nach Zugänglichkeit nicht grund-sätzlich eine bodenlose Forderung, sie kann höchstens unter bestimmten Umständen zu einer werden . Um beim Beispiel der Zugänglichkeit – hier der Einfachheit halber als Zu-gang zu Gebäuden verstanden – zu bleiben: Die Frage scheint zuerst einmal die zu sein, wie viel, gerade angesichts der hohen Bedeutung von Mobilität für das Leben von Men-schen, für Menschen mit Einschränkungen in der Mobilität gesellschaftlich aufgewendet werden soll . Diese Frage respektive ihre Einordnung in eine Hierarchie relativer Wichtig-keit führt zurück auf Überlegungen zum Beitrag und zur Bedeutung von Mobilität zu ei-

Das Recht auf Inklusion 241

Die Koordinationsfähigkeit des Staates gegenüber der relativen Unfähigkeit zur Koordination bei Individuen

Ansprüche nach Inklusion bereits von vornherein als bodenlos zu qualifizie-ren, würde bedeuten, ihnen die inhaltliche Berechtigung abzuerkennen . Eine solche Position scheint allerdings angesichts der hohen Bedeutung von Inklusion für das menschliche Leben – beispielsweise bezüglich sozialer Zu-gehörigkeit zu anderen Menschen oder Gruppen, aber auch in punkto Mo-bilität und Zugang zu Gebäuden und Dienstleistungen – kaum vertretbar zu sein, jedenfalls nicht grundsätzlich .

Aus den genannten Koordinationsproblemen folgt daher, dass die Erfül-lung der Pflicht, die sich aus dem Recht auf Inklusion ergeben wird, der Gesellschaft als Ganzes respektive dem Staat als Institution der Gesellschaft übertragen werden sollte . Der Grund dafür ergibt sich erstens – normativ – aus dem Überforderungsargument . Zweitens ergibt er sich aus der Koordi-nationsfähigkeit des Staates . Dies ist das pragmatische Argument .

Das pragmatische Argument besagt im Kern folgendes: Gegenüber Indi-viduen ist der Staat besser in der Lage, soziales Handeln zu koordinieren . Koordination verweist auf Beziehungen zwischen Dingen, Menschen oder Gebilden . Daher kann nur in Gruppen, Gemeinschaften oder in Organisa-tionen Handeln sozial koordiniert werden . Allerdings müssen diese Grup-pen, Gemeinschaften oder Organisationen formal organisiert sein . Zufällig anwesende Kollektive können nicht kollektiv zur Verantwortung gezogen werden, weil sie sich nicht konstituiert haben (vgl . French 1979, 1984; Held 1970, 1972) .12 Unter den formal organisierten Institutionen, welche soziales Handeln organisieren können, ragt der Staat heraus .

Definition staatlichen Handelns

Nun kann aber bezweifelt werden, dass der Staat ein Handelnder ist und damit zur Verantwortung gezogen werden kann wie ein Individuum . Was also ist staatliches Handeln? Nach Goodin (1989, S .  129) ist der Staat in

nem guten menschlichen Leben . Diese Überlegung gilt analog für andere Bereiche des menschlichen Lebens, deren Beitrag zu einem guten Leben normativ und empirisch auf-gezeigt sowie auch in seinen Bezügen zur Inklusion von Menschen verankert werden muss .

12 So kann man beispielsweise nicht die beliebig anwesenden Reisenden in einem Zug für die Exklusion eines bestimmten Reisenden verantwortlich machen .

242 Inklusion und Gerechtigkeit

zweierlei Hinsicht ein Handelnder: Erstens kann der Staat durch seine legis-lativen und exekutiven Prozesse und Organe handeln . Dies zeigt sich bei-spielsweise in Gerichten und bei Abstimmungen in Parlamenten . Der Staat hat zudem zweitens interne Entscheidungsmechanismen in Form einer Ver-fassung und den in Gesetzen beschriebenen Prozesse . Ohne diese diversen Elemente staatlichen Handelns in Form seiner Organe und Prozesse wäre der Staat gar kein Staat (vgl . Held 1987) .

Dies alles bedeutet nun nicht, dass der Staat der einzige kollektive Agent sein muss, der fähig ist, soziale Koordination zu liefern . Diese Aufgabe kön-nen auch Vereine, Kirchen und andere zivilgesellschaftliche Institutionen übernehmen . Aus zwei faktischen Gründen sollte die Letztverantwortung für gesellschaftliche Inklusion aber beim Staat liegen . Erstens hat der Staat das Monopol legitimer Gewalt und darf daher in eng begrenzten Bereichen Zwang auf die Bürger ausüben . Zweitens ist der Staat in gewissem Sinne al-len anderen Organisationen und Institutionen innerhalb eines Territoriums (üblicherweise des Nationalstaates) vorgeschaltet und prägt somit die Legiti-mität anderer – beispielsweise zivilgesellschaftlicher oder arbeitsmarktlicher – Organisationen und Institutionen . Faktisch sind diese Gründe deshalb, weil zumindest liberale demokratische Gesellschaften in dieser Weise gestal-tet sind . Daher gibt es zumindest in diesen Gründe, dem Staat die Verant-wortung auch faktisch zu übertragen .

Vor dem Hintergrund der bislang getätigten Überlegungen hat der Ein-wand, wonach niemand dazu verpflichtet werden kann, ein mögliches Recht nach Inklusion umzusetzen, Kraft verloren . Denn Menschen werden ja nicht gezwungen, alleine und isoliert Verantwortung zu übernehmen . Sie haben vielmehr auf einer abstrakten Ebene, als Bürger einer Gesellschaft, welche die Institutionen der Gesellschaft mitbestimmen, die Möglichkeit und auch die Pflicht, Rechte umzusetzen . Dieses Handeln können sie zwar aus norma-tiven Gründen der Überforderung sowie aus pragmatischen Gründen an den Staat delegieren, es entbindet sie aber insofern nicht von der individuellen Verantwortung, als sie immer Bürger eines betreffenden Staates sind . Als solche tragen sie qua Bürgerstatus – wenn auch kollektiv – Verantwortung für staatliches Handeln .

Genau genommen wurde damit aber nur die zweite mögliche Entschul-digung, wonach es nicht an Individuen liege, etwas zu tun, entkräftet . So konnte gezeigt werden, dass aufgrund eines pragmatischen und eines norma-tiven Arguments die Pflicht vom Staat ausgeführt wird . Die zweite Entschul-digung aber, wonach Individuen (oder auch der Staat) nicht verpflichtet wer-

Das Recht auf Inklusion 243

den sollten, die Inklusion behinderter Menschen umzusetzen, ist damit nicht angetastet . Der Grund ist folgender: Die Entschuldigung wendet sich im Grunde genommen nicht gegen die Frage, ob Individuen oder nicht viel-mehr Staaten oder andere kollektive Agenten Träger der Pflichten sind, son-dern gegen die Pflicht als solche . Wie sich im nächsten Schritt (Abschnitt 7 .3) noch zeigen wird, können tatsächlich bestimmte Güter, die mit Inklusion in Verbindung stehen, beispielsweise Freundschaften, nicht über Rechte abge-sichert werden .

Gegnern, die darauf hinweisen, dass sich diese Güter, unter ihnen soziale Gefühle wie Empathie, Solidarität oder Liebe, eben gerade nicht verpflichten lassen, ist daher zuzustimmen . Im Folgenden wird sich zeigen, wie sich dies auf das Recht nach Inklusion auswirkt .

7 .3 Das Interesse an Nicht-Exklusion und an Inklusion

Die Inhalte des moralischen Rechts auf Inklusion speisen sich aus der Bedeu-tung der Interessen nach Inklusion respektive deren Beitrag für ein gutes menschliches Leben . Dabei können zwei Ebenen von Interessen unterschie-den werden . Die erste Ebene ist diejenige von Bedürfnissen . Die Nichtbe-friedigung derselben ist für alle Menschen mit Leiden verbunden . Die zwei-te Ebene kennzeichnet Pläne und Ziele nach Inklusion . Diese Interessen widerspiegeln den Charakter und die spezifischen Eigenheiten von Men-schen und sind daher auch bei jedem Menschen an andere partikulare Le-bensbereiche respektive spezifischen Ausgestaltungen derselben gebunden . Leiden misst sich hier einerseits qualitativ an der Frage, wie wichtig und bedeutsam ein spezifischer Plan oder ein Ziel für ein bestimmtes Individuum ist . Andererseits misst es sich daran, aus wie vielen partikularen Lebensberei-chen jemand ausgeschlossen ist . Das ist der quantitative Aspekt .13

Menschen können bezüglich Inklusion grundsätzlich zwei Arten von In-teressen haben: erstens ein Interesse, aus einem bestimmten Bereich, vom Genuss eines bestimmten Gutes oder einer bestimmten Beziehung nicht ex-kludiert zu sein . Dies ist mit anderen Worten ein Interesse an Nicht-Exklusion . Zweitens gibt es ein Interesse, in bestimmte Lebensbereiche, Beziehungen

13 Menschen mit Behinderung, so zeigen empirische Ergebnisse und Erfahrungen, sind oft-mals in beiderlei Hinsicht Risiken ausgesetzt: Ihre sozialen Netzwerke sind (quantitativ) kleiner und (qualitativ) ärmer (vgl . Seifert, Fornefeld und Koenig 2001) .

244 Inklusion und Gerechtigkeit

oder den Genuss bestimmter Güter inkludiert zu sein . Dies ist ein Interesse an Inklusion . Beide Arten von Interessen können sowohl mit Bedürfnissen wie auch mit Plänen und Zielen von Menschen einhergehen .

Im Folgenden möchte ich untersuchen, ob es ein Recht gibt, das beide Interessen abdeckt . Da das erste Interesse an Nicht-Exklusion zweifelsohne weniger anspruchsvoll ist, soll als erstes die Frage thematisiert werden, ob dieses Interesse durch ein Recht geschützt werden kann .

7 .3 .1 Das Recht auf Nicht-Diskriminierung

Die Forderung, nicht ungerechtfertigterweise exkludiert zu werden, meint das Verlangen, nicht aufgrund eines Merkmals horizontaler Ungleichheit – zu denen neben einer Schädigung auch Alter, ethnische Zugehörigkeit oder sexuelle Orientierung zählen können – von bestimmten Lebensbereichen oder dem Erwerb bestimmter Güter ausgeschlossen oder darin benachteiligt zu sein .14

Der Begriff, das Konzept und die Folgen von Diskriminierung

Diskriminierung bezeichnet einen Unterschied in einer Behandlung oder einer Verteilung von Gütern zwischen Menschen, der ungerechtfertigt ist .15 Dieser Unterschied ist deshalb ungerechtfertigt, weil moralisch unbedeuten-

14 Bezogen auf Behinderung ist die Forderung, dass niemand aufgrund seiner Behinderung diskriminiert werden darf, mittlerweile anerkannter Teil von Anti-Diskriminierungsgeset-zen vieler Staaten, beispielsweise dem American with Disabilities Act (ADA), dem Diskri-minierungsverbot in der Schweizerischen Bundesverfassung (Art . 8, Abs . 2), des Benach-teiligungsverbots in der Deutschen Bundesverfassung (Art . 3, Abs . 3), des Antidis- kriminierungsrechts im Europäischen Recht (Art . 13) sowie diverser ergänzender Gleich- stellungsgesetze, beispielsweise dem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (BBG, Deutschland), dem Bundesgesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Be-hinderungen (BGStG, Österreich) oder dem Bundesgesetz über die Beseitigung von Be-nachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG, Schweiz) . Antidiskriminie-rungsgebote und Gleichstellungsgebote werden zwar oft synonym verwendet, unterscheiden sich aber in einem zentralen Punkt . Erstere beziehen sich nämlich auf einen zivilrechtli-chen Kontext und regeln damit das Verhältnis von Bürgern untereinander . Letztere sind Gesetze des öffentlichen (Verwaltungs-)Rechts und regeln das Verhältnis zwischen Bür-gern und Staat .

15 Dies ist ein normativer Diskriminierungsbegriff . In einer neutralen, deskriptiven Verwen-dungsweise meint Diskriminierung Unterscheidung .

Das Recht auf Inklusion 245

de Verschiedenheiten zwischen Menschen als Grund für eine ungleiche oder herablassende Behandlung von Menschen sowie die ungleiche Verteilung von Lasten und Vorteilen angegeben wird (vgl . Boshammer 2008, S . 323) .16 Solche Unterschiede können beispielsweise das Merkmal Behinderung be-treffen, aber auch andere Faktoren horizontaler Ungleichheit, wie ethnische Zugehörigkeit, Herkunft, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder sexuelle Orientierung .17 Da diese Merkmale als Gründe für eine ungleiche und schlechtere Behandlung von Menschen herangezogen werden, ist damit – implizit oder explizit – eine Abwertung dieser Merkmale verbunden .18

Abwertungen können sich in sozialen Vorurteilen, Verunglimpfungen, Ungleichbehandlungen, Benachteiligungen, aber auch Exklusion oder Sepa-ration zeigen . Die negative Beurteilung oder Behandlung von Menschen, die mit der Diskriminierung verbunden ist, kann dabei sowohl als Beweggrund wie auch zur nachträglichen Rechtfertigung derselben dienen . Diskriminie-rung hat somit die Benachteiligung, die Herabsetzung oder die soziale Ex-klusion der Betroffenen zum Ziel und zur Folge .

Direkte und indirekte Diskriminierung

Beim Phänomen der Diskriminierung kann man direkte und indirekte Dis-kriminierung unterscheiden . Erstere ist auf ein beabsichtigtes Ziel einer un-gleichen und herablassenden Behandlung von Menschen sowie einer unglei-chen Verteilung von Gütern gerichtet . Bei indirekter Diskriminierung ist dies zwar nicht als Ziel intendiert . Sie ergibt sich aber als Nebeneffekt .

Eine direkte Diskriminierung, bei der die Abwertung direkt intendiert und unmittelbar mit den Merkmalen von Menschen verbunden ist, ist mit einer Moral der gleichen Achtung, welche heutige Demokratien auszeichnet, nicht mehr zu vereinbaren (vgl . Gosepath 2004, S . 128ff .) . In modernen, li-beralen und demokratischen Gesellschaften geht man nämlich davon aus, dass Menschen moralisch Gleiche sind, dass es, mit anderen Worten, keine

16 Diese Unterschiede können auch auf einen bestimmten Kontext bezogen irrelevant sein . So ist eine Paraplegie beispielsweise im Kontext der Arbeit eines Telefonisten nicht bedeut-sam .

17 Diese Diskriminierungsmerkmale werden beispielsweise vom European Anti-Discrimina-tion Council (Europäischer Diskriminierungsrat) EAC genannt (siehe www .eacih .org) .

18 Der Grund für die Diskriminierung muss in diesem Merkmal liegen (beispielsweise dem Geschlecht der Person) und nicht in irgendeinem Faktor, der zufällig mit dem relevanten Merkmal verbunden ist, wie zum Beispiel Körpergröße oder -stärke (vgl . Warren 1993) .

246 Inklusion und Gerechtigkeit

vorausgehenden Wertunterscheidungen zwischen Menschen geben darf . Und diese Annahme moralischer Gleichheit verbietet eine Abwertung von Menschen aufgrund bestimmter Merkmale horizontaler Ungleichheit wie beispielsweise Rasse, Geschlecht oder Schädigung .

Als indirekte Diskriminierung bezeichnet man demgegenüber Handlun-gen, Haltungen und Praktiken, die aufgrund ihrer Folgen für Menschen benachteiligend sind, obgleich das Merkmal selbst nicht als Grund für die Diskriminierung angeführt wird (vgl . Warren 1993) . Beispielsweise sind Rollstuhlfahrer, welche Schalter in öffentlichen Gebäuden nicht erreichen können, indirekt diskriminiert . Die Diskriminierung bedeutet in dem Fall nicht direkt eine Abwertung ihrer körperlichen Schädigung, aber eine indi-rekte durch die nicht zu überwindenden Treppenstufen . Faktisch sind daher Rollstuhlfahrer, welche vom Zugang zu öffentlichen Gebäuden oder wichti-gen Dienstleistungen ausgeschlossen sind, indirekt diskriminiert, selbst wenn kein direkt intendierter Ausschluss und damit keine direkte Diskriminie-rung festzustellen sind .

Die indirekte Form von Diskriminierung wird nicht deshalb indirekt oder sekundär genannt, weil sie weniger verbreitet oder weniger schädlich wäre, sondern weil sie erstens verdeckt (indirekt) ist und sich zweitens para-sitär zur direkten Diskriminierung verhält . Letzteres bedeutet, dass die von ihr geformten Ungerechtigkeiten sich meist auf eine direkte Diskriminie-rung zurückführen lassen (vgl . Boshammer 2008) . Sie sind unfair, weil die sozialen oder gesellschaftlichen Umstände, welche die diskriminierenden Auswirkungen der Verfahrensweisen erklären, selbst moralisch unannehm-bar oder auf moralisch unannehmbare Verfahrensweisen zurückzuführen sind . Diese Auswirkungen verstärken bereits bestehende soziale Ungerech-tigkeiten . Zudem tendieren Verfahrensweisen häufig dazu, jene Umstände, die diskriminierenden Auswirkungen zugrunde liegen, zu verstärken und zu zementieren . Sie erzeugen dadurch einen Teufelskreis (vgl . Warren 1993) .19

19 Damit geraten strukturelle und historische Bedingungsfaktoren in den Fokus der Überle-gungen . Diskriminierung wird damit auch zu einem institutionellen Phänomen, das sich in sozialen Hierarchien, fehlenden Ressourcen und Strukturen zeigen kann und damit auch unabhängig von subjektiven Einstellungen und individuellem Verhalten existiert . Diese indirekte und auch strukturelle Diskriminierung weist auf die Institutionen der Gesellschaft, welche – auch historisch gesehen – den Interessen bestimmter Gruppen der Gesellschaft, beispielsweise Menschen mit Behinderung, nicht angepasst sind . Insofern soziale Strukturen miteinander verknüpft sind, kommt es daher auch immer wieder zu so genannten Nebeneffekten, zu Auswirkungen direkter Diskriminierung in einem Bereich der Gesellschaft, beispielsweise im Bildungsbereich .

Das Recht auf Inklusion 247

Die Bedeutung von Relevanzkriterien

Welche Ungleichbehandlungen sind nun aber diskriminierend? Jedes Dis-kriminierungsurteil bezieht sich mindestens implizit auf Relevanzkriterien, an denen sich die Rechtfertigung der jeweiligen (Un-)gleichbehandlung misst . Diese Relevanzkriterien sind nun aber umstritten . Zunächst einmal können es sachliche Kriterien sein . Diskriminierende Kriterien wären dem-zufolge Kriterien, die nichts zur Sache beitragen . Nun kann man sich aber leicht Situationen vorstellen, in denen die entsprechenden Merkmale durch-aus sachlich relevant sind, beispielsweise wenn ein Reiseveranstalter befürch-ten muss, dass nicht behinderte Kunden ausbleiben, wenn er behinderte Menschen an seinen Reisen teilnehmen lässt . Die Ablehnung eines behin-derten Reisegasts wäre demnach nicht diskriminierend . Dennoch würden die meisten Menschen eine solche Behandlung gerade deshalb als diskrimi-nierend beurteilen, weil die Folgen für das betroffene Individuum schlimm sein können .20

Das Dilemma lässt sich eventuell lösen, wenn man die für einen Diskri-minierungsvorgang notwendigen Relevanzkriterien nicht deskriptiv, sondern normativ versteht (vgl . Boshammer 2008, S . 237) . Relevant wären demnach Eigenschaften, die vor dem Hintergrund der Annahme moralischer Gleich-heit nicht relevant sein sollten . Es ist allerdings eine offene Frage, ob die Behinderung eines Gastes ein solches irrelevantes Kriterium darstellt oder nicht . Immerhin können andere Gäste aussagen, ihr Wohlbefinden sei ange-sichts eines Menschen mit Behinderung in relevanter Hinsicht gestört gewe-sen, beispielsweise wenn dieser des Öfteren laut geschrien hatte .

Die Frage weist darauf hin, dass nach wie vor umstritten sein kann, um welche Merkmale es sich genau handeln soll . Dies ist selbst dann der Fall, wenn man die Kriterien normativ und nicht deskriptiv versteht . Ein Kon-sens besteht aber darin, dass es Eigenschaften betrifft, die vom Individuum

20 Hierzu gibt es beispielsweise das sogenannte Flensburger Urteil von 1992 . In diesem wurde einem Reisenden Schadenersatz zuerkannt, da sich in dem von ihm gebuchten Hotel Menschen mit Behinderung als Gäste befanden, durch welche er sich gestört sah . Das Gericht sah es damals als erwiesen an, dass die durch die Menschen mit Behinderung hervorgerufene ›Störung‹ einen Reisemangel darstellte (vgl . Welti 2005, S . 730) . Dieses Rechtsurteil hatte weitreichende Folgen für die betroffenen Menschen, selbst wenn es nicht in direkter, sondern nur in mittelbarer Weise über die Teilnahmechancen behinder-ter Menschen entschied . Indirekt und mittelbar war es, weil Toleranz und Rücksichtnah-me, die ja eigentlich wechselseitig sind, einseitig von den behinderten Menschen gefordert wurden .

248 Inklusion und Gerechtigkeit

nicht freiwillig gewählt wurden und/oder von ihm nicht abgelegt werden können . Diskriminierung wäre somit eine (sachlich) ungerechtfertigte Un-gleichbehandlung von Personen aufgrund von Eigenschaften, für die der Einzelne entweder nichts kann oder die er oder sie nur bedingt ändern kann . Genau dies würde für eine Behinderung respektive den Aspekt einer Schädi-gung wie auch bestimmter Beeinträchtigungen, die sich in ungewöhnlichen Formen der Kommunikation äußern können, gelten .

Nun kann der Einzelne aber für Intelligenz, Begabung oder Attraktivität bis zu einem gewissen Grad auch nichts . Dennoch wird eine Ungleichbe-handlung von Menschen aus diesen Gründen in der Regel nicht als diskrimi-nierend bezeichnet .21 Diskriminierungsmerkmale müssen also durch ein weiteres Attribut ergänzt werden . In einer Konzeption, die an Überlegungen anknüpft, wonach behinderte Menschen eine sozial benachteiligte Gruppe darstellen, werden die oben genannte Fälle wie Intelligenz, Begabung oder Attraktivität ausgeschlossen . Demzufolge richtet sich Diskriminierung zwar gegen Individuen, aber nur weil und insofern sie Mitglieder einer sozial stig-matisierten und benachteiligten Gruppe sind, beispielsweise der ›Behinder-ten‹ . Entscheidend ist also nicht in erster Linie eine unfreiwillige Eigenschaft als solche, sondern die Zuschreibung im Zuge der Gruppenzugehörigkeit . Für den Fall von Behinderung würde dies beispielsweise bedeuten, dass eine Zuschreibung mangelnder Begabung oder Intelligenz in Folge einer Grup-penzugehörigkeit stattfinden würde . Die abwertende, schlechtere Behand-lung behinderter Gäste in einem Hotel wäre demnach unter anderem des-halb eine Diskriminierung, weil sie ihnen, überdurchschnittlich oft und stark, als Mitglieder einer sozial benachteiligten Gruppe zukommt . Folgt dieser Zuschreibung eine Benachteiligung, beispielsweise in der Verteilung von Ressourcen, spricht man von Allokation qua Askription (vgl . Boshammer 2008, S . 237) .

Diskriminierung ist, wie bereits angedeutet, sowohl aufgrund des Vor-gangs als auch aufgrund der Folgen für das Individuum moralisch schlecht . Genau dies hat die Differenz zwischen primärer und sekundärer Diskrimi-nierung gekennzeichnet . Erstens schädigt Diskriminierung Individuen und bestimmte Gruppen selbst . Sie beeinträchtigt zweitens aber auch das Zusam-menleben von Menschen in der Gesellschaft nachhaltig negativ . Auf der in-

21 Vielmehr würden wir die Tatsache, dass einige Menschen attraktiver oder intelligenter sind als andere in der Regel als Lotterie der Natur bezeichnen, die zwar im Einzelfall durchaus negative Folgen für das Leben von Individuen haben kann, ohne weitere Zusatz-annahmen aber nicht per se ein Fall sozialer Gerechtigkeit darstellt, da sie nicht auf das absichtsvolle Handeln von Menschen zurückgeführt werden kann .

Das Recht auf Inklusion 249

dividuellen Ebene werden Menschen die Güter – beispielsweise Rechte, Bildungschancen, Arbeitsplätze, aber auch soziale Wertschätzung – wegge-nommen oder vorenthalten, die sie benötigen würden, um ein gutes Leben zu führen .22

Ob diese Argumentation einleuchtend ist, misst sich allerdings daran, ob dargestellt werden kann, dass die (erwarteten) Folgen von Diskriminierung auch tatsächlich substanzielles Leiden auslösen . Man muss daher zeigen kön-nen, dass die Folgen erstens eintreten und dass sie zweitens eine Folge der Diskriminierung sind . Bezogen auf das Hotelbeispiel würde das bedeuten, dass aufgezeigt werden muss, dass die Gäste mit Behinderung tatsächlich in substanziellem Sinn leiden und dass diese Reduktion des Wohlergehens im Vorgang einer Diskriminierung durch andere Gäste begründet ist .

Nun weist eine Argumentation, die über die Folgenfokussierung von Diskriminierung hinausgeht, darauf hin, dass beim Vorgang der Diskrimi-nierung bereits grundlegende moralische Prinzipien verletzt werden . Aus diesem Grund, unabhängig von den Folgen, ist Diskriminierung schlecht, wie Paul Woodruff (1976) argumentiert . Jede Diskriminierung bedeutet dem-nach eine Missachtung der betroffenen Menschen, insofern sie deren Be-handlung von den Vorurteilen anderer Menschen abhängig macht . Der dis-kriminierte Mensch wird nicht als Individuum wahrgenommen, sondern auf ein bestimmtes Merkmal reduziert, das dazu auch noch die Grundlage für ein Unwert-Urteil bildet . Ein solcher Vorgang aber ist mit der gleichen Wür-de aller Menschen und der Achtung vor dieser Würde, auf die sich liberale, demokratische Staaten verpflichtet haben, nicht zu vereinbaren . Auch wer-den die Rechte jedes Menschen auf gleiche Berücksichtigung seiner Interes-sen sowie seiner Behandlung als Gleicher verletzt . Was aber ist damit gemeint und wie ist der Bezug zu Behinderung zu sehen?

