Fritz Krafft: Mechanik - zur Begriffsbestimmung (Antike und 17. Jahrhundert). In: Österr....

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- 1 - Krafft-Nr.296 Österreichische Ingenieur- und Architekten-Zeitschrift 135 (1990), Heft 10, 470–477: Fritz Krafft ‚Mechanik‘ – zur begrifflichen Bestimmung (Antike und 17. Jahr- hundert) 1. Gegenwärtige Begriffsinhalte ‚Mechanik‘, ‚technische Mechanik‘, ‚Mechanische Technik‘, ‚Mechanische Wissen- schaften‘ – was bedeuten diese Begriffe, woher kommen sie? Zu Beginn eines Symposi- ums zur Geschichte der Mechanischen Wissenschaften, das gleichzeitig eines zur Ge- schichte der Technik sein soll, ist es sinnvoll und angebracht, diese Begriffe disziplinär und historisch einzuordnen – stellen sie doch teilweise Tautologien, teilweise eigentlich unvereinbare Gegensätze dar, zumindest aber haben manche, insbesondere das Grund- wort ‚Mechanik‘/‚mechanisch‘ radikale Wandlungen erfahren, jedenfalls für Teilberei- che, so dass nicht nur im Verlauf der Geschichte nacheinander, sondern auch heute gleichzeitig und neben einander verschiedene Begriffsinhalte stehen. Der eigene Stand- ort sollte also jeweils bestimmt und dem Kommunikationspartner klargelegt werden. Nicht erforderlich ist eine solche Standortbestimmung natürlich dann, wenn beide Kommunikationspartner sich durch die Benutzung derselben, von ihrer ‚scientific com- munity‘ bewusst oder unbewusst festgelegten disziplinären Handlungsformen selbst derselben Disziplin und ‚scientific community‘ zuordnen. Damit wäre nämlich auch das Selbstverständnis etwa der ‚mechanischen Wissenschaftler‘ ein und derselben Zeit ein gleiches; und für diese Insider und ihre interne Kommunikation, die durch die überein- stimmenden Denk- und Handlungsweisen, ja -vorschriften, geregelt und bestimmt ist und deshalb auch interlinguär (wenigstens) keine disziplinär bedingten Schwierigkeiten bereitet, ist es völlig gleichgültig, wie sie dabei ihre Tätigkeit untereinander benennen. Zu einer Wissenschaft gehört neben diesem beharrenden Element des Überein- kommens aber in der Neuzeit und insbesondere seit der Wende zum 19. Jahrhundert unbedingt auch die Komponente der Forschung, das heißt der Suche nach Innovatio- nen, die das jeweils gegenwärtige Wissen ergänzen oder gar erweitern. Fehlt diese Komponente, so handelt es sich um eine abgeschlossene und damit tote Wissenschaft, die diesen Namen nicht mehr verdient; sie wäre zu einer bloßen Arbeits- und Verfah- renstechnik degradiert, wenn sie denn überhaupt noch angewendet würde. Solche Disziplinen haben aber auch keine Geschichte mehr; ihre Geschichte ist abgeschlossen: Mit ihnen ‚geschieht‘ nichts mehr, sie sind tot. Innovationen stellen jeweils Überschreitungen oder Ergänzungen des gegenwärti- gen Wissens und damit auch der überkommenen und eingefahrenen Denk- und Hand- lungsweisen dar. Das macht einerseits die Einführung von Innovationen und ihre An- erkennung durch die ‚scientific community‘ so schwierig, macht andererseits aber auch

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Krafft-Nr.296Österreichische Ingenieur- und Architekten-Zeitschrift 135 (1990), Heft 10, 470–477:

Fritz Krafft

‚Mechanik‘ – zur begrifflichen Bestimmung (Antike und 17. Jahr-hundert)

1. Gegenwärtige Begriffsinhalte

‚Mechanik‘, ‚technische Mechanik‘, ‚Mechanische Technik‘, ‚Mechanische Wissen-schaften‘ – was bedeuten diese Begriffe, woher kommen sie? Zu Beginn eines Symposi-ums zur Geschichte der Mechanischen Wissenschaften, das gleichzeitig eines zur Ge-schichte der Technik sein soll, ist es sinnvoll und angebracht, diese Begriffe disziplinärund historisch einzuordnen – stellen sie doch teilweise Tautologien, teilweise eigentlichunvereinbare Gegensätze dar, zumindest aber haben manche, insbesondere das Grund-wort ‚Mechanik‘/‚mechanisch‘ radikale Wandlungen erfahren, jedenfalls für Teilberei-che, so dass nicht nur im Verlauf der Geschichte nacheinander, sondern auch heutegleichzeitig und neben einander verschiedene Begriffsinhalte stehen. Der eigene Stand-ort sollte also jeweils bestimmt und dem Kommunikationspartner klargelegt werden.

Nicht erforderlich ist eine solche Standortbestimmung natürlich dann, wenn beideKommunikationspartner sich durch die Benutzung derselben, von ihrer ‚scientific com-munity‘ bewusst oder unbewusst festgelegten disziplinären Handlungsformen selbstderselben Disziplin und ‚scientific community‘ zuordnen. Damit wäre nämlich auch dasSelbstverständnis etwa der ‚mechanischen Wissenschaftler‘ ein und derselben Zeit eingleiches; und für diese Insider und ihre interne Kommunikation, die durch die überein-stimmenden Denk- und Handlungsweisen, ja -vorschriften, geregelt und bestimmt istund deshalb auch interlinguär (wenigstens) keine disziplinär bedingten Schwierigkeitenbereitet, ist es völlig gleichgültig, wie sie dabei ihre Tätigkeit untereinander benennen.

Zu einer Wissenschaft gehört neben diesem beharrenden Element des Überein-kommens aber in der Neuzeit und insbesondere seit der Wende zum 19. Jahrhundertunbedingt auch die Komponente der Forschung, das heißt der Suche nach Innovatio-nen, die das jeweils gegenwärtige Wissen ergänzen oder gar erweitern. Fehlt dieseKomponente, so handelt es sich um eine abgeschlossene und damit tote Wissenschaft,die diesen Namen nicht mehr verdient; sie wäre zu einer bloßen Arbeits- und Verfah-renstechnik degradiert, wenn sie denn überhaupt noch angewendet würde. SolcheDisziplinen haben aber auch keine Geschichte mehr; ihre Geschichte ist abgeschlossen:Mit ihnen ‚geschieht‘ nichts mehr, sie sind tot.

Innovationen stellen jeweils Überschreitungen oder Ergänzungen des gegenwärti-gen Wissens und damit auch der überkommenen und eingefahrenen Denk- und Hand-lungsweisen dar. Das macht einerseits die Einführung von Innovationen und ihre An-erkennung durch die ‚scientific community‘ so schwierig, macht andererseits aber auch

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die Lebendigkeit und damit Geschichtlichkeit einer zu Innovationen fähigen Disziplinaus. Spricht man also berechtigterweise von einer (noch andauernden) ‚Geschichte‘ der‚Mechanik‘ oder der ‚Mechanischen Wissenschaften‘ (beziehungsweise ‚Disziplinen‘),so setzt man damit auch ihren Wandel bezüglich des von ihr erfassten Wissens undbezüglich des Selbst- und Fremdverständnisses voraus. Das bedeutet aber, dass ein‚Mechaniker‘, blickt er in die Geschichte seines Faches zurück, selbst gegenüber einemgegenwärtigen Insider seinen eigenen beziehungsweise jetzt den Standort seiner Dis-ziplin zu der Zeit, die er behandelt, als Kommunikationsbasis klarlegen muss.

Was für zeitlich verschobene Standorte des Selbstverständnisses einer Disziplin gilt,trifft in noch höherem Maße für das Außen- oder Fremdverständnis einer Disziplindurch so genannte Outsider zu – das dann seinerseits auch noch einem zeitlichen Wan-del unterworfen ist. Dabei spielt der Wandel von Inhalten, Zielen und Aufgaben sowieBezeichnungen einer Disziplin eine noch entscheidendere Rolle – insbesondere dann,wenn die verwendeten Begriffe ursprünglich der Umgangssprache angehörten oder indie Umgangssprache eingingen, in welcher der durch den geschichtlichen Fortgangeiner Disziplin bedingte Wandel des disziplinären Begriffsinhalts nicht oder nur teil-weise mitgemacht wurde, so dass das Wort gleichzeitig in mehreren Bedeutungen vor-kommt, die häufig auch verschiedenen Stadien des zeitlichen, also geschichtlichen Pro-fils des disziplinären Selbstverständnisses entsprechen.

