Fritz Krafft: Pharmazie und Theologie. Von den verschiedenen Sinnebenen eines Andachtsbildes. In: A....

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1 Wolfgang-Hagen Hein: Christus als Apotheker. (Monographien zur pharmazeutischen Kul- turgeschichte, Band 3) Frankfurt am Main 1974, ²1992 (nach der Zählung in dieser zweiten Auflage werden die Bilder im folgenden zitiert). 2 Christus als Apotheker (1647), anonymes Öltafelbild auf Fichtenholz (31,5 cm hoch, 21,5 cm breit), Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg (Inv. Nr. F 1128, 1898 aus dem Antiquitä- tenhandel erworben). Siehe hierzu neben W.-H. Hein (wie Anm. 1) 1974, 30/31, und ²1992, 34/35 (Nr. 44, jeweils mit s/w[-Abbildung]) Volker Hoffmann: Martin von Wagner-Museum der Universität Würzburg, Gemäldekatalog. Würzburg 1986, 61 f.; Wolfgang-Hagen Hein: Christus als Apotheker. Bemerkungen zur Ikonographie dieses Motivs. Zur Geschichte der Pharmazie – Ge- schichtsbeilage der Deutschen Apotheker-Zeitung 18 (1966), 1–8, hier 6 (s/w); Fritz Ferchl (a): Christus als Apotheker, I. Der geistige Ursprung des bildlichen Gleichnisses. Apotheker-Zeitung 45 (1930), 1643–1646, hier 1643, (b): Christus als Apotheker. In: Georg Edmund Dann (Hrsg.): Festschrift zum 75. Geburtstag von Ernst Urban am 19. April 1949. Stuttgart 1949, 61–71, hier 66; s/w abge- bildet auch in: Illustrierter Apotheker-Kalender 1932, 17. August, und 1962, Blatt 36. Astrid Schürmann / Burghard Weiss (Hrsgg.): Chemie – Kultur – Geschichte. Festschrift für Hans-Werner Schütt anlässlich seines 65. Geburtstages. Berlin/Diepholz: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 2002, S. 245–255. Fritz Krafft (Marburg) Pharmazie und Theologie Von den verschiedenen Sinnebenen eines Andachtsbildes Nicht darstellbare Geschehnisse wurden und werden in der bildenden Kunst häufig durch allegorisierende Personifizierungen wiedergegeben. Wird dagegen eine realistische Szenerie als bekanntes und jedermann einleuchtendes Analogon gleichnishaft für ein nicht darstell- bares geistiges, emotionales oder gesellschaftliches Geschehen gewählt, spricht man von einem Sinnbild oder Emblem. Ein solches Sinnbild kann neben der dargestellten Ebene einer realen Szenerie durchaus mehrere hinter der Darstellung ‚verborgene‘, ihm analoge, aber die eigentliche Bildaussage beinhaltende Sinnebenen enthalten. Die Aussage (Message) einer solchen Sinnebene, die durch die bildliche Darstellung eines dem Betrachter bzw. der Zielgruppe bekannten realen Analogons verständlich gemacht und veranschaulicht werden soll, wird häufig durch beigegebene Texte erläutert und verdeutlicht. – Sehr beliebt waren derartige Sinnbilder und teilweise höchst anspruchsvolle Emblemata in der frühen Neuzeit, im 16. Jahrhundert und vor allem im Zeitalter des Barock. Im Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg befindet sich ein mit 1647 datiertes kleinformatiges Tafelbild eines unbekannten Künstlers mit für unsere Zeiten be- fremdlichem Bildinhalt und ungewöhnlicher Bildaussage. Es ist wie die inzwischen fast 150 bekannt gewordenen unterschiedlichen Beispiele des Bildmotivs 1 bisher vorwiegend als pharmaziehistorische Bildquelle betrachtet worden 2 . Es scheint ein Mitglied des damals schon angesehenen Berufsstandes der Apotheker beim Bereiten einer Arznei darzustellen: Der Apotheker steht als Halbfigur hinter einem

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1 Wolfgang-Hagen Hein: Christus als Apotheker. (Monographien zur pharmazeutischen Kul-turgeschichte, Band 3) Frankfurt am Main 1974, ²1992 (nach der Zählung in dieser zweitenAuflage werden die Bilder im folgenden zitiert).

2 Christus als Apotheker (1647), anonymes Öltafelbild auf Fichtenholz (31,5 cm hoch, 21,5 cm breit),Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg (Inv. Nr. F 1128, 1898 aus dem Antiquitä-tenhandel erworben). Siehe hierzu neben W.-H. Hein (wie Anm. 1) 1974, 30/31, und ²1992, 34/35(Nr. 44, jeweils mit s/w[-Abbildung]) Volker Hoffmann: Martin von Wagner-Museum derUniversität Würzburg, Gemäldekatalog. Würzburg 1986, 61 f.; Wolfgang-Hagen Hein: Christusals Apotheker. Bemerkungen zur Ikonographie dieses Motivs. Zur Geschichte der Pharmazie – Ge-schichtsbeilage der Deutschen Apotheker-Zeitung 18 (1966), 1–8, hier 6 (s/w); Fritz Ferchl (a): Christus alsApotheker, I. Der geistige Ursprung des bildlichen Gleichnisses. Apotheker-Zeitung 45 (1930),1643–1646, hier 1643, (b): Christus als Apotheker. In: Georg Edmund Dann (Hrsg.): Festschriftzum 75. Geburtstag von Ernst Urban am 19. April 1949. Stuttgart 1949, 61–71, hier 66; s/w abge-bildet auch in: Illustrierter Apotheker-Kalender 1932, 17. August, und 1962, Blatt 36.

