Fritz Krafft: Otto von Guericke. In: K. Faßmann et al. (Hgg.): Die Großen der Weltgeschichte. Band...

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Krafft-Nr.119 Die Großen der Weltgeschichte. Hrsg. von K. Faßmann, unter Mitwirkung von M. Bill / H. von Ditfurth / H. Helbling / W. Jens / R. Jungk / E. Kogon. Band 5, Zürich: Kindler Verlag 1974, S. 798–827; Neudruck: Die Großen. Leben und Leistung der 600 bedeutendsten Persönlichkei- ten unserer Welt. Bd 5, Teil 2, Lachen am Zürichsee [dann Stuttgart]: Coron-Verlag 1977, (Rev. ed.) 1989, 1991, 1995 [die Endnoten im Original wurden hier in Fußnoten gewandelt]: { 798 }

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Krafft-Nr.119

Die Großen der Weltgeschichte. Hrsg. von K.Faßmann, unter Mitwirkung von M.Bill/H. vonDitfurth/H.Helbling/W.Jens/R. Jungk/E.Kogon. Band 5, Zürich: Kindler Verlag 1974,S.798–827; Neudruck: Die Großen. Leben und Leistung der 600 bedeutendsten Persönlichkei-ten unserer Welt. Bd 5, Teil 2, Lachen am Zürichsee [dann Stuttgart]: Coron-Verlag 1977, (Rev.ed.) 1989, 1991, 1995 [die Endnoten im Original wurden hier in Fußnoten gewandelt]:

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1 Der unter Caesar im Jahr 46 v.Chr. eingeführte Julianische Kalender hatte die Dauer einesKalenderjahrs mit 365 Tagen und 6 Stunden (365, 25 Tage) angesetzt. Das tropische Jahroder Sonnenjahr (die Zeitspanne zwischen zwei Durchgängen der Erde durch den Früh-lingspunkt) ist indes kürzer (ca. 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 46 Sekunden, bzw.365,2422 Tage). Die Differenz von 11 Minuten und 14 Sekunden hatte sich gegen Ende des16. Jahrhunderts zu einem ‚Überschuss‘ an kalendarischer Zeit summiert, der etwa zehnTagen entsprach. Papst Gregor XIII. verfügte daher nach Beratung mit zahlreichen Fach-gelehrten eine Kalenderreform: statt vom 4. auf den 5. Oktober 1582 zu rücken, sollte derKalender – unter Auslassung von zehn Tagen – vom 4. auf den 15. Oktober springen. Vonda an sollte ein Kalender gelten, der den Unterschied zwischen dem tropischen Jahr unddem Jahr des Julianischen Kalenders berücksichtigte. Da die genannte Differenz sich in 400Jahren zu 3 Tagen, 2 Stunden, 53 Minuten und 20 Sekunden summieren musste, solltenfortan in je 400 Jahren 3 Schalttage ausfallen, nämlich jeweils die Anfangsjahre eines neuenJahrhunderts (Säkularjahre), das nicht durch die Zahl 4 teilbar ist – also die Jahre 1700,1800, 1900 –, keine Schaltjahre sein. Das Gregorianische Jahr beträgt somit 365,2425 Tage.Der noch verbleibende ‚Überschuss‘ läuft erst in 3000 Jahren wieder zu einem Tag auf. DieStreichung der zehn Oktobertage im Jahr 1582 wurde jedoch aus religionspolitischen wieauch verwaltungstechnischen Gründen nicht in allen Gebieten Europas sogleich vor-genommen; nur Spanien, Portugal und die meisten Staaten Italiens folgten termingerechtder päpstlichen Anordnung. Die meisten protestantischen Gebiete vollzogen die Umstel-lung erst viel später: so ließ als erstes das Herzogtum Preußen die Tage zwischen dem 22.August und dem 2. September 1612 ausfallen; die protestantischen KleinstaatenDeutschlands und die Städte folgten der Reform erst, indem sie das überschüssige QuantumKalenderzeit zwischen dem 18. Februar und dem 1. März 1700 durch Ausfall der Tage aus-schalteten; Großbritannien schloss sich erst 1752 an, Schweden im Jahr darauf. In Russlandist der Gregorianische Kalender erst nach der Oktoberrevolution akzeptiert worden. Da dieZeitdifferenz inzwischen auf 13 Tage aufgelaufen war, benannten die Behörden den 1.Februar 1918 alten Stils in den 14. Februar neuen Stils um.

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Fritz Krafft

Otto von Guericke

Selbst unter den Politikern des 17. und 18. Jahrhunderts, die in der Regel der naturwis-senschaftlichen Forschung und der Technik mehr Interesse entgegenbrachten, als esheute gemeinhin der Fall ist, nimmt Otto von Guericke insofern eine Sonderstellungein, als er sich nicht nur über die neuesten naturwissenschaftlich-technischen Erkennt-nisse informierte, sondern auch die Fähigkeit besaß, diese gänzlich zu erfassen, und da-rüber hinaus selbst aktiv und entscheidend an der Entwicklung von Naturwissenschaftund Technik mitwirkte.

Otto Gericke – so die ursprüngliche Namensform – wurde am 20. November1602 alten Stils1, also am 30. November 1602, als Spross einer alteingesessenen Mag-

2 Vgl. F. Krafft: Experimenta nova. Untersuchungen zur Geschichte eines wissenschaftli-chen Buches, 1. Teil: Das Manuskript der ‚Experimenta noua (ut vocantur) Magdeburgi-ca‘ Otto von Guerickes in den Jahren von 1663 bis 1672. In: Buch und Wissenschaft.

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deburger Patrizierfamilie geboren. Sein Weg als Politiker im Dienst seiner Heimatstadtschien vorgezeichnet. Nachdem er ab 1617 in Leipzig und 1620 in Helmstedt die Arti-stenfakultät – die spätere Philosophische Fakultät – besucht hatte, studierte er deswegenvon 1621 an in Jena und später in Leiden die Rechte. Das Studium blieb – wie bei Aka-demikern bürgerlichen Standes üblich – ohne Abschluss, wurde aber ergänzt durch einesich anschließende längere Bildungsreise durch Teile von Frankreich und England. Nachseiner Heimkehr wurde Gericke 1626 in den Rat der Stadt Magdeburg aufgenommen und1630 zum Bauherrn der Stadt ernannt, hatte er doch während seines Studienaufenthaltesin Leiden hauptsächlich an der mit der Universität verbundenen ersten ‚Ingenieurschule‘bei Frans van Schooten d. Ä. Vorlesungen über Vermessungs- und Befestigungswesengehört. Aufgrund seiner Ausbildung und Tätigkeit trat er nach der Zerstörung Magdeburgsdurch Tilly 1631 in Erfurt als Ingenieur in schwedische Dienste. Im folgenden Jahr kehrteer nach Magdeburg zurück und war zunächst als schwedischer, ab 1635 als kursächsischerIngenieur tätig. 1638 wurde er wieder Bauherr in Magdeburg und erwarb sich großeVerdienste um den Wiederaufbau der Stadt.