Die Forderung moralischer Gleichheit

Das Benachteiligungsverbot und das Diskriminierungsverbot ergeben sich aus dem Gebot der moralischen Gleichheit aller Menschen . Dies meint nun nicht, dass Menschen deskriptiv gleich wären . Das würde unserer alltägli-chen Erfahrung widersprechen . Menschen unterscheiden sich unserer Wahr-

22 Diskriminierung ist daher weit über das Ergebnis von Verteilungsfragen hinaus relevant, wie Young (2002) zeigt . Auch Fragen von Macht in Prozessen der Verteilung oder die Frage, wer überhaupt Subjekt der Verteilung bestimmter Güter ist, sind zentral .

250 Inklusion und Gerechtigkeit

nehmung nach hinsichtlich fast jeden Merkmals, das man vergleichen kann: hinsichtlich des Aussehens, der Sprache, der Ziele und Pläne, des Geschlechts, der Nationalität und so weiter . Darüber hinaus wollen Menschen auch nicht gleich sein wie andere, sie legen im Gegenteil viel Wert darauf, sich von an-deren zu unterscheiden und in ihrer Einzigartigkeit, eben ihrer Differenz, wahrgenommen zu werden .

Die Auffassung, dass alle Menschen gleich sind, ist aber nicht deskriptiv, sondern normativ zu verstehen (vgl . Williams 1994) . Sie besagt im Kern, dass alle Menschen gleichermaßen Menschen sind . Dies ist nun zwar auf den ersten Blick tautologisch, aber nicht banal . Bezüglich Inklusion bedeutet es beispielsweise, dass Menschen jenseits spezifischer Pläne und Ziele auch Be-dürfnisse haben, mit anderen, ihnen nahe stehenden Menschen zusammen zu sein . Und es bedeutet auch, dass sie auf ein soziales Zusammenleben mit anderen Menschen und ein Leben in menschlicher Gemeinschaft konstitutiv angewiesen sind . Die normative Aussage, die sich auf eine gemeinsame Be-dürfnisstruktur des Menschen bezieht, kennzeichnet einen Bereich universa-listisch geteilter Interessen, die nicht angetastet werden dürfen, möchte man schweres menschliches Leiden verhindern .

Umkehrung der Beweislast

Angesichts der Folgen von Diskriminierung für die Betroffenen und der Tat-sache, dass bei einer Diskriminierung bereits wichtige moralische Prinzipien, insbesondere die moralische Gleichheit aller Menschen, verletzt werden, wird Diskriminierung begründungsbedürftig . Damit hat sich die Beweislast umgekehrt . Nicht mehr diejenigen, die diskriminiert werden, müssen auf-zeigen, dass sie unberechtigterweise ungleich behandelt werden, sondern die Diskriminierer müssen belegen, dass sie jemanden begründet ungleich be-handeln . Für den Fall behinderter Menschen bedeutet dies: Nicht mehr Menschen mit Behinderung tragen die Begründungslast des Nachweises von Diskriminierung . Vielmehr müssen Diskriminierer zeigen, dass die Unter-schiede in der Behandlung behinderter Menschen gerechtfertigt sind . Das heißt mit anderen Worten, dass eine Person oder eine Institution zeigen kön-nen muss, dass er oder sie die Interessen einer behinderten Person nach Nicht-Exklusion gerechtfertigterweise ungleich berücksichtigt .

Von dieser Warte aus lässt sich auch der Fall der Weigerung eines Hotels, einen Gast mit Behinderung aufzunehmen, anders beurteilen . Dies erstens,

Das Recht auf Inklusion 251

indem man auf die Folgen für das Individuum hinweist . Diese können unter bestimmten Umständen gravierend sein und mit schwerem Leiden, bei-spielsweise in Bezug auf die Selbstachtung, einhergehen . Schweres Leiden muss zweifelsohne aus Gründen der Gerechtigkeit vermieden werden . Zwei-tens, indem man auf den Vorgang blickt, der bereits von einer inhärenten Ungleichbehandlung und Missachtung gekennzeichnet ist . Drittens kann man einwenden, dass es sich im Falle der behinderten Hotelgäste nicht um beabsichtigte Ruhestörung gehandelt hat, an der sich andere Hotelgäste be-rechtigterweise stören könnten, sondern um bestimmte Formen von Kom-munikation, die es zumindest zu tolerieren gilt . Ein Hotelbesitzer könnte sich angesichts dieser drei Gründe höchstens mit der Begründung von der Pflicht zur Nicht-Diskriminierung entbinden, dass es gar nicht seine Pflicht sei, Interessen nach Nicht-Exklusion bei allen Menschen gleich zu berücksich-tigen . Dies deshalb, weil er als privates Unternehmen, ähnlich einer Gemein-schaft, exklusive Zugangskriterien für seinen Hotelbetrieb frei festlegen darf .

In Tat und Wahrheit ist das genannte Hotelbeispiel ein schwieriger Fall, der das Dilemma verkörpert, das ich bereits mehrfach angesprochen habe . Die hohen Interessen und potenziell schädigenden Folgen für Individuen stehen der Freiwilligkeit, aber auch der potenziellen Überforderung von In-dividuen (wie auch kleineren Korporationen wie Hotels) gegenüber . Das Dilemma kann nur gelöst werden, wenn sich Hotels auf vertragsbasierter Basis, möglicherweise angeregt durch den Staat, freiwillig wechselseitig zur Nicht-Diskriminierung verpflichten und auch Ausnahmen von der Pflicht vertraglich festlegen . Uneingeschränkt, da keine möglichen Entschuldigun-gen legitim sind, gelten Nicht-Diskriminierungsrechte daher nur für die ge-sellschaftliche Sphäre .

Die Grenze von Nicht-Diskriminierung: Vertikale Ungleichheit

Die Frage stellt sich nun an dieser Stelle, ob das genügt . Deckt das Recht auf Nicht-Diskriminierung beide Interessen ab, um die es im vorliegenden Fall geht: das Interesse auf Nicht-Exklusion wie das Interesse auf Inklusion? Es ist naheliegend anzunehmen, dass dem nicht so ist .

Erstens deckt das Recht auf Nicht-Diskriminierung bereits das Interesse nach Nicht-Exklusion nicht in jeder Auslegung vollständig ab . Genau ge-nommen deckt es nur diejenigen Fälle ab, in denen jemand aufgrund eines

252 Inklusion und Gerechtigkeit

Faktors horizontaler Ungleichheit ungerechtfertigterweise aus einem gesell-schaftlichen Kontext oder dem Genuss gesellschaftlicher Güter ausgeschlos-sen ist . Mit dem Recht auf Nicht-Diskriminierung ist das Gebot der Gleichbe handlung verbunden . Damit wird verhindert, dass Menschen mit Behinderung alleine aufgrund ihrer Schädigung anderen Bürgern gegen-über schlechter gestellt sind .

Das Recht auf Nichtdiskriminierung kann aber die Fälle nicht abdecken, in denen jemand aus einem bestimmten Kontext aufgrund intrinsischer Fak-toren ausgeschlossen bleibt, beispielsweise, weil seine Schädigung und die sich daraus ergebenden Lebensbeeinträchtigungen so groß sind, dass jemand unter allen möglichen Umweltbedingungen aus vielen Lebenskontexten aus-geschlossen bleibt . Darüber hinaus, und für Fragen der Gerechtigkeit un-gleich brisanter, sind auch all jene Fälle nicht abgedeckt, in denen eine B eeinträchtigung zu vertikaler Ungleichheit und damit verringerten Teilha-bechancen in der Gesellschaft, beispielsweise in Bereichen der Bildung, Ar-beit oder Freizeit, führt . Der Mangel an Gütern, wie sie Bildung, Arbeit oder Freizeit darstellen, ist aber nicht auf eine ungleiche Behandlung zurückzu-führen . Vielmehr kann sie mit einer gleichen Behandlung gerade legitimiert werden . Was beispielsweise querschnittgelähmte Menschen in Kamerun brauchen sind nicht gleich viele, sondern mehr und vor allem andere Güter als andere Bürger, beispielsweise einen Rollstuhl . Der Hinweis darauf, sie hätten ja gleich viele Güter erhalten, kann daher ihre soziale Lage verschlim-mern . Dies ist unter anderem ein Aspekt, auf den der Capability-Ansatz hinweist .

Zwar ist es möglich, diese Fälle als Diskriminierung zu beschreiben . Es ist aber aus zwei Gründen überzeugender, das nicht zu tun . Der erste Grund ist pragmatischer Art und besagt, dass man im Falle einer Ausweitung auf verti-kale Ungleichheit sehr viele Fälle als Diskriminierungsfälle beschreiben muss . Unter ihnen sind auch viele Fälle, die nichts – im engeren Sinn – mit Diskri-minierung zu tun haben . So ist beispielsweise jemand, der aufgrund einer Umweltkatastrophe mittellos und unterernährt ist, nicht zwangsläufig dis-kriminiert . Er ist es höchstens dann, wenn er darlegen kann, dass er auf-grund bestimmter Faktoren horizontaler Ungleichheit (beispielsweise, weil er eine Schädigung hat) von der nach der Hungersnot einsetzenden Nah-rungsmittelzufuhr ausgeschlossen wurde . Das Faktum, mittellos und unter-nährt zu sein, ist selbst aber kein Resultat vorgängiger Diskriminierung, auch wenn die Folgen dieser Umweltkatastrophe für das Individuum schwierig und mit Leiden verbunden sind . Alle leidvollen Folgen für das Individuum

Das Recht auf Inklusion 253

als Diskriminierung zu bezeichnen, würde den Diskriminierungsbegriff aber über Gebühr strapazieren und ihn in der Folge verflachen lassen .

Der zweite Grund ist ein normativer und weist bereits auf das Interesse nach Inklusion . Vielfach liegt der Grund, weshalb jemand aus einem be-stimmten Lebensbereich ausgeschlossen ist, in Faktoren vertikaler Ungleich-heit, beispielsweise Armut, mangelnder Bildung oder fehlender Arbeit, oftmals auch in Verbindung mit Faktoren horizontaler Ungleichheit, bei-spielsweise einer Schädigung . Die Forderung, die sich aus dieser Benachtei-ligung, die zum Ausschluss führen kann, ergibt, ist aber nicht die nach Nicht-Diskriminierung, sondern die nach Hilfe, Unterstützung, externen Ressourcen oder der Veränderung struktureller Zugangsbedingungen . Diese Forderung ergibt sich auch aus dem Interesse nach Inklusion respektive dem Interesse, in einen bestimmten gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Kontext eingeschlossen zu sein . Insofern sich aus beiden Interessen zu weiten Teilen dieselbe Forderung ergibt, deutet sich ein relativ großer Schnittbe-reich beider Interessen an . Mit anderen Worten: Das Interesse nach Nicht-Exklusion ist teilweise deckungsgleich mit dem Interesse nach Inklusion . Der Unterschied der beiden Forderungen liegt einzig darin, dass die eine (nach Nicht-Exklusion) negativ formuliert ist, während die andere (nach In-klusion) positiv artikuliert ist .

Das Interesse nach einer Behandlung als Differenter

Es lässt sich weiter zeigen, dass die Interessen nach Inklusion nicht durch das Recht auf Nicht-Diskriminierung abgedeckt werden können . Dies ist unter anderem deshalb nicht möglich, weil Menschen nicht nur ein Interesse nach Gleichbehandlung haben, sondern auch ein Interesse, als Differente behan-delt zu werden . In Bezug auf Inklusion zeigt sich das in den spezifischen Plänen und Zielen, die Menschen haben, und die sich beispielsweise im Wunsch, einer bestimmten Gemeinschaft anzugehören, ausdrücken können . Auch in der Bedeutung von Freiheit für Inklusion hat sich gezeigt, dass Men-schen in ihrer Differenz wahrgenommen und anerkannt werden wollen, aber auch, dass sie (vor allen Dingen positive) Freiheit zu ihrer Inklusion benöti-gen .

Das Interesse, als Differente wahrgenommen zu werden, kann sich in verschiedenen Formen zeigen: Erstens wollen Menschen als liebenswerte Wesen partikular anerkannt werden . Zweitens möchten sie als Wesen aner-

254 Inklusion und Gerechtigkeit

kannt werden, die soziale Wertschätzung verdienen und erhalten . Drittens wollen sie substanzielle Freiheiten haben, ihre partikularen Pläne und Ziele nach Inklusion umsetzen zu können . Alle diese Aspekte entsprechen parti-kularen Interessen . Diese partikularen Interessen beziehen sich nun aber nicht nur auf das Verhalten einzelner, anderer Individuen, auf Organisatio-nen oder Institutionen, sie beziehen sich vielmehr direkt auf Gemeinschaften und Gesellschaften, in denen Inklusion umgesetzt wird .

Im Folgenden möchte ich aufzeigen, wie sich ein solches Recht auf Inklu-sion, ausgehend von den Interessen nach Inklusion, formulieren ließe . Wie sich zeigen wird, deckt dieses Recht die Interessen aber nicht direkt, sondern nur indirekt ab, indem es deren Voraussetzungen sicherstellt .

7 .3 .2 Das Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion

Zwei Formen eines möglichen Rechts auf Inklusion

Das Recht auf Nicht-Diskriminierung deckt die Interessen nach Nicht-Ex-klusion ab, allerdings deckt es nicht bereits auch das Interesse nach Inklusion ab, wie ich vorhin aufgezeigt habe . Die Frage ist daher, ob dies über ein po-sitives Recht auf Inklusion möglich ist .

Ein positives Recht auf Inklusion kann zwei Formen annehmen: eine direkte, starke Form oder eine schwächere, indirekte Form . Ersteres wäre ein direktes Recht auf Inklusion, letzteres ein indirektes, das die Voraussetzun-gen oder Ermöglichungsbedingungen von Inklusion umfasst . Indirekt wäre dieses Recht deshalb, weil es das Interesse nach Inklusion nicht direkt ab-deckt .

Wie sich zeigen wird, kann nur ein indirektes Recht auf Inklusion vertei-digt werden . Die Gründe dafür liegen in den Grenzen des Rechts auf Inklu-sion . Daher will ich im Folgenden als erstes auf die Grenzen eingehen . Daran anschließend lässt sich zeigen, welche Inhalte sich aus dem positiven Recht auf Inklusion ergeben . Abschließende Gedanken widmen sich der Frage, welche Interessen nach Inklusion mit einem Recht geschützt werden kön-nen .

Das Recht auf Inklusion 255

Die Grenzen des Rechts auf Inklusion

Die Grenzen des moralischen Rechts auf Nicht-Exklusion und Inklusion liegen in der Struktur und Natur von Gemeinschaften sowie in den sozialen Gefühlen, die mit diesen Formen von Inklusion verbunden sind . Ein Recht auf Inklusion in Gemeinschaften kann insbesondere aus zwei spezifischen, mit der Natur von Gemeinschaften zusammenhängenden Gründen nicht verteidigt werden .

Erstens konfligiert es in offensichtlicher Weise mit der Assoziationsfrei-heit von Gemeinschaften . Die Assoziations-, Versammlungs- oder Vereini-gungsfreiheit erfährt nämlich in liberalen Gesellschaften besonderen Schutz . Demnach sind Gemeinschaften solange frei, ihre Zwecke zu bestimmten, als diese nicht moralisch schlecht sind und/oder jemanden in der Ausübung wichtiger Interessen schädigen .23 Assoziationsfreiheit ist ein negatives Recht . Es schützt erstens die Freiheit des Einzelnen, sich mit anderen zusammen zu schließen, und zweitens die Freiheit, auf Zugehörigkeit zu einer Gemein-schaft zu verzichten oder aus ihr auszutreten (vgl . Boshammer 2003, S . 79) . Aus Sicht von Gemeinschaften bezeichnet die Assoziationsfreiheit das Recht, Mitglieder auswählen zu können und darüber hinaus in der Wahl der Zwek-ke, abgesehen von einigen Ausnahmen, frei zu sein . Aufgrund des hohen Schutzes von Gemeinschaften durch die Assoziationsfreiheit respektive dem Assoziationsrecht ist es daher nicht möglich, ein direktes Recht auf Inklusion in Gemeinschaften zu verteidigen .

Zweitens sind Gefühle und affektive Einstellungen, welche ein zentrales Element von Gemeinschaften bilden, eben gerade nicht durch Rechte ein-klagbar . Liebe beispielsweise beruht zentralerweise auf der Idee von Freiwil-ligkeit . Niemand kann daher verpflichtet werden, jemanden zu lieben . Hans Reinders’ (2008, S . 42f .) Fazit ist daher zuzustimmen: »[…] it is important to see that rights claims, while necessary, are not sufficient to counteract ex-clusion simply because of the kinds of spaces they can open . In opening up institutional roles and public spaces they are crucial to our capacity as citi-zens . But rights cannot open up spaces of intimacy, which are the kinds of spaces where humans have their need of belonging fulfilled . Put simply, disa-bility rights are not going to make me your friend .« Rechte sind daher, so Reinders, wichtig, sie können aber das nicht abdecken, was aus dem simplen

23 Ausgeschlossen wären damit rassistische oder in anderer Weise die moralische Integrität anderer Menschen oder Gruppen von Menschen schädigende Gemeinschaften, beispiels-weise nationalsozialistische und rechtsradikale Vereinigungen .

256 Inklusion und Gerechtigkeit

Grund, konstitutiver Teil dieser Einstellung zu sein, freiwillig geleistet wer-den muss . Zu Gefühlen und affektiven Einstellungen wie beispielsweise Freundschaft oder Liebe gehört daher zwingend, dass sie aus ›freien Stücken‹ erbracht werden .

Die Ausrichtung des Rechts auf Inklusion

Ein direktes Recht auf Inklusion stößt daher da an Grenzen, wo es Gemein-schaften betrifft . Es stößt erstens deshalb an Grenzen, weil das Assoziations-recht von Gemeinschaften höher zu bewerten ist als das Recht eines Einzel-nen, zu dieser Gemeinschaft gehören zu können . Zweitens können auch affektive Einstellungen und Gefühle nicht über ein Recht abgesichert wer-den .24

Das Assoziationsrecht von Gemeinschaften gilt allerdings nicht für die gesellschaftliche Ebene von Inklusion . Hier ist der Bürger qua Bürgerstatus in die Gesellschaft mit ihren Rechten und Pflichten inkludiert, also auch der behinderte Mensch .25 Ausnahmen davon sind nur in Einzelfällen erlaubt und betreffen nie den gesamten Status als Bürger .26 So ist auch der behinder-te Mensch, egal wie schwer seine Beeinträchtigung ist, zumindest in libera-len und demokratischen Staaten immer in seiner Rechtsgleichheit, die auf der Annahme moralischer Gleichheit basiert, zu anderen Bürgern geschützt . Die Grundrechte, die verfassungsgemäss allen Bürgern zukommen, gelten daher in demokratischen Staaten auch für alle behinderten Menschen (vgl . Welti 2005, S . 556ff .) . Darüber hinaus kommen ihnen aufgrund ihrer spezi-ellen Situation besondere Rechte zu, die erst einmal den Status von morali-schen Rechten haben, während andere Bürgerrechte auch juridische Rechte

24 Darüber hinaus kann auch auf gesellschaftlicher Ebene nicht das Recht eingeklagt werden, sich über den faktischen Genuss von Bürgerrechten auch als Bürger fühlen zu können .

25 Insbesondere dem Wohlfahrtsstaat kommt dabei die Rolle der gesellschaftlichen Inklusi-onsinstanz zu . Der Wohlfahrtsstaat wirkt in zweierlei Hinsichten inklusiv: Erstens, indem er den Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen sichert, beispielsweise des Bildungswe-sens und des Gesundheitssystems . Damit sichert er das Gleichheitsgebot trotz materieller und wirtschaftlicher Ungleichheit ab . Zweitens garantieren bestimmte Standards materiel-le Teilhabe und sichern dabei einen Mindeststandard an sozialer und materieller Wohl-fahrt (vgl . Mohr 2007) .

26 Ausnahmen zeigen sich allerdings in einem Bereich, den ich nicht diskutieren kann, näm-lich den Status von Flüchtlingen respektive Asylsuchenden, denen in den Ländern, in die sie Zuflucht nehmen, nur reduzierte Bürgerrechte zukommen . Beispielsweise kommt ih-nen faktisch kein Stimm- und Wahlrecht zu .

Das Recht auf Inklusion 257

sind . Um die darüber hinausgehenden moralischen Rechte aufgrund der speziellen sozialen Situation geht es im vorliegenden Fall .

Ein spezielles Recht auf Inklusion kann aus zwei Gründen nur den Be-reich der Voraussetzungen oder Ermöglichungsbedingungen von Inklusion umfassen: Erstens, weil es nicht in der Lage ist, das Interesse nach gemein-schaftlicher Inklusion direkt zu schützen . Der normative Grund dafür liegt, wie ich aufgezeigt habe, in der Assoziationsfreiheit von Gemeinschaften . Da-mit begrenzt sich ein mögliches direktes Recht auf die gesellschaftliche Sphä-re . Nun zeigt sich aber, dass wichtige Teile gesellschaftlicher Inklusion bereits über allgemeine Bürger-, Freiheits- und soziale Rechte geschützt sind . Damit sind sie, jedenfalls sofern sie faktisch in liberalen, demokratischen Gesell-schaften auch geschützt sind, nicht gleichzeitig auch spezielle Rechte . In Ka-pitel 7 .1 habe ich aber aufgezeigt, dass sie Letzteres genau sein müssten, denn sie kommen behinderten Menschen aufgrund ihres sozialen Status zu . Wel-cher Bereich also bleibt noch für ein mögliches Recht auf Inklusion? Ein direktes Recht kommt offensichtlich nicht in Frage, weil es für den einen (gemeinschaftlichen) Bereich nicht verteidigt werden kann und im zweiten (gesellschaftlichen) Bereich über allgemeine Rechte bereits geschützt ist . Ein Recht auf Inklusion kann daher – aus pragmatischen und normativen Grün-den – nur ein indirektes Recht sein . Als solches schützt es aber nicht Inklusion direkt, sondern vielmehr die Voraussetzungen oder Ermöglichungsbedingun-gen von Inklusion . Was aber ist mit Voraussetzungen oder Ermöglichungsbe-dingungen für Inklusion gemeint?

Ermöglichungsbedingungen für Inklusion

Die Voraussetzungen von Inklusion können sich in verschiedenen Sphären manifestieren: erstens im Individuum selbst, zweitens in seiner personalen Umwelt, drittens in seiner gegenständlichen Umwelt sowie viertens in der sozialen Struktur der Gesellschaft (vgl . Wolff 2009) . Daraus ergeben sich vier verschiedene Betrachtungsebenen, auf denen sich die Inhalte des Rechts zeigen . Ermöglichungsbedingen umfassen erstens persönliche, interne Res-sourcen . Je nach Bereich der Inklusion sowie der Konstituierung dieser Be-reiche (partizipativ bis exklusiv) können diese beispielsweise Intelligenz, Körperstärke, Bildung oder psychische Stärke umfassen . Diese kann man zwar nicht technisch herstellen, man kann sie aber fördern . Zweitens bein-halten sie externe Ressourcen, darunter auch zielgerichtete Ressourcen in

258 Inklusion und Gerechtigkeit

Form von Renten, Rollstühlen, technischer Infrastruktur, Braille-Lesegerä-ten oder Hörgeräten, um einige Beispiele zu nennen .27 Drittens umfassen sie die interpersonale Dimension der Anerkennung . Viertens schließen sie Än-derungen in den Strukturen, beispielsweise Zugang zu Gebäuden und Dienst-leistungen, aber auch Änderungen in strukturellen Abläufen und Zugangs-bedingungen (beispielsweise bei Bildungsinstitutionen) ein (vgl . Laitinen 2003) . Gerade die strukturellen Bedingungen sind je nachdem mit weitge-henden Anpassungen verbunden, da sie, bildlich gesprochen, nicht die Stei-ne sind, mit denen jemand spielen kann, sondern die Spielregeln selbst betref-fen .

Im Folgenden möchte ich die Inhalte eines sozialen Anspruchsrechts auf die Voraussetzungen für Inklusion auf verschiedenen Ebenen kurz skizzie-ren . Die Art der Hilfe betrifft das Bereitstellen der adäquaten Hindergrund-bedingungen, die es der Person erlauben, ein selbst gewähltes, inklusives Leben zu führen (vgl . Raz 1986, S . 407) . Eine genaue Auslegung der Inhalte dieser Anspruchsrechte muss sich im Einzelfall zeigen und sowohl gegen ethisch-normative Überlegungen wie auch gegen sozialwissenschaftliche Er-kenntnisse verteidigt werden können . Die Ausführungen werden daher not-wendigerweise abstrakt bleiben .

7 .3 .3 Die Inhalte des Rechts auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion

Die persönliche, individuelle Ebene

Auf der persönlichen, individuellen Ebene haben Menschen mit Behinde-rung das Recht auf Hilfe und Unterstützung bei der Ausbildung und Aus-übung bestimmter, zu Inklusion notwendiger Fähigkeiten und Fertigkeiten . Dieses ist auf bestimmte Lebensbereiche bezogen, beispielsweise den Bil-dungs- oder den Arbeitsbereich . Im Fokus wären damit für einen bestimm-ten Bildungs- oder Arbeitsbereich notwendige Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es der Person erlauben, sich selbst zu inkludieren . Gerade auch, weil die Situation von Menschen mit Behinderung durch Stigmatisierung, Ausgren-zungserfahrungen und Benachteiligung sozial schwierig ist, ist ein besonde-

27 Zielgerichtete Ressourcen werden deshalb so genannt, weil sie auf einen bestimmten Zweck gerichtet sind . So darf beispielsweise ein Mensch mit Paraplegie den Rollstuhl, den er zur Herstellung seiner Mobilität erhält, nicht gegen drei Flaschen Château Mouton-Rothschild Jahrgang 1945 eintauschen .

Das Recht auf Inklusion 259

res Maß an individueller Stärke notwendig . Daher legitimiert sich auch die Forderung, Unterstützung bei der psychischen Bewältigung dieser Folgen zu erhalten .