Astrid Schürmann / Burghard Weiss (Hrsgg.): Chemie – Kultur – Geschichte. Festschrift für Hans-WernerSchütt anlässlich seines 65. Geburtstages. Berlin/Diepholz: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaftenund der Technik 2002, S. 245–255.

Fritz Krafft (Marburg)

Pharmazie und Theologie

Von den verschiedenen Sinnebenen eines Andachtsbildes

Nicht darstellbare Geschehnisse wurden und werden in der bildenden Kunst häufig durchallegorisierende Personifizierungen wiedergegeben. Wird dagegen eine realistische Szenerieals bekanntes und jedermann einleuchtendes Analogon gleichnishaft für ein nicht darstell-bares geistiges, emotionales oder gesellschaftliches Geschehen gewählt, spricht man voneinem Sinnbild oder Emblem. Ein solches Sinnbild kann neben der dargestellten Ebeneeiner realen Szenerie durchaus mehrere hinter der Darstellung ‚verborgene‘, ihm analoge,aber die eigentliche Bildaussage beinhaltende Sinnebenen enthalten. Die Aussage (Message)einer solchen Sinnebene, die durch die bildliche Darstellung eines dem Betrachter bzw. derZielgruppe bekannten realen Analogons verständlich gemacht und veranschaulicht werdensoll, wird häufig durch beigegebene Texte erläutert und verdeutlicht. – Sehr beliebt warenderartige Sinnbilder und teilweise höchst anspruchsvolle Emblemata in der frühen Neuzeit,im 16. Jahrhundert und vor allem im Zeitalter des Barock.

Im Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg befindet sich ein mit 1647datiertes kleinformatiges Tafelbild eines unbekannten Künstlers mit für unsere Zeiten be-fremdlichem Bildinhalt und ungewöhnlicher Bildaussage. Es ist wie die inzwischen fast 150bekannt gewordenen unterschiedlichen Beispiele des Bildmotivs1 bisher vorwiegend alspharmaziehistorische Bildquelle betrachtet worden2.

Es scheint ein Mitglied des damals schon angesehenen Berufsstandes der Apothekerbeim Bereiten einer Arznei darzustellen: Der Apotheker steht als Halbfigur hinter einem

3 Siehe zuerst Fritz Krafft: Christus als Apotheker. Ursprung, Aussage und Geschichte eineschristlichen Sinnbildes. Marburg 2001, 8–13 (mit farbiger Abbildung).

4 D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Leb-zeiten erschienene Ausgabe. Hrsg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke. Text-redaktion Friedrich Kur. München und Darmstadt 1972.

gleichzeitig den Verkaufstresen bildenden, mit einer dunkelgrünen Decke bezogenen Rezep-tiertisch, auf dem auf einem vorn über den Tisch herabhängenden weißen Leinentuch eineReihe von Apotheken-Standgefäßen steht, wie sie im 17. Jahrhundert üblich waren: Holz-büchsen, bauchige Flaschen und graue, zylindrische Zinnflaschen, aus deren einer der Stieleines silbernen Arzneilöffels herausschaut. Der [246] Apotheker führt eine damals nochtypische berufliche Tätigkeit aus, das Abwägen von einfachen Arzneimitteln. Hierzu hebter mit der Linken eine kleine Handwaage – mit durchaus korrekter Hand- und Fingerhal-tung, so dass durch das Fixieren der ausschlagenden Zunge in der Waagenschere beimSchließen der Hand die Waage arretiert werden könnte. Auf der Waage befindet sich in dervom Betrachter aus gesehen rechten Schale ein kleines bronzenes Gewicht, das in der linkenvon einem kreuzförmigen Gebilde derselben Art Trockendroge aufgewogen wird, wie siesich in dem aufgerollten, offenen Sack mit der Aufschrift ‚Kreutzwurz‘ links auf dem Tischbefindet. Der Apotheker greift mit seiner Rechten in diesen Sack, um ein weiteres Stück auf-zulegen, obgleich das Gewicht bereits mehr als aufgewogen wird. Das Ganze scheint aufden ersten Blick eine Art Apothekenwerbung darzustellen; denn sowohl der Text auf demherabhängenden Teil des Leinentuches als auch der oben rechts an der Wand stehende be-ginnt mit den Worten: „Kommt her ...“.

Bei näherem Hinschauen aber eröffnet sich, schon wenn man diese Texte weiterliest,eine völlig andere, allegorische Sinnebene3. Unten steht nämlich:

„Kompt her alle die ihr mühselig v[nd] beladen seidt, Jch will euch erquicken. Die starcken be-dörffen des Artzes nicht, sondern die krancken. Rufe mich an Zur Zeit der noth, so will ich dicherretten v[nd] du sol[ls]t mich preisen.“

Und das sind Bibelverse in der alten deutschen Übersetzung Martin Luthers. Beim erstenSatz handelt es sich um Matthäus XI, 28, beim zweiten um Matthäus IX, 12/13 und beimdritten um Psalm L, 15 (in Luthers Zählung). Am Ende des Textes oben rechts neben des‚Apothekers‘ Kopf an der Wand ist vor der Jahreszahl 1647 sogar die Quelle genannt: „Esa:55“; es handelt sich um Jesaja LV, 1:

„Kompt her vnd kauft ohne geldt vndt umb sonst, Beides Wein vndt Milch“ – der Vers lautetin der ungekürzten Fassung der Luther-Übersetzung4: „Wolan alle die jr Dürstig seid / komether zum Wasser / Vnd die jr nicht Gelt habt / kompt her / keuffet vnd esset / Kompt her vndkeufft on gelt vnd vmb sonst / beide wein vnd milch.“