Durch seine Beziehungen zu beiden kriegführenden Parteien erwies er sich dannals der geeignete Mann, als Gesandter die Interessen der abwechselnd von schwedischenund kaiserlich-sächsischen Truppen bedrängten Stadt zu vertreten. Von 1642 bis 1646finden wir ihn dreimal am kursächsischen Hof in Dresden, zweimal in Leipzig bei demschwedischen Oberkommandierenden von Deutschland, weiterhin in Halle und Eilen-burg. Das Ergebnis dieser Reisen war der Abzug sämtlicher Truppen aus Magdeburg.Gericke erhält für seine Verdienste 1646 das Amt des vierten Bürgermeisters, das er imturnusmäßigen Wechsel bis 1676 ausübt. Bis 1660 schließen sich eine Reihe von längerenGesandtschaftsreisen an, bei denen es hauptsächlich um die Durchsetzung angeblichaltverbriefter Rechte der Stadt innerhalb der neuen politischen Ordnung Deutschlandsnach dem Dreißigjährigen Krieg ging. Sie führten ihn auch auf die Friedenskongresseund Friedensexekutionstage in Osnabrück (1646/47), Nürnberg (1649) und Wien (1649/51), auf den Reichs{&&&&800}tag zu Regensburg (1653 /54), mehrmals an den kaiserlichenHof in Wien und Prag sowie nach Helmstedt, Quedlinburg und Leipzig. 1666 wird ervon Kaiser Leopold I. geadelt und erhält die Erlaubnis, sich fortan Otto von Guerickestatt Gericke zu schreiben. In seinem Nobilitierungsgesuch hatte er sich neben seinenVerdiensten um Magdeburg bereits auf seinen weltweiten Ruf als Naturforscher und Er-finder berufen und auf das baldige Erscheinen seines Werks Experimenta nova (ut vocantur)

Magdeburgica de Vacuo Spatio hinweisen können, dessen Manuskript 1663 einen vorläu-figen Abschluss gefunden hatte, an dem er aber bis zu seinem Erscheinen (1672) nochweiterarbeiten sollte2.

Beispiele aus der Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik, hrsg. imAuftrag des Driburger Kreises von E. Schmauderer. (Technikgeschichte in Einzeldar-stellungen 17) Düsseldorf 1969, S.103–129.

3 Kaspar Schott (1608 Königshofen – 22.5.1666 Würzburg) war Jesuit und Professor derMathematik am Gymnasium in Würzburg. Seine kompendienhaften Handbücher be-richten kritisch über den Stand von Naturwissenschaft und Technik seiner Zeit. Über dieVersuche Guerickes berichtet erstmals seine Mechanica hydraulico-pneumatica, qua praeterquamquod aquei elementi natura, proprietas, vis motrix, atque occultus cum aere conflictus a primis fun-damentis demonstratur; omnis quoque generis experimenta hydraulico-pneumatica recluduntur: et abso-luta machinarum aqua et aere animandarum ratio ac methodus praescribitur. Opus bipartitum ...Accessit Experimentum novum Magdeburgicum ..., Würzburg 1657. (Vgl. auch Anm. 6.) DerAnhang trägt den Titel: „Experimentum novum Magdeburgicum, quo vacuum aliquistabilire, alii evertere conantur; inventum primo Magdeburgi a [...] Ottone Gericke ...“

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Der Höhepunkt seiner politischen Laufbahn war durch diese Ehrung erreicht; diefolgenden Jahre waren weniger glücklich. Aus Verärgerung über die Beschneidung derfrüher ihm für seine Verdienste verliehenen Privilegien legte Guericke 1676 das Amtdes Bürgermeisters nieder und siedelte 1681 zu seinem Sohn nach Hamburg über, woer am 11. Mai 1686 (am 21. Mai neuen Stils) verstarb.

Die vielen Gesandtschaftsreisen ließen Guericke zwar wenig Zeit für seine eigenenhäuslichen Angelegenheiten und Forschungen; doch waren es in Ermangelung andererKommunikationsmittel gerade die politischen Zusammenkünfte des 17. Jahrhunderts,besonders aber die Reichstage, auf denen wie sonst nur noch an Fürstenhöfen die neu-esten wissenschaftlichen Ergebnisse mitgeteilt und diskutiert wurden. So führte Gue-ricke nicht nur seine eigenen Versuche 1653 und 1654 mehrmals während des Reichs-tags in Regensburg und – auf Einladung – 1663 auch am Hof des Großen Kurfürstenvor, sondern hörte auch in Osnabrück (1646/47) erstmals von dem neuen philoso-phischen System René Descartes’, welches dann den Anstoss zu seinen eigenen Versu-chen bildete, und erfuhr in Regensburg von den Versuchen Evangelista Torricellis, dervon einer anderen Seite her das Vakuumproblem angegangen hatte. In gleicher Weisewurden auch seine eigenen Versuche schnell bekannt. Weiten Kreisen vermittelte sieeine Publikation Kaspar Schotts, die nach den Regensburger Vorführungen 1657herauskam3 und besonders Robert Boyle zur Wiederholung und Erweiterung anregte.Nicht zuletzt waren es aber die während seiner Reisen mit gebildeten Laien und Ge-lehrten geführten Gespräche, die ihn zu immer neuen, überzeugenderen Versuchenund Argumenten anregten und schließlich auch zur eigenen Publikation; denn Gue-rickes Luftpumpenversuche standen keineswegs so isoliert da, wie die Veröffentli-chungen Kaspar Schotts vermuten lassen könnten und wie auch heute in der Regelnoch angenommen wird, sie waren vielmehr der experimentelle Nachweis der Mög-lichkeit eines ganz neuen physikalischen Weltbilds, das er bis ins Detail durchdachthatte.

4 Melchior Cornaeus: Curriculum Philosophiae Peripateticae, uti hoc tempore in Scholisdecurri solet, multis figuris et curiositatibus e mathesi petitis, et ad physin reductis, illus-tratum [...]. Würzburg 1657.

5 August Hauptmann: Neues Chymisches Kunst-Project und sehr wichtiges Bergk-Beden-cken über die allergrößten Hauptmängel des Bergkwerches, unnd dero Arbeit schweres-ten Verhinderungen, darüber offtmals die allerköstlichsten anbrüche, so sichtiglichvorhanden, gantz erliegen müssen, wie nehmlich solchen zu remediren seyn möchte, mitgewissen sonderlichen Rationibus, ex doctrina vacui & vinculo Naturae indissolubili be-stercket [...]. Leipzig 1658.

6 Anton Deusing: Disquisitio physico-mathematica genuina de vacuo itemque de attrac-tione, quibus probatur, multum in rerum natura dari, vel posse dari vacuum; ipsaqueexperimenta variorum pro vacuo probando hactenus afferi solita, expenduntur ac refel-luntur; ostenditurque non pulsione duntaxat, sed et tractione in rerum natura fieri motum.Amsterdam 1661.

7 K. Schott: Technica Curiosa, sive Mirabilia Artis, Libris Xll comprehensa [...]. Nürnberg1664 (Liber I: Mirabilia Magdeburgica).

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So fragte der junge Gottfried Wilhelm Leibniz in einem Brief vom 3. Mai des Jah-res 1671 bei dem fast siebzigjährigen Altbürgermeister Magdeburgs an, wann dessenvon allen Seiten mit großer Spannung erwartetes Werk erscheinen werde. In den Ver-zeichnissen der Buchmessen von Frankfurt und Leipzig, in denen Guerickes Buch seit1670 angekündigt wurde, sei von Erfindungen und Versuchen die Rede, die man be-gierig des näheren kennen lernen wolle. Leibniz legte diesem Brief ein Exemplar desersten Teils seines gerade erschienenen Traktats Hypothesis Physica Nova bei. Der sich andiese Anfrage anschließende Briefwechsel zieht sich über ein knappes Jahr hin undendet kurz vor dem Erscheinen der Experimenta nova in der ersten Aprilhälfte des Jah-res 1672. Leibniz war im März von seinem Dienstherrn in diplomatischer Missionnach Paris geschickt worden; seine Interes{&&&&801}sen hatten sich dort auf andere Gebieteverlagert, und er hatte zu diesem Zeitpunkt auch erreicht, was er mit seiner Anfragebezweckt hatte: einen Überblick über das im Erscheinen begriffene Werk Guerickes.Dieser hatte ihm im Verlauf des Briefwechsels neben einer ausführlichen Inhaltsüber-sicht auch einzelne bereits ausgedruckte Bogen zugeschickt, insbesondere aus dem 4.Buch, welches die virtutes mundanae, die kosmischen Wirkkräfte im Sinne Guerickes, be-handelt. Später hat er ihm vermutlich auch ein vollständiges Exemplar vom Verlegerzustellen lassen.