Gemeinhin wird die Ausbildung dieser Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Gefühle in Kontexten von Bildung und Ausbildung, beispielsweise der Schu-le, aber auch der Familie, geleistet .28 Diesen Kontexten kommt daher in der Verwirklichung dieses Rechts besondere Bedeutung zu .

Die interpersonale Ebene

Auf der interpersonalen Ebene bedeutet das Recht auf die Voraussetzungen von Inklusion, dass Menschen mit Behinderung als moralisch Gleiche ge-achtet werden . Dies bedingt, dass man sie auf einer interpersonalen wie einer institutionellen Ebene als Personen mit gleichen (Grund-)Rechten betrach-tet, dies gebietet bereits das Recht auf Nicht-Diskriminierung . Das Recht auf Nicht-Diskriminierung äußert sich im zwischenmenschlichen Umgang nicht in einer Sonderbehandlung behinderter Menschen, es impliziert aber, dass beispielsweise behinderungsspezifische Ausdrucks- und Kommunikati-onsformen als solche wahrgenommen und nicht als Rücksichtslosigkeit an-gesehen werden .

Externe Ressourcen

Die Voraussetzungen gesellschaftlicher wie gemeinschaftlicher Inklusion sind zweifelsohne zu einem großen Teil von der Verfügbarkeit und Angemes-senheit externer Ressourcen abhängig . Daher besteht auch ein Recht auf den Erhalt der für Inklusion notwendigen externen Ressourcen . Externe Res-sourcen, die zu den Ermöglichungsbedingungen von Inklusion gehören, umfassen beispielsweise Hilfen pädagogischer Art, aber auch medizinische Rehabilitation oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (beispielsweise über den zweiten Arbeitsmarkt) . Darüber hinaus können auch Hilfen zur Förderung der Begegnung zwischen (behinderten wie nichtbehinderten)

28 Es ist eine offene Frage, ob die Familie aufgrund ihrer gemeinschaftlichen Struktur die Pflicht hat, ihren Angehörigen beim Erlernen und Anwenden dieser Fähigkeiten zu helfen oder nicht . Positionen, die dies bejahen, können die existenzielle Bedeutung des Kontexts der Familie für das gedeihliche Aufwachsen des Nachwuchses ins Feld führen . Die Gefahr einer solchen besonderen Pflicht für Angehörige ist aber ebenfalls nicht von der Hand zu weisen . Sie liegt nämlich, wie bereits erwähnt, darin, dass Individuen überfordert sein können .

260 Inklusion und Gerechtigkeit

Menschen gemeint sein, beispielsweise durch staatliche Unterstützung von Freizeitprogrammen, die explizit inklusiv gestaltet werden . Auch Fahrdien-ste, Assistenzen oder spezielle Kommunikationshilfen zählen zu den beson-deren Ausgestaltungen externer Ressourcen, welche zu den Ermöglichungs-bedingungen von Inklusion gezählt werden können, insofern Mobilität, Zugänglichkeit und Kommunikationsmöglichkeiten Voraussetzungen für Inklusion sind .

Gesellschaftliche und soziale Strukturen

Die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion umfassen zuletzt auch Ver-änderungen der gesellschaftlichen und sozialen Strukturen . Fragen der Zu-gänglichkeit, wie sie sich beispielsweise bezüglich Dienstleistungen, Technik oder bei Gebäuden sowie im öffentlichen Verkehr äußern, betreffen alle Menschen und werden in demokratischen Prozessen entschieden . Menschen mit Behinderung laufen Gefahr, aufgrund ihres Minderheitenstatus demo-kratisch übergangen zu werden . Insbesondere laufen sie Gefahr, intern ex-kludiert zu werden und damit zwar formal an Entscheidungsprozessen betei-ligt, de facto aber in ihren Anliegen nicht ernst genommen zu werden . Aus diesem Grund ist ihre gesellschaftliche Inklusion in Form demokratischer Beteiligung gefährdet . Die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion in diesem Bereich würden daher die explizite substanzielle (im Gegensatz zu bloß formaler) Berücksichtigung behinderter Menschen in demokratischen Entscheidungsprozessen bedeuten . Dies könnte sich beispielsweise so aus-drücken, dass sie explizit (im Sinne einer substanziellen und nicht bloß for-malen Chance) zu demokratischen Meinungsbildungsprozessen – beispiels-weise beim Bau neuer Fußballstadien, der Gestaltung neuer Verkehrsmittel sowie bei Reformen des Bildungswesens – eingeladen und angehört würden und darüber hinaus substanziell Einfluss auf die Entscheidungsfindung neh-men könnten .

Der Anspruch in der Bürgergesellschaft repräsentiert zu sein, ist deshalb so wichtig, weil diese das Forum für demokratische Willensbildungsprozesse bildet . Daher ist es wichtig, als Gleiche in diesen teilhaben zu können . Da behinderten Menschen oftmals die Fähigkeiten oder Güter zur Teilnahme an diesen Prozessen fehlen, müssen sie in einem ersten Schritt dazu befähigt werden (beispielsweise auch über die Bereitstellung von Techniken oder Dol-metschern, aber auch über Bildung) . Auch muss für diejenigen, welche sich

Das Recht auf Inklusion 261

selbst nicht vertreten können, eine stellvertretende Repräsentation gewähr-leistet sein (vgl . Hahn 2008, S . 164) .29

Nochmals: Die Grenzen des Rechts auf Inklusion

Auch wenn die Ermöglichungsbedingungen für Inklusion umfassend sind und sich wechselseitig positiv verstärken können30, zeigt sich zweierlei: Er-stens bleibt die Tatsache bestehen, dass Inklusion nicht direkt und vollstän-dig über spezielle Rechte abgesichert werden kann . Dies hat insbesondere auf individueller wie interpersonaler Ebene Folgen für die Ermöglichungsbedin-gungen von Inklusion . Denn eine Versorgung mit Ressourcen wie Bildung stellt selbst nicht sicher, dass die Betroffenen anschließend die individuellen Fähigkeiten haben werden, sich selbst zu inkludieren . Darüber hinaus haben die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion keinen Zugriff auf die inter-personal-partikulare Dimension von Inklusion in Form von Anerkennung als Liebe oder (teilweise auch) sozialer Wertschätzung . Anspruch besteht auf interpersonaler Ebene einzig darauf, als moralisch Gleiche geachtet zu wer-den . Ein Problem entsteht nun, weil gerade die partikularen Bereiche wich-tige Aspekte von Inklusion darstellen, die sich bei Menschen vor allen Din-gen in den Bedürfnissen, geliebt und sozial wertgeschätzt zu werden, widerspiegeln . Es gibt, so lautet das Fazit, aber keine moralische Harmonie zwischen der Sichtweise des Konkreten, Partikularen und des Universellen, Abstrakten, wie sie Rechte darstellen (vgl . Howe 1996, S . 50) .

Zweitens ist die Ebene der gesellschaftlichen und sozialen Strukturen von Inklusion selbst wiederum an gesellschaftliche Entscheidungsprozesse zu-rück gebunden . Diese Prozesse können zwar über gesellschaftliche Mei-

29 Allerdings darf an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, dass jede Stellvertretung mit schwerwiegenden praktischen und normativen Problemen verbunden ist, beispielsweise der Herausforderung, ob und wie ein Stellvertreter die genuinen Interessen des Betroffe-nen vertreten kann . Vgl . hierzu die empirischen Resultate in Rapley (2003) sowie die Debatte zwischen Martha Nussbaum und Michael Bérubé (vgl . Bérubé 2009; Nussbaum 2009) .

30 So führt beispielsweise mehr Selbstbewusstsein zu stabileren interpersonalen Beziehungen . Externe Ressourcen erlauben es Menschen mit Behinderung, sich Lebenskontexte zu su-chen, in denen sich andere Leute aufhalten und Kontaktmöglichkeiten bestehen . Gute Beispiele sind hier Restaurants, Hotels, Kinos oder Theater . Weiter beeinflusst die inter-personale Ebene die strukturelle und gesellschaftliche, indem eine konsequente Nicht-Diskriminierung zu einer Stärkung behinderter Menschen in der öffentlichen Wahrneh-mung führt . Dies erleichtert auch den Umbau und die Anpassung von Institutionen .

262 Inklusion und Gerechtigkeit

nungsbildungsprozesse (in öffentlichen Fernseh- oder Radiostationen, über Zeitschriften und Zeitungen) beeinflusst werden, aber nicht direkt zur Pflicht werden, jedenfalls nicht in liberalen Gesellschaften, in denen die Pressefreiheit ein wichtiges Gut ist . Damit ist auch der Beeinflussung der Ermöglichungsbedingungen von Inklusion an diesem Punkt eine Grenze ge-setzt .

7 .4 Ein – vorerst ernüchterndes – Fazit

So wichtig der Erwerb und Genuss eines Rechts auf Inklusion auch ist, das Fazit ist doch gewissermaßen ernüchternd . Denn gerade diejenigen Berei-che, welche von so eminenter Bedeutung für das menschliche Leben sind, lassen sich offensichtlich nicht über Rechte schützen . Diese Grenzen werden trotz des Rechts auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion deut-lich .

Damit aber wird ein Dilemma sichtbar, das Heikki Ikäheimo (2003, S . 14) folgendermaßen auf den Punkt bringt: »(… .) perhaps I am not taken as someone who has anything much to contribute to the shared goals of my family, local community or my nation . Or perhaps I am not taken seriously as a communication partner in this or that question . Or perhaps I feel that there simply is not enough love in my life . I am an equal rights bearer, but still lonely, isolated, socially excluded .« Menschen, die einsam, isoliert oder sozial exkludiert sind, führen aber zweifelsohne kein gutes Leben .

Bezüglich der Möglichkeit zur Durchsetzung von Inklusion für behin-derte Menschen ist auf diese Weise ein fundamentales Problem angedeutet: Die sozialen Gefühle, mit denen Inklusion zentral verbunden ist, beispiels-weise Liebe und Freundschaft, können gerade nicht durch Rechte abgesi-chert werden . Rechte kommen generell an ihre Grenzen, wo die Inklusion in Gemeinschaften zur Debatte steht . Gerade Formen gemeinschaftlicher In-klusion scheinen aber wichtig zu sein für das gute Leben von Menschen .

Dass damit ein Problemkreis im Leben vieler behinderter Menschen an-gesprochen ist, zeigen Forschungsergebnisse und auch viele Erfahrungen (vgl . Seifert, Fornefeld und Koenig 2001) . Etliche Menschen mit Behinde-rung sind in ihrem Leben entweder von Familie oder Professionellen, aber wenigen bis gar keinen Freunden, umgeben . Das bedeutet, dass die Bezie-hungen in ihrem Leben entweder nicht freiwillig gewählt und eine natürli-

Das Recht auf Inklusion 263

che Gegebenheit respektive Notwendigkeit sind (wie im Falle der Familie) oder aber (wie im Falle der Professionellen) aus vertraglicher Verpflichtung bestehen . Beide Beziehungsarten sind wichtig für das Leben vieler Menschen mit Behinderung . Aber keine kann das absichern, was freiwillig geleistet wird und ebenfalls bedeutsam ist, gerade hinsichtlich gemeinschaftlicher Inklu sion: Freiwillig als Freund gewählt zu werden . »Friendship is of particu-lar value precisely because it is constituted by appreciation . Nobody has to be my friend because of some sort of obligation or role responsibility . No one can be blamed for not being my friend; nor can anyone be questioned about not taking an interest in me . Friendship is special because it is freely chosen . Our friends want us as their friend for our own sake . No other relationships, either professional or kinship, can give what friendship gives« (Reinders 2008, S . 5) . Gibt es einen Ausweg aus diesem ernüchternden Fazit respektive dem Problem, das aufgeworfen wird? Gibt es beispielsweise, anders als Hans Reinders denkt, Pflichten, Inklusion umzusetzen?

7 .5 Inklusionstugenden

Onora O’Neill (1996) vertritt einen Ansatz, der zu Pflichten, soziale Tugen-den umzusetzen, führt . Auf ihn werde ich im Folgenden eingehen . Bevor ich dies tue, will ich aber auf einige Argumente eingehen, die für Tugenden der Inklusion sprechen, ihrerseits aber noch keine Gründe dafür darstellen, von Pflichten Tugenden umzusetzen, zu sprechen .

Gründe für Inklusionstugenden

Der Hauptgrund dafür, für ein moralisches Verhältnis zwischen Menschen zu plädieren, das – unter anderem – von Tugenden der Inklusion getragen ist, liegt in der spezifischen Verletzlichkeit von Menschen . Menschen sind nämlich, anders als viele Tiere und Pflanzen, vom Zusammenleben und von sozialen Beziehungen mit anderen Menschen abhängig . Besonders zu Be-ginn ist das Leben von Menschen durch eine lang anhaltende Hilflosigkeit und Abhängigkeit von der Zuwendung und Hilfe anderer Menschen, typi-scherweise den eigenen Eltern, abhängig . Bei einigen Menschen, beispiels-

264 Inklusion und Gerechtigkeit

weise solchen mit schwerer Behinderung, bestehen solche Verletzlichkeiten auch ein ganzes Leben lang .

Über diese spezifischen Verletzlichkeiten hinaus sind aber alle Menschen verletzlich hinsichtlich der sozialen Bezüge und Beziehungen, in denen sie leben und auf die sie nicht verzichten können oder möchten . Diese sozialen Bezüge, in denen Menschen leben, verstärken oftmals bereits bestehende Verletzlichkeiten . Sie weisen zudem auf das Faktum hin, dass Menschen in vielfältiger Weise von den Handlungen oder der Hilfe anderer Menschen abhängig sind und dass die Art und Weise, wie diese Hilfen oder Handlun-gen ausgeführt werden, sehr unterschiedlich ausfallen kann . Menschen kön-nen ihren Mitmenschen Hilfe bieten und sie mit ihren Handlungen unter-stützen . Sie können Empathie zeigen und Solidarität bekunden . Aber Menschen können auch verletzen, das Vertrauen anderer missbrauchen, und ihr Verhalten kann von mangelndem Respekt oder Egoismus getragen sein . Insbesondere in den interpersonalen Bezügen von Menschen zueinander zeigt sich die Verletzlichkeit von Menschen über ihre eigentliche existenziel-le Dimension hinaus .

Der Ausgangspunkt für die Forderung O’Neills (1996), Pflichten zu be-stimmten sozialen Tugenden, wie sie beispielsweise Empathie oder Solidari-tät darstellen, zu formulieren, setzt an dieser Überlegung an . In der Frage, ob man eine Welt wolle, die von Solidarität und Empathie getragen werde oder eine, in der Menschen einander weder Hilfe noch Solidarität und Unterstüt-zung zeigten, kommt O’Neill (ebd ., S . 195) zu einem klaren Fazit: So wenig jemand dazu gezwungen werden kann, sich anderen empathisch und in Lie-be zuzuwenden, so wenig kann man wollen, dass die durch Gleichgültigkeit und Vernachlässigung hervorgerufenen Leiden allgemeines Prinzip werden . Aus diesem Grund sei man verpflichtet, bestimmten selektiven Anderen ggenüber Zuneigung und Sorge entgegenzubringen . Die für Inklusion not-wendigen Tugenden wären damit verschiedene soziale Tugenden . 31

31 Darüber hinaus nennt O’Neill auch noch Ausführungstugenden (executive virtues) wie Mut, Durchhaltevermögen oder Vorsicht sowie supererogatorische Tugenden wie bei-spielsweise heldenhaftes Verhalten (vgl . O’Neill 1996, S . 187ff .) . O’Neill (ebd ., S . 201ff .) nennt drei Konstellationen sozialer Tugenden, die unterschieden werden können: erstens direkt gezeigte Hilfe und Zuwendung, welche direkt gezeigte Gleichgültigkeit und Ver-nachlässigung bekämpft . Eine solche Form von Hilfe und Zuwendung kann sich beispiels-weise in solidarischen Akten zeigen . Zweitens gibt es weniger direkt gezeigte Tugenden, beispielsweise durch Unterstützung und Aufrechterhaltung sozialen Vertrauens und sozi-aler Verbindung . Indirekt werden dadurch Fähigkeiten für Handlung, Kommunikation und Interaktion unterstützt . Eine dritte Form ist ebenfalls weniger direkt, indem sie die natürliche und durch Menschen gemachte Umwelt erhält und dadurch erreicht, dass

Das Recht auf Inklusion 265

Die Grenzen von O’Neills Tugendpflichten

Nach Ansicht von Onora O’Neill richten sich die Pflichten, bestimmte sozi-ale Tugenden abzusichern, nun nicht universell an alle Menschen . O’Neill anerkennt, mit anderen Worten, den gewichtigen Einwand potenzieller Überforderung für Individuen . Vielmehr seien sie selektiv da einzusetzen, wo sie machbar – das heißt, in einem eigenen Macht- oder Wirkungsbereich liegend – und dem eigenen Wohlergehen nicht abträglich seien .

Nun kann aber eingewendet werden, dass genau das diffus ist und, wenn auch schleichend, in die genannte Überforderung führen kann . Denn: Wo kann man tatsächlich handeln? Wo hat der Einzelne Macht, etwas zu bewir-ken? Was sind selektive Andere? Und woran misst sich die Auswahl dieser selektiven Anderen gegenüber Menschen, denen wir nach O’Neill nicht zu Zuneigung und Wertschätzung verpflichtet sind? Darüber, wo die Machtbe-reiche menschlichen Handelns liegen und wer uns nahestehende, selektive Andere überhaupt sind, gehen die Meinungen beträchtlich auseinander .

Das eigentliche Hauptproblem des Ansatzes von O’Neill ist aber nicht die Diffusität der genauen Ausgestaltung der inhaltlichen Forderung . Die Krux ist, dass die Formulierung von Pflichten in dieselbe Problematik führt, die ich bereits bei den Grenzen von Rechten nach Inklusion formuliert habe . Viele inhaltlich mögliche Ausformulierungen eines Rechts auf Inklusion, insbesondere da, wo es die Inklusion in Gemeinschaften betrifft, lassen sich nämlich nicht plausibel vertreten . Dies, weil erstens die Rechte von Gemein-schaften auf Assoziationsfreiheit höher zu gewichten sind als die Interessen Einzelner, zu bestimmten partikularen Gemeinschaften dazuzugehören . Und zweitens wird in vielen Fällen das soziale Gut, das mit dem Recht geschützt werden sollte, durch den verpflichtenden Charakter zerstört . Das paradig-matische Beispiel dazu ist Freundschaft . Daher ist auch der Ansatz von O’Neill, trotz seines intuitiven Appeals, abzulehnen .

Man kann, so das Fazit, zwar keine Welt wollen, die durch Ignoranz für die Gefühle anderer, mitmenschlicher Kälte oder Vernachlässigung geprägt ist . Insofern hat O’Neill Recht . Man kann aber mit guten Gründen auch keine Welt wollen, in der Menschen anderen gegenüber nur aus dem Grund Empathie, Mitgefühl, Solidarität und Freundschaft zeigen, weil sie es müs-sen . Und diese Konsequenz müsste sich aus der Theorie des verpflichtenden

menschliches Leben und auch sozialer Zusammenhalt möglich sind . Sie kann sich bei-spielsweise in der Erhaltung und Bewahrung der Umwelt äußern .

266 Inklusion und Gerechtigkeit

Charakters sozialer Tugenden, wie sie O’Neill vertritt, im Endeffekt ziehen lassen .

Was bleibt, ist die Utopie einer guten Gesellschaft, die O’Neill implizit entwirft: Eine Gesellschaft, in der Tugenden der Inklusion auf freiwilliger oder supererogatorischer Basis umgesetzt werden . Wie eine solche ausschauen könnte, will ich im Folgenden kurz ausführen .

7 .6 Die Utopie einer guten Gesellschaft

Die Hoffnung, in einer Welt leben zu können, die (auch) von Mitgefühl, Empathie, Solidarität für andere Menschen sowie Liebe und Freundschaft getragen ist, ist die Utopie einer guten Gesellschaft .32 Eine solche gute Ge-sellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass allen Menschen, auch allen Men-schen mit Behinderung, der Status moralischer Gleichheit zukommt . In diesem Sinne wäre eine gute Gesellschaft eine egalitäre Gesellschaft . Eine gute Gesellschaft würde sich darüber hinaus dadurch auszeichnen, dass die Un-terschiede zwischen Menschen akzeptiert würden und Menschen die Frei-heit hätten, auch ihrer Differenz Ausdruck zu verleihen . Menschen könnten in einer solchen Gesellschaft ihre Bedürfnisse nach Inklusion befriedigen, wie auch ihre Pläne und Ziele nach Inklusion nach Maßgabe ihrer individu-ellen Fähigkeiten verfolgen . Sie würden zudem zumindest einige Orte fin-den, in denen sich diese auf gemeinschaftlicher Basis verwirklichen ließen, und in welchen sich Anknüpfungspunkte für zwischenmenschliche Liebe und soziale Wertschätzung finden ließen .

Mit der Utopie einer guten Gesellschaft ist man aber nun an die Grenzen philosophischer Begründung gelangt . Die Utopie einer guten Gesellschaft ist in den Überzeugungen der Menschen verankert . Damit ist sie selbst Teil der öffentlichen Debatte und nicht, oder zumindest nicht mehr ausschließlich, Philosophie .

32 Eine solche wird, auch in Bezug auf die Thematik Behinderung, beispielsweise explizit von Jonathan Wolff (2009) und Elizabeth Anderson (1999) vertreten .

Das Recht auf Inklusion 267

7 .7 Fazit

Auch wenn das Fazit ernüchternd ist, muss man sich vor Augen führen, dass erstens nicht allen Pflichten auch Rechte entsprechen33 und dass zweitens darüber hinaus auch nicht die gesamte Moral rechtsbasiert ist . Rechte haben Vorrang vor Pflichten, denen keine Rechte entsprechen . Und sie sind dyna-misch, das heißt, sie haben die Fähigkeit, neue Pflichten auszulösen, wenn sich bestimmte Umstände ändern (vgl . Raz 1986, S . 186) .

Rechte decken aber nicht den gesamten Bereich dessen ab, was ein gutes Leben ausmacht und schützenswert ist . Und sie sind auch nicht in der Lage, zu kompensieren, was an Liebe, Zuwendung oder physischer wie psychi-scher Sicherheit fehlt: »[…] rights to autonomy and privacy, to free expres-sion, to freedom from physical assault and from verbal incivility, to due proc-ess, to equal treatment, to free association, to free religious practice, and so on, will not compensate one for the lack of affection and loving care, or the absence of physical safety, but that shows only that moral rights are not enough for a good life, not that they are unnecessary or undesirable« (Fein-berg 1992, S . 196) . Bei genauem Hinsehen decken Rechte sogar einen klei-nen Teil des Wertes von Inklusion ab . Das macht sie aber weder unnötig noch unwünschbar .

Geht man davon aus, dass Menschen mit Behinderung einer strukturell benachteiligten Gruppe der Gesellschaft angehören, die von sozialer Un-gleichheit betroffen ist, dann sind die Forderungen, die sich aus dem Recht auf Nicht-Diskriminierung und aus den Ansprüchen auf die Ermöglichungs-bedingungen auf Inklusion ergeben aber weitaus radikaler, als sie auf den ersten Blick vermuten lassen . Denn die genaue Ausgestaltung des Rechts auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion auf individueller Ebene, auf der Ebene externer Ressourcen sowie auf der Ebene der sozialen Strukturen kann so weit gehen, dass ihrerseits der Einwand, die Erfüllung dieses Rechts würde zu einer unbotmäßigen Orientierung nach unten führen, erhoben werden kann . Die genaue Ausformulierung, wie die Verteilung vonstattenge-hen soll respektive nach welchen Regeln sie geschehen soll, führt aber im

33 Beispielsweise kann man, in der Nachfolge Kants, auch von unvollkommenen Pflichten sprechen: »Ein spezifisches Merkmal unvollkommener Pflichten ist, dass sie niemandem im Besonderen geschuldet sind und dem Verpflichteten daher einen sehr viel größeren Entscheidungsspielraum lassen . Sie besagen nicht von sich aus, wem gegenüber ihnen nachzukommen ist . Deshalb entspricht einer unvollkommenen Pflicht kein Anspruchs-recht eines bestimmten Rechtsanspruchshalters« (Gosepath 2007, S . 219) .

268 Inklusion und Gerechtigkeit

Rahmen der Arbeit zu weit .34 Sie ist Teil eines öffentlichen, gesellschaftli-chen Aushandlungsprozesses . Die mit den Ermöglichungsbedingungen für Inklusion verbundenen Ansprüche einer angemessenen öffentlichen Reprä-sentation sollen und können gewährleisten, dass die Stimme behinderter Menschen und ihrer Angehörigen und Stellvertreter besser gehört, wahrge-nommen und berücksichtigt wird, als sie es bis anhin tut .

Im Lichte der getätigten Überlegungen lassen sich nun die Fälle, die ich eingangs der Arbeit genannt hatte, beurteilen . Die fünf Beispiele, die alle mit der Frage endeten, ob X ein Recht auf Inklusion habe, lassen sich nun inter-pretieren .