Auf diese Weise sensibilisiert, schaut man natürlich etwas genauer hin. Der vermeintlicheApotheker entpuppt sich dann durch den scheibenförmigen Heiligenschein in Verbindungmit dem herrschaftlichen, roten Überwurfmantel über einem an den Ausschnitten von Halsund Ärmeln golden abgesetzten gräulichen hemdartigen Gewand (Chlamys) als derjenige,der im Neuen Testament die auf dem Bild zitierten Worte spricht, als der ‚Heiland‘ JesusChristus; und die Bibelzitate, deren Sinnverständnis stillschweigend vorausgesetzt wird und

in damaligen Zeiten offenbar auch vorausgesetzt werden konnte, bestimmen den Weg derdargestellten Allegorie, der durch deutungsstiftende Merkmale anderer Sinnträger auf demBilde bestätigt und damit der Willkür des Betrachters enthoben wird – soweit dieser jedenfallsdem unten näher charakterisierten Historischen Erfahrungsraum des Urhebers des Bildmotivsnoch angehört oder ihn berücksichtigt; und das dürfte einem abendländischen Christenweniger Schwierigkeiten bereiten und eindeutigere Sinninhalte erschließen lassen als im Falle

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Abb.: Christus als Apotheker, anonymes Öltafelbild, datiert 1647(Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg)

[248] von allegorischen Darstellungen des einen uns inzwischen völlig fremd gewordenenNaturzugang verheißenden alchemistischen Geschehens, denen sich der Jubilar widmet.

5 In der Geschichte des Bildmotivs taucht der Kelch hier erstmals auf; er findet sich in der Fol-gezeit mit darüber schwebender Hostie im Anschluss an eine etwas spätere Musterzeichnung aufallen Bildern katholischer Provenienz; siehe F. Krafft 2001 (wie Anm. 3), 108–124.

6 Im Katholizismus behalten darüber hinaus auch die ‚guten Werke‘, die menschlichen Werke derBarmherzigkeit und die Sakramentalien ihre Funktion als ‚Seelenarzneien‘ zum ‚Aufwägen‘ derSünden beim Jüngsten Gericht; siehe F. Krafft 2001 (wie Anm. 3), 65–88.

7 Zur Geschichte der Institution ‚Apotheke‘/‚Apotheker‘ siehe nebst der dort genannten LiteraturFritz Krafft: »Die Arznei kommt vom Herrn, und der Apotheker bereitet sie« – Biblische Recht-fertigung der Apothekerkunst im Protestantismus: Apotheken-Auslucht in Lemgo und Phar-mako-Theologie. (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd 76) Stuttgart 1999,33–57 (Kapitel 4: Der Apotheker).

8 Des Heiligen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus Kommentar zu den Briefen des hl. Paulusan die Philipper und Kolosser. Aus dem Griechischen übersetzt von W. Stoderl. (Bibliothek derKirchenväter, [Reihe I], Band 8) Kempten/München 1924, 361 (Kommentar zum Kolosserbrief,Homilie IX,1); griechischer Text in S. P. N. Joannis Chrysostomi Opera omnia quae exstant.Band 12 (Patrologiae cursus completus: Patrologiae Graecae tomus LXII), Paris 1862, Sp. 361.

9 Zu Biographie und Werk siehe jetzt Silke Gartenbröcker: Michael Herr (1591–1661). Beiträgezur Kunstgeschichte Nürnbergs im 17. Jahrhundert. Mit Werkverzeichnis. (Uni Press Hoch-schulschriften, Bd 76) Münster 1996; zugleich Phil.Diss. Münster 1995.

10 Siehe Fritz Krafft: Eine ‘neue’ Christus-als-Apotheker-Darstellung von Michael Herr. Überle-gungen zur Herkunft des Bild-Motivs. Geschichte der Pharmazie – DAZ Beilage 52 (2000), 2–15.

So entdeckt man auf den Standgefäßen für eine Apotheke ganz ungewohnte Signaturen.In ihnen sollen sich nämlich gemäß den Aufschriften auf den weißen Schriftbändern keineüblichen Drogen und Apothekenwaren befinden, sondern (von links): Geduldt, Hoffnung, Friedt,Hülff, Genadt (in dieser Zinnflasche steckt der Arzneilöffel), Barmhert[zigkeit], Bestendigk[eit],Demuth. Die gläsernen bauchigen Flaschen davor, Apothekengefäße für flüssige Essenzen, tra-gen die Aufschriften (von links): Lieb[e], Krafftmilch und wahrheit. Dazwischen steht in der Mittedes Tisches ein Kelch, das christliche Symbol für ‚Glaube‘, wie auch die Aufschrift besagt5. Inden Gefäße sollen sich also keine Apothekenwaren befinden, keine Drogen und Essenzen fürLeibesarzneien, sondern christliche Tugenden, und zwar über die paulinischen Kardi-naltugenden Glaube, Liebe, Hoffnung hinausweisende, wenn auch ausschließlich nur imProtestantismus gültige Tugenden6, die als der Bibel entnommene ‚Seelenarzneien‘ einerseitsdie Assoziation zu einer Apotheke, andererseits aber auch die Verbindung zur Heiligen Schriftder Christenheit herstellen. Schon Ioannes Chrysostomos (um 350 bis 407) hatte ja in seinemKommentar zum Kolosserbrief empfohlen, „die [Heiligen] Bücher als Arzneien für die Seelezu erwerben (κτ÷σhε βιβλία nάρµακα τ−ς ψυχ−ς)“, weil man sich in sie bei Kummer und Leidwie in eine ‚Apotheke‘, und das heißt hier noch: wie in das Arzneidepot eines Arztes7, vertiefenkönne (òσπερ εÆς •ποhήκην nαρµάκων §γκωψον)8.