So ist ein ‚Mechaniker‘ heute in der Regel ein Klempner, ein Installateur oderSchlosser (Automechaniker = Kraftfahrzeugschlosser) – und zwar in vielen europäi-schen Sprachen –, also ein Handwerker, der die ‚Technik‘ oder ‚Kunst‘ seines sich ‚me-chanischer‘ Werkzeuge bedienenden Metiers beherrscht – ohne systematischen Über-blick, ohne weitergehende theoretische und seine Handgriffe wissenschaftlich begrün-dende Kenntnisse (weshalb der Schuster eben sprichwörtlich bei seinen Leisten bleibensoll), eben bloß ‚mechanisch‘. – In ähnlichem Sinne macht man eine Sache ‚rein mecha-nisch‘, das heißt ohne jegliches Nachdenken und ohne irgendwelchen Geist zu inves-tieren; es tut sich sozusagen mit wenigen Handgriffen von selbst, wenn man diese alsdie Arbeitstechnik beherrscht. – Andererseits läuft aber auch etwas ‚mechanisch‘ ab,das heißt: automatisch, ohne weiteres Zutun, ohne weitere Energiezuführung, und stetsin derselben, vorherbestimmten Weise.

Das Englische ist in der auf das Objekt bezogenen adjektivischen Bezeichnungs-weise etwas freier; man sprach schon im 17. und 18. Jahrhundert von der ‚MechanicalPhilosophy‘ und bezeichnete damit die physikalische Denkweise, die im Sinne New-tons und Descartes alles natürliche Geschehen ‚mechanisch‘ erklärte, das heißt alsMechanismus auffasste, also nach dem Kausalprinzip von Ursache=Wirkung strengdeterministisch auf Gesetze der Bewegung zurückführte. Heute spricht man anstelledessen von ‚mechanical sciences‘, aber im Gegensatz zu ‚Mechanics‘ vornehmlich aufdie Ingenieurwissenschaften bezogen, die sich mit technisch nutzbaren ‚Mechanismen‘oder ‚Mechaniken‘ und deren Konstruktion beschäftigen, also mit wohldefiniertenKombinationen von mechanischen Bauelementen, bei denen jede Bewegung eines Ele-mentes zwangsläufig eine Bewegung anderer beweglicher Glieder der Kombinationbewirkt. Die ‚Technische Mechanik‘ (die ‚wissenschaftliche Mechanik‘ als ingenieurwis-senschaftliche Disziplin) beschäftigt sich also theoretisch mit solchen ‚Mechaniken‘und leitet unter Anwendung der physikalischen Disziplin ‚Mechanik‘ ihre Wirk- und

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Funktionsweise im Hinblick auf die Lösung eines technischen Problems ab (auch imangestrebten Ruhe- und Gleichgewichtszustand); die praktische Mechanik wendet siein Form von Werkzeugen als ‚black boxes‘ an – wobei für den Außenstehenden diese‚black boxes‘ immer etwas Geheimnisvolles, Wunderbares darstellen (und es wohl auchsollen). – Im Deutschen sollte man allerdings besser von der Wissenschaftlichen Me-chanik, der Wissenschaft von der Mechanik oder Mechanikwissenschaft oder einfachvon der Technischen Mechanik sprechen, weil hier die objektivische Erweiterungdurch Adjektive weniger gebräuchlich und deshalb besonders dann missverständlichist, wenn die Umgangssprache verschiedene Bedeutungen anbietet. Die ‚MechanischenWissenschaften‘ sollen ja gerade keine „bloß“ oder „rein mechanischen“ wissenschaftli-chen Tätigkeiten oder Denkweisen bezeichnen.

Der Begriff ‚Mechanik‘ ist also recht schillernd und mehrdeutig – so dass es für dieeigene Standortbestimmung schon erforderlich ist, die Herkunft dieses Begriffes undseiner Mehrdeutigkeit zu klären; und dem soll dieser Eingangsvortrag ansatzweisedienen.

2. Die Anfänge einer theoretischen Mechanik

Das Wort ‚Mechanik‘ ist, wie sollte es auch anders sein, griechischen Ursprungs,ebenso wie das Wort ‚Physik‘. Beide gehen zurück auf ein Adjektiv mit weiblicherEndung, das als Fremdwort auch ins Lateinische übernommen wurde: µηχανική/mechanica beziehungsweise φυσική/physica. Diese Adjektive werden in beiden Fällenelliptisch gebraucht, das heißt unter Weglassung des Bezugswortes, und das lautet imFalle der µηχανική: τέχνη und ars, also ‚Kunst‘, im Falle der φυσική: ¦πιστήµη undscientia, also ‚Wisssenschaft‘. Die Mechanik ist demgemäß eine ‚Kunst‘, sie betrifftkünstlich erzeugte Bewegungen und dazu benutzte Geräte und Maschinen, währenddie Physik die Wissenschaft von der ‚Natur‘ (φύσις/physis) ist, die natürliche, in derNatur spontan ablaufende Bewegungen und die ‚Natur‘ der Dinge, also ihr Wesen be-handelt, natürliche Dinge somit, die (nach einer Definition von Aristoteles) das Prinzipder Bewegung in sich selbst tragen.

2.1. Die peripatetischen Mechanischen Probleme

Das älteste noch erhaltene Werk, das im Sinne dieser µηχανικ¬ τέχνη künstlich und‚maschinell‘ bewirkte Bewegungen behandelt, sind die innerhalb des Corpus derSchriften des Aristoteles überlieferten Quaestiones mechanicae, die ‚Mechanischen Proble-me‘, die nach meinen Vorstellungen von Aristoteles selbst stammen [10], nach Mei-nung der meisten Philologen und Philosophiehistoriker von einem jüngeren Mitgliedder über seinen Tod hinaus bestehenden aristotelischen Schule des Peripatos, weil hierpraktische Probleme behandelt würden, was des großen Philosophen nicht würdig sei.Die Frage der Zuweisung dieser Schrift ist für unseren Zusammenhang jedoch un

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wichtig, da sie in jedem Fall innerhalb der peripatetischen Schule und eindeutig vorArchime-des’ frühen mathematischen Arbeiten zur Statik verfasst sein muss, also wohlnoch im vierten vorchristlichen Jahrhundert.

Abb. 1: Der aristotelische ‚Beweis‘der Wirkweise des Prinzips der ver-bundenen ungleichen konzentrischenKreise (Quaestiones mchanicae, § 1,849a32–b20)a) Codex Vaticanus Graecus 253 (L),fol. 249v, aus dem Anfang des 14.Jahrhunderts (Text und Abbildungmit unterschiedlicher Tinte; die Ab-bildungen scheinen erst nach Aristo-teles in die Tradition eingeschobenworden zu sein).b)/c) Moderne Umzeichnung nachdem Beweisgang des Textes (aus F.Krafft [10], S. 27 / 33).

In dieser Schrift wird eine Reihe von technischen Geräten und Einrichtungen be-schrieben und die Frage nach dem ‚warum‘ ihrer Wirkweise dadurch beantwortet, dasssie jeweils auf das allen ‚mechanischen‘ Geräten und Einrichtungen zugrundeliegendeeine ‚Prinzip der miteinander verbundenen konzentrischen Kreise‘ reduziert werden.Dieses Prinzip wird seinerseits analytisch erklärt und begründet, davon ausgehend, dasseine irdische Kreisbewegung nicht wie die himmlische eine einfache, sondern eine ausgeradlinigen Komponenten zusammengesetzte Bewegung sei. Von den beiden geradli-nigen Komponenten, die in stets wechselndem Größenverhältnis zueinander stünden,sei die eine längs der Peripherie des Kreises (beziehungsweise eines Teilkreises) tan-gential nach unten gerichtet gemäß der naturgemäßen Fallrichtung eines anhängendenGewichtes; während die zweite Komponente jeweils radial zur Mitte des Kreises ge-

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richtet und der anderen, ‚natürlichen‘ Bewegungskomponente durch das Kreiszentrumgewaltsam aufgezwungen sei, das eine hemmende, ablenkende Wirkung ausübe, undzwar je stärker, desto näher jene abgelenkte Bewegung erfolge, so dass bei kleineremRadius die Ablenkung größer und folglich die Kreisbewegung stärker gekrümmt sei(siehe Figur 1 b/c). {/472}

Dadurch dass die hemmende (ablenkende) Kraft bei einem größeren Kreisverhältnismäßig geringer sei (YB : ZX in Figur 1 c), obsiege dieser über den mit ihmverbundenen kleineren Kreis - das soll heißen: bei synchroner Bewegung greift beimgrößeren Kreis eine kleinere ‚Kraft‘ an als beim kleineren, und zwar im umgekehrtenVerhältnis der Bewegungsstrecken, also der Bogenlängen, die aber im Verhältnis derzugehörigen Radien stünden (woraufhin das Hebelgesetz mit erfasst und in § 3, 850b1f., auch entsprechend formuliert wird). Dabei würde der größere Kreis schnellerbewegt als der kleinere (er lege in derselben Zeit eine längere Strecke zurück) - einAspekt, der bei der archimedischen Ableitung des Hebelgesetzes außer acht bleibt. Ausder aristotelischen ‚Dynamik‘ (bei synchronen Bewegungen) wird bloße Statik desGleichgewichts. - Ursache all dessen seien, heißt es in der Einleitung der ‚Mechani-schen Probleme‘, die wunderbaren Eigenschaften des Kreises, der wie kein anderesDing Gegensätze in sich vereine, wie Einwärts- und Auswärtskrümmung, Bewegung(der Peripherie) und Ruhe (des Zentrums) usw.