Beispiel 1: Sabine und das Gehörloseninternat

Sabine, das Mädchen, das nach einem Besuch den Wunsch äußert, ein Ge-hörloseninternat für Mädchen besuchen zu können, hat ein Recht auf Bil-dung, wie es allen Menschen zukommt . Ob damit ein Recht auf separative Bildung verbunden ist, und ob separate Bildung auch als Inklusion bezeich-net werden kann, misst sich an anderen Überlegungen . Ergibt sich nämlich bei genauer Analyse des Falles das Fazit, dass eine Gefährdung des Wohlerge-

34 Die Beurteilung der Frage nach der Reichweite der inhaltlichen Ausgestaltung des Rechts auf die Ermöglichungsbedingungen kann auf verschiedene Arten geschehen und an fol-genden Kriterien orientiert sein: an Prioritätskriterien (vgl . Parfit 1998), die den am Schlechtestgestellten (gewichtet betrachtet) Priorität zuweisen; an Suffizienzkriterien (vgl . Frankfurt 2000; Krebs 2002; Schramme 2006), wonach der zentrale Punkt der ist, dass jemand genug von einem Gut hat; oder an egalitaristischen Kriterien (vgl . Cohen 1989; vgl . Dworkin 2000), wonach allen hinsichtlich eines bestimmten Verteilkriteriums gleich viel zukommt . Möglich sind auch gemischte Positionen, beispielsweise prioritarianistische und egalitaristische Überlegungen, je nach Gut, das mit der Ermöglichungsbedingung abgedeckt wird (vgl . Wolff 2008) . Klar scheint mir, dass bezüglich der Frage, wie Güter der Inklusion verteilt werden, verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle spielen müssen . Erstens sind dies egalitaristische Gesichtspunkte, die sich auf die Beobachtung stützen, dass Menschen mit Behinderung oft mangelnder Achtung als Gleiche ausgesetzt sind . In vielen Fällen, vor allem wenn es um externe Güter geht, ist aber die Frage oft nicht die, gleich viel zu erhalten, sondern genug von etwas . Damit spielen suffizienzorientierte oder auch prioritanistische Überlegungen eine wichtige Rolle . Für behinderte Menschen be-deutet dies in vielen Fällen, dass ihnen mehr und vor allem andere Güter zukommen sollten als nicht behinderten Menschen . Diese Güter beziehen sich in direkter Weise auf ihre Lebenslage und fördern damit ihre soziale Inklusion zielgerichtet . Die Beantwortung der Frage, wie das Recht auf Inklusion konkret ausgestaltet ist und wo die Grenzen aus dem Grund erreicht sind, weil sie andere Rechte tangieren, wird dabei vornehmlich in Kämpfen um Inklusion erstritten .

Das Recht auf Inklusion 269

hens von Sabine beim Verbleib in der Regelschule gegeben ist, spricht vieles für ein spezielles Recht auf separative Bildung . Dies kann insofern ebenfalls als Inklusion bezeichnet werden, als man damit einen weiteren Blickwinkel auf soziale Inklusion einnimmt, nämlich erstens hinsichtlich der Inklusion in die Gemeinschaft mit anderen Menschen mit Hörbehinderung und zwei-tens hinsichtlich der Bedeutung des psychischen Wohlbefindens als Voraus-setzung für gelungene Inklusion .

Beispiel 2: Remo in ›Üsi Badi‹

Das Beispiel von Remo, einem Protagonisten der Doku-Serie ›Üsi Badi‹, weist auf die Grenze des Rechts auf Inklusion hin . Denn das Beispiel, auf das die Frage angewendet wurde, ist eine Gemeinschaft . Insofern hat Remo kein Recht, in der Gemeinschaft verbleiben zu können . Er hat aber, genau wie seine Mitkollegen, Freiheitsrechte . Diese umfassen die Assoziationsfreiheit der Gemeinschaft, ihre Mitglieder selbst auswählen zu können sowie für Remo die Freiheit, die Gemeinschaft aus freien Stücken verlassen zu kön-nen .

Was aber jenseits der Frage, was genau das Beispiel mit Rechten zu tun hat, interessant ist, ist die Art und Weise, wie Markus, einer der beiden mit-gereisten Betreuer, den gefährdeten sozialen Zusammenhalt in der Gruppe nach dem Streit thematisiert . Es gelingt ihm nämlich, den Zusammenhalt in der Gemeinschaft durch agogische und psychologische Maßnahmen wie Ge-sprächen und zielgerichteter Kooperation zwischen den Teilnehmern anzu-regen . Damit nimmt er eine wichtige agogische Aufgabe zur Unterstützung von Inklusion wahr, indem er die Ermöglichungsbedingungen von Inklusi-on, unter anderem Kooperation und Dialog, auf agogischer Basis anregt . Die Aufgabe, die er inne hat, ist nun aber nicht freiwillig, sondern entspricht ei-ner gesellschaftlichen Pflicht, seinem agogischen Auftrag .

Beispiel 3: Alberto und der Lieblingsfußballklub

Auch das dritte Beispiel kann insofern nicht mit einem Recht auf Nicht-Exklusion oder Inklusion abgedeckt werden, als es sich beim Fußballklub um eine Gemeinschaft handelt . Auch hier kann gezeigt werden, dass die Person (Alberto) kein Recht auf Inklusion hat . Interessant an diesem dritten

270 Inklusion und Gerechtigkeit

Beispiel sind aber wie beim zweiten die Ermöglichungsbedingungen von In-klusion . Insofern Alberto aufgrund seiner Wohnsituation im Heim, den dort herrschenden mangelnden Entwicklungsanregungen und seiner großen kör-perlichen Beeinträchtigung in seinem Wohlergehen gefährdet ist, hat er ein Recht auf besondere Unterstützung im Alltag . Da einer seiner wichtigsten Pläne und Ziele den Fußballklub betrifft und er diese Inklusion selbst nicht erreichen kann, hat er ein Recht auf die Begleitung dorthin . Dies noch dann, wenn er anschließend kein Recht darauf hat, von seinem Lieblingsfußball-klub auch in gemeinschaftlichem Sinn aufgenommen zu werden .

Beispiel 4: Alison Lapper und die Unterstützung im Alltag

Alison Lapper benötigt für viele Verrichtungen im täglichen Leben Unter-stützung . Insofern diese teilweise auch die Ermöglichungsbedingungen für Inklusion betreffen, hat sie ein Recht auf die für sie notwendige Unterstüt-zung . Da Alison überdies über die notwendigen Voraussetzungen zum Be-such einer Kunsthochschule erfüllt, hat sie insbesondere ein Recht auf die dafür notwendige Unterstützung und Begleitung, beispielsweise hin zur Hochschule und wieder zurück .

Beispiel 5: Karin und der Kindergarten in der Gemeinde

Ähnliches gilt auch für Karin, dem Mädchen mit Spina bifida, das zu seinem Regelschulbesuch einen Umbau des Zugangs zur Schule sowie Unterstüt-zung beim Toilettenbesuch benötigt . Hier gilt, dass der Sonderschulbesuch begründungsbedürftig ist, insbesondere, weil er von den Eltern und vom Kind nicht gewünscht wird . Die Schule respektive der Staat müsste also er-stens darlegen können, dass eine Sonderbeschulung das Wohlergehen von Karin nicht gefährdet sowie dass darüber hinaus der Umbau des Schulhauses die Rechte der anderen Kinder oder Bürger gefährden würde . Dies könnte potenziell der Fall sein, wenn der Umbau so viele Ressourcen verzehren wür-de, dass Bildung für alle Kinder kaum noch gewährleistet und finanziert werden könnte .

Das Recht auf Inklusion 271

Die Beispiele haben nochmals veranschaulicht, was sich in diesem Kapitel gezeigt hat . So wenden sich Rechte, wie sie beispielsweise Karin oder Alison Lapper haben, an den Staat respektive an die Schule oder Hochschule als staatliche Institution . Sie tragen die entstehenden Pflichten betreffend der Ermöglichungsbedingungen von Inklusion, welche sich in beiden Fällen an Unterstützungsmaßnahmen und infrastrukturellen Fragen entzünden . Ins-besondere die Infrastruktur und auch zur Verfügung stehende Hilfsmittel sind selbst Voraussetzung dafür, dass Hilfe und Unterstützung – beispiels-weise durch die Sonderpädagogik oder die soziale Arbeit – überhaupt einset-zen kann . Da, wo es keine oder nur eingeschränkte Rechte gibt – also in den Fällen von Remo oder Alberto – zeigen sich auch die Grenzen von Rechten deutlich . Denn beide Kontexte haben gemeinschaftlichen Charakter .

Das folgende, achte Kapitel zeigt nun die Konsequenzen des bislang Er-örterten beispielhaft für die Sonderpädagogik als Disziplin, Profession und Praxis . Damit bildet dieses Kapitel in seiner Anwendungsorientierung gleich-zeitig auch den dritten und letzten Teil der Arbeit .

Teil III: Anwendung

Einleitung

Im folgenden letzten Teil der Arbeit steht die Anwendung der Frage nach dem Recht auf Inklusion im Zentrum . Exemplarisch wird dies am Beispiel der Sonderpädagogik gezeigt . Ich habe bereits an einer früheren Stelle im Buch geschrieben, dass es vielfältige Anwendungsfelder von Inklusion gibt . Die Sonderpädagogik ist nur eines davon und zudem ein umstrittenes, denn es ist nicht von vornherein klar, dass sich gerade die Sonderpädagogik – und falls ja, in welchem Maße – um die Inklusion behinderter Menschen küm-mern sollte . So kann zwar anerkannt werden, dass pädagogische oder agogi-sche Zugänge vonnöten sein können, um Inklusion zu erreichen . Dies insbe-sondere dann, wenn es um Kinder und Jugendliche und Bildungskontexte geht . Es kann aber bestritten werden, dass die Sonderpädagogik als Diszip-lin, Profession oder Praxis die richtige Adresse dafür ist . Der bereits genann-te Andreas Hinz beispielsweise fordert seit Jahren vehement, dass sich die Sonderpädagogik in Richtung einer inklusiven Pädagogik zu verändern be-ginne respektive von dieser abgelöst werden sollte (vgl . Hinz 2002, 2003, 2004) .

Die Debatte um die Berechtigung der sonderpädagogischen Sicht- und Handlungsweise kann hier nicht geführt werden . Ganz sicher ist es so, dass Innovationen in der Umsetzung des Rechts auf Inklusion notwendig sind, und dass diese Innovationen das Selbstverständnis der Sonderpädagogik be-treffen werden . Innovation bedingt Veränderung und betrifft mehrere Ebe-nen . Diese in ihrer Komplexität gebührend zu berücksichtigen, würde den Umfang dieser Arbeit und das, was sie leisten kann, sprengen . Deshalb bleibt vieles nur angedeutet und die genaue Ausformulierung bleibt dem Leser oder der Leserin überlassen .

Der bisherige Verlauf der Arbeit hat gezeigt, dass Inklusion als eine der zentralen Zielperspektiven der Sonderpädagogik (oder nach Ansicht vieler Autoren der Inklusionspädagogik) letztlich ethisch-normativ fundiert ist . Diese Fundierung ist nun aber keine metaphysische Setzung, die sozusagen

276 Inklusion und Gerechtigkeit

dem sonderpädagogischen Handeln und Wissen vorgelagert wäre, im Ge-genteil . Sie kann begründet und verteidigt werden und erlangt dadurch die Möglichkeit intersubjektiver Anerkennung . Diese Anerkennung der Berech-tigung der Forderung nach Inklusion ist zentral, weil die Sonderpädagogik sich auf allen Ebenen als zwischen verschiedenen Disziplinen, Professionen und Praxen eingebettet erlebt und daher auf die Verständigung zwischen diesen und der Anerkennung durch diese Felder angewiesen ist .

Sonderpädagogische Werte fallen nicht vom Himmel . Sie sind vielmehr begründbar und können in ein kohärentes Ganzes eingeführt werden . Dass ihre genaue inhaltliche Füllung sich in den historischen Zeitläuften wandelt und sich in sozial und kulturell unterschiedlichem Gewand zeigt, weist zu-dem darauf hin, dass es gefährlich ist, ein allzu starres konkretes Verständnis von Inklusion zu haben . Denn was genau beispielsweise die für Inklusion notwendige Dimension der Anerkennung vermittelt, ist eben nicht für alle Zeiten und alle Kulturen genau bestimmt . Sie muss vielmehr in konkreten Umständen, in tatsächlichen Gemeinschaften oder Gesellschaften ausgehan-delt werden . Ein Recht auf Inklusion zu haben, sagt nicht per se bereits, wie genau dieses ausgestaltet werden muss .

Wenn es im Folgenden um die Anwendung von Inklusion in der Sonder-pädagogik geht, dann unterscheide ich drei Betrachtungsebenen sonderpäd-agogischen Handelns und Wissens: die Disziplin der Sonderpädagogik, die Profession und sonderpädagogische Praxisfelder . Dabei kommt die Sprache darauf, was ein Recht auf Inklusion für diese Ebenen bedeutet . Aber auch die Relevanz der Inklusionstugenden kommt nochmals zur Sprache . Weiter zei-ge ich die Grenzen sonderpädagogischen Handelns und Wissens auf, welche indirekt darauf hinweisen, dass Inklusion nicht die einzige und auch nicht die wichtigste Zielkategorie der Sonderpädagogik ist . Die Herausforderun-gen sonderpädagogischen Handelns und Wissens, auf welche ich zum Schluss des achten Kapitels zu sprechen komme, weisen darauf hin, dass sonderpädagogisches Handeln immer mit Widersprüchen und Spannungen konfrontiert ist . In diesen bewegt sich auch Inklusion .

Ein letztes neuntes Kapitel schließlich fasst die Arbeit nochmals zusam-men und wagt einen kurzen anekdotischen Ausblick in die Zukunft der In-klusion behinderter Menschen in unserer Gesellschaft .

8 . Inklusion und Sonderpädagogik

8 .1 Die Aufgaben von Disziplin, Profession und Praxis in Hinblick auf Inklusion

Das Recht auf Inklusion, das sich im letzten Kapitel ergeben hat, lässt ver-schiedene inhaltliche Deutungen und Konkretisierungen zu . Um es hin-sichtlich sonderpädagogischer Handlungsfelder konkretisieren zu können, sind zusätzliche Annahmen empirischer und normativer Art vonnöten . Ers-tere betreffen vor allem die organisatorischen, strukturellen, zwischen-menschlichen und individuellen Bedingungen sonderpädagogischen Han-delns und Wissens und damit die Frage des Wie derselben . Letztere betreffen ein normatives Verständnis des Auftrags und damit das Was sonderpädagogi-schen Handelns und Wissens . Um genau dies, um den sich ergebenden son-derpädagogischen Auftrag also, soll es in diesem die Arbeit abschließenden Kapitel vordringlich gehen .

Für die Sonderpädagogik stellen sich nach dem letzten Kapitel folgende Fragen: Welches Handeln und Wissen können behinderte Menschen von der Sonderpädagogik, verstanden als Praxis, Profession und Disziplin, auf der Basis von Rechten einfordern und welches Handeln und Wissen wird von ihr aus anderen Gründen verfügbar gemacht?1 Die Antwort dazu habe ich teilweise schon geleistet, indem ich im vorangehenden Kapitel das Fazit gezogen habe, dass sich ein Recht auf Inklusion folgendermaßen deuten lässt: als ein Recht auf Nicht-Diskriminierung, als ein Recht auf gesellschaft-

1 In der Beantwortung dieser Fragen gehe ich davon aus, dass die einzelnen eruierten Berei-che nicht deckungsgleich sind . Das bedeutet, die Bereiche des sonderpädagogischen Auf-trags, die Bereiche moralischer Rechte sowie die Interessen der Betroffenen nach Inklusion überlappen sich zwar zu bestimmten Teilen, können aber gesamthaft gesehen nicht wech-selseitig substituiert werden . Diese Annahme ergibt sich aus den bisherigen Reflexionen zu Behinderung, Rechten und gutem Leben, den Grundlagen meiner Überlegungen aus dem ersten Teil also, sowie aus den Überlegungen zur Struktur und zur normativen Bedeutung von Inklusion aus dem zweiten Teil .

278 Inklusion und Gerechtigkeit

liche Inklusion und als ein Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion . Bei allen kann man übergreifend von einem Recht auf Inklusion sprechen . Das Recht auf die Ermöglichungsbedingungen von Inklusion zeigt sich auf verschiedenen Ebenen: der individuellen Ebene, der interpersonel-len Ebene (hier hat sich allerdings gezeigt, dass dies bereits durch das Recht auf Nicht-Diskriminierung, soweit begründbar, abgedeckt ist), der Ebene externer Ressourcen sowie auf der Ebene von Strukturen . Weiter wurde deutlich, dass aus pragmatischen wie normativen Gründen, der Staat als Rechtsobjekt ins Spiel kommt . Er hat die Pflicht, das Recht auf Inklusion umzusetzen . Als Letztes zeigte sich, dass das Recht behinderten Menschen zwar als Individuen, aber qua Mitgliedstatus in einer sozialen Gruppe zu-kommt .

Angewandt auf sonderpädagogisches Handeln, ergibt sich nun folgende, neue Frage, die sich vor allem an der Frage der genauen Ausgestaltung des Rechtsgegenstandes entzündet, nämlich: Wie sieht dieses Handeln auf den unterschiedlichen Ebenen aus? Welche Formen, Inhalte und Fragen für die Professionalisierung sonderpädagogischen Wissens und Handelns ergeben sich? Diese Fragestellung ist insbesondere aus dem Grund interessant, weil sie an die Frage nach der Art und dem Umfang des sonderpädagogischen Auftrags gekoppelt ist . Damit rücken Ziele, Inhalte, Mittel und Wege des sonderpädagogischen Auftrags und mit ihm Professionalisierungsfragen – beispielsweise Fragen nach der Ausbildung des Fachpersonals und nach de-ren Fachkompetenz in den verschiedenen Anwendungsbereichen – selbst ins Zentrum . Daher werde ich im Folgenden auch mit einer, notabene kurzen, programmatischen Skizze des sonderpädagogischen Auftrags auf den Ebenen der Disziplin, der Profession und der Praxis beginnen . Das heißt, ich werde meine Vorstellung der Ausrichtung dieses Handelns präsentieren, ohne die-ses aber selbst zur Gänze zu begründen oder gegen andere Ansätze abzugren-zen . Daher auch der programmatische Charakter dieses Teils der Arbeit, der auch als Ausblick auf ein bestimmtes Verständnis von Sonderpädagogik ge-sehen werden kann .

Ein Verständnis von Sonderpädagogik als besondere Pädagogik, die inter-disziplinär Bezüge zu Psychologie, Soziologie, Medizin aufweist und sich unter dem Dach der Pädagogik (oder disziplinär: den Erziehungswissen-schaften) befindet, kann nun vor dem Hintergrund der entwickelten Auf-

Inklusion und Sonderpädagogik 279

fassung von Inklusion und den entwicklungstheoretischen Grundlagen der Sonderpädagogik2 aufgezeigt werden .

Ausgehend von einem Verständnis einer entwicklungsorientierten Päda-gogik trete ich dafür ein, dass der Fokus einer inklusiven Pädagogik auf der Entwicklung des Menschen respektive seinen Entwicklungsmöglichkeiten hin zu einem guten Leben liegen sollte . Der damit vertretene Entwicklungs-begriff geht davon aus, dass grundsätzlich jeder Mensch nach Wachstum, Entwicklung und Selbstaktualisierung strebt und über Fähigkeiten zur Ver-änderung und Problemlösung verfügt .3 Entwicklung wird nicht nur vom Individuum selbst angeregt und erbracht, auch die Umwelt trägt zur Ent-wicklungsfähigkeit und -möglichkeit (im Sinne einer capability) von Men-schen einen wichtigen Teil bei .4 Dieses evaluative und systemische Verständ-nis von Entwicklung und der Entwicklungs- und Wachstumsorientierung des Menschen als anthropologische Annahme ermöglicht es, das dahinter stehende humanistische Menschenbild zum Kern einer Pädagogik zu ma-chen, welche sich auf die – vordringlich individuellen – Ermöglichungsbedin-gungen von Inklusion konzentriert . Die Umrisse einer solchen Sonderpäda-gogik sind schärfer konturiert, als sie von einem Großteil der Sonder- pädagogik vertreten werden . Insbesondere trete ich dafür ein, dass man sich explizit auf behinderte – im Sinne einer Entwicklungsbeeinträchtigung be-hinderte – Menschen als Zielklientel konzentrieren sollte . Die normative

2 Insbesondere kann man hier auf einen der historischen Gründerväter der Sonderpädago-gik verweisen, Heinrich Hanselmann . In dessen Werk nimmt der Entwicklungsbegriff eine zentrale Rolle ein . So schreibt Hanselmann (1941, S . 67): »Wir verstehen unter Ent-wicklung das selbsttätige Sich-Auswickeln eines komplizierten Lebewesens aus einem ein-fachen Keim im Verlauf einer bestimmten Zeit und unter Gegebenheit von mehr oder weniger dem jeweiligen Zustand des Lebewesens angemessenen Verhältnissen in der Um-welt .«

3 Dieser Entwicklungsbegriff ist normativ gefärbt . Er ist aber wie der Begriff des guten Le-bens nicht zwingend essentialistisch und auch nur schwach perfektionistisch zu verstehen . Er hat vielmehr eine anthropologische Fundierung, weist aber darüber hinaus, sofern Ent-wicklung auch die Entwicklung von Plänen und Zielen betrifft, der Freiheit oder Selbst-bestimmung von Menschen einen entscheidenden Stellenwert zu . Selbstbestimmung be-deutet nicht, dass Menschen nur einfach ihren aktuellen Plänen und Zielen nachgehen möchten, sondern dass sie sich selbst über die Verfolgung ihrer Pläne und Ziele ausdrü-cken möchten . Sie möchten, mit anderen Worten, ihrem Selbst Ausdruck verleihen . Für diesen wichtigen Hinweis danke ich Thomas Schramme .

4 Vgl . hier ebenfalls das systemisch angelegte Verständnis von Entwicklung bei Hanselmann (1941, S . 38): »Alles, was im Verlaufe der Entwicklung mit dem Keim an Wandlungen und Ausgestaltung geschieht, ist nicht mehr nur Anlage, sondern auch Umwelteinfluss .« Ent-wicklung ist damit bereits bei Hanselmann relational und interpersonal angelegt .

280 Inklusion und Gerechtigkeit

Problematik von Behinderung – die, ausgehend von einer Schädigung von Körperfunktionen und -strukturen zu Beeinträchtigungen der Partizipation und Aktivität sowie gesellschaftlicher Benachteiligung führen kann – ist letztlich die mögliche oder befürchtete Reduktion der Lebensqualität, die sich aus den komplexen, mit einer Behinderung verbundenen Risiken ergibt . Sonderpädagogische Bemühungen müssen sich sowohl daran orientieren als auch darüber legitimieren, inwieweit sie mit ihren Bemühungen zur Verbes-serung der Lebensqualität beitragen .

Dies ist wie gesagt nur eine grobe Kurzzusammenfassung des Auftrags, wie ich ihn für die Sonderpädagogik sehe . Im Folgenden möchte ich nun dazu übergehen, die Aufgaben von Disziplin, Profession und Praxis der Son-derpädagogik in Hinblick auf Inklusion inhaltlich zu skizzieren . Diese Auf-gaben müssen sich einerseits an den Grenzen des sonderpädagogischen Auf-trags betreffend Inklusion messen, welche sich vor allen Dingen auf die Überlegungen im letzten Kapitel beziehen . Und andererseits müssen sie sich an den generellen Herausforderungen sonderpädagogischen Handelns und Wissens messen . Diesen beiden Fragen widmet sich Kapitel 8 .2 (Grenzen des sonderpädagogischen Auftrags) sowie Kapitel 8 .3 (Herausforderungen sonderpädagogischen Handelns und Wissens) .

Disziplinebene

Auf disziplinärer Ebene ergeben sich für die Sonderpädagogik folgende Auf-gaben: erstens ihre Konstituierung als Wissenschaftsdisziplin . Hierzu gehört neben der Bereitstellung von evidenzbasiertem empirischem Wissen auch die normative Reflexion der Konzepte und Zielperspektiven sonderpädago-gischen Handelns, wie es Inklusion darstellt . Die vorliegende Arbeit versteht sich insbesondere als Beitrag zu diesem Aspekt disziplinärer Aufgaben .

Zweitens besteht eine Aufgabe bezüglich Abgrenzung, aber auch Zusam-menarbeit zu oder mit anderen Nachbardisziplinen, beispielsweise der Psy-chologie, der Soziologie oder der Medizin . Versteht man Behinderung in Dimensionen sozialer Benachteiligung und betrachtet man sie unter Aspek-ten horizontaler und vertikaler Ungleichheit, dann gerät insbesondere die soziologische Forschung ins Zentrum der Überlegungen . Denn eine Sonder-pädagogik, welche die Inklusion behinderter Menschen fördern möchte, muss Prozesse der Benachteiligung verstehen und diese insbesondere in Bil-dungsprozessen und -systemen sowie anderen gesellschaftlichen Prozessen

Inklusion und Sonderpädagogik 281

nachweisen und verstehen können . Hierzu scheint eine enge Zusammenar-beit mit der Soziologie unverzichtbar .

Enge Bezüge ergeben sich auch zur Psychologie, denn in praktischer Hinsicht ist es für behinderte Menschen wichtig, die Folgen von Benachtei-ligung und Exklusionserfahrungen psychisch verarbeiten zu können . Die Herausforderung für behinderte Menschen besteht darin, Bewältigungsstra-tegien oder Resilienz gegen Ausschlussprozesse zu entwickeln . In der Eruie-rung von ›stärkenden Faktoren‹ scheint eine enge Zusammenarbeit mit der Psychologie gewinnbringend .

Drittens zeigen sich auch Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Zu-sammenarbeit mit der Medizin . Dies insbesondere da, wo es um schädi-gungsspezifische Einschränkungen geht, die in Folge von Gesundheitspro-blemen oder Schädigungen von Körperfunktionen und -strukturen eintreten können . Sonderpädagogisch wichtig ist die Zusammenarbeit insbesondere deshalb, weil sich die Verfügbarkeit und die Güte dieser Maßnahmen auf das sonderpädagogische Handeln auswirken (können) . Medizin leistet insbeson-dere in folgenden Bereichen wichtige Arbeit für sonderpädagogisches Han-deln und Wissen: in der Ätiologie, der Symptomatik, der Therapie und der Prävention von Schädigungen . Insbesondere ist die Medizin an der Ätiolo-gie, der Ursache einer Störung interessiert . Denn ohne diese kann die Patho-genese, die Symptomatik, nicht verstanden, wie auch die Therapie und Prä-vention nicht adäquat geplant werden . Alle diese Bereiche sind zweifelsohne zentrale Voraussetzungen für sonderpädagogisches Wissen und Handeln .5

Weiter besteht auch die Herausforderung der Positionierung der Sonder-pädagogik unter dem Dach der Erziehungswissenschaften . Virulent werden daher auch Ausbildungsfragen sowie Fragen der Eigenständigkeit professio-nellen sonderpädagogischen Handelns und Wissens . Mit dieser Herausfor-derung ist das Selbstverständnis der Sonderpädagogik als Disziplin angespro-chen .

Je fokussierter, elaborierter und harmonischer die theoretischen Grund-lagen, die normativen Annahmen und die evidenzbasierte empirische For-schung zueinander stehen, desto größer sind die Möglichkeiten einer Ein-bettung unter das Dach der Erziehungswissenschaften und eine Abgrenzung zu anderen Nachbardisziplinen, was eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erst ermöglicht .