Leibniz’ Interesse an diesem Werk Guerickes hatten aber kaum die mit der Erfin-dung der Luftpumpe verbundenen Versuche über den leeren Raum erweckt; denn die-se waren zum größten Teil bereits 1657 von Kaspar Schott und Melchior Cornaeus4,im folgenden Jahr von August Hauptmann5 und 1661 von Anton Deusing6 sowie1664, durch briefliche Angaben Guerickes über neue Versuche ergänzt, erneut vonSchott7 veröffentlicht worden. Eine weitere lnformationsquelle für Leibniz war seinwissenschaftlichen Fragen und Erkenntnissen gegenüber sehr aufgeschlossener ober-

8 Johann Philipp von Schönborn (6. 8. 1605 Burg Eschbach – 12. 2. 1673 Würzburg), ab1642 Bischof von Würzburg, ab 1647 Kurfürst-Erzbischof von Mainz und von 1663 anBischof von Worms, war als Reichskanzler maßgeblich an den Friedensverhandlungenim Dreißigjährigen Krieg beteiligt und vermittelte – dank seiner guten Beziehungen zuFrankreich – zwischen den Interessen Spaniens und der Bourbonen, um einen dauer-haften Frieden auf dem Kontinent zu erreichen. Während seiner Amtszeit war Mainz einZentrum der Künste und Wissenschaften, das auf ganz Deutschland ausstrahlte.

9 Giovanni Alfonso Borelli (28. 1. 1608 Castelnuovo bei Neapel - 31. 12. 1679 Rom) be-gründete die iatromechanische Schule, in der die mechanischen Lehren ihre Anwendungfür die Erklärung tierischer und menschlicher Bewegungen fanden, durch sein posthumherausgegebenes Hauptwerk: De motu animalium (2 Bde, Rom 1680 und Leiden 1685).Vgl. F. Krafft: Borelli. In: Große Naturwissenschaftler. Biographisches Lexikon, hrsg. vonF.Krafft/A.Meyer-Abich. Frankfurt am Main 1970, S. 60 f.

10 Vgl. A. Koyré: Le méchanique céleste de J. A. Borelli. Revue d'Histoire des Sciences 5 (1952),101-138; ferner auch A. Koyrè: La révolution astronomique. Paris 1961, S. 461 ff.

11 Erschienen in den Acta Eruditorum von 1689; zur Beziehung Borelli-Leibniz vgl. E. J.Aiton: The Celestial Mechanics of Leibniz in the Light of Newtonian Criticism. Annalsof Science 18 (1962 [1964]), 34.

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ster Dienstherr Johann Philipp von Schönborn8 gewesen. Schönborn, Kurfürst undErzbischof von Mainz, hatte nämlich Guerickes Vorführungen auf dem Reichstag zuRegensburg im Mai 1654 beigewohnt und war von ihnen so angetan gewesen, dass erdie von Guericke mitgebrachten und benutzten Geräte aufgekauft und die Versuche inseiner Residenz in Würzburg durch Kaspar Schott hatte wiederholen lassen. Leibnizkonnte sich also bezüglich der Vakuum-Versuche hier unschwer jede Information ver-schaffen; denn bei Schott waren alle Berichte auch über andere Versuche zusammen-gekommen, Guerickes älteren Originalgeräte waren in dessen Obhut und hatten durchdie Würzburger Professoren Verbesserungen erfahren. Die der ersten Anfrage beige-legte Leibnizsche Abhandlung, deren Konzeption in einem Brief vom 17./27. Augustan Guericke noch einmal skizziert wird, zeigt denn auch schon durch ihren Titel, dassLeibniz sich in dieser Zeit hauptsächlich mit kosmologischen Bewegungsfragen be-schäftigt hatte: Hypothesis Physica Nova, qua Phaenomenorum Naturae plerorumque causae ab

unico quodam universali motu, in globo nostro supposito, neque Tychonicis, neque Copernicanis asper-

nando, repetuntur ... (Mainz 1671).

1666 waren die Theoricae Medicearum planetarum ex causis physicis deductae des Giovanni Al-fonso Borelli9 in Florenz erschienen – dem Titel nach eine Spezialuntersuchung überdie von Galileo Galilei im Nuncius sidereus ‚mediceische Planeten‘ genannten Jupitertra-banten, tatsächlich jedoch eine das ganze Sonnensystem umfassende Kosmologie10, de-ren quasi-dynamische Bewegungstheorie für die Planeten mit jener von Leibniz auchnoch in dessen späteren Schrift Tentamen de motuum caelestium causis11 vertretenen sogroße Ähnlichkeiten aufweist, dass die Annahme berechtigt ist, das Werk Borellis, das

12 Siehe die in Anm. 2 genannte Arbeit.13 Ismael Boulliau (Bullialdus; 28. 9. 1605 Loudun – 25. 11. 1694 Paris), Mathematiker,

Physiker und Astronom und Verfasser einiger mathematischer und besonders astrono-mischer Schriften.

14 Vgl. Y. Maeyama: Hypothesen zur Planetentheorie des 17. Jahrhunderts. Diss. rer. nat.Frankfurt am Main 1971, sowie den Schlussabschnitt von F. Krafft: Keplers Beitrag zurHimmelsphysik. In: Internationales Kepler-Svmposium Weil der Stadt 1971. Referate undDiskussionen, hrsg. von F. Krafft, K. Meyer und B. Sticker. (Arbor scientiarum, ReiheA, Bd 1 ) Hildesheim 1973, S.55-139. J.L.Russel: Kepler’s Law of Planetary Motion1609–1666. The British Journal for the History of Science 2 (1964), 1-24, vermittelt indes einfalsches Bild, da er nicht zwischen ‚bekannt‘ und ‚anerkannt‘ unterscheidet; aber selbstdie bloße Kenntnis der Keplerschen Gesetze war vor Newton sehr wenig verbreitet.

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Guericke in seinem bereits 1663 weitgehend abgeschlossenen Manuskript12 nicht mehrhätte auswerten können und das er auch nicht gekannt zu haben scheint, habe Leibnizden Anlass für die Beschäftigung mit kosmologischen Bewegungsfragen und somitindirekt auch für die Anfrage bei Guericke gegeben.

Borelli hatte angenommen, dass die im Äther schwimmenden Planeten von denLichtstrahlen der sich drehenden Sonne bewegt würden, deren Kraft, durch die Zer-streuung geschwächt, mit der Entfernung abnehme, so dass die Planeten in ihrer Grö-ße der auf sie einwirkenden Kraft proportional seien. Um die Zentrifugalkraft der Ro-tation auszugleichen, nahm er an, dass es eine Eigenschaft der Planeten sei, der Sonnezuzustreben, ohne {&&&&802}dass allerdings Borelli dieses Streben – nur gleichsam eine‚Zentripetalkraft‘ – schon mit Anziehung oder gar Schwerkraft zu erklären versuchthätte oder aus einer gegenseitigen Anziehung der Himmelskörper resultieren ließ –diesen Schritt tat erst Isaac Newton zwanzig Jahre später. Auch blieb, vom Ansatzbedingt, die ganze Betrachtungsweise rein qualitativ, zumal Borelli im Anschluss anIsmael Boulliau13 die mathematisch sehr viel schwerer zu behandelnden Ellipsenbah-nen Keplers verwendete. Boulliau und Borelli gehörten zu der ganz kleinen ScharAstronomen und Physiker vor Newton, die wenigstens die elliptische Form der Pla-netenbahnen aus den drei Keplerschen Gesetzen übernahmen14.