Berücksichtigung findet also in den ‚Mechanischen Problemen‘ der platonisch-aristotelische und bis ins 17. Jahrhundert gültige Gegensatz zwischen ‚naturgemäßen‘,natürlichen Bewegungen (κατ� φύσιν, secundum naturam) und ‚naturwidrigen‘, aufge-zwungenen und gewaltsamen künstlichen Bewegungen (παρ� φύσιν, contra naturam).Dabei werden die künstlichen, durch den Menschen verursachten Bewegungen noch-mals unterteilt in solche, zu denen die später zu 5 Talenten veranschlagte ‚Kraft‘ desMenschen ausreiche, bei denen also das Verhältnis von Kraft zu Gewicht > 1 sei, undsolche, bei denen dieses Verhältnis < 1 sei, das Gewicht also die menschliche ‚Kraft‘übertreffe. Solche Bewegungen könnten nur mittels einer µηχανή bewerkstelligtwerden, und einem Nichtkundigen erschienen sie als ein ‚Wunder‘. Man nenne dieKunst, mit ihrer Hilfe die Natur zu besiegen, deshalb µηχανή.

Die Beweisführung ist geometrisch und erfolgt anhand der geometrischen Figuren,auf die alle Probleme reduziert werden. Die ‚Mechanik‘, genannt µηχανικ¬ τέχνη, istsomit eine Disziplin der Angewandten Mathematik.

2.2. Vorplatonische ‚Mechanik‘: Archytas von Tarent

In den Analytica posteriora (I 9, 76a22 ff.), die zeitlich relativ früh anzusetzen sind, sprichtAristoteles von „mechanischen Beweisen“, die wie die optischen auf geometrischeWeise erfolgten, als allgemein bekannten. Schon damals gab es also eine ‚Mechanik‘ alsangewandte Mathematik.

Ein noch früherer Hinweis findet sich den dem platonischen Alterswerk ‚Gesetze‘aus der Zeit um 350 v. Chr., in deren zehntem Buch sich eine systematische Behand-lung aller Formen von ‚Bewegung‘ im antiken Sinne findet. Acht Bewegungsformen

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werden dazu dihairetisch auseinander abgeleitet: Rotation, Translation durch Rollenund Gleiten sowie weitere ‚Bewegungen‘, die zu Wachstum, Schwund, Entstehen undVergehen der Dinge führen. Für all diese ‚Bewegungen‘ soll es dann zwei Arten derVerursachung geben: Selbstbewegung und Bewegtwerden durch anderes. Also gelteauch für die Kreisbewegung, die Rotation, dass sie entweder durch Selbstbewegungentstehe – dies sei die der Seele und den Himmelskörpern eigentümliche Bewegungs-form – oder durch einen äußeren Beweger (künstlich oder ‚mechanisch‘) verursachtwerde. Als die höchste und ursprünglichste Bewegungsform wird sie in den Aus-führungen des den Dialog führenden ‚Atheners‘ auch zuerst angesprochen (Nomoi X,893CD):

„Steht nun nicht an einer gewissen Stelle das Feststehende fest und bewegt sich das Be-wegte? [...] Und das eine tut dies doch wohl irgendwo an einer einzigen Stelle, das andereaber an mehreren? Du meinst wohl [...], dass sich etwas an ein und derselben Stelle be-wegt, wenn es in seiner Mitte das Vermögen des Feststehenden erlangt, so wie die Peri-pherie von den so genannten feststehenden Kreisen sich dreht? [...] Wir lernen ja, dasseine solche Bewegung, da sie bei dieser einen Umdrehung den größten und den kleinstenKreis zugleich herumführt, sich – dadurch dass sie verhältnismäßig kleiner und größer ist– entsprechend auf die kleinen und größeren (Kreise) verteilt. Deshalb ist sie ja zur Quellealler Wunder geworden, weil sie den großen und den kleinen Kreisen entsprechendeLangsamkeiten und Schnelligkeiten gleichzeitig in Bewegung setzt – eine eigentlich un-mögliche Eigenschaft ...“Stellt man neben diese analytische Beschreibung aus dem Alterswerk Platons die

Einleitung der peripatetischen Schrift ‚Mechanische Probleme‘, so erscheint sie wie einHinweis auf jene Schrift, wie eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse; denn dort warebenfalls von den „wunderbaren Eigenschaften der Kreise“ die Rede, und als wunder-barste dieser Eigenschaften galt, dass die verschieden großen Kreise (bei gleicher Win-kelgeschwindigkeit) verschiedene (Linear-)Geschwindigkeiten besitzen, dass kein Punkteines Fahrstrahls die gleiche Geschwindigkeit aufweist wie ein anderer, dass vielmehrein Punkt sich desto schneller bewegt, je weiter er vom ruhenden Zentrum entfernt ist.Es war dann in der Schrift gezeigt worden, dass die Geschwindigkeiten miteinander –etwa durch eine ‚feststehende‘ Welle – verbundener konzentrischer Kreise (also die ingleichen Zeiten durchlaufenen Bögen) im Verhältnis ihrer Halbmesser wachsen; unddiese Eigenschaft galt als die Ursache aller Wunder ‚mechanischer‘ Bewegungen undfand eine qualitativ-‚dynamische‘ Erklärung.

Die peripatetische Schrift ist in der Form, wie sie uns vorliegt, aber sicherlichnachplatonisch, der zitierte Passus aus den platonischen Nomoi deutet also, zumal er fürden eigentlichen Zusammenhang nichts hergibt und somit kaum für diesen erstmalskonzipiert worden sein kann, auf die Kenntnis einer Schrift hin, die ‚mechanischeWunder‘ auf ähnliche Weise mit der verschiedenen Lineargeschwindigkeit von konzen-trischen Kreisen verschiedenen Durchmessers mit gleicher Winkelgeschwindigkeit zuerklären versuchte.

Kann es eine solche Schrift gegeben haben? - Höchstwahrscheinlich spielt Platonauf eine Schrift diesen Inhalts von dem Pythagoreer Archytas von Tarent (um 430 –um 345) an.

Dass Platon mehrmals mit Archytas zusammentraf, ist gut bezeugt – während sei-ner zweiten Sizilienreise in den Jahren 361/360 v. Chr. war er sogar auf dessen Hilfe

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angewiesen, um aus der Gefangenschaft bei dem Tyrannen Dionysios II. freizukom-men. Beide scheint eine enge Freundschaft und reger Gedankenaustausch verbundenzu haben; und auch sonst ist Platonisches Denken in vieler Hinsicht durch pythagorei-sches der unteritalienischen Schule um Archytas beeinflusst.

Diese unteritalienischen Pythagoreer scheinen andererseits aber auch starken Anteilan der sprunghaften Entwicklung in der Konstruktion von großen Geschützen aus Bo-gen, Armbrust und Schleuder gehabt zu haben, die in Syrakus erfolgte, wohin Dionysi-os der Ältere (405–367 v. Chr.) die besten griechischen Ingenieure berufen hatte, umunter anderem wirksame Waffen zur Abwehr der Karthager konstruieren zu lassen.Auf den Einfluss jener Pythagoreer wird dabei das später von alexandrinischen Inge-nieuren zur Zeit des Ktesibios (1. Hälfte des 3. vorchristlichen Jahrhunderts) – wiedernach umfangreichem und aufwändigem Experimentieren und Probieren – verbesserteEinheitsmaß zur Bestimmung der Abmessungen aller Einzelteile der Geschütze zu-rückgehen. {/473}

Daneben ist aus der Geschichte der Mathematik bekannt, dass gerade Archytas sichmit den aus verschiedenen Einzelbewegungen resultierenden Bewegungskurven be-schäftigte. Auf diese Weise war ihm ja eine ‚mechanische‘ Lösung des Delischen Pro-blems der Würfelverdoppelung gelungen. Die Zerlegung einer Bewegung in ihre ein-zelnen Komponenten gibt aber auch dem Autoren der ‚Mechanischen Probleme‘ dieMöglichkeit der ‚dynamischen‘ Erklärung ‚mechanischer‘ Bewegungen, indem nachdem Vorbild des Parallelogramms der Bewegungen die Kreisbewegung der konzentri-schen Kreise ungleichen Durchmessers in eine ‚natürliche‘, tangential gerichtete, undeine ‚unnatürliche‘, zum Zentrum gerichtete, geradlinige Komponente zerlegt werden,deren wechselnden Verhältnisse die unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf denKreisperipherien ergeben sollen. – Außerdem bezeugt Eudemos (Fragment 60 beiWehrli [3]), dass Archytas im ‚Ungleichmäßigen‘ und ‚Ungleichen‘ die Ursachen derBewegung gesehen hat, nicht schon die Bewegung selbst, wie dann später Platon. Dieungleichen konzentrischen Kreise sind aber letztlich die Ursache der Bewegung auchin den ‚Mechanischen Problemen‘. Besonders interessant ist für diesen Zusammenhangder Ansatz zu einer infinitesimalen Batrachtungssweise in § 8 – in dem deshalb mit„einige“ wohl Archytas gemeint ist (851b35 ff.):