5 Insbesondere bei Behinderungen mit unklarem respektive noch zu erforschendem Ursa-chenprofil wie Autismus zeigt sich, dass ein Verständnis der Ursachen und Auswirkungen einer Schädigung auch Folgen für die Planung sonderpädagogischer Maßnahmen hat .

282 Inklusion und Gerechtigkeit

Professsionsebene

Professionsfragen beziehen sich auf Berufsgruppen, Zuständigkeiten ver-schiedener Zweige der Profession, Rollenprofile, Organisation von und in Berufsgruppen, Fragen der Ausbildung sowie die Erarbeitung von Hand-lungskonzepten auf Basis empirischer, theoretischer und normativer Er-kenntnisse . Die Professionsebene nimmt dabei auch eine (Ver-)mittlerposi-tion zwischen Disziplin und Praxis ein .

Auf Professionsebene, auf der bekanntlich die Ausbildung der praktisch im sonderpädagogischen Feld Tätigen geschieht, sind insbesondere Konzep-te auf Basis disziplinärer Erkenntnisse zentral . Als Erkenntnisse können em-pirische Befunde, normative Überlegungen und Theorien, aber auch phäno-menologisches und hermeneutisches, fallbezogenes Wissen fungieren . Nach Reiser (2005, S .  140) zeichnen sich Konzepte durch folgende Punkte aus: »Professionelle Konzepte sind an bestimmten Bezugswissenschaften orien-tiert, verwenden diese jedoch nach ihren eigenen operativen Regeln . Diese operativen Regeln sind darauf angelegt, Orientierung zu stiften . Damit sie die subjektiven, widersprüchlichen, ungewissen und paradoxalen Momente der pädagogischen Aufgaben- und Handlungsstruktur aufnehmen können, ohne die Widersprüche vorschnell aufzulösen, verweisen sie auf die indivi-duelle fallverstehende Interpretation, wozu sie Interpretationsregeln, Reflexi-onshilfen, Kategorien und auch Handlungsbeispiele und Handlungsversatz-stücke anbieten . Der Anschluss an die wissenschaftliche Diskussion dient teilweise der Legitimation, teilweise der Anregung und teilweise der Über-prüfung, wird aber idealtypisch nicht um der Wissenschaft willen betrieben, sondern dient der Konstruktion eines Brückenschlags zur Praxis .« Die Be-rufs- und Tätigkeitsprofile der im Feld professionell Tätigen muss sich dabei auf einen Wissenstransfer von Disziplin hin zu Profession stützen können . Die Praxis ihrerseits nimmt anschließend in konkreten Handlungsfeldern Bezug auf dieses aufbereitete Wissen .

Zweitens ist es wichtig, dass das Rollenverständnis professionell Tätiger geklärt wird . Hierbei ist eine ständige kritische Reflexion der Machtstruktur sonderpädagogischen Handelns, speziell des inhärenten Machtgefälles, der Unsicherheit in Diagnostik und Prognostik, der Herausforderung der Ver-mittlung von Allgemeinem und Besonderem sowie der Harmonisierung wi-dersprüchlicher Werte und Interessen notwendig .

Insbesondere bezüglich Inklusion ist eine Reflexion des eigenen Han-delns und Wissens aus einem bestimmten Grund besonders wichtig: Da die

Inklusion und Sonderpädagogik 283

Betroffenen auf ein Großteil des sonderpädagogischen Handelns kein Recht haben – insbesondere nicht auf deren konkrete, empathische, anerkennende Ausgestaltung –, kommt der Frage, wie dieses professionell geleistet wird, eine große Bedeutung zu . Hierin haben Berufskodexe eine wichtige Funkti-on . Allerdings darf die Frage, was empathisches, anerkennendes Handeln genau umfasst, nicht ein für alle mal festgeschrieben werden . Es muss viel-mehr in einem offenen Diskurs, gerade auch mit den Betroffenen, immer wieder neu diskutiert und ausgehandelt werden . Nimmt man nämlich das Ansinnen, dass sonderpädagogisches Handeln auch den Betroffenen gegen-über legitimiert werden muss, ernst, heißt dies, dass ein Dialog auf Professi-onsebene auch mit ihnen (und nicht über sie) geführt werden muss . Die da-für notwendigen kritischen Diskussions- und Reflexionsfähigkeiten werden unter anderem in der Ausbildung vermittelt .

Ein dritter wichtiger Schwerpunkt der Profession ist der Brückenschlag zur Praxis, die die entwickelten Konzepte umsetzen soll und in welcher die vorgängig ausgebildeten Professionellen auch tätig sind .

Praxis

Die Praxis gliedert sich im Handlungsfeld Sonderpädagogik hinsichtlich fol-gender Aspekte auf: Organisation oder Institution (beispielsweise Schule, Heim, Werkstatt oder Familie), Methoden und Didaktiken, Konzepte und Handlungsformen . Aufgrund dieser unterschiedlichen Aspekte ergibt sich auf praktischer Ebene eine Vielzahl von konkreten Handlungsfeldern, in de-nen der Auftrag der Inklusion praktisch ausgeführt wird .

Ein Hauptaugenmerk sonderpädagogischen Handelns sollte dabei vor allem in der Förderung der zu Inklusion notwendigen individuellen Fähig-keiten und Fertigkeiten zu sehen sein . Judith Hollenweger skizziert in einem Artikel die Ausgestaltung eines solchen, primär auf die Förderung individuel-ler Fähigkeiten ausgerichteten Auftrags . Zentraler Bezugspunkt einer solchen Sonderpädagogik sind demnach »auf die am Kind zu fördernden Fähigkei-ten, die es unter der Perspektive des lebenslangen Lernens integrationsfähiger und resistenter gegen Ausschluss machen . Hier wäre der Kontext Regelschu-le und die Integration in ein spezifisches Umfeld von sekundärer Bedeutung, da das Setting gewählt werden würde, das bezüglich der Entwicklung und Befähigung des individuellen Kindes die besten Erfolgschancen in Bezug auf eine Integration in die Gesellschaft verspricht . Viel grundlegender und somit

284 Inklusion und Gerechtigkeit

zur Entwicklung einer integrativen Perspektive sinnvoller würde dann die Erarbeitung eines kohärenten Verständnisses zu integrationsrelevanten Fä-higkeiten des Kindes erachtet . Unter dieser Perspektive würden eher Bezüge zu psychologischen, rehabilitationsmedizinischen und allgemein pädagogi-schen Theorien und Forschungsergebnissen gemacht« (Hollenweger 2004, S .  20) . Das Setting, in dem Inklusion stattfindet, ist dabei zweitrangig . Wichtig ist vielmehr die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten des In-dividuums und die Frage der Bedeutung und Form von Inklusion für das individuelle Leben, das betrachtet wird . Dies ist die Folge einer konsequen-ten Sichtweise aufs Individuum .

Weiter liegt eine wichtige Aufgabe von Professionellen im sonderpädago-gischen Feld darin, ›Räume der Inklusion‹ zu öffnen . Damit nehmen profes-sionell Tätige eine Vermittlerposition zwischen behinderten Menschen und Gemeinschaften oder der Gesellschaft ein . Eine solche Vermittlerposition kann in der Begleitung zu Anlässen bestehen, die ein Mensch mit Behinde-rung ohne fremde Hilfe nicht erreichen kann . Sie kann aber auch darin lie-gen, anderen Menschen die behinderungsbezogenen Spezifika zu erläutern, Fragen und Ängste zu klären und damit der für Inklusion notwendigen frei-willigen Solidarität und Empathie Vorschub zu leisten . Dieser Aufgabenbe-reich ist, anders als die Förderung individueller Fähigkeiten und Fertigkei-ten, nicht auf Individuen alleine gerichtet, sondern auch auf Systeme . Sein Sinn liegt in der Förderung der Fähigkeiten der Umwelt – anderen Men-schen wie auch von Organisationen, Institutionen und Systemen – behin-derte Menschen zu inkludieren respektive deren freiwillige Zuwendung zu fördern .6

Da sich die Legitimität des sonderpädagogischen Helfens betreffend In-klusion am Endziel des guten Lebens zu orientieren hat, zeigt sich, dass der Förderung individueller Fähigkeiten in bestimmten Fällen zugunsten der

6 Ein Beispiel für eine solche Vermittlungsarbeit ist das Vorgehen der Leiterin eines Behin-dertenheims, die, in Absprache mit der öffentlichen Erwachsenenbildung, in einer Volks-hochschule erreicht hat, dass deren Kurse auch für behinderte Menschen geöffnet werden . Den Ängsten der Leiter der Volkshochschulkurse konnte sie dahingehend entgegenwir-ken, dass sie diese erstens ernst nahm, zweitens aber auch aufzeigte, dass die Teilnehmer mit geistiger Behinderung, die an bestimmten Kursen teilnehmen würden – beispielsweise Bauchtanz – keineswegs das ›normale Funktionieren‹ der Stunden beeinträchtigten und dass sie zudem adäquate Begleitung durch das Heim erhielten . Das Beispiel wurde aus dem Grund eine Erfolgsgeschichte, weil sich in der Folge zeigte, dass die Begleitung durch Mitarbeiter des Heims nur eine bestimmte Zeit lang notwendig war . Nach einer gewissen Zeit nämlich fungierten die regulären Kursteilnehmer und -leiter als ›Inkludierer‹ respek-tive, es wurde zusehends unklarer, wer nun eigentlich wen inkludierte .

Inklusion und Sonderpädagogik 285

Förderung anderer Fähigkeiten weniger Bedeutung zukommen kann, als dies üblicherweise der Fall ist . Ein paradigmatisches Beispiel dafür sind Men-schen mit Autismus . Dies unter anderem dann, wenn soziale Inklusion für die Betroffenen zu schweren psychischen Belastungssituationen und hohem sozialem Stress führt .

Sonderpädagogische Methoden, Didaktiken, generell sonderpädagogi-sche Hilfe, haben sich danach auszurichten und daran zu legitimieren, ob und wie sie das Wohlergehen von behinderten Menschen fördern . Eine In-klusion, die das gute Leben behinderter Menschen nicht zum Ziel hat und keine Mittel und Wege findet, dieses zu fördern, sollte pädagogisch nicht angestrebt werden . Aus diesem Grund verbietet sich beispielsweise direkter Zwang zu Inklusion . Es muss nicht nur im Einzelfall abgewogen werden, inwiefern eine bestimmte Hilfestellung oder eine didaktische oder methodi-sche Vorgehensweise die Inklusion eines betreffenden Kindes oder Jugendli-chen fördert, sondern auch, welchen Stellenwert Inklusion selbst im Leben des betreffenden Menschen einnimmt .

Weiter zeigt die systemische Sichtweise auf die Umweltfaktoren, dass die legitimen Interessen behinderter Menschen nach Inklusion in einen be-stimmten Lebensbereich auch gegenüber ebenfalls berechtigten Interessen anderer Menschen auf weiterhin erfolgreiche Kooperation ihrer bestehenden Zusammenarbeit – beispielsweise in Institutionen oder Organisationen (vgl . Buchanan 1993) – abgewogen werden müssen . Allerdings hat das letzte Ka-pitel gezeigt, dass das Recht auf Inklusion impliziert, dass sich die Beweislast verschiebt . Nicht mehr die Betroffenen müssen zeigen, dass sie gerechtfertig-terweise dazu gehören . Sondern die sie Ausschließenden müssen zeigen, dass sie gerechtfertigterweise exkludieren . Auch ist ein utilitaristischen Aufwiegen der Interessen eines Einzelnen mit den Interessen vieler Anderer zu vermei-den .

Abschließend möchte ich auf einen Aspekt zu sprechen kommen, der sich insbesondere in der praktischen Arbeit als bedeutsam erweist, aber auch auf die Ebene der Profession verweist . Am Ende des letzten Kapitels hat sich nämlich gezeigt, dass keine Pflichten, soziale Inklusionstugenden umzuset-zen, verteidigt werden können . Ich habe an der Stelle aber angedeutet, dass Tugenden im professionellen sonderpädagogischen Handeln dennoch von großer Bedeutung sind und daher gefördert werden sollten . Darauf will ich im Folgenden eingehen .

286 Inklusion und Gerechtigkeit

Die Bedeutung von Tugenden in der praktischen Arbeit

Eine Analyse des tugendethischen Ansatzes von O’Neill (1996), die versuch-te, Pflichten bestimmte auf soziale Tugenden zu formulieren, scheiterte aus denselben Gründen, wie auch viele Ausgestaltungen des Rechts auf Inklusi-on scheitern . Denn auch bei Tugendpflichten werden wichtige Elemente von Inklusion, insbesondere gemeinschaftlicher Inklusion, gerade durch den ver-pflichtenden Charakter zerstört . Ist man beispielsweise jemandem nur des-halb empathisch zugewandt, weil man sich dazu verpflichtet fühlt, ist gerade die moralische Motivation, auf welcher die empathische Zuwendung beru-hen sollte, bedroht . Denn diese sollte auf einer bewussten, freiwilligen Ein-stellung dazu fußen . Das identifizierte Dilemma – die hohe Bedeutung von gemeinschaftlicher Inklusion für das gute Leben von Menschen bei gleich-zeitiger Unmöglichkeit, ein moralisches Recht darauf zu formulieren – kann somit auch nicht mit Tugendpflichten nach Inklusion gelöst werden .

Damit ist der Riegel zu Pflichten, wie sie beispielsweise auch Berufskode-xe darstellen, aber geschoben . Die Formulierung einer verpflichtenden son-derpädagogischen Berufsethik, wie sie beispielsweise Urs Haeberlin (2005) fordert, ist meiner Ansicht nach aus denselben Gründen, aus denen Tugend-pflichten abgelehnt werden müssen, zu unterlassen .7 Ähnlich sieht dies An-ton Leist (1994, S . 54), der schreibt: »Eine ganze Palette von Begriffen wird in der Sonderpädagogik aufgeboten, bis hin zum anspruchsvollen Begriff der Liebe . Muss nicht tatsächlich in der Erziehung, im einfühlsamen und kom-petenten Umgang mit einem Kind, und besonders einem behinderten, ein Element von Liebe und Hingabe enthalten sein? So formuliert möchte ich dem zustimmen, aber wichtig ist die Betonung des ›Elements‹ . Eine nahelie-gende Befürchtung ist die, dass die Berufsrolle überfordert und die Realität mit einem übersteigerten Ideal verdeckt wird . Eine etwas nüchterne, viel-leicht aber dennoch angemessene Beschreibung wäre die des mitfühlenden Helfens . Während die liebevolle Zuwendung ihr Motiv nur aus der Zuwen-dung selbst bezieht, ist das mitfühlende Helfen durchaus damit vergleichbar,

7 Die Begründungsleistung für die Inhalte sonderpädagogischen Helfens kann und soll nicht von einer dogmatischen sonderpädagogischen Berufsethik eingefroren werden . Sie kann dies nicht, weil gesellschaftliche Umstände, historische und soziale Veränderungen Kontingenzen im Handeln hervorrufen . Es lässt sich also nie mit Bestimmtheit und für alle Zeiten sagen, was sonderpädagogisches Handeln und Helfen genau erfordert . Sie soll dies auch nicht, denn genau dies würde eine sich kritisch verstehende inklusive Sonderpä-dagogik verletzen, nämlich die Fähigkeit, das eigene Tun immer wieder auf das Neue kri-tisch zu hinterfragen .

Inklusion und Sonderpädagogik 287

dass man dafür bezahlt wird – also ein zusätzliches und vielleicht sogar ins-gesamt wichtigeres Motiv akzeptabel ist .«

Die folgenden Ausführungen sollen aber zeigen, dass die Formulierung von Tugenden für das Verständnis einer sonderpädagogischen Praxis und Profession dennoch notwendig und sinnvoll ist . Tugenden sind nämlich auch dann wertvoll, wenn sie nur moralisch supererogatorischen Leistungen entsprechen . Was beispielsweise laut Anton Leist (ebd .) notwendig ist und sonderpädagogisches Handeln auszeichnen soll, ist mitfühlendes Helfen . Was aber ist darunter zu verstehen und wodurch könnte es sich auszeichnen?

Leist betont zwei Aspekte, einerseits die Motivation des Mitfühlens, der Empathie, andererseits das Helfen, welches von dieser Motivation getragen sein muss . Was damit ins Zentrum rückt, ist einerseits die Handlung selbst, das sonderpädagogische Helfen, und andererseits die Ausrichtung und die Beweggründe, von denen es getragen wird . Letztere sind, so hat obenstehen-de Argumentation gezeigt, freiwillig zu erbringen . Sie richten sich zudem, und das kennzeichnet sonderpädagogisches Helfen, an Individuen . Sie sind also partikular und – freiwillig erbracht – an individuelle Menschen mit Be-hinderung gerichtet .

Die Tugenden, die dieses Handeln leiten, sind vor allen Dingen reflexive Metafähigkeiten, wiederum selbst aber nicht bereits inhaltlich festgeschrie-ben . Dies kennzeichnet den zentralen Unterschied zur Berufsethik, wie sie beispielsweise Urs Haeberlin vorschwebt . Vielmehr muss das konkrete Han-deln mit Hilfe der Tugenden analysiert werden . Solche Tugenden könnten beispielsweise folgendes in den Blick nehmen: »Die Tugenden, die wir brau-chen, um sowohl das für uns Gute als auch das für andere Gute durch Teil-habe an derartigen Netzen zu verwirklichen, sind nur dann als echte Tugen-den wirksam, wenn wir uns bei ihrer Ausübung bewusst sind, wie es um die Verteilung von Macht bestellt ist und welchen Formen der Korruption ihr Einsatz unterliegt« (MacIntyre 2001, S . 120) . Es wären also reflexive Tugen-den, die das eigene Handeln, das sonderpädagogische Helfen, immer wieder kritisch hinterfragen und auf die (negative) Machtdimension hin befragen . Dies würde bedeuten, dass sonderpädagogisch Tätige immer wieder das Wie ihres Helfens und ihre eigene Rolle darin hinterfragen . Ein solches Einüben in die reflexiven Metafähigkeiten der Empathie wird in den Ausbildungen vermittelt .

Sonderpädagogisches Handeln und Wissen, wie ich es gerade skizziert habe, ist nun aber zwei Schwierigkeiten ausgesetzt . Das erste sind Grenzen des Inklusionsauftrags, die sich wiederum auf Überlegungen der vergange-

288 Inklusion und Gerechtigkeit

nen Kapitel beziehen . Zweitens hat sich sonderpädagogisches Handeln und Wissen auch Herausforderungen zu stellen, die jedem pädagogischen Auf-trag eigen sind . Auf diese will ich in einem zweiten Schritt eingehen .

8 .2 Die Grenzen des Inklusionsauftrags in der Sonderpädagogik

Die Sonderpädagogik ist mit ihrem Inklusionsauftrag verschiedenen Gren-zen ausgesetzt . Diese Grenzen markieren nochmals deutlich den Bereich, in dem sonderpädagogisches Handeln und Wissen stattzufinden hat, allerdings auf einer Negativfolie, nämlich hinsichtlich den Begrenzungen sonderpäda-gogischen Handelns und Wissens . Damit sind die Fragen verbunden, was sonderpädagogisches Handeln und Wissen nicht erreichen kann, wo es nicht funktioniert, wo es nicht angewendet werden kann .

Keine pädagogische ›Herstellung‹ möglich

Erstens liegt eine Grenze darin, dass diejenige Bereiche, auf welche es kein Recht gibt, auch der pädagogischen ›Herstellung‹ weitgehend entzogen sind . So sind die gemeinschaftlichen Aspekte von Inklusion zwar offen für eine pädagogische Bearbeitung . Sie können aber weder technisch hergestellt, noch (da nicht verpflichtend) als Verhalten erwartet respektive erzwungen werden . Damit erhalten vor allen Dingen die wichtigen zwischenmenschli-chen Aspekte von Inklusion, insbesondere die Anerkennung behinderter Menschen als konkrete Andere in Form von Liebe und sozialer Wertschät-zung, den Status von Supererogation oder Freiwilligkeit . Diese Aspekte von Inklusion sind zwar moralisch wünschenswert, können aber nicht verpflich-tet werden . Damit entsprechen ihnen – logischerweise – auch keine Rechte .

Die gemeinschaftliche Umsetzung von Inklusion kann daher letztlich nur erleichtert und gefördert werden, beispielsweise indem (Kontakt- oder Kommunikations-)Raum für gemeinschaftliche Inklusion geschaffen wird . Sie kann aber nicht nur aus dem Grund nicht technisch verwirklicht werden, weil sie an die Freiwilligkeit von Menschen gebunden ist, sondern auch, weil sie oft von einem koordinierten Handeln mehrerer Menschen abhängig ist . Damit befindet sie sich nicht ausschließlich im Einflussbereich einzelner

Inklusion und Sonderpädagogik 289

Menschen, sondern erfordert selbst Beziehungen und Interaktionen zwi-schen Menschen und oft auch durch und zwischen Institutionen und Orga-nisationen . Auf Letzteres weisen nicht zuletzt die gesellschaftlichen Bezüge von Inklusion hin, im Speziellen die technischen, materiellen und struktu-rellen Voraussetzungen von Inklusion, die oft koordiniertes Handeln und gesellschaftliche Institutionen erfordern und sich ebenfalls dem direkten sonderpädagogischen Eingriff entziehen . Damit ist bereits eine zweite Gren-ze angesprochen .

Voraussetzungen sonderpädagogischen Handelns und Wissens

Zweitens besteht eine Grenze in den externen Ressourcen sowie den struktu-rellen gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen von Inklusion, auf die behinderte Menschen zwar ein Recht haben, welche aber selbst nicht Gegen-stand sonderpädagogischen Handelns sind . Bestimmte externe Ressourcen, beispielsweise Rollstühle, Hörgeräte, Braillelesegeräte oder Blindenstöcke, sind selbst Voraussetzungen für sonderpädagogisches Handeln und damit nicht gleichzeitig auch Gegenstand desselben . Hier besteht die Möglichkeit der Beeinflussung einzig im Hinweis darauf, dass diese externen Güter not-wendige Bedingungen für erfolgreiches sonderpädagogisches Handeln dar-stellen .

Noch stärker zeigt sich die Schwierigkeit in den strukturellen, gesell-schaftlichen Bedingungen von Inklusion, die größtenteils auf komplizierten, gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen beruhen . Hierauf kann die Son-derpädagogik zwar Einfluss nehmen, indem sie die gesellschaftliche Bedeu-tung der eigenen Arbeit hervor streicht . Sie kann dies vordringlich dadurch tun, dass sie auf die Erfolge derselben verweist . Dies kann sie nicht zuletzt dadurch erreichen, dass sie mit Hilfe von empirischen Studien die Effektivi-tät sonderpädagogischen Handelns im Bereich Inklusion aufzeigt . Dem An-sinnen, in direkter Weise gesellschaftliche Strukturen zu beeinflussen, sind aber enge Grenzen gesetzt . Dies vor allen Dingen deshalb, weil die Sonder-pädagogik selbst Teil gesellschaftlicher Strukturen ist und auf ihren verschie-denen Wirkungsebenen komplexen Interaktions- und Wechselbeziehungen ausgesetzt ist . Die Macht, in diesen komplexen Strukturen weitreichende Änderungen zu bewirken, ist denn auch stark begrenzt . Zwar kann die Son-derpädagogik ihren Auftrag nach innen gestalten . Von außen wird ihr der Auftrag aber gesellschaftlich respektive staatlich gegeben . Dieser Unterschied

290 Inklusion und Gerechtigkeit

zwischen der Möglichkeit zur Gestaltung und der Unmöglichkeit, sich den Gestaltungsauftrag zur Gänze selbst zu geben, hat fundamentale Auswirkun-gen auf die Machtbereiche sonderpädagogischen Handelns .

Inklusion als ein Interesse unter vielen

Es zeigt sich eine dritte Grenze . Inklusion ist zweifelsohne ein wichtiges In-teresse von Menschen . Insbesondere entspricht Inklusion einem Grundbe-dürfnis von Menschen, mit anderen nahestehenden Menschen zusammen sein zu können . Inklusion ist auch, wie das sechste Kapitel gezeigt hat, so-wohl eine wichtige Voraussetzung für menschliche Entwicklung wie auch selbst Folge von Entwicklung . Dies hat sich insbesondere in der Bedeutung sozialer Intentionalität, die Voraussetzung wie Folge von Inklusion ist, ge-zeigt . Inklusion ist darüber hinaus an Pläne und Ziele von Menschen gebun-den . Insofern hat Inklusion auch einen wichtigen freiheitsrelevanten Aspekt . Die Erfüllung von Plänen und Zielen nach Inklusion zeigt nämlich den Be-reich dessen an, wo Menschen substanziell frei sind, tun und sein zu können, was sie möchten . Nicht alle diese Interessen lassen sich aber über ein Recht absichern . Dies gilt für die Inklusion in Gemeinschaften und generell für alle partikularen Aspekte von Inklusion .

Der Punkt ist zudem – und deshalb ist auch hier wieder von einer Gren-ze die Rede –, dass, auch wenn Inklusion ein unbestritten wichtiges Interesse von Menschen ist, es eben nicht das einzige ist . Menschen haben auch Inter-essen, die sich nicht oder zumindest nicht direkt mit Inklusion in Verbin-dung bringen lassen . So steht gerade das Interesse an Freiheit, sofern es nicht Pläne und Ziele nach Inklusion in selbst gewählte Gemeinschaften betrifft, eben gerade nicht oder nicht zwingend mit Inklusion in Zusammenhang . Dies gilt im selben Maß für andere Interessen von Menschen, die weniger die Einbindung und Zugehörigkeit, sondern vielmehr die Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen betonen . Autonomie und Selbstbestim-mung sind zwar beide Voraussetzungen für Inklusion, sie sind aber, und das ist der Punkt, selbst keine Interessen nach Inklusion .