Das Bild reiht sich damit in eine Gruppe von (protestantischen) Bildwerken der christ-lichen Volkskunst ein, die Christus als Apotheker in der Himmelsapotheke bei der Bereitungseiner Seelenarznei zur ‚Heilung‘ von den Sünden zeigen. Das Bildmotiv schuf höchstwahr-scheinlich der Nürnberger lutherische Maler Mich(a)el Herr9 (1591–1661) in einem Genre-bild des Jahres 161910, das seit 1962 im Marburger Universitätsmuseum für Kunst und Kul-turgeschichte hängt. Es stellt in derselben Art Christus als Apotheker dar, nur agiert er hier

11 Eine detaillierte Beschreibung findet sich in Fritz Krafft: Arzneien »umb sonst und on gelt« ausChristi Himmelsapotheke. Pharmazeutische Zeitung 146 (2001), 4440–4447 (Nr. 51/52, 10–17).

12 Die große Ähnlichkeit dieser Bilder (selbst in Details wie der trichterförmigen Faltung des Leib-rocks vor der Brust) wurde erstmals von W.-H. Hein 1966 (wie Anm. 2), 6, betont; siehe auchF. Krafft 2001 (wie Anm. 3), 9–50. Die Beispiele der Bildgruppe um das Wandfresko von Je-singen (1680) und das Tafelbild in Gussenstadt (W.-H. Hein [²1992], Nr. 84 und 81) bildenallerdings aufgrund anderer übereinstimmender Details eine weitergebildete, eigene Bildgruppe;siehe F. Krafft 2001 (wie Anm. 3), 38–48. Aus der notwendig zu erschließenden Kette Muster-oder Vorlagen-Zeichnung (Unikat) / Druckgraphik (Multiplikator) / ausgeführtes Bildwerk (Öl-bild, Bildteppich, Reliefplastik oder ähnliches) ist für die abgewandelte katholische Versionneben den Bildwerken immerhin als lavierte Federzeichnung das Ausgangs-Muster erhalten(Schweizerisches Landesmuseum, Inv.Nr. LM 4154); für eine andere Darstellung sind alle dreiKettenglieder erhalten, wie entdeckt wurde von Wolfgang-Hagen Hein: Die graphische Vorlageder Eichstätter Gemälde Christi in der Seelenapotheke. Weg und Ergebnis einer Suche. Pharma-zeutische Zeitung 122 (1977), 1754–1760. Zur Problematik generell siehe auch F. Krafft 2001 (wieAnm. 3), 89–97 und 108–126.

in einer eine Häuserecke bildenden, zu [249] beiden Straßen hin geöffneten Apotheke, dievon zahlreichem Publikum, vorwiegend Bettlern, Armen und Kranken, regelrecht belagertist. Hier sind die Signaturen der beschrifteten Büchsen auf der Tresen und Rezepturtisch bil-denden Fensterbank noch auf die paulinischen Grundtugenden Liebe, Glaube und Hoff-nung beschränkt, und ist der Sack mit den Kreuzchen noch unbeschriftet11.

Das wird anders auf zwei Glasbildern aus dem Bodenseeraum und einem Bilderpaar inWerder und Plötzin (bei Potsdam), die vom Bildmotiv her weitgehend identisch mit demhier vorgestellten Bild sind und wahrscheinlich alle auf einen kurz nach dem Herrschen Bildentstandenen Kupferstich zurückgehen12, dessen Details allerdings unterschiedlich ausgestal-

tet wurden. Hierin wird der allegorisierende Inhalt des Motivs des Herrschen Genrebildes

in einem radikalen Abstraktionsschritt auf das Wesentliche der Bildaussage verkürzt: Repo-

sitorium und äußeres Erscheinungsbild einer Apotheke fallen (vorerst) völlig weg, dieals Rezeptiertisch dienende Fensterbank wird zu einer bis an die Bildebene vorge-schobenen, meist mit einem (grünen) Tuch bedeckten altarartigen Platte, hinter derChristus steht und dem Betrachter die Kreuze zuwägt und auf der mehrere Apotheken-standgefäße aufgereiht sind, deren Signaturen den Inhalt als verschiedene christlicheTugenden und Seelenarzneien kennzeichnen. Die vordergründige Sinnebene der Apothe-ke wird ersatzweise dadurch anschaulicher gestaltet, dass der Sack mit den kleinenKreuzen die Aufschrift ‚Kreuzwurz‘ erhält. Die auf dem Herrschen Bild auf eine Fahnegeschriebenen Bibeltexte sind ebenfalls reduziert und auf ein vorn vom Tisch herabhän-gendes (Altar-) Tuch sowie auf einen Schriftträger (Wand, Standarte, Anschlagbrief) rechtsneben Christi Kopf geschrieben. Das (imaginäre) Publikum bildet jetzt der hierdurch zurAndacht angeregte und aufgeforderte Betrachter selbst.

Die auf den Andachtsbildern übliche Aufschrift ‚Kreuzwurz‘ ist ein aus dem Mittelalterstammender Volksname für den Kreuz-Enzian oder Madelger, der noch heute in der Volks-heilkunde Verwendung findet – auf den offizinellen Charakter als Panazee und Allheilmittelweisen auch seine anderen Namen Heil aller Schäden, Heil aller Welt oder Allerweltheil hin,

13 Siehe dazu Johann Anselm Steiger: Martin Luthers allegorisch-figürliche Auslegung der HeiligenSchrift. Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999), 331–351.

14 Abgedruckt bei Bruno Quinos: Disce mori. Oder Sterbe Kunst. Das ist, Ein sehr schönes vndnützliches Handbüchlein, darinnen etliche außbündige Exempel Hoher Christlicher Personen

ebenso wie der Spruch: „Madelger ist aller Wurzel Ehr!“ Die Legende erklärt seinen Namendamit, dass Gott die Wurzel der Pflanze sowohl mit seinem eigenen als auch mit dem Stabdes Heiligen Petrus durchstochen habe, so dass der im Wurzelquerschnitt entstehendekreuzförmige Spalt entstanden sei. Deshalb spielt der Kreuz-Enzian auch in der christlichenPflanzensymbolik eine große Rolle; er [250] heile nicht nur leibliches, sondern als ChristiKreuz auch seelisches Leid und erlöse den Gläubigen von den Sünden. Mit seinen blauenBlüten tritt er auf zahlreichen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen christlichen Bild-werken immer wieder auf.