„Warum sind runde und kreisförmige Formen am beweglichsten? [...] Ferner behaupteneinige, dass die Kreislinie genau so ständig in Bewegung sei, wie das Ruhende in Ruhebleibe, weil es fest aufliegt, wie es auch für die größeren Kreise im Vergleich zu den klei-neren zutrifft. Schneller nämlich werden von einer gleichgroßen ‚Kraft‘ die größeren bewegtund bewegen sie die Gewichte, weil der Bogen des größeren Kreises im Verhältnis zu demdes kleineren eine gewisse ‚Bewegungskraft‘ (ein gewisses ‚Übergewicht‘) besitzt, und zwarim Verhältnis ihrer Durchmesser. Aber jeder Kreis ist ja ein größerer im Vergleich zuirgendeinem kleineren, sind es doch jeweils unbegrenzt viele, die (noch) kleiner sind.“

(Könne man sich doch für jeden Kreis beliebig viele kleinere vorstellen, über die er ein‚Übergewicht‘ hätte, so dass er sich von selbst bewegen müsse.)

Die Problemata-Form der Reduktion auf ein Prinzip in der Frage-Antwort-Formist auch die gegenüber der axiomatischen Anordnung frühere, die durch diese abgelöstwird. Sie ist insbesondere dem fünften vorchristlichen Jahrhundert geläufig, aus dessenMitte auch die für Oinipides bezeugte Definition und Unterscheidung von Theorem

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und Problem stammt, wonach ein ‚Theorem‘ nur nach den „Anzeichen“ für einenSachverhalt sucht, ein ‚Problem‘ dagegen auch nach dem, aufgrund dessen dieserSachverhalt oder Vorgang seltsam erscheint, als ein Wunder (VS 41, Fragment 12) –und genau das geschieht in den ‚Mechanischen Problemen‘, die ihrerseits auf einerälteren Schrift basieren, vermutlich von Archytas. Sagt doch auch Diogenes Laërtios(Vitae philosophorum VIII, 83 = Archytas, VS 47, Fragment A 1) nach älteren Quellen,Archytas „habe als erster die Mechanik unter Heranziehung mathematischer Prinzipienmethodisch behandelt“.

Außerdem führt er (Vitae philosophorum VIII, 82) unter den Schriften des Archytasden Titel Περ µηχαν−ς an – und in der Einleitung zu den ‚Mechanischen Problemen‘hieß es – für spätere Zeit eigenartig und eigentlich unverständlich –, derjenige Teil derKunst, welcher gegen die Natur eines Körpers Gerichtetes vollbringen könne, werdeµηχανή (nicht µηχανική sc. τέχνη, wie dann schon bei Aristoteles selbst!) genannt.Wahrscheinlich spielt auch er damit also auf die Schrift des Archytas an.

Man weiß nun auch aus anderen Quellen von Archytas’ Tätigkeit als praktischer‚Mechaniker‘, als Ingenieur. Die mechanische Klapper oder Rassel, von der Aristotelesin seiner Politik berichtet (VIII 6, 1340b26 ff. = Archytas, VS 47, Fragment A 10),möchte man als Kinderspielzeug vielleicht nicht dazu rechnen. Doch die bei Gellius(Noctes Atticae X 12, 8 = Archytas, VS 47, Frg. A 11) und Favorinos erwähnte fliegendeTaube aus Holz ist der erste ‚Automat‘, von dem die Geschichte berichtet. Wie ihrMechanismus auch immer funktioniert haben mag – Gellius spricht, wohl im An-schluss an Favorinos, von Waagen und pneumatischen Einrichtungen, die in ihremInnern verborgen gewesen seien –; ihre Konstruktion und ihr Bau setzen auf alle Fällepraktisches Können und theoretische Einsicht in die Wirkweise und Berechnung vonungleicharmigen Waagen und Rollenverbindungen voraus. – Praxis und Theorie in derτέχνη waren es aber auch, welche die Medizin dieser Zeit als gleichwertig und gleicher-maßen notwendig für ihre ‚Kunst‘ betrachtete.

Das Bild, das sich auf diese Weise von der Wissenschaft und Technik der Zeit um400 v. Chr. gewinnen lässt, legt nahe, die Entstehung einer theoretischen ‚Mechanik‘in eben dieser Zeit anzusetzen.

3. ‚Kunst‘ und ‚Natur‘ im ausgehenden fünften vorchristlichen Jahrhundert

Die ‚Mechanik‘ galt nun aber, wie schon gesagt wurde, in der Antike und im Mittelalterals eine ‚Kunst‘ und hatte als Kunst dort einzugreifen, wo die Natur das vom Men-schen Erwünschte nicht von sich aus vollbringen konnte. Das Künstliche ist damitetwas Nicht-Natürliches, ja etwas Naturwidriges. In älterer Zeit dagegen, etwa bei Em-pedokles und in einigen der hippokratischen Schriften – ganz zu schweigen etwa vonAnaximander im 6. vorchristlichen Jahrhundert, der sich die Welt mit Bildern aus derTechnik und dem Handwerk deutete –, galten technische Vorgänge durchaus alsAnaloga zu solchen in der Natur und konnten als bekannter Vorgang deren verborge-nen Ablauf exemplarisch dokumentieren. Die strenge Scheidung von technisch-künstl-ichen und natürlichen Dingen ist erst in der Zeit nach 400 v. Chr. entstanden und bei

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Platon und Aristoteles auch philosophisch begründet worden. In dieselbe Zeit führtauch die für Archytas erschlossene Schrift zur theoretischen Begründung der mathe-matischen Disziplin ‚Mechanik‘ sowie die Entwicklung der Bedeutung des Wortesµηχανή – und diese Zeit hat mit ihrem Denken das Selbstverständnis der ‚Mechanik‘bis in die Neuzeit hinein nachhaltig beeinflusst (obwohl es als solches bald überwun-den oder zumindest abgeschwächt war).

3.1. Der Begriff µηχανή

Μηχανή (mechané) bedeutete ursprünglich, wie die ältesten Schriftzeugnisse belegen,lediglich ‚Mittel‘, ‚List‘, und zwar unabhängig davon, ob man sich bei der Anwendungeiner solchen mechané nur geistiger Mittel bediente oder auf geschickte Weise auch ir-gendwelcher Werkzeuge. Neben dieser allgemeinen Bedeutung entwickelte sich allmäh-lich eine speziellere, welche die allgemeine auch nie gänzlich zu verdrängen vermochte.mechané wurde so zur ‚geschickten Anwendung von Werkzeugen‘ (Aischylos: Perser 722;Herodot: Historien I 94,6 usw., siehe [9]), dann in übertragenem Sinne auch zum ‚Pro-dukt einer solchen geschickten Anwendung von Werkzeugen‘ (Aischylos: Perser 114:‚Schiff‘, ‚Brücke‘), schließlich zum ‚Werkzeug‘ und zur ‚Verbindung mehrerer Werkzeu-ge‘, zur ‚Maschine‘. In den hippokratischen Schriften etwa werden chirurgische Gerätemit mechanaí bezeichnet, und bereis bei Herodot (um 430 v. Chr.) ist es dann eine ‚He-bemaschine‘ (II 125), wohl in der Art, wie sie der Autor der ‚Mechanischen Probleme‘ in§ 8 beschreibt, wo es heißt, eine mit einer losen Rolle über einen Seilzug verbundenefeste Rolle finde, kombiniert mit einer Winde, im Bauhandwerk vielfältige Verwendung.(Der von Archimedes erfundene Flaschenzug findet natürlich noch keine Erwähnung.)Hero{/474}dot kennt mechané jedoch auch schon für ‚Kriegsmaschinen‘, etwa Schutzdä-cher, Rammböcke, Leitern, Schleudern und dergleichen; Historien III 152 heißt es bei-spielsweise, Dareios habe gegen Babylon „alle möglichen σοφίσµατα und µηχαναί“vergebens angewendet: mechané ist hier in der Bedeutung bereits deutlich von sóphisma, der‚List‘ geistiger Art, getrennt, während es ursprünglich beide Arten von ‚Listen‘ umfasste.Auch die Theatermaschinen, mit deren Hilfe in der Spätzeit der klassischen attischenTragödie der deus ex machina zur mythengerechten Wendung des festgefahrenen Ge-schehens auf die Bühne geschwenkt wurde, hießen µηχαναί.