Inklusion und Sonderpädagogik 291

Nicht einziges Ziel der Sonderpädagogik

Viertens ist Inklusion zweifelsohne ein wichtiges Ziel sonderpädagogischer Bemühungen, aber nicht das einzige . Gerade in der gesellschaftlichen Funk-tion von Bildung ist die Bildung zum Bürger durchaus als pädagogisch-gesell-schaftlicher Inklusionsauftrag zu sehen . Schule nimmt beispielsweise per se von ihrer Zuständigkeit her, einen wichtigen Inklusionsauftrag wahr . Sie ist, mit anderen Worten, ihrem Auftrag nach der gesellschaftlichen Inklusion ver-pflichtet . Auch sind viele Lern- und Bildungsziele des Bildungssystems auf ein weiteres gesellschaftliches System, nämlich das Arbeitssystem, gerichtet . Die Schule bereitet Schülerinnen und Schüler auf den Übergang ins Arbeits-leben vor . Auch hierin liegt also ein wichtiger Inklusionsauftrag von Bildung, der in der Schule verwirklicht wird .

Damit erschöpft sich der Auftrag von Bildung aber keineswegs . Ja, im Grunde genommen deckt dieser Aspekt von Bildung nur einen Teil des Werts von Bildung ab, nämlich die instrumentelle Bedeutung von Bildung . Bildung hat darüber hinaus aber auch einen intrinsischen Wert, der sich oft so ausdrückt, dass Bildung den Menschen als Menschen bildet . In dieser etwas verklausulierten Aussage steckt einiges an Wahrheit: Bildung ist auch dazu da, die Potenziale des Menschen zu ergründen und zu fördern . Darauf hin-gewiesen zu haben, dass auch behinderte Menschen Potenziale, Fähigkeiten und Fertigkeiten haben, ist denn auch zu Recht Teil des historischen Erfolgs sonderpädagogischer Bemühungen .

Der Punkt ist aber, dass der Auftrag von Bildung, die Potenziale in Men-schen zu wecken und zu verfestigen, nicht zur Gänze auf Inklusion und da-mit auf zwischenmenschliches und gesellschaftliches Zusammenleben ge-richtet ist . Vielmehr richtet sich dieser Teil des Auftrags in direkter Weise an das Individuum und seine Fähigkeiten und Fertigkeiten, unabhängig davon, ob sich diese in sozialer Weise auswirken oder nicht .

Nicht alles im Leben ist durch Bildung beeinflussbar

Fünftens gerät Inklusion als sonderpädagogisches Ziel noch aus einem relativ banalen Grund an Grenzen: Nicht alles im Leben von Menschen ist durch Bildung und insbesondere durch Institutionen der Bildung – vornehmlich der Schule – beeinflussbar . So kann die Sonderpädagogik zwar ihr Hand-lungsfeld auf Freizeitbereiche oder den Arbeitsbereich ausweiten und damit

292 Inklusion und Gerechtigkeit

das angestammte Kernland der Schule verlassen; die Tatsache aber, dass nicht überall sonderpädagogische Maßnahmen greifen oder angebracht sind, bleibt bestehen . So ist es ein Faktum, dass das, wonach sich so viele Men-schen mit Behinderung sehnen, nämlich nach Freundschaften und nach Lie-be, nicht nur kein Recht darstellt, sondern auch nicht oder nur geringfügig und zumindest nicht direkt pädagogisch beeinflussbar ist . Die Hilflosigkeit angesichts dieses Dilemmas zeigt sich in einer Folge von ›Üsi Badi‹ besonders deutlich: Remo, der Mann mit Down Syndrom, den ich bereits zu Beginn der Arbeit vorgestellt habe, wünscht sich nichts sehnlicher als eine Freundin und Liebe . Eines Nachmittags wandert er daher auf dem Badeanstaltgelände umher und fragt mehrere Frauen, ob sie seine Freundin werden möchten . Alle lehnen ab . Nach Beendigung dieser erfolglosen Versuche weint Remo . Bademeister Erwin, der das Ganze beobachtet hat, bringt Remo daraufhin ein Süßgetränk, klopft ihm auf die Schulter und sagt: »Das kommt schon wieder . Du hast ja Maya .«8 Remo antwortet: »Ja, aber die gehört dir .« Auch wenn der Versuch des Bademeisters hilflos war und die Antwort von Remo durchaus berechtigt – was hätte dieser anderes sagen oder tun können? Es gibt ja nicht nur kein Recht auf Liebe und Freundschaft und darüber hinaus sind auch beide nur schwer pädagogisch (oder in diesem Fall agogisch) zu beeinflussen .9 Was ein Bademeister in diesem Fall tun kann, ist Empathie zu zeigen sowie Remo soziale Normen10 zu vermitteln . Nur Letzteres ist Inhalt sonderpädagogischen Handelns, das erste ist Voraussetzung für sonderpäda-gogischen Handelns .

Innerhalb dieser Grenzen, die ich mit fünf Punkten benannt habe, be-wegt sich der sonderpädagogische Auftrag betreffend Inklusion . Der genaue Inhalt dieses Auftrags verkompliziert sich zusätzlich, wenn man sich folgen-de, grundsätzliche Schwierigkeiten sonderpädagogischen Handelns vor Au-gen führt, auf die ich im Folgenden abschließend zu sprechen komme .

8 Maya ist die Frau des Bademeisters Erwin . 9 Hierbei hilft auch keine Surrogat-Freundschaft durch Professionelle, welche meiner Mei-

nung nach abgelehnt werden sollte, da sie das fundamentale Element von Freundschaft, nämlich die Freiwilligkeit, zerstört . Und eine solche ist zweifellos nicht gegeben, wenn sie einem – unter Umständen selbst gegebenen – Rollenauftrag entspringt .

10 Eine solche Norm kann beispielsweise im Fall von Remo darin bestehen, Frauen, die man eben erst kennen gelernt hat, nicht gleich ›Liebe‹ zu gestehen . Es würde, mit anderen Worten, bedeuten, Remo zu vermitteln, dass das, was er in diesem Moment empfindet, sozialen Normen nach nicht Liebe, sondern bestenfalls Interesse genannt werden kann, und dass er daher seine Annäherungsversuche anders formulieren sollte .

Inklusion und Sonderpädagogik 293

8 .3 Die Herausforderungen sonderpädagogischen Handelns und Wissens

Die Herausforderungen sonderpädagogischen Handelns und Wissens, de-nen auch inklusionspädagogische Bemühungen ausgesetzt sind, zeigen sich auf vier Ebenen: Erstens besteht in mehreren Hinsichten ein Machtgefälle zwischen Anbietern und Abnehmern sonderpädagogischer Leistungen . Dies wirkt sich nicht zuletzt in pädagogischen Paradoxien aus . Zweitens findet sonderpädagogisches Handeln vielfach unter Unsicherheit statt . Drittens be-steht eine Herausforderung in der Vermittlung von Allgemeinem und Be-sonderem . Viertens besteht ein Problem in den spannungsgeladenen Werten und Interessen . Alle diese Herausforderungen können wiederum auf eine Disziplinebene, eine Professionsebene und eine Ebene praktischen Handelns gespiegelt werden . Besonders deutlich werden sie auf letzterer, daher bezie-hen sich die Beispiele, die ich zur Anschaulichkeit anfüge, meist auf die Ebe-ne der sonderpädagogischen Praxis .

Inhärentes Machtgefälle

Erstens besteht in sonderpädagogischem Handeln ein Machtgefälle vom professionell Tätigen zum Individuum mit Behinderung . Dies zeigt sich be-reits in der Ausgangslage, in der sich Menschen mit Behinderung befinden . Schon im vierten Kapitel habe ich nämlich aufgezeigt, dass die normative Problematik von Behinderung darin liegt, dass die betroffenen Menschen aufgrund einer Schädigung und unter bestimmten Umweltbedingungen in den Bemühungen, ein gutes Leben führen zu können, gefährdet sind . Das Schlechte an Behinderung ist mit anderen Worten, dass es menschliches Wohlergehen reduziert . Damit grenzt sich Behinderung von Schädigung und Beeinträchtigung ab . In diesen ist eine Reduktion von Wohlergehen nicht zwangsläufig impliziert . Das siebte Kapitel wiederum hat gezeigt, dass man das Recht auf Inklusion den Menschen mit Behinderung als Mitglieder einer sozialen Gruppe zuschreiben sollte . Demzufolge sind Menschen mit Behinderung aus dem Grund Mitglieder dieser Gruppe, weil sie unter sozia-ler Benachteiligung – unter anderem auch aufgrund gesellschaftlicher Zu-schreibungsprozesse – leiden, über die sie selbst keine oder nur geringe Macht besitzen .

294 Inklusion und Gerechtigkeit

Diejenigen, die sonderpädagogische Hilfe praktisch leisten, sind aber selbst nicht von gesellschaftlicher Benachteiligung betroffen, zumindest nicht von derselben Art . Daraus ergibt sich ein potenzielles Machtgefälle: Auf der einen Seite sind diejenigen, die Hilfe benötigen, um aus der Position gesell-schaftlicher Benachteiligung herauszukommen . Auf der anderen Seite befin-den sich diejenigen, die schon allein aufgrund der faktischen Möglichkeit, helfen zu können, nicht in dieser Position sein können .

Das der sonderpädagogischen Arbeit inhärente Machtgefälle zeigt auch, dass in ihr immer zwischen dem Zwang zur Mitarbeit und der zur erfolgrei-chen Bewältigung der Aufgabe benötigten freiwilligen Zusammenarbeit ver-mittelt werden muss . Aus diesem Grund zeigt sich hier auch die Paradoxie eines Rechtsanspruchs auf sonderpädagogische Unterstützung . Zwar besteht ein Recht auf Hilfe an und für sich, nicht aber auf die Art und Weise, wie diese Hilfe erbracht wird . Zusätzlich wird die Erfüllung des Rechts auf spe-zielle Unterstützung zumindest im schulischen Kontext durch die Schul-pflicht gebrochen . Denn es besteht ja nicht nur ein Recht auf Bildung, es besteht auch eine Pflicht zu Bildung . Daher kommt sonderpädagogische Hilfe in diesem Zeitraum auch denjenigen zu, die von diesem Recht keinen Gebrauch machen möchten .

Unsicherheiten in Diagnostik und Prognostik

Die zweite Herausforderung besteht darin, dass sonderpädagogisches Han-deln und Wissen, vor allem in der praktischen Anwendung, von diversen Unsicherheiten geprägt ist . Erstens besteht Unsicherheit bezüglich der Stär-ke und den Auswirkungen von individuellen Entwicklungsbeeinträchtigun-gen, insbesondere auf Bildungsprozesse . Dies ist eine Herausforderung für sonderpädagogische Diagnostik, also beispielsweise verstehende, rehistorisie-rende, biographische, ressourcenorientierte und andere diagnostische Zu-gänge der Sonderpädagogik . Zweitens besteht Unsicherheit bezüglich den Entwicklungsmöglichkeiten und -potenzialen von Individuen . Damit ist die sonderpädagogische Prognostik angesprochen . Sie muss neben internen Res-sourcen und der individuellen Entwicklungsfähigkeit immer auch externe Ressourcen, das Umfeld des behinderten Menschen und gesellschaftliche Strukturen (mit ihren Kontingenzen) im Auge behalten . Denn alle diese Faktoren beeinflussen individuelle Entwicklungsmöglichkeiten und halten den weiteren Entwicklungsverlauf bis zu einem gewissen Grad offen .

Inklusion und Sonderpädagogik 295

Das macht sonderpädagogische Diagnostik und Prognostik nun zwar nicht zu einem Rätselraten; vielmehr zeichnet sich eine Professionalität in beiden Gebieten gerade dadurch aus, dass diagnostische und prognostische Erkenntnisse mit Hilfe theoretischer, normativer und vor allen Dingen em-pirischer Erkenntnisse untermauert und begründet werden . Diagnostik und Prognostik können aber aufgrund ihrer inhärenten Offenheit nie exakt sein . Daher müssen die gewonnen Erkenntnisse ständig hinterfragt und gegebe-nenfalls revidiert werden . Aus demselben Grund liegt die besondere Leistung der Sonderpädagogik sowohl darin, vorliegende Hinweise richtig zu inter-pretieren, als auch in der kritischen Fähigkeit von Professionellen, einmal gewonnene Erkenntnisse zu revidieren, sollte sich die Erkenntnislage än-dern .

Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem

Die dritte Herausforderung sonderpädagogischen Handelns und Wissens liegt darin, dass Sonderpädagogik zwischen Allgemeinem und Besonderem vermitteln muss . Dies zeigt sich in dreierlei Hinsicht, einmal hinsichtlich abstraktem Recht und konkreter Interpretation, einmal hinsichtlich Gleich-heit und Differenz von Menschen und einmal hinsichtlich abstraktem Wis-sen der Disziplin und konkreter Anwendung in der Praxis .

Bildung stellt ein allgemeines, auch demokratisch verbrieftes Recht dar, das sich aus dem Gleichheitsgebot ergibt . Das heißt, es gilt für alle Men-schen, auch für alle Menschen mit Behinderung . Was aber heißt dies nun konkret? Meiner Meinung nach lässt sich folgendes aus dem abstrakten Recht auf Bildung schließen: In der Umsetzung des gleichen Rechts auf Bil-dung kommt der Regelbeschulung das Primat zu . Die Sonderbeschulung wird begründungsbedürftig . Dies aus folgenden Gründen: Nimmt man an, dass alle Menschen ein Recht auf Bildung haben, bedeutet dies, dass man allen Menschen ein Interesse nach Bildung zuschreiben kann . Da Bildung in den meisten Kulturkreisen als gemeinschaftliche Aufgabe gesehen wird und daher auch in Gemeinschaften umgesetzt wird, ist begründungsbedürftig, weshalb diese nicht in Gemeinschaften von Gleichaltrigen stattfinden soll, zu denen neben nicht behinderten auch behinderte Kinder und Jugendliche gehören .

Denn die Schule ist ein geteilter Erfahrungsraum, in welchem Heran-wachsende miteinander Bildung empfangen und umsetzen (vgl . Eberwein

296 Inklusion und Gerechtigkeit

1988, S . 343; Prengel 1995, S .  140) . Sie ist, mit anderen Worten, sowohl Umwelt als auch Lebensraum, in welcher Partizipation im Sinne aktiven sozialen Bezugs möglich wird (vgl . Heimlich 2003, S . 140) . Dieser ist in ei-ner Sonderschule nicht im selben Maß möglich, da sie bereits stark auf eine bestimmte Auswahl von Schülern eingeschränkt ist .

Gerade das Beispiel von Sabine und dem Hörbehinderteninternat, das ich eingangs der Arbeit vorgestellt habe, zeigt aber, dass die Umsetzung des Rechts in Einzelfällen dennoch Richtung Sonderschule tendieren kann . Dies gerade deshalb, weil ein Hörbehinderteninternat unter Umständen das spe-zielle Recht auf die Ermöglichungsbedingungen auf Inklusion, beispielswei-se Selbstwertgefühl oder der Umgang mit der Sinnesbeeinträchtigung, besser zu leisten imstande ist als die Regelschule . Dies allerdings nur, weil und in-sofern es vom betroffenen Mädchen und seinen Angehörigen auch gewünscht wird . Denn nur so kann Freiheit in der Wahl des Kontextes von Inklusion abgesichert werden . Ob ein prinzipielles Recht auf Bildung in einem selbst gewählten Kontext aber auch tatsächlich umgesetzt wird, misst sich nicht zuletzt auch an anderen Fragen, beispielsweise: Wie groß ist – auch ange-sichts des großen finanziellen Mehraufwands, den der Besuch eines Hörbe-hinderteninternats bedeutet – die Gefährdung für Sabine, wenn sie im Re-gelschulkontext verbleibt? Ist, mit anderen Worten, bei einem Verbleib ihre Lebensqualität gefährdet? Ist diese in Gefahr, gerät das Mädchen nämlich in den Fokus spezieller Rechte . Das Recht auf Bildung wird dabei durch das Recht auf spezielle Unterstützung als Voraussetzung für Inklusion ergänzt . Dadurch kann argumentiert werden, dass das Recht auf Bildung im Fall von Sabine tatsächlich in einem separativen Kontext adäquater umgesetzt wer-den kann .11

Das Dilemma zwischen Allgemeinem und Besonderem zeigt sich wie ausgeführt im Abwägen zwischen allgemeinen und besonderen Rechten so-

11 Damit kommt die Utopie von inklusiver Schule, welche sich zentral am Wohlergehen von Individuen orientiert, folgender von Emil E . Kobi (2006, S . 40) sehr nahe: »In einer mo-dernen Demokratie mit kulturell unterschiedlichen, teils sogar konträren Erwartungen sind […] entsprechend viele Varianten von Schule zuzulassen: inklusive und exklusive, integrative und separative sowie partielle und passagere Mischformen hiervon . Schulen sollen ›Attraktoren‹ (Anziehungspunkte) sein, Biotope, die um ihrer artgemässen (diesfalls zweifellos human kindsgemässen, aber auch ideell und kulturell stimmigen) Lebensquali-tät wegen aufgesucht werden .« Eine Schule, die, so Kobi, keine Totale Institution sein wolle, müsse auch die Möglichkeit von Selbst-Exklusion offen halten . Wichtig ist in die-sem Zusammenhang, dass insbesondere der Prozessaspekt von Freiheit beachtet wird . Dies heißt, dass darauf zu achten ist, dass die Entscheidung für eine Sonderbeschulung ohne Zwang und Druck zustande kommt .

Inklusion und Sonderpädagogik 297

wie der Frage, wie sich diese individuell legitimieren und wie pädagogisch darauf reagiert wird . Eine inklusive Sonderpädagogik muss immer wieder zwischen dem moralischen Anspruch behinderter Menschen, als Gleiche mit Rechten behandelt zu werden, und der Differenz von Menschen mit Behin-derung aufgrund ihrer multidimensionalen Behinderung, vermitteln . Damit ist der Aspekt dessen, was Menschen individuell mitbringen, angesprochen . In pädagogischer Hinsicht sind damit insbesondere individuelle Entwick-lungsvoraussetzungen und Entwicklungsmöglichkeiten gemeint . Dieses Span-nungsverhältnis kann nicht aufgelöst, sondern nur bearbeitet werden . Einen entsprechenden Entwurf einer pädagogischen Bearbeitung hat Annedore Prengel in ihrer ›Pädagogik der Vielfalt‹ (1990) angeboten . Darin plädiert sie für eine sogenannte ›egalitäre Differenz‹: »Egalitäre Differenz bedeutet, dass in Konzepten demokratischer Bildung durch integrative Pädagogik Gleich-heit und Differenz neu in Beziehung zueinander gesetzt werden . Gleichheit kommt allen Angehörigen der jüngeren Generation zu im Hinblick auf den Zugang zu einer Bildungsinstitution und im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe . Differenz kommt allen Angehörigen der jüngeren Generation zu im Hinblick auf eine respektvolle Anerkennung ihrer individuellen Lern- und Lebensweisen und ihrer Kreativität . […] Egalitäre Differenz meint Gleichberechtigung und Freiheit der Verschiedenen« (ebd ., 49ff .) .

In der speziellen Beachtung der Freiheit trotz Differenz, insbesondere in der Sensibilität für die sozial bedingten Ursachen von Differenz, welche sich in den strukturellen Benachteiligungen ausdrücken, zeigen sich die speziel-len Rechte, die behinderten Menschen qua Behinderung zukommen . Sie sollen behinderten Menschen auf der Basis moralischer Gleichheit ermögli-chen, sich eigene Kontexte von Inklusion zu erarbeiten und notfalls für ihre soziale Inklusion zu kämpfen .

Weiter ergibt sich die Aufgabe einer Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem auch hinsichtlich des in der Sonderpädagogik gewonnen Wissens . Gerade auf der Praxisebene besteht die Herausforderung für son-derpädagogisch Tätige darin, das Wissen, das allgemein auf den Ebenen von Disziplin und Profession gewonnen wurde, auf den Einzelfall anzuwenden . Die dazu notwendige hermeneutische Kompetenz ist eine Kunst, deren Be-herrschung sich oft erst in langer Übung und Anwendung ergibt . Dies zeigt sich insbesondere bei therapeutischen Berufen deutlich .

298 Inklusion und Gerechtigkeit

Arbeit in Spannungsfeldern unterschiedlicher Werte

Die vierte Herausforderung sonderpädagogischen Handelns und Wissens besteht darin, dass immer wieder zwischen unterschiedlichen Werten und Interessen ausgehandelt werden muss . Die Interessen habe ich bereits ange-sprochen . Nicht nur haben Menschen ein Interesse, in einen kooperativen Rahmen eingeschlossen zu sein respektive in Gemeinschaften und in die Gesellschaft inkludiert zu sein . Bereits darin Inkludierte haben auch ein – gleichfalls berechtigtes – Interesse daran, dass ihre Kooperation nicht gestört wird (vgl . Buchanan 1993) . Diese beiden Interessen müssen ausgehandelt werden . Das kann in einem Fall dazu führen, dass die Zugangsbedingungen und damit die Art und der Umfang einer bestimmten Gemeinschaft selbst verändert werden . In einem anderen Fall kann es aber auch dazu führen, dass das Individuum auf eine Inklusion in einer bestimmten Gemeinschaft ver-zichten oder die dazu notwendigen Zugangsbedingungen, beispielsweise be-stimmte Fähigkeiten, zuerst erwerben muss .

Weiter zeigen sich Spannungsfelder auch hinsichtlich verschiedener Wer-te, die in der Sonderpädagogik verfolgt und beachtet werden müssen . So sind sowohl Sicherheit wie auch Autonomie oder Selbstbestimmung wichti-ge Werte in der sonderpädagogischen Arbeit . Beide stehen aber in einem Spannungsverhältnis, das sich insbesondere in praktischem Handeln zeigt . Hier können in vielen Fällen Bemühungen um Sicherheit, beispielsweise der Schutz von Menschen mit Behinderung vor Ausnützung und Missbrauch, in Konflikt zu Bemühungen um Autonomie oder Selbstbestimmung stehen .

Die Herausforderung für die Sonderpädagogik besteht dabei nicht in ei-ner Entscheidung für oder wider einen Wert, sondern in der Harmonisie-rung der zwei Werte, die beide menschlichen Interessen entsprechen . Auch hier zeigt sich, dass die Herausforderung in der Anwendung auf den Einzel-fall liegt, in welchem die Werte und ihre Schwerpunktsetzung ausgehandelt werden müssen .

8 .4 Fazit

Das Kapitel hatte die Anwendung der Frage des Rechts auf Inklusion zum Inhalt . Dabei habe ich die Disziplin, die Profession und die Praxis der Son-derpädagogik unterschieden und kurz angedeutet, worin die Aufgaben für

Inklusion und Sonderpädagogik 299

die jeweiligen Ebenen bestehen . Auch die Tugenden sind dabei nochmals angesprochen worden . Diese betreffen vor allem bestimmte Metafähigkei-ten, die vorwiegend im praktischen sonderpädagogischen Handeln zur An-wendung kommen .

Die Grenzen des Inklusionsauftrags haben sich in folgenden Bereichen gezeigt: Pädagogische Herstellung ist in bestimmten Bereichen nicht mög-lich; die Sonderpädagogik ist selbst von Voraussetzungen für Inklusion ab-hängig; Inklusion ist nur ein Interesse unter vielen und sie ist auch nicht das einzige Ziel . Und als letztes kann auch gezeigt werden, dass nicht alles durch Bildung beeinflussbar ist . Auch darin sind sonderpädagogischen Zugängen die Hände gebunden .

Weiter habe ich die generellen Herausforderungen sonderpädagogischen Handelns und Wissens angedeutet, die auch beim sonderpädagogischen Ver-such, Inklusion umzusetzen, sichtbar werden . Es sind dies das inhärente Machtgefälle, die Vermittlung zwischen Besonderem und Allgemeinem, die Unsicherheit in Diagnostik und Prognostik und die Arbeit in Spannungsfel-dern unterschiedlicher Werte und Zielperspektiven .

Damit hat das Kapitel die Folgen für die Sonderpädagogik als angewand-te Wissenschaft, Profession und Praxis gezeigt . Die Handlungsorientierung des generierten Wissens sollte zumindest ansatzweise sichtbar geworden sein . Eine Rezeptbuchsammlung aber konnte dieses letzte Hauptkapitel der Ar-beit nicht sein . So bleibt vieles der gedanklichen Arbeit der Leserinnen und Leser überlassen .

Was jetzt noch folgt, ist eine kurze Gesamtzusammenfassung der Arbeit und ein Ausblick .

9 . Fazit und Ausblick

Die Ergebnisse meiner Untersuchung zu den moralischen Rechten behin-derter Menschen auf Inklusion lassen sich nun nochmals vor dem Hinter-grund einiger im Verlaufe der Arbeit getätigten Überlegungen rekapitulie-ren .

Moralische Rechte stellen nur einen kleinen Teil moralischer Forderun-gen dar . Sie sind besonders starke moralische Ansprüche sind, da sie erstens mit Pflichten auf anderer Seite verbunden sind und damit zusammenhän-gend zweitens auch erzwungen werden können . Was auf der Basis morali-scher Rechte gefordert werden kann, ist dann keine Frage von Freiwilligkeit oder Supererogation . Menschen, Organisationen oder Institutionen müssen im Gegenteil die mit einem Recht auf Inklusion geforderten Handlungen tätigen oder solche unterlassen . Dieses Müssen ist ein zunächst einmal ein moralisches Müssen, es kann aber gegebenenfalls auch in juridisches Recht umgewandelt werden . Denn oft ist es ja gerade die juridische Fassung, wel-che den moralischen Rechten erst zu ihrer lebensweltlichen Durchsetzungs-fähigkeit verhilft .

Geht man davon aus, dass Rechte wichtige Interessen von Menschen ab-decken, gewinnt die These nach dem moralischen Recht auf Inklusion zu-sätzliche Attraktivität . Denn man kann zweifellos davon ausgehen, dass In-klusion ein wichtiges Interesse behinderter Menschen darstellt . Und diese Einschätzung wird indirekt auch von den meisten Bürgerinnen und Bürgern in unserer Gesellschaft geteilt . So antworteten in einer Befragung der Euro-päischen Kommission, ob mehr für die soziale Inklusion behinderter Men-schen getan werden sollte, 98 % der rund 20 .000 Befragten mit Ja (vgl . Eu-ropäische Kommission 2001) . Diese überaus hohe Zustimmungsrate kann nun nicht nur dahingehend gedeutet werden, dass mehr getan werden müss-te – darauf hatten die Befragten ja inhaltlich geantwortet –, sondern darüber hinaus auch dahingehend, dass hinter der Zustimmung eine faktische Aner-kennung des Anspruchs steht .