In der Form als Andachtsbild konnte das Bildmotiv in der Folgezeit fast bis in die Gegen-wart (dann weitestgehend in der katholischen Version), die es unter vorwiegend ästhetischenAspekten als Schmuck für Apotheken und Apothekerwohnungen (Christus gleichsam als Ahn-herr des Berufsstandes) wieder aufnimmt, über den soziokulturellen Bezug zum HistorischenErfahrungsraum seines Entstehens als Genrebild hinaus weitgehend erhalten bleiben.

Das Herrsche Bild hatte mehreren der Forderungen entsprochen, die Martin Luther aneine protestantische Ikonographie stellte13. Diese sollte Christus nicht als Schmerzensmannund Leidenden oder als Weltenrichter darstellen, sondern lieblich und als Freund und Erlö-ser der Menschen, besonders der Armen und Kranken; sie sollte der Illustrierung und Erklä-rung von Christi Wort und von Aussagen der Bibel dienen, um sie dem Betrachter bessereinzuprägen; und sie sollte schließlich hierzu das Alte Testament als prophetische Hinfüh-rung zum Geschehen des Neuen Testaments deuten.

Luther hatte mit seiner Übertragung der deuterokanonischen Schrift Jesus Sirach erstmalsauch den in den älteren Bibelversionen noch nicht vorkommenden Begriff ‚Apotheker‘ indie Heilige Schrift eingeführt, als er den Beginn von Kapitel 38 übersetzte:

„Der Herr läßt die Arznei aus der Erden wachsen, und ein Vernünftiger verachtet sie nicht. [...]Damit heilt er und vertreibt die Schmerzen, und der Apotheker macht Arznei daraus.“

Der Apotheker und seine Arzneikunst waren dadurch – wie bis dahin nur der Arzt – imWirkungsbereich dieser Übersetzung Luthers als von Gott gewollt und von Gott demMenschen verliehen definiert worden.

Das war aber nur eine conditio sine qua non. Selbst die damals noch unbestritteneRechtfertigungsinstanz der Bibel hätte nicht ausgereicht, die alte, noch aus der Konkurrenzzum Asklepioskult des östlichen Frühchristentums herrührende Metapher vom heilendenSeelen-Arzt Christus auf den Apotheker zu übertragen. Gehörte doch der Arzt einem sozialsehr hoch angesiedelten Stand mit akademischer Ausbildung an, während der Apothekernur als ein zudem meist ungebildeter Krämer galt, der lediglich die Vorgaben des Arztes aus-zuführen hatte – wenn dieser nicht selber Hand anlegte, wie es in unserem Zusammenhangetwa noch 1566 der Celler lutherische Hofprediger Christoph Vischer in einer 1580 erstmalsgedruckten Trostschrift ausführte14:

zu finden, Daraus man Anleitung zu nemen, vnd zu lernen, Wie man sich zu einem ChristlichenEnde bereiten und Seliglichen von dieser Welt scheiden solle. Zittau 1596 (zuerst o. J., wohl1580), fol. 112.

15 Für Einzelheiten siehe F. Krafft 1999 (wie Anm. 7), 57–74.16 Hierzu siehe F. Krafft 1999 (wie Anm. 7), 75–120.

„Das Wort Gottes ist die herrliche Trostkammer, ja die himmlische Apotheke, daraus derhimmlische Raphael, der kräftige Seelenarzt Jesus Christus, schöne Brustküchlein präpariert,welche, so man sie in wahrem Glauben gebrauchet, dem notleidenden Menschen [251] [...] Luftund Raum ums Herz machen, besser als kein Konfekt, Labsal, Erquickung, Electuarium oderLatwerge auf Erden thun kann.“

Die Einschätzung änderte sich erst, nachdem Oswald Croll (um 1560 bis 1608) in seiner1609 erschienenen Basilica chymica die paracelsischen Arzneimittel, von ihrer mystisch-religiö-sen Verbrämung und ihrem abstrusen naturphilosophischen Überbau befreit, als chemi-schen Prozessen zugänglich dargestellt und damit erstmals lehrbar gemacht hatte. Denn dar-aufhin wurde diese „chemische Medizin“, die Chymiatria, die sich vorerst nur an den Höfen,vor allem in Prag und in Kassel, hatte etablieren können, auch akademisch, erstmals in derersten öffentlichen Professur für Chymiatria überhaupt, die vom Kasseler Landgrafen Mo-ritz für Johannes Hartmann (1568–1631) an der Marburger Universität nebst einem zugehö-rigen Laboratorium im Jahre 1609 eingerichtet wurde. Hartmann legte dem erstmals fürÄrzte praktisch-chemischen Unterricht Crolls Werk zugrunde und brachte dieses 1611 ineiner zweiten, annotierten Auflage heraus, die selbst wieder viele Ausgaben, auch in deut-scher Übersetzung, erfuhr. Die beim Antritt seiner ersten Professur 1607 bedeutungsloseMedizinische Fakultät wurde daraufhin mit einem Schlage bekannt; und die Vorlesungenund praktischen Kurse der Chymiatria wurden nicht nur von einer großen Zahl Studierenderund fertiger Ärzte und Apotheker aus vielen europäischen Ländern besucht, sondern auchals nachahmenswertes Beispiel anderen Fürstenhäusern für ihre Universitäten anempfohlen.Hartmanns Lehrprogramm wurde nach und nach auch an anderen Universitäten eingeführt.In seiner Landgrafschaft hatte Moritz durch entsprechende Vorschriften in der neuen Medi-zinalordnung und Arzneitaxe von 1616 der neuen Lehre und dem sie praktizierenden Apo-theker auch eine wirtschaftliche Absicherung angedeihen lassen, insofern diese chymischenArzneien daraufhin nur von den Apothekern selbst oder von entsprechend vorgebildetenÄrzten hergestellt und vertrieben werden durften.15