Das Wort µηχανή wurde in hellenistischer Zeit dann über die in Unteritalien ge-sprochene dorische Form µαχανά von den Römern als ‚machina‘ übernommen. Dieses‚machina‘ konnte aber als Fremdwort natürlich nur die zur Zeit der Übernahme undfür das Übernommene übliche Bedeutung ‚Maschine‘ haben, wie auch in den moder-nen Sprachen, die dieses Fremdwort direkt oder indirekt aus dem Lateinischen über-nommen haben. Dem griechischen mechané dagegen haftete zu allen Zeiten noch dieursprüngliche und allgemeinere Bedeutung des ‚Listigen‘, des ‚Nicht-Natürlichen‘ an.

Die speziellere Bedeutung hatte sich mit all ihren Nuancen allmählich seit derzweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts herausgebildet, und ihr Wan-del kann somit auch die Entwicklung der antiken Technik und Ingenieurtätigkeitdokumentieren helfen.

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3.2. Griechische Ingenieurtätigkeit

Der Unterschied antiker ‚Mechanik‘ zur neuzeitlichen Naturwissenschaft Mechanikwird deutlich, wenn man sich die Teildisziplinen jener ‚Mechanik‘ aus den antikenQuellen vor Augen führt. Wir würden sie heute fast alle nicht mehr der Mechanik alsTeilgebiet der Physik, sondern vielmehr der Technik und Mechanischen Technik zu-weisen. Im wesentlichen übereinstimmend unterteilen nämlich Geminos, ein Stoikerdes ersten vorchristlichen Jahrhunderts, dem sich Proklos in der Einleitung seinesKommentars zum ersten Buch der Elemente Euklids anschließt [13], und der spätalex-andrinische Mathematiker Pappos (3./4. Jahrhundert) die ‚Mechanik‘ in die Baukunst,die Kunst der Hebezeuge, des Geschützbaus, des Bauens von Be- und Entwässerungs-maschinen und von ‚Wunderwerken‘ (Automaten) – mit Hilfe von Luft (Luftdruck),Sehnen und Seilen, Waagen oder Schwimmern – des Bauens von Wasser- und Sonnen-uhren und schließlich die Kunst des Bauens von Sphären (Armillarsphären, Planeta-rien, Globen u. ä.). Geminos fügt das „Wissen von der Ermittlung des Gleichgewichtsüberhaupt und des Schwerpunktes“ hinzu, von dem Pappos im Anschluss an die Dis-kussion seiner Einleitung zum 8. Buch der Collectiones sagt, dass es Voraussetzung füralle Teildisziplinen der ‚Mechanik‘ sei (Archimedes hatte dieses mathematische Verfah-ren in nur noch in Bruchstücken bei Heron von Alexandria erhaltenen axiomatischenAbhandlungen zu den ‚Mechanischen Elementen‘ entwickelt). Zur ‚Mechanik‘ zähltePappos dann auch noch die geometrische Konstruktion mit Hilfsmitteln, die überZirkel und Lineal, welche den ‚einfachen Figuren‘ Kreis und Gerade entsprechen,hinausgehen (Ïργανική, sc. τέχνη; Coll. VIII, 25 ff.). – Solche Konstruktionen wurdenja seit Platon aus der eigentlichen Mathematik (Geometrie) verbannt, und auch Ar-chimedes nannte seine heuristische Methode eine ‚mechanische‘ (= instrumentelle).

Abb. 2: Beispiel aus demLehrbuch Herons von Ale-xandria: Eine aus den ein-fachen Maschinen zusam-mengesetzte Maschine undBerechnung ihrer Wirkung.(Rekonstruktion der techni-schen Zeichnung Heronsnach den Handschriften, ausF. Krafft [10], S. 133).

Interessant an den Bezeichnungen für die einzelnen Teildisziplinen bei Pappos ist,dass das jüngste Teilgebiet, das auch Philon von Byzanz (1. Hälfte des 3. vorchristli-chen Jahrhunderts) noch nicht behandelt hatte, nämlich Konstruktion und Bau vonSchöpfgeräten, allein als „Mechanik im eigentlichen Sinne“ bezeichnet wird. (Von denVertreten der anderen Teildisziplinen sagt er dann jeweils, dass auch sie von den Alten‚Mechaniker‘ genannt worden seien.) Be- und Entwässerungsmaschinen wurden über-haupt erst in späthellenistischer und alexandrinischer Zeit mit dem Wort µηχανή er-fasst. Sie bilden eine für den hellenischen Bereich ungebräuchliche Maschinengattungund wurden sicherlich erst aus primitiven Anfängen (Ziehbrunnen, Schaduff, acht-

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kammriges Wasserrad) von Griechen konstruiert, als sie in ptolemäischer Zeit in Un-terägypten vor die dortigen Probleme des Wasserbaus gestellt wurden. Da die alexan-drinischen Ingenieure zu dieser Zeit in der antiken Welt des Mittelmeerraumes führendwaren und ihre Aufgaben sich in den nachchristlichen Jahrhunderten des RömischenReiches allmählich von der Kriegstechnik, die bei Philon von Byzanz und den Polior-ketikern bis hin zu Athenaios im 1. Jahrhundert v. Chr. noch vorgeherrscht hatte, mehrauf den zivilen Sektor des Tätigkeitsbereichs eines antiken Ingenieurs (‚Architekten‘)verlagert hatten, konnte so µηχανοποιία, ‚Maschinenbau‘, das noch bei Athenaios nurden Bau von Geschützen und anderem Kriegsgerät umfasste, zur ausschließlichenBezeichnung für den Bau von Schöpfmaschinen werden.

Dass im Verlaufe der Zeit offensichtlich verschiedene Teildisziplinen als „Mechanikim eigentlichen Sinne“ bezeichnet wurden, ist besonders deshalb interessant, weil da-durch ein sicherer Anhaltspunkt dafür gegeben ist, dass an dem Bedeutungswandel desWortes µηχανή umgekehrt auch die Entwicklung der praktischen ‚Mechanik‘ der An-tike abgelesen werden kann. Dass die griechischen Ingenieure aufgrund dieser Ent-wicklung in Griechenland ihren Kollegen aus den anderen Kulturreichen des Mittel-meerraumes trotz deren großen technischen Leistungen (die meist aber unter demEinsatz riesiger Arbeitermassen entstanden) sehr früh weit überlegen waren, zeigt dieTatsache, dass persische und ägyptische Herrscher ab dem 6. vorchristlichen Jahr-hundert für ihre großen Bauvorhaben gern und oft griechische Ingenieure verpflichte-ten. Zu den bekanntesten unter ihnen gehören Mandrokles von Samos und Harpalos,die den Bosporos für Dareios beziehungsweise Xerxes überbrückten. Erwähnt werdensoll von den griechischen Ingenieuren dieser frühen Zeit aber wenigstens auch Eupali-nos von Megara, der für die Wasserversorgung von Samos einen langen (noch heutebegehbaren) Tunnel durch den oberhalb der Stadt gelegenen Berg Kastros trieb, wobeier von beiden Enden aus zugleich mit dem Vortrieb beginnen ließ, ohne dass es zunennenswerten Abweichungen von der gewünschten und berechneten Richtung ge-kommen wäre. Die gezielt angegangene Neukonstruktion von Geschützen {/475} umund kurz nach 400 unter Dionysios in Syrakus ist schon erwähnt worden; und imZusammenhang mit diesen und späteren Geschützkonstruktionen (bei Ktesibios,Philon von Byzanz) ist dann auch ausdrücklich von umfangreichen Experimenten dieRede. Die Antike kannte ja durchaus das in neuzeitlichem Sinne ‚wissenschaftliche‘Experiment, nur waren sein Feld die im Sinne der Antike ‚mechanischen‘, sprich:technischen Disziplinen gewesen; denn die ‚Natur‘ galt als ein organisches Ganzes, derKosmos als ein beseeltes Lebewesen, weshalb die ‚Natur‘ auch eines einzelnen Dingesnicht (wie eine Maschine oder ein Maschinenelement) isoliert betrachtet werdenkonnte. Die Physik als Wissenschaft von dieser Natur betraf das spontane Verhaltenin der Natur, während der menschliche (‚künstliche‘) Eingriff in das natürliche Ge-schehen als organologischen Zusammenhang dessen natürlichen Ablauf stört, so dassein Experiment seit Platon und Aristoteles ‚künstlich‘-gewaltsame Bewegungen zurFolge habe, somit ‚Kunst‘ erzeuge, die von der (µηχανικ¬) τέχνη behandelt würde.