Fazit und Ausblick 301

Die Schwierigkeit des Rechts auf Inklusion zeigt sich denn auch nicht in erster Linie daran, dass Inklusion kein (auch faktisch allgemein anerkanntes) wichtiges Interesse von Menschen darstellt, sondern, dass Rechte ganz allge-mein noch vor zwei anderen Herausforderungen stehen . Erstens müssen sie erzwingbar sein und zweitens müssen sie im Einflussbereich der Pflichtenträ-ger liegen . Gerade diese beiden Bedingungen sind es aber, die ein Recht im Kontext von Inklusion in vielen Fällen unplausibel werden lassen . Am Bei-spiel von Liebe und Freundschaft hat sich das besonders deutlich gezeigt . Niemand kann gezwungen werden, eines Anderen Freund zu werden . Und auch das Empfinden von Liebe, von Freundschaft wie auch von Glück liegt nicht im Einflussbereich der Träger von Pflichten . Damit ist ein großes Di-lemma in der faktischen Lebenswelt behinderter Menschen angesprochen . Denn gerade das, wonach sich die meisten Menschen – nicht nur Menschen mit Behinderung – sehnen, kann nicht über Rechte abgesichert werden . Und es lässt sich darüber hinaus auch nicht oder nur schwer pädagogisch oder technisch herstellen .

Damit ist ein ernüchterndes Fazit zu ziehen, insofern nämlich den An-sprüchen und dem Selbstverständnis vieler inklusionspädagogischer Ansätze zu Inklusion, aber auch den Intuitionen vieler Menschen sowie den Wün-schen von Betroffenen und ihren Angehörigen eine Absage erteilt wird . Die Absage ist insofern unerbittlich und hart, als sie aussagt, dass das, was gefor-dert wird, in vielen Fällen unrealistisch oder gar antiliberal ist . Nichts desto trotz weist die Absage an Rechte aber auch auf die hohe Bedeutung von Freiwilligkeit, Zuwendung und damit letztlich gemeinschaftlicher wie gesell-schaftlicher Solidarität hin . Wie letztere in Zukunft gestärkt und damit der Abnahme gesellschaftlicher Kohäsion entgegengewirkt werden kann, wird eine Herausforderung sein und bleiben . Denn eines scheint klar: Ohne die freiwillige, empathische Zuwendung durch andere Mitmenschen werden nicht nur Menschen mit Behinderung in ihrem Wohlergehen massiv beein-trächtigt, auch Gesellschaften laufen Gefahr, dass sich ihre Bürger wechsel-seitig entfremden .

Es gibt aber Hinweise, dass das gesellschaftliche Milieu nicht nur kälter wird, wie oft proklamiert wird, sondern auch Zeichen zu vermehrter – ge-sellschaftlicher – Hinwendung zu behinderten Menschen in unserer Gesell-schaft zu beobachten sind . Zwei Beispiele möchte ich exemplarisch nennen . Da ist zum Ersten der spanische Film ›Yo también‹ (Spanien 2009) . Der Ti-tel steht gleichsam als Forderung: ich auch! Das soll heißen, ich habe die gleichen Bedürfnisse wie ihr, ich gehöre auch zu dieser Gesellschaft, ich bin

302 Inklusion und Gerechtigkeit

auch ein Teil von ihr . Ich möchte, dass ihr mich dazu zählt, auch wenn ich anders spreche und anders aussehe als ihr . Der das so formuliert – im Film wie im wirklichen Leben – ist der Schauspieler Pablo Piñeda, 34-jährig . Er lebt und arbeitet in Sevilla, hat einen Master in Psychopädagogik und lebt mit Down Syndrom . Im Film ›Yo también‹ verkörpert er Daniel Sanz, einen jungen Mann mit Down Syndrom, der in einer Stadtverwaltung in der Ab-teilung arbeitet, die sich um die Inklusion behinderter Menschen kümmern muss . Als einziger Mensch mit Behinderung wird er von seiner Arbeitskolle-gin, der attraktiven Laura (gespielt von Lola Dueñas), fälschlicherweise für einen Klienten gehalten – ein Umstand, der die beiden bald einander näher bringt, denn Daniel erklärt Laura reflektiert und selbstironisch, was ihn von anderen Menschen unterscheidet . Laura ist beeindruckt, eine Freundschaft entwickelt sich . Aber Daniel will mehr, er will eine Liebesbeziehung . Dass diese nicht möglich ist, stürzt ihn in tiefe Verzweiflung . Der Film verkörpert – lustig, ironisch und auch traurig – die Lebensproblematik, der nicht nur der Protagonist im Film, sondern auch sein Darsteller Pablo Piñeda, ausge-setzt ist . Als Kinofilm, der europaweit große Beachtung erhielt, ist er in der Lage, die Problematik der Inklusion einer Gesellschaft (oder vielmehr einer Gemeinschaft von Filmfans) näher zu bringen .

Ein anderes Beispiel ist die Sommerserie ›Üsi Badi‹, die letztes Jahr das Sommerloch des Schweizer Fernsehens am Montagabend füllte und welche bereits mehrfach erwähnt wurde . Vorgängig wurde von den Verantwortli-chen ein Flop befürchtet; von einem dementsprechend großen Wagnis ging man denn auch aus . Was aber geschah? Die Doku-Serie wurde jeden Mon-tagabend von rund 500 .000 Fernsehzuschauern verfolgt und hatte damit knapp 30 % Marktanteil . Die Reaktionen überschlugen sich in der Folge fast vor Begeisterung . »Es ist das TV-Highlight des Sommers«, schreibt beispiels-weise die Zeitschrift ›Tele‹ vor der letzten ausgestrahlten Folge (Henggeler und Stecher 2010, S . 10) . Am Tisch mit meinen eigenen Verwandten zeigte sich im Spätsommer ein ähnliches Bild . Was einer aufgeklärten Sonderpäda-gogin vielleicht einen Schauer über den Rücken jagen könnte ob all dem mangelnden Wissen über Behinderung und Menschen mit Behinderung, kann auch anders gesehen werden . So meinte meine Tante, Hausfrau in ei-nem kleinen Berner Dorf, die Serie hätte ihr gezeigt, dass diese Menschen auch Gefühle hätten, dass sie auch arbeiten könnten und dass man ihnen ›ruhig mehr zutrauen könnte‹ . Das daraus viele überwundene Vorurteile sprechen, muss nicht in jedem Fall negativ eingeschätzt werden . Vielmehr

Fazit und Ausblick 303

spricht es davon, dass im ›Du‹ auch das ›Wir‹ entdeckt wird, wie Axel Hon-neth sagen würde . Und das ist es, womit Inklusion beginnt .

Literatur

Abrams, Dominic, Hogg, Michael A . und Marques, José M . (2005): A Social Psy-chological Framework for Understanding Social Inclusion and Exclusion . In: The Social Psychology of Inclusion and Exclusion, Hrsg . von D . Abrams, M . A . Hogg und J . M . Marques, New York: Psychology Press, S . 1–23 .

Alexy, Robert (1986): Theorie der Grundrechte, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .Alkire, Sabina (2002): Valuing Freedoms – Sen’s Capability Approach and Poverty Re-

duction, Oxford: Oxford University Press .– (2005): Needs and Capabilities . In: The Philosophy of Need, Hrsg . von S . Reader,

Cambridge: Cambridge University Press, S . 229–251 .Allotey, Pascale, Reidpath, Daniel, Kouamé, Aka und Cummins, Robert (2003): The

DALY, Context and the Determinants of the Severety of Disease: An Explorato-ry Comparison of Paraplegia in Australia and Cameroon, Social Science and Me-dicine 57, S . 949–958 .

Amundson, Ron und Tresky, Shari (2007): On a Bioethical Challenge to Disability Rights, Journal of Medicine and Philosophy 32 (6), S . 541–561 .

Anderson, Elizabeth (1999): What is the Point of Equality?, Ethics 109 (1), S . 287–337 .

Anstötz, Christoph (1990): Peter Singer und die Pädagogik für Behinderte – Der Beginn der ›Singer-Affäre‹, Analyse und Kritik 12 (2), S . 131–148 .

Aristoteles (1969): Nikomachische Ethik, Leipzig: Reclam .Baer, Niklas (2007): Würden Sie einen psychisch behinderten Menschen anstellen?,

Zeitschrift für Sozialhilfe (1), S . 32–33 .Barnes, Colin, Mercer, Geof und Shakespeare, Tom (Hrsg .) (1999): Exploring Disa-

bility: A Sociological Introduction . Cambridge: Polity Press .Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .Beitz, Charles (2009): The Idea of Human Rights, Oxford Oxford University Press .Berlin, Isaiah (1969): Two Concepts of Liberty . In: Liberty Hrsg . von I . Berlin, Ox-

ford: Oxford University Press, S . 166–217 .Bérubé, Michael (2009): Equality, Freedom, and/or Justice for All: A Response to

Martha Nussbaum, Metaphilosophy 40 (3–4), S . 352–365 .Betzler, Monika (2007): Interpersonelle Beziehungen und gemeinsame Handlun-

gen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (3), S . 441–455 .

Literatur 305

Biever, Celeste (2009): Steven Laureys: How I know ›Coma Man‹ Is Concscious . The New Scientist, 27 . November 2009 .

Birnbacher, Dieter (2007): Analytische Einführung in die Ethik, Berlin: de Gruyter .Bohn, Cornelia (2006): Einleitung: Inklusion und Exklusion . Analytiken, Semanti-

ken und strukturelle Entwicklungen . In: Prozesse von Inklusion und Exklusion: Identität und Ausgrenzung, Hrsg . von C . Bohn und A . Hahn, Trient: Soziologi-sches Jahrbuch 16, S . 7–27 .

Boshammer, Susanne (2003): Gruppen, Rechte, Gerechtigkeit – Die moralische Be-gründung der Rechte von Minderheiten, Berlin: de Gruyter .

– (2008): Diskriminierung . In: Handbuch der Politischen Philosophie und der Sozi-alphilosophie, Hrsg . von S . Gosepath, W . Hinsch und B . Rössler, Berlin: de Gru-yter, S . 1–25 .

Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteils-kraft, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .

Brandt, Richard (1983): The Concept of a Moral Right and its Function, The Journal of Philosophy 80 (1), S . 29–45 .

Brandtstädter, Jochen (2001): Entwicklung, Intentionalität, Handeln, Stuttgart: Kohl-hammer .

Braybrooke, David (1987): Meeting Needs, Princeton: Princeton University Press .Brazelton, T . Berry und Greenspan, Stanley I . (2002): Die sieben Grundbedürfnisse

von Kindern, Weinheim: Beltz .Brock, Dan W . (1993): Quality of Life Measures in Health Care and Medical Ethics .

In: The Quality of Life, Hrsg . von M . C . Nussbaum und A . Sen, Oxford: Oxford University Press, S . 95–132 .

Buchanan, Allen (1989): Assessing the Communitarian Critique of Liberalism, Ethics 99 (4), S . 852–882 .

– (1990): Justice as Reciprocity versus Subject-Centered Justice, Philosophy and Pu-blic Affairs 19 (3), S . 227–252 .

– (1993): The Morality of Inclusion, Social Philosophy and Policy 10 (2), S . 233–257 .

Buchanan, Allen, Brock, Dan W ., Daniels, Norman und Wikler, Daniel (2000): From Chance to Choice – Genetics and Justice, Cambridge MA: Cambridge Uni-versity Press .

Bude, Heinz und Willisch, Andreas (2006): Das Problem der Exklusion . In: Das Problem der Exklusion – Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hrsg . von H . Bude und A . Willisch, Hamburg: Hamburger Edition, S . 7–23 .

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2008): Übereinkommen über die Rech-te von Menschen mit Behinderungen . Zwischen Deutschland, Lichtenstein, Ös-terreich und der Schweiz abgestimmte Version . In Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 35 . Berlin . http://www .behindertenbeauftragter .de/DE/The-men/Internationales/Internationales_node .html [25 .11 .2011] .

Burchardt, Tania (2000a): The Dynamics of Being Disabled, Journal of Social Policy 29 (4), S . 645–668 .

306 Inklusion und Gerechtigkeit

– (2000b): Enduring Economic Exclusion: Disabled People, Income and Work, York: The Joseph Rowntree Foundation .

– (2005): The Education and Employment of Disabled Young People: Frustrated Am-bition, York: The Joseph Rowntree Foundation .

Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage: Eine Chronik der Lohn-arbeit, Konstanz: UVK .

– (2008): Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs . In: Exklusion. Die Debatte über die ›Überflüssigen‹, Hrsg . von H . Bude und A . Willisch, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 69–86 .

Christensen, Carol (1996): Disabled, Handicapped or Disordered: ›What’s in a Name?‹ . In: Disability and the Dilemmas of Education and Justice, Hrsg . von C . Christensen und F . Rizvi, Buckingham: Open University Press, S . 63–78 .

Cohen, Gerald A . (1989): On the Currency of Egalitarian Justice, Ethics 99 (4), S . 906–944 .

Cohen, Joshua (1995): Review: Inequality Reexamined by Amartya Sen, The Journal of Philosophy 92 (4), S . 275–288 .

Collins, Hugh (2003): Discrimination, Equality and Social Inclusion, The Modern Law Review 66 (1), S . 16–43 .

Cox-White, Becky und Boxall, Susanna Flavia (2008): Redefining Disability: Male-ficient, Unjust and Inconsistent, Journal of Medicine and Philosophy 33 (6), S . 558–576 .

Crocker, David A . (1995): Functioning and Capability: The Foundation of Sen’s and Nussbaum’s Development Ethics . In: Women, Culture, and Development, Hrsg . von M . C . Nussbaum und J . Glover, Oxford: Claredon Press, S . 153–198 .

Dederich, Markus (2006): Wozu Theorie?, Vierteljahresschrift für Heilpädagogik 75 (2), S . 99–109 .

Department for International Development (2000): Disability, Poverty and Develop-ment, London: Department for International Development .

Dietrich, Frank (2000): Dimensionen der Verteilungsgerechtigkeit, Stuttgart: Lucius und Lucius .

Doyal, Len und Gough, Ian (1991): A Theory of Human Need, Basingstoke: Macmil-lan .

Dworkin, Ronald (2000): Sovereign Virtue – The Theory and Practice of Equality, Cambridge MA: Harvard University Press .

Dworschak, Manfred (2010): Communicating with Those Trapped within Their Brains . Spiegel online international, 28 . August 2010 .

Dyson, Alan (1999): Inclusion and Inclusions: Theories and Discourses in Inclusive Education . In: World Yearbook of Education 1999: Inclusive Education, Hrsg . von H . Daniels und P . Garner, London: Kogan, S . 36–53 .

Eberwein, Hans (1988): Zur dialektischen Aufhebung der Sonderpädagogik . In: Be-hinderte und Nichtbehinderte lernen gemeinsam. Handbuch der Integrationspäda-gogik, Hrsg . von H . Eberwein, Weinheim: Beltz, S . 343–345 .

Literatur 307

Elster, Jon (1985): Sour Grapes: Studies in the Subversion of Rationality, Cambridge MA: Cambridge University Press .

– (1998): Deliberative Democracy, Cambridge MA: Cambridge University Press .Emerson, Eric (2007): Poverty and People with Intellectual Disabilities, Mental Re-

tardation and Developmental Disabilities 13, S . 107–113 .Europäische Kommission (2001): Europäer und das Thema Behinderung. Eurobaro-

meter 54.2., Brüssel: EORG .– (2009): Diskriminierung in der EU im Jahr 2009, Brüssel: Europäische Kommis-

sion .Exner, Karsten (2007): Kritik am Integrationsparadigma im ›Behindertenbereich‹, Bad

Heilbrunn: Klinkhardt .Feder Kittay, Eva (1999): Love’s Labor: Essays in Women, Equality and Dependency,

New York: Routledge .Feder Kittay, Eva und Carlson, Licia (2009): Introduction: Rethinking Philosophical

Presumptions in Light of Cognitive Disability, Metaphilosophy 40 (3–4), S . 307–330 .

Feinberg, Joel (1992): The Social Importance of Moral Rights, Philosophical Perspec-tives (6), S . 175–198 .

– (2007): Das Wesen und der Wert von Rechten . In: Individuelle Rechte, Hrsg . von M . A . Stepanians, Paderborn: Mentis, S . 184–203 .

Felkendorff, Kai (2004): Wer wird behindert?, Heilpädagogik online 4 (4), S . 3–22 .Fenner, Dagmar (2007): Das gute Leben, Berlin: de Gruyter .Feuser, Georg (1989): Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische

Didaktik, Behindertenpädagogik 28 (1), S . 4–48 .– (2002): Von der Integration zur Inclusion – ›Allgemeine (integrative) Pädagogik‹

und Fragen der Lehrerbildung, Baden: Vortrag an der pädagogischen Akademie des Bundes in Niederösterreich anlässlich der 6 . Allgemeinpädagogischen Ta-gung .

Fishkin, James S . (1982): The Limits of Obligation, New Haven: Yale University Press .

Frankena, William K . (1955): Natural and Inalienable Rights, The Philosophical Re-view 64 (2), S . 212–232 .

Frankfurt, Harry (2000): Gleichheit und Achtung . In: Gleichheit oder Gerechtigkeit, Hrsg . von A . Krebs, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 38–49 .

Fraser, Nancy und Honneth, Axel (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine po-litisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .

French, Peter A . (1979): The Corporation as a Moral Person, American Philosophical Quarterly 16 (3), S . 207–215 .

– (1984): Collective and Corporate Responsibility, New York: Columbia University Press .

Giddens, Anthony (2001): Die Frage der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a . M .: Suhr-kamp .

308 Inklusion und Gerechtigkeit

Gilbert, Paul (1991): Human Relationships. A Philosophical Introduction, Oxford: Blackwell .

Goodin, Robert E . (1989): The State as a Moral Agent . In: The Good Polity: Norma-tive Analysis of the State, Hrsg . von A . Hamlin und P . Pettit, Cambridge MA: Blackwell, S . 123–140 .

Goodley, Dan (2001): ›Learning Difficulties‹, the Social Model of Disability and Impairment: Challenging Epistemologies, Disability and Society 16 (2), S . 207–231 .

Gordon, Phyllis A ., Chiriboga Tantillo, Jennifer, Feldman, David und Perrone, Kris-tin (2004): Attitudes Regarding Interpersonal Relationships with Persons with Mental Illness and Mental Retardation, Journal of Rehabilitation 70 (1), S . 50–56 .

Gosepath, Stefan (1998): Zu Begründungen sozialer Menschenrechte . In: Philosophie der Menschenrechte, Hrsg . von S . Gosepath und G . Lohmann, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 146–187 .

– (2004): Gleiche Gerechtigkeit – Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frank-furt a . M .: Suhrkamp .

– (2007): Notlagen und institutionell basierte Hilfspflichten . In: Weltarmut und Ethik, Hrsg . von B . Bleisch und P . Schaber, Paderborn: Mentis, S . 213–246 .

Gray, Tim (1991): Freedom, London: Palgrave Macmillan .Griffin, James (1986): Well-Being: Its Meaning, Measurement and Moral Importance,

Oxford: Claredon Press– (2008): On Human Rights, Oxford: Oxford University Press .Groce, Nora Ellen (1985): Everybody Here Spoke Sign Language: Hereditary Deafness

on Martha’s Vineyard, Cambridge MA: Cambridge University Press .Haeberlin, Urs (2005): Grundlagen der Heilpädagogik – Einführung in eine wertgelei-

tete erziehungswissenschaftliche Disziplin, Bern: Haupt .Hahn, Henning (2008): Moralische Selbstachtung, Berlin: de Gruyter .Hanselmann, Heinrich (1941): Grundlinien zu einer Theorie der Sondererziehung,

Zürich-Erlenbach: Rotapfel Verlag .Harris, John (2001): One Principle and Three Fallacies of Disability Studies, Journal

of Medical Ethics 27, S . 383–387 .– (2002): One Principle and a Fourth Fallacy of Disability Studies, Journal of Me-

dical Ethics 28, S . 204 .Heimlich, Ulrich (2003): Integrative Pädagogik – Eine Einführung, Stuttgart: Kohl-

hammer .Held, David (1987): Models of Democracy, Cambridge: Polity Press .Held, Virginia (1970): Can Random Collections of Individuals Be Morally Respon-

sible?, Journal of Philosophy 67, S . 471–481 .– (1972): Moral Responsibility and Collective Action . In: Individual and Collective

Responsibility, Hrsg . von P . A . French, Cambridge MA: Schenkman, S . 101–118 .– (2006): The Ethics of Care – Personal, Political, and Global, Oxford: Oxford Uni-

versity Press .

Literatur 309

Henggeler, Carlotta und Stecher, Gion (2010): Mitten ins Herz, Tele (33), S . 10–13 .Hillmert, Steffen (2009): Soziale Inklusion und Exklusion: Die Rolle von Bildung .

In: Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, Hrsg . von R . Stichweh und P . Windolf, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen-schaften, S . 85–100 .

Hinz, Andreas (2002): Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptuelle Weiterentwicklung?, Zeitschrift für Heilpädagogik 53 (9), S . 354–361 .

– (2003): Die Debatte um Integration und Inklusion, Zeitschrift für Sonderpädago-gische Förderung (4), S . 330–347 .

– (2004): Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrati-onspädagogischen Verständnis der Inklusion? In: Inklusive Pädagogik I, Hrsg . von I . Schnell und A . Sander, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S . 41–74 .

Hohfeld, Wesley Newcomb (1913): Some Fundamental Legal Conceptions as Ap-plied in Judical Reasoning, The Yale Law Journal 23 (1), S . 16–59 .

Hollenweger, Judith (2004): Integration: Mehr als ein Programm? – Perspektiven einer auf integrative Prozesse ausgerichteten Sonderpädagogik . In: Integration: Anspruch und Wirklichkeit, Hrsg . von A . Kummer Wyss und P . Walther-Müller, Luzern: SZH S . 17–39 .

– (2006): Der Beitrag der Weltgesundheitsorganisation zur Klärung konzeptueller Grundlagen einer inklusiven Pädagogik . In: Inklusion statt Integration? – Heilpä-dagogik als Kulturtechnik, Hrsg . von M . Dederich, H . Greving, C . Mürner und P . Rödler, Giessen: Psychosozial-Verlag, S . 45–61 .

Hollis, Martin (1977): Models of Man: Philosophical Thoughts on Social Action, Cam-bridge: Cambridge University Press .

Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung – Zur moralischen Grammatik sozia-ler Konflikte, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .

– (2000): Zwischen negativer Freiheit und kultureller Zugehörigkeit . Eine unge-löste Spannung in der politischen Philosophie Isaiah Berlins . In: Das Andere der Gerechtigkeit: Aufsätze zur praktischen Philosophie, Hrsg . von A . Honneth, Frank-furt a . M .: Suhrkamp, S . 310–327 .

– (2003): Unsichtbarkeit – Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .

– (2010): Das Ich im Wir: Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt a . M .: Suhr-kamp .

Honneth, Axel und Rössler, Beate (2008): Einleitung: Von Person zu Person – Zur Moralität persönlicher Beziehungen . In: Von Person zu Person – Zur Moralität persönlicher Beziehungen, Hrsg . von A . Honneth und B . Rössler, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 9–25 .

Howe, Kenneth R . (1996): Educational Ethics, Social Justice and Children with Disabilities . In: Disability and the Dilemmas of Education and Justice, Hrsg . von C . Christensen und F . Rizvi, Buckingham: Open University Press, S . 46–62 .

310 Inklusion und Gerechtigkeit

Hoyningen-Süess, Ursula und Liesen, Christian (2007): Inklusionsforschung: Mög-lichkeiten und Grenzen . In: Erziehung und Unterricht – Visionen und Wirklich-keiten, Hrsg . von F . Rumpler und P . Wachtel, Würzburg: Verband Sonderpäda-gogik, S . 421–425 .

Hughes, Bill und Paterson, Kevin (1997): The Social Model of Disability and the Disappearing Body: Towards a Sociology of Impairment, Disability and Society 12 (3), S . 324–340 .

Hull, Richard (2007): Deprivation and Freedom – A Philosophical Enquiry, New York: Routledge .

– (2009): Disability and Freedom . In: Arguing about Disability – Philosophical Per-spectives, Hrsg . von K . Kristiansen, S . Vehmas und T . Shakespeare, London: Routledge, S . 93–104 .

Ide, Sarah und Borchert, Johann (2008): Frühe Forschungsergebnisse zur Prävention von Entwicklungsauffälligkeit . In: Frühe Förderung entwicklungsauffälliger Kin-der und Jugendlicher, Hrsg . von J . Borchert, B . Hartke und P . Jogschies, Stuttgart: Kohlhammer, S . 57–70 .

Ikäheimo, Heikki (2003): Analysing Social Inclusion in Terms of Recognitive Atti-tudes, Vortrag gehalten an der Macquarie University Sydney, Social Inequality Today, 12 . November 2003 .

– (2009): Personhood and the Social Inclusion of People with Disabilities: A Re-cognition-Theoretical Approach . In: Arguing about Disability – Philosophical Per-spectives, Hrsg . von K . Kristiansen, S . Vehmas und T . Shakespeare, London: Routledge, S . 77–92 .

Jentsch, Sabine (2010): Perfektionismus und soziale Gerechtigkeit . Das Problem der Grenzen der Zugehörigkeit in den Gerechtigkeitstheorien von John Rawls und Martha Nussbaum, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (5), S . 777–795 .

Kahane, Guy und Savulescu, Julian (2009): The Welfarist Account of Disability . In: Disability and Disadvantage, Hrsg . von K . Brownlee und A . Cureton, Oxford: Oxford University Press, S . 14–53 .

Kastl, Jörg Michael (2010): Einführung in die Soziologie der Behinderung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften .

Kauffman, James M . (2004): Der äussere Schein: Begriffe und Stigmata, Sonderpäd-agogik 34 (1), S . 41–46 .

Keller, Monika (2005): Moralentwicklung und moralische Sozialisation . In: Pädago-gik und Ethik, Hrsg . von D . Horster und J . Oelkers, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S . 149–172 .

Kersting, Wolfgang (1997): Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, Frankfurt a . M . : Suhrkamp .