Ähnlich wie Borelli hatte auch Leibniz auf den Äther nicht verzichten wollen.Während jener ihm jedoch nur die Rolle eines neutralen Mediums zuwies, in dem diePlaneten gleichgewichtig schwimmen, war Leibniz in diesem Punkt reiner Cartesianer.Er hielt den Äther für einen sehr feinen, alle Poren der Materie durchdringenden undden ganzen Raum des Sonnensystems ausfüllenden Stoff, der aufgrund der Rotationder Sonne von ihren Lichtstrahlen ebenfalls in einen drehenden Wirbel versetzt werdeund dadurch die Planeten mit sich um die Sonne reiße. Aber schon aus dem Titel gehthervor, dass Leibniz sehr viel mehr mit diesem rotierenden Ätherwirbel erklären will;es ist eine „neue physikalische Hypothese, durch welche die Ursachen der meisten Er-scheinungen in der Natur aufgrund nur einer einzigen allgemeinen, auf unserem Erd-

15 Christian Huygens ließ sich daraufhin für seine Experimente von dem deutschen Mine-ralogen Johann Jacob Spener aus Leipzig, der 1690 auf Empfehlung von Leibniz bei ihmwar, die Anfertigung einer solchen Kugel zeigen. Vgl. Œuvres completes de ChristiaanHuygens. Bd 9, S. 496, sowie Bd 10, S. 22. Dazu N. H. de V. Heathcote: Guericke’sSulphur Globe. Annals of Science 6 (1948–50), 293–305. – Pierre de Carcavi (gest. April1684 Paris), Konservator (Garde) der Königlichen Bibliothek in Paris, war eines derStammmitglieder der Académie des Sciences.

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ball angenommenen Bewegung wieder gewonnen wurde, welche weder die AnhängerTychos noch die des Copernicus verwerfen können“. Der um die Sonne wirbelndeÄther galt als vermeintliche Ursache für Magnetismus, Schwere, Elastizität, Gezeitenund alle nur möglichen Erscheinungen und virtutes auf der Erde. Leibniz schreibt dem-entsprechend zum Abschluss des genannten Briefs vom 17./27. August 1671:

„Bestehet demnach der unterschied zwischen M[eines] Hochg[eehrten] H[errn] und meinerhypothesi hauptsächlich darinn, dass das medium translationis motuum in distans [dasÜbertragungsmittel der Bewegungen in die Ferne] bey demselben das unbewegliche spa-tium, bey mir aber der aller dinge poros (nicht die dinge selbst) penetrirende subtilebewegliche aether ist, durch deßen bewegung aller virtutum mundanum ursach kan gegebenwerden. Nam et sine dubio globus mineralis per motum corporis subtilis insensibilis interse et plumam, plumae motum suum imprimit [Denn ohne Zweifel drückt auch die Mi-neralkugel aufgrund der Bewegung des feinen, nicht wahrnehmbaren Körpers zwischen ihrund der Feder der Feder ihre Bewegung ein].“

Die letzten Worte beziehen sich auf die Experimente Guerickes mit der Schwefel-kugel. Diese Schwefelkugel war es auch, die Leibniz besonders interessierte. Er hattedavon gehört – Guericke hatte interessierten Besuchern auch stets diese Versuche vor-geführt – und in dem nicht erhaltenen ersten Brief ausdrücklich nach den Experimen-ten mit dieser Kugel gefragt, wie aus dem Antwortschreiben Guerickes vom 6./16.Juni 1671 hervorgeht:

„Daß mein hochgeehrter Herr schreibt: An verum sit, quod narraverunt, me posse glo-bum in aere libero pendentem alterius applicatione, novo quodam Magnetismi generecircumducere [ob es wahr sei, was man sich erzähle, daß ich in der Lage sei, eine frei inder Luft hängende Kugel durch die Annäherung einer anderen mit Hilfe einer gewissenneuen Art von Magnetismus herumzuführen], Daß wird gewiß die [Schwefel-]kugel sein,davon in lib[ro] 4, cap[ite] 15 [der Experimenta nova], außführlich geschrieben.“

Hier schien sich dem jungen Leibniz plötzlich eine Möglichkeit zu eröffnen, viel-leicht doch ohne den Äther auskommen zu können. Guericke hatte Leibniz aber mitArgumenten nicht über{803[Abb.]&&&&804}zeugen können und erhoffte sich die Überzeu-gungskraft, die seine Worte nicht hatten geben können, von den Experimenten selbst:Er schickte ihm – und auf seine Anregung hin auch Pierre de Carcavi und damit derPariser Akademie der Wissenschaften15 – eine Schwefelkugel zusammen mit den fürdie Experimente benutzten Flaumfedern und einer genauen Experimentieranleitung.

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16 Francis Hawksbee (um 1670 – um 1713), Physiker, war ein Schüler Boyles und wurde um1705 in die Royal Society gewählt. Seine Glaskugelmaschine, die, von einer Kurbel an-getrieben, sich durch Reibung elektrisch auflud, führte er 1706 vor.

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Das Bestätigungsschreiben von Leibniz ist leider nicht erhalten, doch geht aus demAntwortbrief Guerickes vom 1. März 1672 hervor, dass Leibniz noch nicht dazugekommen war, sich intensiv mit der Kugel zu beschäftigen, aber doch dieser frühes-ten (von Guericke allerdings noch nicht in ihrer Funktion erkannten) Elektrisierma-schine zum ersten Mal Funken hatte entlocken können. Guericke hielt diese Entde-ckung für unwesentlich und wies noch einmal auf den eigentlichen Zweck der Über-sendung hin, nämlich die Demonstration und den Nachweis der virtutes mundanae durchdie einem Weltkörper äquivalente Schwefelkugel. – Vor der Royal Society in London,der Guericke ein Exemplar seines Werks zugeschickt hatte, wurden die Experimentemit der Schwefelkugel durch Robert Boyle im November 1672 vorgeführt. Manverstand allerdings auch hier nicht, was Guericke mit ihnen zeigen wollte, doch warendiese Vorführungen der unmittelbare Anlass für die Entwicklung einer ersten echtenElektrisiermaschine, der Glaskugelmaschine, durch Francis Hawksbee16.

Leibniz war also gründlich über die Vorstellungen Guerickes informiert, dessenEntdeckungen schienen ihm aber seiner eigenen Äthertheorie nicht zu widersprechen,und er nahm für diese Theorie in Anspruch, dass auch Aristoteles – im 17. Jahrhundertimmer noch Autorität – sie akzeptiert hätte. Es sollte dann ja auch bis ins 20. Jahrhun-dert währen, bis das Postulat eines wie auch immer gearteten Äthers endgültig auf-gegeben wurde.