Die Leistungen griechischer Ingenieure des 6. und 5. vorchristlichen Jahrhunderts(wozu natürlich auch die Bauten im perikleischen Athen zu zählen sind) setzen zu-mindest eine geschickte Anwendung der mathematischen Kenntnisse (Geometrie) ihrerZeit und einfacher und zusammengesetzter Maschinen voraus. Sollte der Beginn einer

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theoretischen Behandlung dieser Werkzeuge, die Berechnung ihrer Wirkweise, dannnicht auch am Ende dieser Zeit erfolgt sein – als auch die Entwicklung der speziellenBedeutung des Wortes mechané von ‚Mittel‘ und ‚List‘ zu ‚Werkzeug‘ und ‚Maschine‘ –unter Beibehaltung der alten Grundbedeutung, die stets mitschwingen sollte – zumAbschluss gelangt war?

3.3. Der ‚Historische Erfahrungsraum‘ um 400 v. Chr.

Bis über die Mitte des fünften Jahrhunderts hinaus hatte die Technik insbesondere aufgeometrischer Grundlage noch als Nachahmung, ja Verbesserung der ‚Natur‘ gegolten,als das Bekanntere, das die Funktionsweise des weniger Bekannten (in der Natur) alsanalogon aufzudecken gestatte. Doch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts über-schritt die Anwendung geschickt und listig eingesetzter ‚Mittel‘ insbesondere im Rah-men der Sophistik (und der Gerichtsrhetorik) die den Griechen eigentlich stets rechthoch gesteckten Grenzen der Schicklichkeit so weit, dass es zu heftigen Reaktionenkam: σοφός bedeutete um 400 v. Chr. nicht mehr ‚weise‘, sondern ‚klug‘, ‚gerissen‘;‚Sophist‘ konnte so zu einem Schimpfwort werden, und σοφίσµατα zu µηχανήµατα.Diese ‚Listen‘ und Machenschaften der Sophisten, die durch ihre geistigen Mittel alleserreichen zu könnten meinten und versprachen, wurden verpönt: Es gebe nicht füralles und gegen alles ein Mittel, die Natur lasse sich nicht beeinflussen, man müsse ihrvielmehr Folge leisten, sich nach ihr richten. Das galt für das Gebiet der Medizin eben-so wie für die innermenschlichen Beziehungen: Geradliniges, natürliches Verhalten undHandeln sollten an die Stelle der entarteten sophistischen Machenschaften und gewalt-samer und aufwendiger Heilmethoden (statt gesunder Diaitetik) treten.

Sehr anschaulich und eindringlich wird diese aktuelle Diskussion um den Gegensatzvon µηχανή/τέχνη und φύσις und ihre Bewertung in den attischen Tragödien und Ko-mödien des letzten Drittels des 5. vorchristlichen Jahrhunderts – in den Intrigendrameneines Euripides, bei Aristophanes, der seinen beißenden Spott sich über Wissenschaftler,Ingenieure und Poltiker seiner Zeit ergießen lässt und ihre Methoden anprangert, aberauch bei Sophokles. Sein Drama Philoktet soll als Beispiel besonders angeführt werden;denn hier kommt es in dem Bemühen, den vormals ausgesetzten, unheilbar krankenPhiloktet zur Rückkehr vor die Tore Trojas zu bewegen, weil seine Anwesenheit nacheiner Prophezeihung für den Sieg der Griechen erforderlich war, zur Auseinandersetzungzwischen zwei Verhaltenstypen. Dabei setzt sich das geradlinig-natürliche, seiner φύσις(‚Natur‘ = ‚Adel‘, ‚Herkunft‘) entsprechende ehrliche Verhalten des jungen Neoptolemosallmählich gegen die ihm von Odysseus aufgezwungene und vorerst angenommene un-lautere Haltung gegenüber dem hilflosen Philoktet durch, um dann, als Neoptolemossich ihrer bewusst wird, – vom deus ex machina gutgeheißen – eindeutig über die Listenund betrügerischen Machenschaften (µηχανήµατα) des Odysseus zu triumphieren –eines Odysseus, dessen listenreiches Handeln immerhin in früheren Zeiten und teilweiseauch später wieder dem Griechen als vorbildlich gegolten hatte.

In dieser extremen Form findet sich die Bewertung der τέχναι auf allgemeinerEbene jedoch nur als unmittelbare Reaktion auf die im letzten Drittel des 5. Jahrhun-

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derts entartete Sophistik. Schon bei Platon ist sie sehr viel positiver; ist für ihn dochsogar der ‚Baumeister‘ (δηµιουργός) Erklärungsmuster für den planenden göttlichenSchöpfer. Dass die Wertung für die theoretische ‚Mechanik‘ noch lange beibehaltenwurde, weist deshalb doch wohl eindeutig darauf hin, dass sie nur in dem durch dasskizzierte Denken geprägten ‚Historischen Erfahrungsraum‘ des klassischen Griechen-lands (insbesondere Athens) um 400 v. Chr. entstanden sein kann – oder doch sostarke Impulse erhielt, dass diese lange nachwirken konnten. Es ist die Zeit, in der Ar-chytas aufwuchs und wirkte.

4. Technik/Mechanik und Physik in Antike (und Mittelalter)

Da die praktisch-technische ‚Mechanik‘, die Technik, älter als die theoretische ‚Me-chanik‘ war, blieb sie von dieser negativen Wertung auf die Dauer frei. Die Ingenieureund Baumeister waren zu fast allen anderen Zeiten und in allen Schichten des Volkesbei den Griechen hoch angesehen – auch wieder bei den großen attischen PhilosophenPlaton und Aristoteles, die stets voller Hochachtung von den planenden Ingenieurenund Technikern sprachen (wenn auch nicht von deren Handlangern und Handwer-kern). Doch der Gegensatz zwischen naturgemäßer und naturwidriger Bewegung hatteinzwischen durch Platon und Aristoteles eine ‚philosophische‘ (wissenschaftliche) Be-gründung erfahren. Die theoretische ‚Mechanik‘ war sozusagen, betrachtet man es vor-dergründig, in einem ungünstigen Augenblick entstanden und ist deshalb in der Antikeund im Mittelalter nie zu einer ‚Naturwissenschaft‘ geworden, vielmehr stets ‚Kunst‘und Technik geblieben – und in ihrer Bewertung im Mittelalter somit von der Ein-schätzung der nach dem Muster der kanonischen ‚Freien Künste‘ (artes liberales) zu-sammengefassten ‚mechanischen Künste‘ (artes mechanicae) abhängig gewesen – wozudann aber auch etwa die Medizin und die Theaterkunst, die Nautik und die Landwirt-schaft zählten.

Die ‚Mechanik‘ blieb die sich Mittel und Werkzeuge zur ‚Überlistung‘ der Natur be-dienende Kunst, und zwar bis ins beginnende 17. Jahrhundert (und für die TechnischeMechanik darüberhinaus), und ist deshalb in Antike und Mittelalter nie zu einer Natur-wissenschaft, nie zu ‚Physik‘ geworden - weshalb Mechanik und Physik auch nicht ineine Wechselwirkung treten konnten.

Die ‚Physik‘ hatte als theoretische Wissenschaft von der ‚Natur‘ der Dinge undihrem vom Menschen unbeeinflussten Verhalten in der Antike eindeutig Erkenntnis-vorrang gegenüber der Beschäftigung mit ‚künstlichen‘ Dingen, die zudem {/476} zumNutzen und Ergötzen des Menschen erfunden würden; wenn auch dem hierin Kundi-gen bewundernde Hochschätzung entgegengebracht wurde – wobei allerdings die An-preisung der ‚Mechanik‘ (des Geschützbaus) als beste ‚Philosophie‘ durch Heron vonAlexandria, weil sie durch die Abwehr der Feinde allein ‚Seelenruhe‘ verheiße, über dasZiel hinausschoss und nur aus dem stets gegenüber den theoretischen Disziplinen derNaturwissenschaft bestehenden Profilierungsdefizit verständlich wird, das noch ausdem Historischen Erfahrungsraum während der Entstehungsphase der theoretischen‚Mechanik‘ herrührte (und eigentlich bis heute nicht überwunden ist).