Kobi, Emil E . (2006): Inklusion: Ein pädagogischer Mythos? In: Inklusion statt Inte-gration? – Heilpädagogik als Kulturtechnik, Hrsg . von M . Dederich, H . Greving, C . Mürner und P . Rödler, Giessen: Psychosozial-Verlag, S . 28–44 .

Literatur 311

Koller, Peter (1997): Grundlinien einer Theorie gesellschaftlicher Freiheit . In: Ethi-sche und politische Freiheit, Hrsg . von J . Nida-Rümelin und W . Vossenkuhl, Ber-lin: de Gruyter, S . 476–508 .

– (2007): Die Struktur von Rechten . In: Individuelle Rechte, Hrsg . von M . A . Ste-panians, Paderborn: Mentis, S . 86–95 .

Krebs, Angelika (2002): Arbeit und Liebe: Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .

Kreckel, Reinhard (2004): Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt a . M .: Campus .

Kronauer, Martin (2007): Inklusion – Exklusion: Ein Klärungsversuch, Vortrag ge-halten am 10 . Forum Weiterbildung des Deutschen Instituts für Erwachsenen-bildung in Bonn, 8 . Oktober 2007 .

– (2010): Exklusion – Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalis-mus, Frankfurt a . M .: Campus, 2 ., aktualisierte und erweiterte Auflage .

Kronig, Winfried (2007): Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs – Theoreti-sche Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbewertung in unterschiedlichen Schulklassen, Bern: Haupt .

Kuhlmann, Andreas (2003): Therapie als Affront – Zum Konflikt zwischen Behin-derten und Medizin, Ethik in der Medizin 15 (3), S . 151–160 .

Kuklys, Wiebke (2005): Amartya Sen’s Capability Approach: Theoretical Insights and Empirical Application, Berlin: Springer .

Kutz, Christopher (2000): Acting Together, Philosophy and Phenomenological Re-search 61 (1), S . 1–31 .

Kymlicka, Will (2002): Communitarianism . In: Contemporary Political Philosophy, Hrsg . von W . Kymlicka, Oxford: Oxford University Press, S . 208–283 .

Laitinen, Arto (2002): Interpersonal Recognition: A Response to Value or a Precon-dition of Personhood?, Inquiry 45 (4), S . 463–478 .

– (2003): Social Equality, Recognition and Preconditions of Good Life, Vortrag gehalten an der Macquarie University Sydney, Social Inequality Today, 12 . No-vember 2003 .

– (2007): Sorting Out Aspects of Personhood: Capacities, Normativity and Reco-gnition, Journal of Consciousness Studies 14 (5–6), S . 248–270 .

– (2009): Recognition, Needs and Wrongness: Two Approaches, European Journal of Political Theory 8 (1), S . 13–30 .

Lapper, Alison (2005): My Life in my Hands, London: Simon & Schuster .Leist, Anton (1994): Dimensionen einer Ethik der Behindertenpädagogik, Heilpäd-

agogische Forschung 20 (2), S . 45–55 .Leroi, Armand Marie (2005): Mutants: On the Form, Varieties and Errors of Human

Body, London: Harper Perennial .Liesen, Christian (2004): Was unterscheidet Inklusion von Integration? In: Integra-

tion: Anspruch und Wirklichkeit, Hrsg . von A . Kummer Wyss und P . Walther-Müller, Luzern: SZH, S . 67–86 .

312 Inklusion und Gerechtigkeit

– (2006): Gleichheit als ethisch-normatives Problem der Sonderpädagogik – dargestellt am Beispiel «Integration», Bad Heilbrunn: Klinkhardt .

Liesen, Christian und Felder, Franziska (2004): Bemerkungen zur Inklusionsdebat-te, Heilpädagogik online 3 (4), S . 3–29 .

Lindemann, Gesa (2002): Die Grenzen des Sozialen: Zur sozio-technischen Konstruk-tion von Leben und Tod in der Intensivmedizin, München: Wilhelm Fink .

– (2010): Moralischer Status und menschliche Gattung: Versuch einer soziologi-schen Aufklärung, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (3), S . 359–376 .

Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a . M .: Suhr-kamp .

– (2003): Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, 11 . Auflage .

– (2008): Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .MacCormick, Neil (1982): Legal Right and Social Democracy – Essays in Legal and

Political Philosophy, Oxford: Claredon .MacIntyre, Alasdair (1985): After Virtue: A Study in Moral Theory, London: Duck-

worth .– (2001): Die Anerkennung der Abhängigkeit: Über menschliche Tugenden, Ham-

burg: Rotbuch Verlag .Margalit, Avishai (1997): Politik der Würde – Über Achtung und Verachtung, Berlin:

Alexander Fest .Marmot, Michael (2005): Social Determinants of Health Inequalities, Lancet 365,

S . 1099–1104 .– (2006): Health in an Unequal World, Lancet 368, S . 2081–2094 .Marshall, Thomas H . (1992): Bürgerrechte und soziale Klassen – zur Soziologie des

Wohlfahrtstaates, Frankfurt a . M .: Campus .Maschke, Michael (2003): Die sozioökonomische Lage behinderter Menschen in

Deutschland . In: Wie man behindert wird – Texte zur Rekonstruktion einer sozia-len Rolle und zur Lebenssituation betroffener Menschen, Hrsg . von G . Cloerkes, Heidelberg: Winter, S . 165–181 .

– (2007): Behinderung als Ungleichheitsphänomen – Herausforderungen an For-schung und politische Praxis . In: Disability Studies, Kultursoziologie und Soziolo-gie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Hrsg . von A . Waldschmidt und W . Schneider, Bielefeld: transcript, S . 299–320 .

Maslow, Abraham H . (1981): Motivation und Persönlichkeit, Hamburg: Rowohlt .Mason, Andrew (2000): Community, Solidarity and Belonging: Levels of Community

and their Normative Significance, Cambridge MA: Cambridge University Press .McBryde Johnson, Harriet (2004): Stairway to Justice . The New York Times Magazi-

ne, 30 . Mai 2004 .McMahan, Jeff (2002): The Ethics of Killing: Problems at the Margins of Life, New

York: Oxford University Press .– (2005): Our Fellow Creatures, Journal of Ethics 9 (3–4), S . 353–380 .

Literatur 313

Meager, Nigel, Bates, Peter, Dench, Sally, Honey, Sheila und Williams, Matthew (1998): Employment of Disabled People: Assessing the Extent of Participation, Not-tingham: Department for Education and Employment .

Merten, Roland und Scherr, Albert (2004): Inklusion/Exklusion: Zum systemati-schen Stellenwert eines Duals innerhalb des Projekts ›Systemtheorie Sozialer Ar-beit‹ . In: Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit, Hrsg . von R . Merten und A . Scherr, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S . 7–14 .

Miller, David (2006): Introduction . In: The Liberty Reader, Hrsg . von D . Miller, Boulder and London: Paradigm Publishers, S . 1–20 .

Minow, Martha (1990): Making All the Difference – Inclusion, Exclusion, and Ameri-can Law, Ithaca: Cornell University Press .

Mohr, Katrin (2007): Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat: Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe in Grossbritannien und Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften .

Morris, Jenny (1972): Pride Against Prejudice, London: Gower .Müller, Klaus E . (1996): Der Krüppel – Ethnologia passionis humanae, München: C .

H . Beck .Mürner, Christian (2003): Medien- und Kulturgeschichte behinderter Menschen: Sen-

sationslust und Selbstbestimmung, Weinheim: Beltz .Mürner, Christian und Schönwiese, Volker (2006): Das Bildnis eines behinderten

Mannes – Blicke, Ansichten, Analysen, Neu-Ulm: Ag Spak .Nassehi, Armin (1997): Inklusion, Exklusion – Integration, Desintegration . Die

Theorie funktionaler Differenzierung und die Desintegrationsprobleme . In: Was hält die Gesellschaft zusammen?, Hrsg . von W . Heitmeyer, Frankfurt a . M .: Suhr-kamp, S . 113–148 .

– (2003): Inklusion: Von der Ansprechbarkeit zur Anspruchsberechtigung . In: Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe: Historische und aktuelle Diskurse, Hrsg . von S . Lessenich, Frankfurt a . M .: Campus, S . 331–352 .

Nozick, Robert (1974): Anarchy, State and Utopia, Oxford: Blackwell .Nussbaum, Martha C . (1990): Aristotelian Social Democracy . In: Liberalism and the

Good, Hrsg . von R . B . Douglass, G . M . Mara und H . S . Richardson, New York: Routledge, S . 203–252 .

– (1992): Human Functioning and Social Justice . In Defense of Aristotelian Essen-tialism, Political Theory 20 (2), S . 202–246 .

– (2000): Women and Human Development: The Capabilities Approach, Cambridge MA: Cambridge University Press .

– (2003): Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions, Cambridge MA: Cambridge University Press .

– (2006a): Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership, Cam-bridge MA: Harvard University Press .

– (2006b): Reply: In Defence of Global Political Liberalism, Development and Change 37 (6), S . 1313–1328 .

314 Inklusion und Gerechtigkeit

– (2009): The Capabilities of People with Cognitive Disabilities, Metaphilosophy 40 (3–4), S . 331–351 .

Nussbaum, Martha C . und Sen, Amartya (Hrsg .) (1993): The Quality of Life, Oxford: Claredon Press .

O’Neill, Onora (1996): Towards Justice and Virtue: A Constructive Account of Practical Reasoning, Cambridge: Cambridge University Press .

Oliver, Michael (1983): Social Work with Disabled People, Basingstoke: Macmillan .– (1996): Understanding Disability: From Theory to Practice, Basingstoke: Macmil-

lan .Opielka, Michael (2006): Gemeinschaft in Gesellschaft – Soziologie nach Hegel und

Parsons, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2 ., überarbeitete Aufla-ge .

Oshana, Marina (2006): Personal Autonomy in Society, Aldershot: Ashgate .Parfit, Derek (1984): Reasons and Persons, Oxford: Claredon Press .– (1998): Equality and Priority, Ratio 10 (3), S . 202–221 .Pauer-Studer, Herlinde (2000): Autonom leben – Reflexionen über Freiheit und Gleich-

heit, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .– (2003): Freiheit und Gleichheit: Zwei Grundwerte und ihre Bedeutungen . In:

Freiheit, Gleichheit und Autonomie, Hrsg . von H . Pauer-Studer und H . Nagel-Docekal, Wien: Oldenbourg Akademie Verlag, S . 234–273 .

Peters, Bernhard (1993): Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .

Pidd, Helen (2009): Between Waking and Sleeping: Falsely Diagnosed Coma Cases . The Guardian, 24 . November 2009 .

Powell, Justin J . W . (2007): Behinderung in der Schule, behindert durch Schule? Die Institutionalisierung der ›schulischen Behinderung‹ . In: Disability Studies, Kul-tursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen For-schungsfeld, Hrsg . von A . Waldschmidt und W . Schneider, Bielefeld: transcript, S . 321–343 .

Prengel, Annedore (1995): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit, Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Opladen: Leske und Buderich .

Preuss-Lausitz, Ulf (2005): Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven der Inte-grationspädagogik, Sonderpädagogische Förderung (1), S . 70–80 .

Putnam, Hilary (1980): Realism and Reason. Philosophical Papers, Volume 3, Cam-bridge MA: Cambridge University Press .

– (1992): Realism With a Human Face, Cambridge MA: Harvard University Press .Rapley, Mark (2003): Quality of Life Research – A Critical Introduction, London:

Sage .Rau, Ulrike (Hrsg .) (2008): Barrierefrei – Bauen für die Zukunft . Berlin: Bauwerk .Rawls, John (1993): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .– (2003): Politischer Liberalismus, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .Raz, Joseph (1984): On the Nature of Rights, Mind 93 (370), S . 194–214 .

Literatur 315

– (1986): The Morality of Freedom, Oxford: Claredon Press .– (2004): The Role of Well-Being, Philosophical Perspectives 18 (1), S . 269–294 .Reinders, Hans (2000): The Future of the Disabled in Liberal Society, Notre Dame:

University of Notre Dame Press .– (2008): Receiving the Gift of Friendship: Profound Disability, Theological Anthropo-

logy, and Ethics, Grand Rapids: William B . Eerdmans Publishing .Reiser, Helmut (2005): Professionelle Konzepte und das Handlungsfeld Sonderpäd-

agogik . In: Sonderpädagogische Professionalität – Beiträge zur Entwicklung der Son-derpädagogik als Disziplin und Profession, Hrsg . von D . Horster, U . Hoyningen-Süess und C . Liesen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S . 133–150 .

Ricken, Norbert (2009): Über Anerkennung – oder: Spuren einer anderen Subjekti-vität . In: Umlernen. Festschrift für Käte Meyer-Drawe, Hrsg . von N . Ricken, H . Röhr, J . Ruhloff und K . Schaller, Paderborn: Fink, S . 77–94 .

Ricoeur, Paul (2006): Wege der Anerkennung – Erkennen, Wiedererkennen, Anerkannt-sein, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .

Robeyns, Ingrid . 2000 . An Unworkable Idea or a Promising Alternative? Sen’s Ca-pability Approach Re-examined . Katholieke Universiteit Leuven: Center for Economic Studies .

Rossiter, Margaret W . (1993): The Matthew Matilda Effect in Science, Social Studies of Science 23 (2), S . 325–341 .

Sandel, Michael (1995): Liberalismus oder Republikanismus – Von der Notwendigkeit der Bürgertugend, Wien: Passagen Verlag .

Sander, Alfred (2003): Von der Integrationspädagogik zur Inklusionspädagogik, Zeitschrift für Sonderpädagogische Förderung 48 (4), S . 313–329 .

– (2004): Konzepte einer inklusiven Pädagogik, Zeitschrift für Heilpädagogik 55 (5), S . 240–244 .

Scanlon, Thomas (1993): Value, Desire, and Quality of Life . In: The Quality of Life, Hrsg . von M . C . Nussbaum und A . Sen, Oxford: Oxford University Press, S . 185–200 .

– (1998): What We Owe to Each Other, Cambridge MA: Harvard University Press .Schaber, Peter (1998): Gründe für eine objektive Theorie des guten Lebens . In: Was

ist ein gutes Leben?, Hrsg . von H . Steinfath, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 149–166 .

Scherr, Albert (2006): Gesellschaft und Gemeinschaft . In: Soziologische Basics – Eine Einführung für Pädagoginnen und Pädagogen, Hrsg . von A . Scherr, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S . 56–61 .

Schmetkamp, Susanne (2010): Was ist falsch an der Lüge? Lüge als Verletzung von Achtung und Vertrauen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (1), S . 127–143 .

Schmid, Hans Bernhard (2005): Wir-Intentionalität: Kritik des ontologischen Indivi-dualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, Freiburg: Karl Alber .

– (2007): Autonomie ohne Autarkie – Begriff und Problem des pluralen Han-delns, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (3), S . 457–472 .

316 Inklusion und Gerechtigkeit

Schmid, Hans Bernhard und Schweikard, David P . (2009): Einleitung: Kollektive Intentionalität . Begriff, Geschichte, Probleme . In: Kollektive Intentionalität – Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Hrsg . von H . B . Schmid und D . P . Schweikard, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 11–68 .

Schneider, Reto U . (2002): Kleiner Mann – was nun? NZZ Folio, Nr . 6 .Schramme, Thomas (2003a): Behinderung – Absolute oder relative Einschränkung

des Wohlergehens?, Ethik in der Medizin 15 (3), S . 180–190 .– (2003b): Psychische Krankheit aus philosophischer Sicht, Frankfurt a . M .: Psycho-

sozial-Verlag .– (2006): Gerechtigkeit und soziale Praxis, Frankfurt a . M .: Campus .– (2008): Individuelles Wohlergehen . In: Handbuch der Politischen Philosophie und

Sozialphilosophie, Hrsg . von S . Gosepath, W . Hinsch und B . Rössler, Berlin: Wal-ter de Gruyter, S . 1500–1504 .

Scully, Jackie Leach (2008): Disability Bioethics – Moral Bodies, Moral Difference, Plymouth: Rowman & Littlefield Publishers .

Sedmak, Clemens (2011): Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten . In: Der Capabi-lity-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten – Überlegungen zur Anschlussfä-higkeit eines entwicklungspolitischen Konzepts, Hrsg . von C . Sedmak, B . Babic, R . Bauer und C . Posch, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S . 29–52 .

Seifert, Monika, Fornefeld, Barbara und Koenig, Pamela (2001): Zielperspektive Le-bensqualität. Eine Studie zur Lebenssituation von Menschen mit schwerer Behinde-rung im Heim, Bielefeld: Bethel .

Sen, Amartya (1977): Rational Fools: A Critique of the Behavioral Foundations of Economic Theory, Philosophy and Public Affairs 6 (4), S . 317–344 .

– (1987): The Standard of Living, Cambridge MA: Cambridge University Press .– (1990): Justice: Means versus Freedoms, Philosophy and Public Affairs 19 (2),

S . 111–121 .– (1992): Inequality Reexamined, Oxford: Oxford University Press .– (1993): Capability and Well-Being . In: The Quality of Life, Hrsg . von M . Nuss-

baum und A . Sen, Oxford: Claredon Press, S . 30–53 .– (1999a): Development as Freedom, New York: Anchor Books .– (1999b): The Possibility of Social Choice, The American Economic Review 8 (3),

S . 349–378 .– (2009): The Idea of Justice, London: Allen Lane .Shakespeare, Tom (1999): What is a Disabled Person? In: Disability, Divers-ability

and Legal Change, Hrsg . von M . Jones und L . A . Basser Marks, The Hague: Klu-wer, S . 25–34 .

– (2006): Disability Rights and Wrongs, London: Routledge .– (2008): Disability: Suffering, Social Oppression, or Complex Predicament? In:

The Contingent Nature of Life – Bioethics and the Limits of Human Existence, Hrsg . von M . Düwell, C . Rehmann-Sutter und D . Mieth, Berlin: Springer, S . 235–246 .

Literatur 317

Silvers, Anita (1998): Formal Justice . In: Disability, Difference, Discrimination: Per-spectives on Justice in Bioethics and Public Policy, Hrsg . von A . Silvers, D . Wasser-man und M . B . Mahowald, Lanham: Rowman and Littlefield, S . 13–145 .

Singer, Peter (1994): Praktische Ethik, Leipzig: Reclam .Solga, Heike (2005): Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Die Erwerbschancen

gering qualifizierter Personen aus soziologischer und ökonomischer Perspektive, Opladen: Budrich .

Spaemann, Robert (2006): Personen, Stuttgart: Klett-Cotta, 3 . Auflage .Speck, Otto (1995): System Heilpädagogik – Eine ökologisch reflexive Grundlegung,

München: ReinhardtSpitz, René A . (2005): Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-

Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr, Stuttgart: Klett-Cotta .Steinfath, Holmer (Hrsg .) (1998): Was ist ein gutes Leben? – Philosophische Reflexio-

nen . Frankfurt a . M .: Suhrkamp .Stemmer, Peter (1998): Was es heisst, ein gutes Leben zu leben . In: Was ist ein gutes

Leben? – Philosophische Reflexionen, Hrsg . von H . Steinfath, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 47–72 .

Stichweh, Rudolf (2009): Leitgesichtspunkte einer Soziologie der Inklusion und Ex-klusion . In: Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Un-gleichheit, Hrsg . von R . Stichweh und P . Windolf, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S . 11–27 .

Sudgen, Robert (1993): Welfare, Resources, and Capabilites: A Review of Inequality Reexamined by Amartya Sen, Journal of Economic Literature 31, S . 1947–1962 .

Sumner, Leonard Wayne (1987): The Moral Foundation of Rights, Oxford: Claredon .Swanton, Christine (1980): The Concept of Interests, Political Theory 8 (1), S . 83–

101 .Taylor, Charles (1999): Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualis-

mus, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .Thomson, Garrett (1987): Needs, London: Routledge .– (2005): Fundamental Needs . In: The Philosophy of Need, Hrsg . von S . Reader,

Cambridge: Cambridge University Press, S . 175–186 .Thomson, Judith Jarvis (1990): The Realm of Rights, Cambridge MA: Harvard Uni-

versity Press .Tietz, Udo (2002): Die Grenzen des Wir – Eine Theorie der Gemeinschaft, Frankfurt a .

M .: Suhrkamp .– (2006): Die Grenzen des liberalen ›wir‹ . In: Recht, Gerechtigkeit und Freiheit,

Hrsg . von C . Landbehn, Paderborn: Mentis, S . 47–77 .Todd, Stuart, Evans, Gerry und Beyer, Stephen (1990): More Recognised than

Known: The Social Visibility and Attachment of People with Developmental Disabilities, Journal of Intellectual and Developmental Disability 16 (3), S . 207–218 .

Tomasello, Michael (2006): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens: Zur Evolution der Kognition, Frankfurt a . M .: Suhrkamp .

318 Inklusion und Gerechtigkeit

– (2009): Why We Cooperate, Cambridge MA: MIT Press .Tomasello, Michael und Rakoczy, Hannes (2009): Was macht menschliche Erkennt-

nis einzigartig? – Von individueller über geteilte zu kollektiver Intentionalität . In: Kollektive Intentionalität – Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Hrsg . von H . B . Schmid und D . P . Schweikard, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 697–737 .

Tönnies, Ferdinand (2005): Gemeinschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft .

Tugendhat, Ernst (1998): Die Kontroverse um die Menschenrechte . In: Philosophie der Menschenrechte, Hrsg . von S . Gosepath und G . Lohmann, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 48–61 .

UPIAS (1976): Fundamental Principles of Disability, London: UPIAS .Vehmas, Simo (2010): The Who or What of Steve: Severe Cognitive Impairment and

its Implications . In: Arguments and Analysis in Bioethics, Hrsg . von M . Häyry, T . Takala, P . Herissone-Kelly und G . Arnason, Amsterdam: Rodopi, S . 263–280 .

von Glasow, Niko und Dabrowska, Ania (Hrsg .) (2008): Nobody’s Perfect . München: Elisabeth Sandmann Verlag .

von Wright, Georg Henrik (1963): The Varieties of Goodness, New York: Routledge and Kegan Paul .

Vygotskij, Lev Semenovich (2002): Denken und Sprechen, Weinheim: Beltz .Waldron, Jeremy (1989): Rights in Conflict, Ethics 99 (3), S . 503–519 .– (Hrsg .) (1984): Theories of Rights . Oxford: Oxford University Press .Wansing, Gudrun (2009): Ist Inklusion eine geeignete Zielperspektive für die Heil-

und Sonderpädagogik? Diskussionsimpulse aus der Systemtheorie . In: Integrati-on und Inklusion aus internationaler Sicht, Hrsg . von A . Bürli, U . Strasser und A .-D . Stein, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S . 65–73 .

Warren, Mary Anne (1993): Sexundärer Sexismus und Quotierung . In: Quotierung und Gerechtigkeit. Eine moralphilosophische Kontroverse, Hrsg . von B . Rössler, Frankfurt a . M .: Campus, S . 120–143 .

Weber, Max (1922): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck .Welti, Felix (2005): Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Tübin-

gen: Mohr Siebeck .Wilke, Helmut (2000): Die Gesellschaft der Systemtheorie, Ethik und Sozialwissen-

schaften 11 (2), S . 195–209 .Williams, Bernard (1985): Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge MA: Har-

vard University Press .– (1994): Der Gleichheitsgedanke . In: Pathologien des Sozialen, Hrsg . von A . Hon-

neth, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 303–329 .– (1995): Identity and Identities . In: Identity – Essays Based on Herbert Spencer

Lectures Given at the University of Oxford, Hrsg . von H . Harris, Oxford: Oxford University Press, S . 1–11 .

– (2000): Der Lebensstandard: Interessen und Fähigkeiten . In: Der Lebensstan-dard, Hrsg . von A . Sen, Hamburg: Rotbuch Verlag, S . 98–110 .

Literatur 319

Wilson, John (1999): Some Conceptual Difficulties about ›Inclusion‹, Support for Learning 14 (3), S . 110–112 .

– (2000): Doing Justice to Inclusion, European Journal of Special Needs Education 15 (3), S . 297–304 .

Wisotzki, Karl Heinz (2000): Integration Behinderter – Modelle und Perspektiven, Stuttgart: Kohlhammer .

Wocken, Hans (1995): Zukunft der Sonderpädagogik, Gemeinsam leben 3 (3), S . 108–115 .

Wolff, Gerhard (2004): ›Behinderung‹ – Die medizinische Sicht . In: Ethik und Be-hinderung – Ein Perspektivenwechsel, Hrsg . von S . Graumann, K . Grüber, J . Nicklas-Faust, S . Schmidt und M . Wagner-Kern, Frankfurt a . M .: Campus, S . 25–35 .

Wolff, Jonathan (1998): Fairness, Respect and the Egalitarian Ethos, Philosophy and Public Affairs 27 (2), S . 97–122 .

– (2008): Social Justice and Public Policy: A View from Political Philosophy . In: Social Justice and Public Policy, Hrsg . von G . Craig, T . Burchardt und D . Gor-don, Bristol: The Policy Press, S . 17–31 .

– (2009): Disability among Equals . In: Disability and Disadvantage, Hrsg . von K . Brownlee und A . Cureton, Oxford: Oxford University Press, S . 112–137 .

Wolff, Jonathan und De-Shalit, Avner (2007): Disadvantage, Oxford: Oxford Uni-versity Press .

Wong, Sophia Isako (2009): Duties of Justice to Citizens with Cognitive Disabilities, Metaphilosophy 40 (3–4), S . 382–401 .

Woodruff, Paul (1976): What’s Wrong with Discrimination?, Analysis 36 (3), S . 158–160 .

World Health Organization (2001): International Classification of Functioning, Disa-bility and Health, Genf: WHO .

Young, Iris Marion (1989): Polity and Group Difference: A Critique of the Ideal of Universal Citizenship, Ethics 99 (2), S . 250–274 .

– (1990): Justice and the Politics of Difference, Princeton: Princeton University Press .

– (2000): Inclusion and Democracy, Oxford: Oxford University Press .– (2002): Fünf Formen der Unterdrückung . In: Philosophie der Gerechtigkeit, Hrsg .

von C . Horn und N . Scarano, Frankfurt a . M .: Suhrkamp, S . 428–445 .– (2008): Structural Injustice and the Politics of Difference . In: Social Justice and

Public Policy, Hrsg . von G . Craig, T . Burchardt und D . Gordon, Bristol: The Policy Press, S . 77–104 .