Bezeichnend für die wissenschaftliche Situation des 17. Jahrhunderts ist, dass Leibnizund Guericke die noch immer sich zu Wort meldenden Anhänger des PtolemaiischenSystems, in dem Mond, Sonne, Fixsternsphäre und alle Planeten um die Erde kreisen,nicht mehr als ernsthaft zu nehmende Gegner betrachten. Nachdem die Jupitermondevon Galilei und anderen entdeckt worden waren, der Erdtrabant also nicht mehr alsder einzige Weltkörper gelten konnte, der nicht um die Sonne, sondern um einen sei-nerseits auf einer Umlaufbahn um die Sonne befindlichen Planeten kreiste, fehlte denAnhängern des Ptolemaios das entscheidende Argument gegen das copernicanischeheliozentrische System – sieht man von der noch immer fehlenden physikalischen Er-klärung der Phänomene auf einer sich drehenden Erde einmal ab. Die Unregelmä-ßigkeiten an den Planetenbahnen ließen sich kinematisch viel einfacher mit einer rela-tiv zu ihnen bewegten Erde (oder Sonne) deuten. So gab es eigentlich nur noch zweiMöglichkeiten: Entweder man erkannte das erweiterte copernicanische System an, indem die sich um ihre Achsen drehenden Planeten alle um die Sonne als dem ruhendenZentrum der Fixsternsphäre kreisen, während ihre Trabanten – Erdmond und Jupi-termonde, sowie die in Analogie dazu postulierten, zum Teil scheinbar, zum Teil viel-

17 Giovanni Battista Riccioli SJ (17.4.1598 Ferrara – 25.6.1671 Bologna) war Professor derPhilosophie und Theologie am Kolleg der Gesellschaft Jesu in Parma und der Astro-nomie in Bologna. Er war ein Gegner des copernicanischen Weltbildes und trat alsExperimentalphysiker und Astronom hervor. Nicht Galilei sondern er, Riccioli, führteseit 1634 die ersten freien Fallversuche, ab 1642 mit astronomisch geeichten Pendelndurch. Er war ein exzellenter astronomischer Beobachter und verfasste umfangreicheastronomische Handbücher. Vgl. F. Krafft: Riccioli. In: Große Naturwissenschaftler (s.Anm. 9), S. 275–277. Von Ricciolis Werk Almagestum novum astronomiam veterem novamquecomplectens, observationibus aliorum, et propriis novisque theorematibus, problematibus ac tabulispromotam, in tres tomos distributam (Bologna 1651) erschien nur der erste Band in zwei Tei-len; vgl. für die hier relevanten Fragen bes. Pars III, Liber IX, Sectio III, Caput IX.

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leicht tatsächlich schon beobachteten Trabanten anderer Planeten – wiederum umdiese Planeten kreisen, oder das tychonische System, in dem Mond, Sonne und Fix-sternsphäre um eine ruhende Erde kreisen, während sich die fünf klassischen PlanetenMerkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, ihrerseits umkreist von ihren Trabanten, umdie Sonne bewegen, so dass ihre Bahnen gleichsam Epizykel um die Sonne sind, derenBahn ihren Deferentenkreis um die Erde bildet. Der Unterschied zur antiken undptolemaiischen Konzeption war jedoch, dass als Mittelpunkt der Epizykel nicht längerein nur {&&&&805} imaginärer, wandernder Punkt galt, sondern ein um die Erde als Zentrumkreisender materieller Körper – eben die Sonne. Auch dieses kinematische Systemhatte im Lauf des 17. Jahrhunderts manche Differenzierung erfahren. Die wichtigsteund einflussreichste war die des Bologneser Jesuitenpaters Giovanni Battista Riccioliin seinem Almagestum novum17; der das tychonische System dahingehend ‚verbessert‘hatte, dass er die äußeren Planeten Saturn und Jupiter nicht wie die anderen um dieSonne kreisen ließ, sondern wieder um die Erde (nur noch Venus, Merkur und Marssollten sich um die Sonne bewegen), womit die Erde erneut zum Zentrum einer vonden äußeren Planetensphären gebildeten Kugel gemacht und zum Zentrum desPlanetensystems wurde, was bei Tycho Brahes Modell ja nicht der Fall gewesen war.

Je nachdem, wie ein Forscher sich nun zu den Erklärungsmöglichkeiten für diePhänomene auf der sich rasch drehenden oder ruhenden Erde und zu dem päpstlichenDekret gegen die copernicanische Lehre aus dem Jahre 1616 stellte, war er im 17.Jahrhundert somit in der Regel entweder ‚Copernicaner‘ oder ‚Tychoniker‘. Daskommt auch recht deutlich im Titelkupfer von Ricciolis Almagestum novum zum Aus-druck, auf dem die Allegorie der Astronomie eine Waage in der Hand hält, mit der dascopernicanische und das tychonische System (dieses natürlich mit den AbänderungenRicciolis) gegeneinander abgewogen werden, wobei sich das modifizierte tychonischeals gewichtiger erweist, während das ptolemaiische System abseits auf dem Erdbodenliegt – es hat ausgedient. Unter der Waage sitzt der durch eine Inschrift gekennzeichne-te Ptolemaios und sagt: „Erigor dum corrigor“ („Ich werde aufgerichtet, indem ichverbessert werde.“). – Guericke und Leibniz waren überzeugte Copernicaner, während

18 Vgl. F. Krafft: Keplers Beitrag zur Himmelsphysik (s. Anm. 14). – Athanasius Kircher SJ(2. 5.1602 Geisa bei Fulda – 27. 11. 1680 Rom), einer der vielseitigsten und interessan-testen Gelehrten des 17. Jahrhunderts, trat 1618 in den Jesuitenorden ein, war ab 1629Professor für Philosophie, Mathematik und Orientalistik in Würzburg, bis er 1631 vorden Schweden fliehen musste. Über Lyon und Avignon gelangte er nach Rom, wo er amCollegium Romanum unterrichtete. Das universale Interesse Kirchers galt gleichermaßenden Geistes- wie den Naturwissenschaften. Schon in Würzburg hatte er eine Ars magnesia(1631) verfasst – ein für die Frühgeschichte des Magnetismus wichtiges Werk. In seinerzweibändigen Ars magna lucis et umbrae (Rom 1646) gab er die erste Anleitung zum Baueiner Laterna magica. Die von ihm konstruierten Automaten – darunter eine der erstenRechenmaschinen stellte er in dem von ihm am Collegium Romanum begründeten Mu-seo Kircheriano zur Schau. Auch den Brennspiegel erfand Kircher während eines Zwi-schenaufenthalts in Malta kurz vor der Übersiedlung nach Rom und beschrieb ihn inseiner Specula melitensis Encyclica (Messina 1638). Ihm, der als erster systematische Blut-untersuchungen mit dem Mikroskop vornahm, kam auch als erstem der Gedanke, diePest müsse wohl durch winzige Erreger übertragen werden. Neben seiner intensivenBeschäftigung mit den Geheimnissen der Natur steht die nicht minder intensive Beschäf-tigung mit orientalischer Geschichte und orientalischen Sprachen. Zwar war KirchersTheorie über die Bedeutung der altägyptischen Hieroglyphen falsch, die er in seiner Lin-gua aegyptiaca restituta (Rom 1644) und in seinem vierbändigen Oedipus Aegyptiacus (Rom1652-1655) gegeben hatte, doch der Entzifferer der Hieroglyphen, J. F. Champollion, hatdie von Kircher dort wie im Prodromus Coptus (Rom 1636) geleisteten Vorarbeiten zu einerGrammatik des Koptischen dankbar benutzt. Gewiss war Kircher ein kompilierenderPolyhistor, der sich etwa die Beobachtungen des jesuitischen China-Missionars JohannesGrueber zunutze machte, um sein China illustrata (Amsterdam 1667) mit Stoff zu füllen;aber er tat es mit origineller Kombinationsgabe und Sinn für Zusammenhänge. Seine imzweibändigen Mundus subterraneus (Amsterdam 1665) dargelegte Vulkanismustheorie warüber ein Jahrhundert lang im Gespräch; sie erwies sich zwar als falsch, dennoch gilt dasWerk heute noch als ein exemplarisches Dokument barocker Geistigkeit, für die dasDenken Kirchers in seiner Suche nach immer neuen Bezügen symptomatisch ist. Die vonihm vorgeschlagene Universalzeichensprache, die er in seiner Polygraphica, seu artificium lin-guarum, quocum omnibus totius mundi populis poterit quis correspondere (Rom 1663) entwickelthatte (angeregt durch die Zeichenschrift Altägyptens und Chinas), ist heute angesichts desProblems einer universalen Verständigung in einer weltweiten Nachrichtenübermittlungdurchaus relevant.