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Wahrscheinlich hat sich die Einschätzung zur Zeit ihres Entstehens aber gar nichtungünstig auf den Fortgang der ‚Mechanik‘ als Disziplin der Angewandten Mathematikausgewirkt; denn aufgrund der strengen Scheidung von den natürlichen, naturgemäßenBewegungsvorgängen konnten die ‚unnatürlichen‘, ‚nicht-natürlichen‘, also ‚mecha-nischen‘, weiterhin mathematisch behandelt werden, nachdem jene idealistische mathe-matische ‚Naturwissenschaft‘ des Platonischen Timaios durch Aristoteles abgelehnt undfür die Folgezeit weitgehend widerlegt worden war. Die Mathematik gehörte nach Aris-toteles nämlich einem anderen Seinsbereich als die ‚natürlichen‘ Dinge an. Sie konntedeshalb nichts zur Erkenntnis der ‚Natur‘, der Ursachen ‚natürlicher‘ Vorgänge beitra-gen (die zu erfassen aber alleiniges Ziel der Naturwissenschaft der Antike war) und imsublunaren Bereich nicht einmal der Beschreibung solcher Vorgänge dienen. Die na-türlichen, mit allen Umwelteinflüssen ablaufenden Prozesse des irdischen Bereichs alssolche sind auch viel zu komplex, um ihnen von vornherein mathematische Gesetzmä-ßigkeiten unterlegen zu können - es sei denn gewaltsam und aufgrund voreiliger Ver-allgemeinerungen, wie etwa in den Spekulationen der älteren Pythagoreer, die natürlichals Vorstufe nicht wegzudenken sind. Ihre sämtliche Bereiche, die materielle wie dieimmaterielle Welt, umfassende, symbolträchtige und oft nur vermeintlich mathemati-sche Betrachtungsweise führte sich nach ihrer immer wieder faszinierenden und in derFolgezeit bis hin zu Johannes Kepler vielfältig und oft anregenden Blüte bei Platonschon bei dessen Schülern, den älteren Akademikern, selbst ad absurdum. Fasste manden sinnlich wahrnehmbaren Bereich als ‚Natur‘ auf, so war eine mathematische Be-handlung jetzt ausgeschlossen – ‚mathematische Naturwissenschaft‘ gab es nur füreinen idealen Bereich, die ‚Natur‘ Platons und der Neuplatoniker und -pythagoreer, dieaber mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt wenig gemein hatte und auch nichts gemeinhaben sollte.

Hier auf Erden im sinnlich wahrnehmbaren sublunaren Bereich war eine mathe-matische Betrachtungsweise nur noch für nicht als natürlich angesehene Vorgängemöglich, nur noch auf dem Gebiet von vornherein nach mathematischen Prinzipienaufgebauter τέχναι wie der ‚Mechanik‘, deren Gegenstände ja auch geometrisch (mitZirkel und Lineal) konstruiert sind. Hier konnten aber mathematische Gesetzmäßig-keiten eben nur deshalb entdeckt werden, weil im Gegensatz dazu als ‚natürlich‘geltende komplexe Vorgänge keinen störenden Einfluss auf die Exaktheit mehr aus-zuüben vermochten - gehörten sie doch einem ganz anderen Seinsbereich an.

Außerdem konnte sich diese mathematisch vorgehende ‚Mechanik‘ daraufhin sehrintensiv des Experiments bedienen, um die effektivsten µηχαναί konstruieren zukönnen.

5. ‚Mechanik‘ im 17. Jahrhundert:

Die ‚Mechanik‘ hatte so als angewandte Mathematik in der Antike zwei verschieden-artige theoretische Behandlungen erfahren, die ältere ‚dynamische‘ (Archytas, ‚Mecha-nische Probleme‘) und die jüngere des Archimedes, der mit seiner streng mathematischdeduzierenden statischen Betrachtungsweise die ältere dynamische zu widerlegen ge-

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meint hatte, indem er Bewegung und Geschwindigkeit als beim Gleichgewicht unwe-sentliche Faktoren unbeachtet ließ. Die statisch-quantitative Methode schien sich fürden Augenblick als brauchbarer erwiesen zu haben, die ‚dynamische‘ geriet für den Be-reich antiker Mechanik, der sich mit dem Bewegen schwerer Lasten beschäftigt, inVergessenheit.

Sie kam eigentlich erst wieder in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zumTragen, als man sich nach den ersten Drucken lateinischer Übersetzungen der natürlichAristoteles noch nicht abgesprochenen ‚Mechanischen Probleme‘ und der archime-dischen Schrift ‚Über das Gleichgewicht ebener Flächen‘ mit beiden antiken Betrach-tungsweisen auseinandersetzte, und beide als gleichwertige Möglichkeiten nebenein-ander standen. (Übrigens hatte schon Johannes Regiomontanus sowohl die ‚Pneuma-tik‘ des Heron von Alexandria wie auch die aristotelischen ‚Mechanischen Probleme‘in sein Editionsprogramm aufgenommen, dessen Nichterfüllung also auch für die ‚Me-chanik‘ zu der bekannten Phasenverschiebung innerhalb der Aufbereitung der antikenKenntnisse während des RenaissanceHumanismus führte.) Man sah beide Schriftrenals ‚klassisch‘ an und ging deshalb – glücklicherweise, wie sich herausgestellt hat – nichtpseudo-historisch vor und sah die vorarchimedische Schrift nicht als Vertreter einervon Archimedes überwundenen Frühform theoretischer Mechanik an. So konnte mitGalileo Galilei sowohl die ‚dynamische‘ als auch die ‚statische‘ Betrachtungsweise zuneuem Leben erweckt werden, nachdem man sich im 16. Jahrhundert sehr intensiv mitden aristotelischen Quaestiones mechanicae beschäftigt hatte.

Zu neuem Leben deshalb, weil eine für die Beurteilung der Möglichkeit einer Wis-senschaft von der Natur wesentliche Komponente des geistig-kulturellen Raumes sichseit der Antike grundlegend gewandelt hatte. Die kurze Skizze einiger wesentlicherKomponenten des Historischen Erfahrungsraums zur Entstehungszeit theoretischerMechanik sollte ja versuchen, aufzuzeigen, wo, wann und als Kind welcher Zeit dietheoretische Mechanik auf der Grundlage von Erkenntnissen einer schon weit entwi-ckelten Praxis entstanden war, um verständlich zu machen, wo in der Antike ihreGrenzen lagen und in welchem Zusammenhang oder unter welchen Voraussetzungendiese Grenzen wahrscheinlich nur überwunden werden konnten.

Die wichtigste Voraussetzung dafür war die ganz andere christliche Auffassung vonder Natur und dem Menschen in ihr und der Stellung der gesamten Schöpfung zuihrem Schöpfer, die seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts dahingehend zum Tragenkam, dass dem Künstlichen die prinzipielle Andersartigkeit gegenüber der kunstvollenSchöpfung Natur abgesprochen wurde. Die Natur, der Kosmos, steht für den Christenja nicht mehr als ein göttliches Wesen über dem Menschen, wie in der heidnischenAntike, sondern sie ist eine ihm selbst prinzipiell gleichrangige, ja gemäß dem bibli-schen Schöpfungsbericht ihm sogar untergeordnete ‚Schöpfung‘ ein und desselbenGottes. ‚Natur‘ und Mensch stehen auf derselben Seinsstufe; sie können nur Gleich-artiges vollbringen. Der Mensch vermag nur zu tun, was durch die ‚Natur‘ vorgegebenist; aber er kann sie durch seine Natur verwendende Kunst (Technik) nachahmen undergänzen – und entsprechend werden die ‚mechanischen Künste‘ im 16. und 17. Jahr-hundert auch fast als Gottesauftrag gerechtfertigt.

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Für die theoretische und praktische ‚Mechanik‘ wurde die Gleichartigkeit, die Ab-lehnung eines ‚Unnatürlichen‘ und {/477} ‚Widernatürlichen‘ neben dem Natürlichen,erstmals von dem jungen Galileo Galilei in seiner Frühschrift Le mecaniche von 1593(1600 überarbeitet) generell ausgesprochen: Die Natur könne gar nicht überlistetwerden; man müsse ihr vielmehr folgen (ihr „gehorchen“, wie Francis Bacon [1] wenigspäter sagen sollte). Die entscheidenden Impulse für die oft von ihren Vertretern so ge-nannte neue Wissenschaft der Zeit Galileis und seiner Nachfolger scheint dann wesent-lich gerade daher zu rühren, dass die relativ weit ausgebildete mathematische Disziplinvon den Hilfsmitteln zur Überlistung der Natur, die antike ‚Mechanik‘, durch die neueAuffassung von der Natur und der Naturgemäßheit mechanischer Prozesse, die (wiein der Antike nacheinander) jetzt nebeneinander teils statisch, teils dynamisch gedeutetwurden, plötzlich zu einem Bestandteil der Naturwissenschaft Physik werden und alseine solche auf alle anderen Bereiche dieser Naturwissenschaft starken Einfluss aus-üben konnte:

Nicht mehr innere ‚Kräfte‘ wie in der bis dahin deshalb qualitativen ‚Physik‘, son-dern von außen wirkende Kräfte, wie sie die Antike bei ‚künstlich‘ bewirkten Bewegun-gen angewandt sah, wurden generell als Bewegungsursachen auch in der Natur angese-hen, so dass die Größe dieser Kräfte aus ihrer Wirkung (nach dem Prinzip actio =reactio) erschlossen und berechnet werden konnte. Die gesamte Natur wurde in derFolgezeit in diesem Sinne ‚mechanisiert‘, die qualitative ‚Physik‘ durch die quantitative‚Mechanik‘ ersetzt, die damit zur Naturwissenschaft Physik wurde und in diese neuePhysik neben dem Mathematisieren auch das Experimentieren mit einbrachte.