Es ist allenthalben ein allgemeiner, wenn auch in Hessen nur zwei Jahrzehnte bis zurAbdankung von Moritz währender Aufbruch zu spüren, der die Apothekerkunst und denApothekerstand, nachdem beide durch Luther scheinbar eine biblische Rechtfertigung er-fahren hatten und die Chymiatria paracelsischer Ausrichtung bereits hoffähig geworden war,jetzt auch akademisch machte und dem Apotheker zu einer dem hohen Ansehen des Arztesvergleichbaren sozialen Aufwertung verhalf. Zumindest das damit verbundene, neu begrün-dete Selbstbewusstsein bezeugt auch der bereits 1611/12 bei der Neugestaltung der Apo-theke am Rathaus der lutherischen Hansestadt Lemgo angebrachte herrliche Standerker imStile der Weserrenaissance16. An ihm wird das Hartmannsche Programm einer Verknüpfunghippokratisch-galenischer und chymiatrisch-paracelsischer Medizin und Arzneikunde in

17 Zum folgenden siehe vor allem F. Krafft 2001 (wie Anm. 3), 63–74 [jetzt auch F. Krafft: Die Phar-mazie im Dienste der Propagierung lutherischer Rechtfertigungslehre. Zur Bildaussage eines weitver-breiteten protestantischen Sinnbildmotivs. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 26 (2003), 157–182.]

einem noch heute zu bewundernden Figurenfries mit Ahnherren der Medizin und Pharmaziefestgehalten, dessen Porträtreliefs für den alchemisch-chymiatrischen Teil nach Vorlagen desTitelkupfers zur Basilica chymica gestaltet sind. Er beruft sich damit auf die von Croll erneuerteChymiatrie als einen der beiden wissenschaftlichen Pfeiler des Programms, bezieht aber auchdie durch Luthers Übersetzung gewonnene neue biblische Rechtfertigung des Apotheker-standes mit in dieses Programm ein, wenn er auf dem Sims unterhalb des Giebels den Anfangvon Kapitel 38 des Jesus Sirach verdichtend zitiert (hier in modernes Deutsch umgesetzt):

[252] „Wenn du krank bist, so bitte den Herrn / und lass ab von den Sünden, so wird er dichgesund machen. / Danach lass den Arzt zu dir, denn der Höchste hat ihn geschaffen. / DieArznei kommt vom Herrn, und der Apotheker bereitet sie.“

Erst durch diese Aufwertung des Apothekers und seiner Kunst waren die Vorausset-zungen erfüllt, um die Metaphern vom himmlischen Arzt Christus und von der Bibel alsseiner und des Priesters Apotheke für Seelenarzneien, wie sie seit Ende des 16. Jahrhundertsin der protestantischen Erbauungs- und Trostliteratur immer häufiger auftraten, auf Christusals den Arzneibereiter oder den seine Arzneien selbst bereitenden Arzt auszudehnen.

Das Herrsche Bild aus dem Jahre 1619 spiegelt ebenso wie Oswald Crolls Basilica chymica

von 1609 und der Lemgoer Fries von 1611/12 ungewollt diese Situation der Geschichte derNaturwissenschaft und Medizin und deren soziokulturelle Verankerung wider und legt somiteindringliches Zeugnis ab für den dadurch geprägten Historischen Erfahrungsraum seinesEntstehens.

Von den im Anschluss an die Textauswahl bei M. Herr gemäß den Forderungen MartinLuthers erklärend illustrierten Bibelversen und Worten Christi treten bis ins 19. Jahrhundertvor allem die Verse Matthäus XI, 28 und Jesaja LV, 1 immer wieder als Zusätze zumBildinhalt auf. Ersterer ist bis auf ganz wenige, technisch bedingte Ausnahmen auf jedemder fast 150 bisher bekannten Bilder zu finden.

Auch der Jesaja-Vers tritt relativ häufig auf. Eine erste statistische Auswertung zeigteaber, dass es sich dabei in vielen Fällen um Bilder handelt, die sich unter anderem durch dieBenutzung der Luther-Übersetzung und deren Psalmenzählung eindeutig als protestanti-schem Umfeld zugehörig erweisen. Daraufhin angestellte Untersuchungen zum religions-geschichtlichen Hintergrund dieses Verses ergaben folgendes17: Luther selbst stellt die Ver-bindung zum Neuen Testament durch den Rand-Verweis auf Johannes VII (37/38) her, wosich Jesus ähnlicher Worte bedient (Herr zitiert diese Verse ebenfalls). In der Folge wird derJesaja-Vers jedoch immer häufiger als biblisches Grundzeugnis für die unter Berufung aufdie Paulus-Briefe von Martin Luther entwickelte Rechtfertigungslehre eingesetzt, wonachnicht mehr (wie weiterhin im Katholizismus) gute Taten, Ablasszahlungen und Heiligenver-ehrungen bei der Seelenwägung am Tage des Jüngsten Gerichts von Christus gegen dieSünden aufgewogen werden, sondern allein der Glaube an ihn („sola fide“), den Liebe undHoffnung sowie andere christliche Tugenden (die somit auch als Seelenarzneien dienen)

18 Heidelberger Katechismus [Heidelberg 1563], hrsg. von O. Weber. Hamburg 1963 (mehrereNeuauflagen). Vgl. auch besonders die Antwort auf die anschließende Frage, warum man „alleindurch den Glauben [sola fide] gerecht“ sei. Die entsprechenden Aussagen der Confessio Augustanastehen in Artikel 4 (Von der Rechtfertigung) und 20 (Vom Glauben und guten Werken).