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es noch Descartes peinlich vermieden hatte, sich für die eine oder andere Seite zu ent-scheiden.

Aber diese Theorien des Planetensystems waren alle rein kinematisch-mathema-tisch. Eine physikalische Erklärung der Bewegungsvorgänge vermochte – sieht manvon den fehlgeschlagenen Versuchen Keplers und Borellis ab – außer Descartes keinerzu geben, wobei dieser aber auch keinerlei Versuch machte, die spezifischen Bahnfor-men zu erklären; was ohnehin nicht möglich gewesen wäre. Nach dem Scheitern dereigenartigen Magnetphysik Keplers – insbesondere nach ihrer vernichtenden Kritikdurch Athanasius Kircher18 – blieb allein der cartesische Versuch eines Ätherwirbels.

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Descartes leugnete jedoch jegliche Leere, wiewohl gerade die Frage nach der Möglich-keit einer Leere im 17. Jahrhundert lebhaft diskutiert wurde. Rückblickend schreibt soauch Guericke 1661 oder 1662 zu Beginn des zweiten Buches, nachdem er im vorher-gehenden Buch die Größe der Gestirne und des vom Sonnensystem eingenommenenRaumes behandelt hatte, dass ihn aufgrund solcher Berechnungen nicht nur die „demmenschlichen Verstande völlig unvorstellbaren unermesslichen Entfernungen erschau-ern“ ließen, sondern dass ihn besonders „jener überwältigende und grenzenlos sichausbreitende Zwischenraum“ zwischen den Planeten verwirrt und in ihm den Wunscherweckt habe, ihn zu erforschen:

„Was mochte das für ein Etwas sein, das alles in sich birgt und allem die Stätte seinesSeins und Bestehens darbietet? Ist es wohl irgendein feuriger Himmelsstoff, fest – wie dieAristoteliker wollen – oder flüssig – wie Copernicus und Tycho Brahe lehren? Ist es einefeine Quintessenz oder am Ende doch der stets geleugnete, jeder Stoffheit bare Raum?“

Aber so, wie es Guericke hier nachträglich sieht, wird es sicherlich nicht gewesensein, wie schon daraus hervorgeht, dass das dritte Buch mit den eigentlichen Experi-menten zum {&&&&806[Abb.]&&&&807} Nachweis des Vakuums ursprünglich vor dem zweitenBuch astronomischen Inhalts stehen sollte, die Astronomie also schwerlich zu den Va-kuumversuchen geführt haben kann. Das astronomische Wissen Guerickes stützt sichim wesentlichen auch auf die Sammelliteratur seiner Zeit, in erster Linie auf das bereitsgenannte Almagestum novum Ricciolis, das 1651 erschienen war – zu einer Zeit also, alsGuericke mit seiner ersten Luftpumpe schon längere Zeit experimentiert hatte – unddas sich im Besitz Guerickes befand.

Um Guerickes Leistung einigermaßen gerecht beurteilen zu können, müssen wir auchwissen, wie seine Zeit über solche Probleme dachte. Auch die Physik jener Epoche warnicht geprägt durch das Denken der wenigen Großen, zu denen in der ersten Hälftedes 17. Jahrhunderts in erster Linie William Gilbert, Johannes Kepler, Galileo Galileiund René Descartes zählten. Sie alle waren zudem zwar zu wertvollen und zum großenTeil auch anerkannten Einzelerkenntnissen gekommen; sie alle hatten sich kritisch mitdem herrschenden Aristotelismus neuplatonisch-scholastischer Prägung auseinandergesetzt; aber mit Ausnahme von Descartes, dessen System dann auch lange Zeit selbstnoch neben dem newtonischen Anerkennung fand, war es keinem gelungen, einumfassendes System gegen das herkömmliche Denkgebäude zu errichten. Dasallgemeine physikalische Denken und die an den Hochschulen vertretene Physik ent-sprachen zwar nicht mehr völlig den Lehrmeinungen verflossener Jahrhunderte, abersie waren doch kaum mehr als ein geschickt den Gegebenheiten und neuen Einzel-erkenntnissen angepasster Aristotelismus neuplatonischer und stoischer Prägung.

Die Grundideen des Aristoteles blieben darin allerdings erhalten: Eine kugelförmigbegrenzte Welt, kontinuierlich von Stoff erfüllt; Ablehnung jeglicher Fernwirkungohne unmittelbaren Kontakt zwischen Bewirkendem und Bewirktem; außerhalb derWelt ist weder Ort noch Leere, noch Zeit; der Kosmos ist streng in zwei Teile geteilt,

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Guerickes Pumpe 2. Bauart, aus K. Schott: Technica curiosa (Nürnberg 1664)

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in einen untermondischen (sublunaren) und einen übermondischen (supralunaren); dersublunare Bereich ist kontinuierlich erfüllt von den vier ineinander wandelbarenirdischen Elementen – Feuer, Luft, Wasser und Erde –, die sich in dieser Reihenfolgekonzentrisch um den Weltmittelpunkt angelagert haben, weil die ihnen von Natur auszukommende Bewegung geradlinig zum Mittelpunkt der Welt hin oder von diesemweg zur Peripherie erfolgt. (Immerhin: die Vorstellung einer elementaren Feuersphärewar seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert allmählich aufgegeben worden.) Je nachihrer Bewegungsrichtung wurden die Elemente nunmehr in leichte (Feuer und Luft)und schwere (Wasser und Erde) unterteilt. Die Bewegung, so glaubte man, höre auf,sobald sich das ‚Element‘ oder ein Körper, dessen ‚Mischung‘ vorwiegend aus dementsprechenden ‚Element‘ bestehend gedacht war, an seinem ‚natürlichen‘ Ort befän-de. Um der Aufwärtsbewegung der Luft und des Feuers einen Ziel- und Haltpunkt zugeben, schien es also eines kugelförmigen Abschlusses dieser sublunaren Welt zu be-dürfen; und diesen Abschluss sollten die rotierenden konzentrischen Sphären des su-pralunaren Bereichs bilden.

Das fünfte, nicht-irdische Element ‚Äther‘, das diesen Sphären zugewiesen wurde,galt als weder leicht noch schwer – es bewegte sich ja offenbar nicht vom Mittelpunktweg oder zu ihm hin –, noch durfte es überhaupt eine Eigenschaft besitzen, die in ihrGegenteil hätte umschlagen können, weil dies Voraussetzung für eine Veränderlichkeitgewesen wäre. Man hielt es daher für qualitätslos, somit für unveränderlich, verharrendan seinem Ort in der ihm naturgemäß zukommenden gleichförmigen Kreisbewegung.Die ungleichförmig erscheinenden Be{&&&&808}wegungen der Fixsternsphäre und der Planetenmussten in diesem Weltbild dann als Resultante einer Kombination von gleich-förmigen Kreisbewegungen (Rotationen) jeweils mehrerer solcher unveränderlichenund undurchdringlichen festen Äthersphären erklärt werden.

Das Problem der Denkbarkeit eines kugelförmig begrenzten, anisotropen Raumes,den Platon durch die Gleichsetzung von Raum und Materie erhalten hatte, war vonAristoteles umgangen worden, indem er den Begriff des ‚Ortes‘ einführte – definiertals die innere Grenzfläche des den Gegenstand umgebenden Körpers –, wobei er dieEigenschaften des ‚Raumes‘ gleichsam den einfachen Körpern, den Elementen, selbstzuschrieb: Nicht das Weltzentrum ziehe die schweren Körper an, sondern diese selbststrebten dem Weltzentrum als ihrem ‚natürlichen‘ Ort zu, strebten von ihm weg oderbewegten sich um dieses herum. Der ganze begrenzte Kosmos wurde so als organischeEinheit, als ein göttliches Lebewesen gedacht.