6. Schlussbemerkungen

Die ursprünglich enge Verknüpfung, wenn nicht Identität von ‚Mechanik‘ und Tech-nik, die bereits in dem griechischen Begriff mechaniké téchne zum Ausdruck kommt, istdurch die Übernahme jener ‚Kunst‘ in die Wissenschaft von der Natur, speziell diePhysik, mit der Zeit auf diese übertragen worden. Nicht nur, dass der Technik darauf-hin der Rang einer angewandten Naturwissenschaft zugemessen wurde, sie ist auch‚naturgemäß‘ geworden, eine Anwendung von der Natur abgelauschten Gesetzen(wohingegen die antike ‚Mechanik‘ nur das ‚natürliche‘ Verhalten der Körper nutzte).Sie ist gleichsam ein Stück Natur selbst, vom menschlichen Geist in bestimmte Bahnengelenkte Natur. Und diese Deutung birgt gerade wegen des hohen Pathos, mit dem sievorgetragen wird, große Gefahren in sich. Enthebt sie doch den Menschen der Verant-wortung für das, was er in Technik und Naturwissenschaft tut.

Die seit dem frühen 19. Jahrhundert entstehende eigentümlich ingenieurwissen-schaftliche Disziplin einer ‚Mechanischen Technologie‘ beziehungsweise ‚Mechani-schen Technik‘ ist auch (trotz der wohl nur unbewusst gewählten Namensgleichheit)keineswegs als eine Wiederbelebung der antiken mechaniké téchne gedacht gewesen;vielmehr stellt sie die Übertragung und Anwendung der neuzeitlichen physikalischenDisziplin Mechanik (die in der ‚Himmelsmechanik‘ und ‚Analytischen Mechanik‘gerade einen Höhepunkt erreicht und Vorbildcharakter für alle anderen Naturwissen-

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schaften erhalten hatte) auf die Lösung technischer Probleme dar, nachdem man er-kannt hatte, dass die abstrakte idealisierende mechanistische Physik nur selten in derLage ist, direkt konkrete technische Probleme zu bewältigen.

Vielleicht sollte man sich deshalb einiger Worte erinnern, die der neuplatonischeChrist des sechsten Jahrhunderts Ioannes Philoponos in seinem Kommentar zum 7.Kapitel der aristotelischen Kategorienschrift bezüglich der Frage schreibt, ob die Er-kenntnis oder das Erkannte früher sei:

„Künstliche Dinge erhalten ihr Sein erst gleichzeitig mit der Schaffung durch die ‚Kunst‘(τέχνη), sie existieren vorher noch nicht. Die natürlichen Dinge existieren zwar vor demWissen von ihnen, die künstlichen treten aber erst mit dem Wissen von ihnen ins Dasein.Erkanntes und Erkenntnis erhalten hierbei gleichzeitig ihr Sein. Am besten sieht man dasan den Erfindungen der ‚Mechanik‘, zum Beispiel daran, wie man Lasten bewegen oderWasser heben kann oder dergleichen. Ist doch klar, dass dieses und ähnliches zugleich mitdessen Erkenntnis erfunden wird, ohne vor dem Wissen davon bereits irgendwie zuexistieren. Genau umgekehrt wie die natürlichen Dinge verhalten sich also die künstlichen(τεχνητά), so dass bei den künstlichen Dingen das Gewusste und das Wissen davongleichzeitig ins Leben treten.“Das forschende, erkennende, erfindende Subjekt ist hiernach also durchaus verant-

wortlich für das von ihm erst geschaffene Objekt – und sämtliche Folgen, die sichdaraus ergeben. Dies entspricht genau der antiken klassischen Auffassung von einerτεχνή und ihren µηχαναί und deren Anwendung, die sich vergleichsweise harmlos ge-genüber unseren technischen ‚Errungenschaften‘ ausmachen.

Literatur

[1] Bacon, Francis: Novum organon. Buch I, Aphorismus 3 – deutsche Übersetzung von R.Hoffmann unter dem Titel: Francis Bacon, Das neue Organon (Novum Organon). Hrsg.von Manfred Buhr. (Philosophische Studientexte) Berlin (DDR): Akademie-Verlag²1982, S. 41: „Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkennt-nis der Ursache die Wir kung verfehlen lässt. Die Natur lässt sich nämlich nur durchGehorsam bändigen (Natura non nisi parendo vincitur); was bei der Betrachtung alsUrsache erfasst ist, dient bei der Anwendung als Regel."

[2] [VS:] Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch von Hermann Diels.8./6. Auflage, hrsg. von Walther Kranz. 3 Bde, Berlin: Weidmann 1956/ 1952 (mehrmalsnachgedruckt). - VS 41: Oinopides; VS 47: Archytas.

[3] [Eudemos:] Wehrli, Fritz (Hrsg.): Die Schule des Aristoteles. Texte und Kommentare.Fasc. 8: Eudemos von Rhodos. Basel: Schwabe. ²1969.

[4] De Gandt, Francois: Les Mécaniques attribuées à Aristote et le renouveau de la sciencedes machines au XVIe siècle. Les Etudes philosophiques nE 3/1986, S. 391–405.

[5] Drachmann, Aage G.: The Mechanical Technology of Greek and Roman Antiquity: AStudy of the Literary Sources. (Acta historica scientiarum naturalium et medicinalium,Vol. 17) Kopenhagen: Munksgaard 1963.

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[6] Drake, Stillman / Israel E. Drabkin (Transl.): Mechanics in the Sixteenth-Century Italy.Selections from Tartaglia, Benedetti, Guido Ubaldo und Galilei. Madison: University ofWisconsin Press. 1969.

[7] Gille, Bertrand: Les méchaniciens grecs. La naissance de la technologie. Paris: Éd. duSeuìl. 1980.

[8] Hooykaas, Reijer: Das Verhältnis von Physik und Mechanik in historischer Hinsicht.(Beiträge zur Geschichte der Wissenschaft und der Technik, Heft 7) Wiesbaden (jetztStuttgart): F. Steiner 1963.

[9] Krafft, Fritz: Die Anfänge einer theoretischen Mechanik und die Wandlung ihrer Stel-lung zur Wissenschaft von der Natur. In: W. Baron (Hrsg.): Beiträge zur Methodik derWissenschaftsgeschichte. (Beiträge zur Geschichte der Wissenschaft und Technik, Heft9) Wiesbaden (jetzt Stuttgart): F. Steiner 1967, S. 12–33. – Hier auch Einzelbelege zuµηχανή.

[10] Krafft, Fritz: Dynamische und statische Betrachtungsweise in der antiken Mechanik.(Boethius, Bd 10) Wiesbaden (jetzt: Stuttgart): F. Steiner 1970.

[11] Krafft, Fritz: Die Stellung der Technik zur Naturwissenschaft in Antike und Neuzeit.Technikgeschichte 37 (1970), 189–209, und: Humanismus und Technik 15 (1971), Heft 1,33–50.

[12] Krafft, Fritz: Das Selbstverständnis der Physik im Wandel der Zeit. Vorlesungen zumHistorischen Erfahrungsraum physikalischen Erkennens. Weinheim: Physik-Verlag (jetztWiley-VCH-Verlag) 1982.

[13] Proklos Diadochos (a): In primum Euclidis elementorum librum commentarii. Exrecognitione Godofredi Friedlein. Leipzig: B. G. Teubner 1873, Prologus I, S. 41; (b):Kommentar zum ersten Buch von Euklids „Elementen“. Aus dem Griechischen über-setzt [...] von P. Leander Schönberger †, Os S. B., eingelreitet [...] und in der Gesamtediti-on besorgt von Max Steck. Halle (Saale): Deutsche Akademie der Naturforscher 1945,S. 191 f.

[14] Rode, Paul Lawrence / Stillman Drake: The Pseudo-Aristotelian Questions in Mechanicsin Renaissance Culture. Studies in the Renaissance 18 (1971), 65–104.

[15] Schadewaldt, Wolfgang: The Cocept of Nature and Technique According to the Greeks.Research in Philosophy and Technology 2 (1979), 159–171.

[16] Schneider, Helmuth: Das griechische Technikverständnis. Von den Epen Homers bis zuden Anfängen der technologischen Fachliteratur. (Impulse der Forschung, Bd 54) Darm-stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989.

[17] Stöcklein, Ansgar: Leitbilder der Technik. Biblische Tradition und technischer Fort-schritt. München: H. Moos. 1969.