19 Johann Arnd’s Sechs Bücher vom wahren Christentum nebst dessen Paradies-Gärtlein. Bielefeld1996, 512 (Buch III, 2; siehe vor allem auch Buch V, 5).

20 J. A. Steiger im Nachwort zu Johann Gerhard: Meditationes Sacrae (1606/07). Lateinisch-deutsch hrsg. von Johann Anselm Steiger. 2 Bde, Stuttgart 2000, hier Bd 2, 690.

21 J. Gerhard 1606/07 (wie Anm. 20), 103–107 (lat.) / 430–434 (dt.) und 108–111 / 435–438.

unterstützen, genügt für die Vergebung der Sünden, und das jederzeit. Seelennahrung undSeelenarznei werden von Christus an die Gläubigen ohne Gegenleistung, kostenlos und um-sonst, abgegeben und sind deshalb auch für jeden Mittellosen erhältlich.

Der Heidelberger Katechismus von 1563, der eine gleich weite Verbreitung fand wie derKleine Katechismus Martin Luthers und eine weit größere als der gesamte Liber concordiae, beant-wortet entsprechend Frage 60, „Wie bist du gerecht vor Gott?“ (nicht: Wie wirst du gerechtvor Gott?)18:

„Allein durch wahren Glauben in Jesum Christum; also dass [...] Gott ohn alle meine Verdienste, auslauter Gnaden, mir die vollkommene Genugtuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi schenketund [253] zurechnet, als hätte ich nie eine Sünd begangen noch gehabt...“

Nicht der Mensch kommt, wie nach katholischer Rechtfertigungslehre, durch Frömmigkeitund „gute Werke“ zu Gott, sondern Gott ist in Christus zum Menschen gekommen, um ihnin seiner Sündhaftigkeit aufzunehmen und aus freier Gnade zu rechtfertigen.

Das wohl wirksamste Werk protestantischer Erbauungsliteratur, Johann Arndts (1555bis 1621) Vier Bücher vom wahren Christentum, die vollständig erstmals 1610 erschienen undspäter zu „sechs Büchern“ erweitert wurden, kleidet diese Gedanken in die Worte19:

„…der Glaube tut alles, was zu tun ist, aus freiem Geiste: das ist, er überlässet sich Gott, deralles aus Gnaden in uns wirket. Und das ist’s auch, davon Jesajas prediget, dass wir zum Herrnkommen sollen, Ihn zu hören und umsonst kaufen, beide Wein und Milch. Jes[aja] 55, 1.“

Auch in dem „Bestseller der geistlichen Literatur“20, den Meditationes Sacrae ad veram pietatem

excitandam Johann Gerhards (1582–1637) von 1606, die schon im Folgejahr in deutscherÜbersetzung und insgesamt in etwa 220 Druckausgaben erschienen, widmen sich unteranderen die Meditationen 18 und 19 der Rechtfertigungslehre unter Berufung auf ebendiesen Jesaja-Vers21. In ersterer heißt es:

„Wer mein Fleisch jsset / vnd trinckt mein Blut / der hat das ewige Leben / spricht der HerrChristus [Johannes VI, 56]. Es ist freylich eine große Wolthat vnsers Seligmachers / daß ernicht allein vnser Fleisch an sich genommen / vnd in seinen Himlischen Ehren Thron geführethat: Sondern speiset vns auch mit seinem Leib vnd Blut zu ewigen Leben. O wie heilsameliebliche Seelenspeiß! [...] Lasset vns demnach satt werden nicht von vnsern Wercken / son-dern von des Herrn Speise. Lasset vns truncken werden von dem reichen Geträncke nichtvnsers Hauses / sondern des Herrn. Das ist der rechte Brunn des Lebens / wer des Wasserstrincket / das wird in jm werden ein Brunn des Wassers / das da quillet in das ewige Leben.Alle die euch dürstet / kommet zu diesem Wasser / vnd die ihr nicht Geld habt / Kompt /keuffet ohne Geldt / esset [Marginale: Esa. 55. v. 1.]. Alle die euch dürstet / kommet ...“

Außerhalb der protestantischen Rechtfertigungslehre stehen deshalb auch die über diechristlichen Tugenden hinausgehenden sieben leiblichen und geistlichen Werke der(menschlichen) Barmherzigkeit, die sogenannten „guten Werke“, die nach altem undkatholischem Glauben für den Menschen verdienstlich und heilsnotwendig sind und obeiner Belohnung und Anrechnung beim Weltgericht geleistet werden. Ein weiterer wich-tiger Bestandteil lutherischer Rechtfertigungslehre ist der Ausschluss der Heiligen vomErlösungswerk; Christus vollbringe es ohne jede fremde Hilfe. Auch dazu berief sichschon das frühe 17. Jahrhundert auf einen Vers aus dem Propheten Jesaja und formte diealte Bildallegorese von „Christus in der Kelter“ entsprechend um (LXIII, 3/5: „Ich habdie kelter allein getreten / vnd aus den Völckern ist keiner mit mir gewesen. Ich sah michvmb / da war kein helffer“).

Damit sind wichtige Kriterien gewonnen, die ursprüngliche, protestantische Version desSinnbildes von Beispielen der späteren katholischen abzugrenzen. Letztere nimmt auch be-wusst von der lutherischen Rechtfertigungslehre Abstand, indem sie nicht nur niemals denJesaja-Vers zitiert oder nennt, sondern auch die sofortige Vergebung der Sünden „sola fide“leugnet, die durch das Zuwägen der Kreuze und Seelenarzneien dargestellt wird, die ohneGeld, [254] also ohne irgendeine Gegenleistung, an den an ihn Glaubenden von Christusals Gnadenakt abgegeben werden.