Es sind dann im wesentlichen die drei von Guericke gestellten Fragen nach derBeschaffenheit und Begrenzung des Raums, nach der Bewegung der Weltkörper in ihmund nach der Anzahl der Welten gewesen, deren Lösungsversuche diese kugelförmigbegrenzte, plenistisch erfüllte Welt, diesen göttlichen, weil nicht erschaffenen und nichtzugrundegehenden Kosmos allmählich zerstörten. Und Guericke war es auch, der erst-mals neue Lösungen für alle drei Probleme zu einem kosmischen System verband.

19 Marsilius von Inghen (um 1330 Inghen/Provinz Geldern - 20.8.1396 Heidelberg) folgteals Schüler Ockhams dessen Logiklehre, während er in der Theologie in der Tradition desThomas von Aquino stand, in der Physik hingegen sich an Buridan anlehnte. Währendseiner Jahre als Lehrer in Paris (1362–1383) hatte er diese großen Hauptströmungenmittelalterlicher Wissenschaft zu einem eigenen Lehrgebäude zusammengefasst, dessenAnsehen sich 1386 in der Berufung des Marsilius als Gründungsrektor der HeidelbergerUniversität erwies.

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Die erste Frage – jene nach der Natur des Raumes – war besonders durch die un-befriedigende Antwort des Aristoteles auf die Frage nach dem Ort der Welt neu auf-geworfen worden, zumal die Welt nach christlicher Vorstellung einmal erschaffenworden war, also auch irgendwo erschaffen worden sein musste. Hatte Aristoteles dieLösung des Problems darin gesehen, dass die Welt sich in sich selbst befinde, so wardies bei Annahme einer Erschaffung der Welt aus dem Nichts zumindest für denAugenblick dieser Erschaffung indiskutabel.

Die Scholastiker der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren nach langen Vor-arbeiten durchaus schon zu der Vorstellung von einem dreidimensionalen Raum alsBehältnis aller körperlichen Dinge gelangt, indem sie den Raum teilweise mit Gottidentifizierten, in jedem Fall aber zwischen einem sogenannten innerweltlichen undaußerweltlichen Raum unterschieden, ersteren in aristotelischem Sinne aber von denfünf Elementen plenistisch erfüllt glaubten, während sie den außerweltlichen als reingedachten (spatium imaginarium), realiter nicht existierenden Raum fassten: Der inner-weltliche Raum sei zwar nach Gottes Plan von der erschaffenen Welt voll ausgefüllt –aber er war nicht notwendig voll ausgefüllt oder überhaupt erfüllt; denn vor derErschaffung der Welt war er es nicht und nach dem Untergang der Welt wird er esnicht sein. Der Raum ist somit etwas unabhängig von der erschaffenen körperlichenWelt Existierendes: Er ist das Behältnis für die geschaffenen Dinge.

Schwierigkeiten bereitete allerdings die theoretische Deutung einer translatorischenBewegung im Vakuum, wenn dieses sich wie ein normaler Raum verhalten sollte. Eini-ge gewichtige Gründe sprachen dagegen. Fasste man die Leere wie die antiken Atomis-ten als eine separate dreidimensionale Quantität, als spatium separatum, auf, so musstesie sich wie ein starrer Körper verhalten; denn die einzelnen Teile des Vakuums konn-ten ja offenbar nicht wie die eines Mediums nachgeben und einen anderen Körpereindringen lassen. Ein Körper müsse also, träfe er in seiner Bewegung auf ein Vakuum,von diesem abprallen – diese Konsequenz hatte etwa der niederländische Naturphilo-soph Marsilius von {&&&&809} Inghen vertreten19. Definierte man dagegen den Raum mitAristoteles als die innere Oberfläche des umschließenden Körpers gegenüber demumschlossenen, also als seinen ‚Ort‘, so kann ein Körper im Vakuum überhaupt kei-nen Ort haben, wenn er es nicht vollkommen ausfüllt – deshalb kann nach Aristotelesauch außerhalb der Weltkugel keine Leere sein. Ein in ein solches Vakuum gebrachter

20 Man vgl. hierzu neben den aristotelischen Schriften und den griechischen und latei-nischen Kommentatoren bis hin zu den Coimbrensern (benannt nach der 1307 von Lissa-bon in die Stadt Coimbra verlegten Universität Portugals) vor allem auch die Universitäts-handbücher der Neo- und Barockscholastik und der Cartesianer, mit denen sich Guerickeintensiv auseinandersetzte und die sich in seinem Besitz befanden, etwa: T. ComptonCarleton: Philosophia universa. Antwerpen 1649; G. Clerke: De plenitudine mundi.London 1660; D. Cramer: lsagoge in Metaphysicam Aristotelis. Wittenberg 1601; B. Ke-ckermann: Systema Systematum. Hanau 1613; J. Magirus: Physiologiae Peripateticae libriVl [Guericke besaß eine Ausgabe von 1618] und J. Sperling: Synopsis physica. Wittenberg1658, sowie: Institutiones physicae. Wittenberg 1658.

21 J. Kepler: Epitome astronomiae Copernicanae, liber I, pars III (Gesammelte Werke, Bd7, München 1953, S. 53 f.; S. 54, 5 f.: „Itaque si per Physicam liceret, astronomus totumaetheris spacium plane vacuum posset supponere.“). Ähnliche Äußerungen in: Astro-nomiae pars optica (Gesammelte Werke, Bd 2, München 1939, S. 119 f.), und: Dissertatiocum nuncio sidereo (Gesammelte Werke, Bd 4, München 1941, S. 293, 37 ff.). – W. Gil-bert: De magnete, magneticisque corporibus, et de magno magnete tellure physiologianova. London 1600, liber VI, caput 3 (Guericke besaß die Stettiner Ausgabe von 1628),und: De mundo nostro Sublunari Philosophia nova. Amsterdam 1651 (auch dieses Werkbesaß Guericke).

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Körper würde sich ausdehnen müssen, bis er es ganz erfüllt, womit aber die Distanzzwischen den Körpergrenzen wegfiele und dadurch von vornherein die Möglichkeiteiner Bewegung ausgeschlossen wäre20. Solche phantastischen Vorstellungen werfenein Licht auf die Schwierigkeiten einer theoretischen Lösung der mit der Annahmeeiner Leere verbundenen Fragen, die der Scholastik und Neoscholastik des 17. Jahr-hunderts mit dem aristotelischen Raumbegriff gegeben waren. Eine theoretische Lö-sung war in diesem Rahmen nicht möglich; in der Praxis hat man allerdings weit-gehend mit der naiven Raumvorstellung eines spatium imaginarium gearbeitet, die allemit dem Vakuum verbundenen Schwierigkeiten nicht kennt.

Der leere Raum wurde so wenigstens denkbar; und es gab bereits Ansätze, ihnauch als existierend anzunehmen, so bei William Gilbert, der den Raum zwischen denPlaneten als leer ansetzte und auch ein physikalisches Argument anzuführen hatte,nämlich die fehlende Brechung des Lichts, die bei dessen Übergang aus dem stoff-lichen, aber feineren Äther in die Luftsphäre nach den Gesetzen der Optik doch zu er-warten gewesen wäre. Aber es ist bezeichnend, dass Johannes Kepler nach Anführungeben dieses, für die Astronomie so wichtigen Arguments feststellt21:

„Die Astronomen könnten also den Weltraum als leer ansehen, wenn die Physik dieseserlauben würde.“

Der Äther schien als bewegendes und Bewegung und Licht übertragendes Mediumdoch eine unentbehrliche physikalische Realität zu sein.