Während sämtliche protestantischen Bilder den Jesaja-Vers dem Betrachter an heraus-stechender Stelle – auf dem hier vorgestellten Bild neben Christi Kopf an der Wand im Hin-tergrund – als die Zentralaussage des Bildes und lutherischer Rechtfertigungslehre werbend,

ja fast propagandistisch entgegenhalten, leugnet die katholische Glaubenslehre die sofor-

tige Erlösung des sündigen, aber gläubigen Menschen von seinen Sünden durch das Leidund den Gnadenakt Christi; gerade an diesem Gegensatz entzünden sich ja immer nochdie nach Ökumene ringenden Geister beider Seiten. Schon auf der den Ausgang der ka-tholischen Bildbeispiele bildenden Musterzeichnung wird deshalb auch nichts mehr ab-gewogen. Die ursprünglich und auf den protestantischen Bildern dazu miteinander ko-ordinierte Handlung beider Hände wird aufgegeben. Christi Rechte ist vielmehr zumSegnen des Betrachters erhoben, während die Linke eine gleichgewichtige Waage an-hebt, jetzt als bloßes Symbol der Gerechtigkeit, wie die Beschriftung besagt.

Christus wird nicht mehr als agierender Apotheker dargestellt. Das Ambiente einerApotheke behält zwar seinen Sinn als Materialkammer für Seelenarzneien, erklärt sichaber nur noch aus der Herkunft des Bildmotivs aus dem Protestantismus. Da mit derWaage nichts mehr ab- oder aufgewogen wird, sind auch keine Kreuze mehr erforderlich,kein Sack, sie aufzunehmen, und keine Gewichte, sie abzuwägen. Die Kreuze sind realzu dem geworden, was der Allegorese auf den protestantischen Bildern zugrunde lag, zurpflanzlichen Trockendroge ‚Kreuzwurz‘, die auf dem Tisch liegt. Später wird dieseKreuzwurz allerdings auch wieder symbolisch überhöht und unter Beibehaltung derBeschriftung „Kreuzwurz(el)“ zu einer Dornenkrone geformt.

Das Bild des Martin von Wagner-Museums unterscheidet sich aber nicht nur mit denanderen protestantischen Bildern hierin grundsätzlich von allen katholischen Bildbeispielen,

22 Siehe Andreas Pigler: Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des17. und 18. Jahrhunderts. 2 Bde, Budapest 1956, hier Bd 1, 325–330.

23 Siehe auch Matthäus XXI, 12–14, Markus XI, 15 f., Lukas XIX, 45 f.24 Vgl. etwa Martin Niemöller: Tempelreinigung. Predigt über Johannes 2, 12–22. Frankfurt am

Main 1962.

es weist auch gegenüber den anderen protestantischen Bildern eine bisher nicht erkannteBesonderheit auf, die eine weitere Sinnebene hinter der allegorischen der Sündenvergebungdurch Christus darstellt und die Aussage des Jesaja-Verses noch bestätigend überhöht: DerBildhintergrund ist weder neutral, wie auf den meisten frühen Beispielen des 17. Jahr-hunderts, noch entspricht er dem Interieur einer Apotheke. Die von einem schweren, dun-kelvioletten Vorhang halb verdeckte Säule und die beiden mit einem Rundbogen verbun-denen Pfeiler weisen vielmehr auf das Innere einer Kirche, in der die violette Verhängungauf die Passionszeit hindeutet. Der Jesaja-Vers wird so naturalistischer und weniger abstraktzu einer Wandinschrift.

Bedenkt man, dass der Wägevorgang mit der Handwaage ein typisches Wahrzeichennicht nur des Apothekers, sondern auch des Geldwechslers gewesen ist (insofern ist eineApothekenwaage identisch mit einer Münzwaage), so kommt einem sofort die Tempelreini-gung durch Jesus Christus in den Sinn. Sie ist auch ein beliebtes Thema in der Kunst desBarocks gewesen22 und stellte besonders im Anschluss an die Version des Johannes-Evan-geliums (II, 13–22)23 einen direkten Bezug zur Passion und sich anschließenden Auferste-hung Christi24 her: [255]

„(13) Und der Juden Ostern war nahe, und Jesus zog hinauf gen Jerusalem. (14) Und er fand imTempel sitzen, die da Ochsen, Schafe und Tauben feil halten, und die Wechsler. (15) Und ermachte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus samt den Schafen undOchsen und verschüttete den Wechslern das Geld und stieß die Tische um (16) und sprach zudenen, die die Tauben feil halten: Traget das von dannen und machet nicht meines Vaters Hauszum Kaufhause! [...] (18) Da antworteten nun die Juden und sprachen zu ihm: Was zeigst du unsfür ein Zeichen, dass du solches tun mögest? (19) Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brechetdiesen Tempel, und am dritten Tag will ich ihn aufrichten. (20) Da sprachen die Juden: DieserTempel ist in sechsundvierzig Jahren erbaut; und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? (21) (Eraber redete von dem Tempel seines Leibes. (22) Da er nun auferstanden war von den Toten,gedachten seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte, und glaubten der Schrift und der Rede,die Jesus gesagt hatte.)“

Die Geldwechsler sind von Christus aus dem Tempel vertrieben worden; das ‚HausGottes‘ ist wieder seiner Bestimmung zugeführt, die Christus, der Sohn Gottes, hier selberwahrnimmt – natürlich und trotz allem Schein kostenfrei und ohne Gegenleistung. Daswahre Gotteshaus, besagt die Aussage dieser Bildebene (immerhin ist der Jesaja-Vers an dieKirchenwand geschrieben), ist nur das des Protestantismus.