Allerdings hatte Tycho Brahe aus Beobachtungen und Berechnungen der 1572 er-schienenen Nova in der Kassiopeia und des Kometen von 1577 geschlossen, dass der

22 Parallaxe nennt man den Winkel, der sich als Differenz ergibt, wenn ein Punkt von zweiverschiedenen Punkten aus anvisiert wird. Sie ist um so kleiner, je weiter der anvisiertePunkt von der Basis der Beobachtungspunkte entfernt ist. Für astronomische Entfernun-gen wählt man als Basis die Erdbahn (ca. 300 Millionen Kilometer), das heißt: man missteinen Sternort in halbjährigem Abstand. Dennoch beträgt die Parallaxe des nächstenSterns (Proxima Centauri) nur 0,76 Bogensekunden (was einer Entfernung von 4,3Lichtjahren entspricht). Erst im 19. Jahrhundert verfügte man über ausreichend genaueInstrumente, derart kleine Ortsveränderungen zu messen.

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Äther weder unveränderlich sei, wie Aristoteles angenommen hatte, noch undurchdring-liche Sphären bilden könne, wie die Kosmologie der Scholastik im Anschluss an Ptole-maios und Ibn al-Haitham lehrte. Der Äther müsse eine sehr feine ‚Flüssigkeit‘ sein, dieeinem bewegten Körper keinen Widerstand entgegensetze. Die Frage, wie dann die Be-wegung der Gestirne zustande komme, blieb allerdings dabei vorerst außer acht – siehtman von Kepler und seiner auf generelle Ablehnung gestoßenen Lösung einmal ab.

Für kosmologisch und physikalisch denkende Forscher wie Gilbert, Kepler undGuericke war aber seit Nicolaus Copernicus, dessen heliozentrisches Planetensystemalle drei anerkannten, ein weiteres Problem hinzugekommen: Die Welt war mit einemMal sehr viel größer geworden. Hatte sich der Durchmesser des aristotelisch-pto-lemaiischen Kosmos zu ungefähr 20000 Erddurchmessern berechnen lassen, so ergabsich aus der neuen Deutung der Schleifenbewegung der Planeten, die Copernicus alsaus der jährlichen Erdbewegung resultierende scheinbare Bewegungen erkannt hatte,zwar für die planetarische Welt, also für die Saturnsphäre, ein nur etwa halb so großerDurchmesser, doch rückte die Fixsternsphäre wegen einer fehlenden Parallaxe selbstüber dem Erdbahndurchmesser als Basis in unermessliche Entfernung, deren Uner-messlichkeit dann nach der Erfindung des Fernrohrs (1608) weiter wuchs, weil nun-mehr noch kleinere Winkel gemessen werden konnten, ohne dass vor 1838, als demAstronomen Friedrich Wilhelm Bessel der erste Nachweis einer Fixsternparallaxe ge-lang22, eine solche entdeckt werden konnte. {&&&&810}

Doch welche Funktion sollte dieser unermessliche Ätherraum zwischen Saturn- undFixsternsphäre haben? Gott schafft nichts umsonst, wie schon die Scholastik im Anschlussan einen Leitsatz des Aristoteles konstatierte; und auch das 17. Jahrhundert dachte nochteleologisch. Hier setzte denn auch Guericke mit seinen Überlegungen an:

Waren andere, wie Tycho Brahe, eben durch dieses Ergebnis davon abgehaltenworden, das heliozentrische Planetensystem des Copernicus anzuerkennen, so scheintGuericke durch seine Ausbildung und Tätigkeit als Ingenieur von der Ökonomiedieses Systems, das verschiedene Bewegungen aller Planeten durch die eine der Erdeerklärte, so fasziniert und von seiner Richtigkeit überzeugt gewesen zu sein, dass ertrotz der ihm fast ausschließlich zur Verfügung stehenden geozentrisch orientiertenastronomischen Handbuchliteratur der Jesuiten das Problem nunmehr ganz anders an-

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packte: Musste dieser ungeheure Raum denn von einem festen oder flüssigen Stofferfüllt sein? Wäre es nicht sehr unökonomisch gedacht, dieser gewaltigen Äthermassekeinerlei Aufgabe zuzuweisen? Gott schafft doch nichts umsonst! Und dann erschien1644 ein Werk, das von diesen Überlegungen her in finsterste Vergangenheit zurück-zufallen schien, die Principia philosophiae von René Descartes, worin wieder wie bei Pla-ton Raum und Materie gleichgesetzt werden, so dass eine Leere unmöglich ist, undworin zwar keine klare Erklärung für Copernicus oder Tycho Brahe erfolgt, wohl aberbehauptet wird, dass aller ‚Raum‘ lückenlos von wirbelndem Äther erfüllt sei.

Es ist verständlich, dass dem an handfestes technisches Arbeiten gewöhnten Inge-nieur Guericke, als er von diesem Buch – vermutlich 1646 auf dem Friedenskongressin Osnabrück – hörte, nunmehr der Geduldsfaden riss und er des nutzlosen Dis-putierens über dieses Problem überdrüssig wurde: Prüfe man doch einmal nach, obRaum und Materie wirklich identisch sind, sauge man doch einmal die in einem solidenGefäß enthaltene Materie heraus, ohne dass neue an ihre Stelle zu treten vermag, undsehe, ob die Gefäßwände dann tatsächlich aneinander stoßen, wie Descartes be-hauptet.

Bald nach seiner Rückkehr aus Osnabrück scheint Guericke sich der praktischenPrüfung dieser Frage zugewendet zu haben. Solide Gefäße waren ihm durch die Wahr-nehmung seines Braurechts bekannt und zugänglich, nämlich Bierfässer. Ein solchesFass dichtete er gut ab, füllte es mit Wasser und setzte unten eine einfache Kol-benfeuerspritze an, die er nach dem Vorbild des Ktesibios mittels zweier Klappen-ventile zum Einsaugen wie zum seitlichen Ausstoßen des Wassers zu einer Pumpeumgebaut hatte.

Der Pumpvorgang erwies sich zwar allmählich als immer schwieriger, doch scheinter schließlich zum Erfolg geführt zu haben, wenn auch ein zwitscherndes Geräuschanzeigte, dass die Dichtung offensichtlich nicht ausgereicht hatte, so dass Luft an dieStelle des Wassers treten konnte. Guericke wiederholte den Versuch, indem er dasleerzupumpende Bierfass in ein zweites, größeres stellte, das er zur zusätzlichen Ab-dichtung mit Wasser gefüllt hatte. Jetzt schien zwar keine Luft an die Stelle des ausge-pumpten Wassers getreten zu sein, das innere Fass füllte sich aber nach einigen Tagenwieder mit Wasser, so dass sich auch bei diesem Versuch die Dichtung als unzurei-chend erwiesen hatte.

Guericke ließ sich daraufhin eine undurchlässige kupferne Hohlkugel, cacabus

genannt, mit einem Hahnstutzen herstellen, an die er unten seine Pumpe anschloss.Offensichtlich aufgrund der Überlegung, dass sowohl andersartige Luft als auchgleichartiges Wasser den ursprünglich ganz mit Wasser erfüllten Raum in den Bierfäs-sern eingenommen hatte, so dass der ‚natürliche‘ Ort und die ‚natürliche‘ Reihenfolgeder ‚Elemente‘ für den Aus{&&&&811}gang des Experiments keine Bedeutung hatte, füllteGuericke jetzt den cacabus nicht erst umständlich mit Wasser, sondern versuchte so-gleich, die in ihm befindliche Luft auszupumpen, die sich in den vorausgegangenen

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Guerickes eigenhändige Skizzen seinert hydraulisch-pneumatischen Versuchsgeräte.Nach dem Faksimile in der großen Guericke-Ausgabe (Düsseldorf 1968, S. (68)).

Versuchen ja als schneller eindringend erwiesen hatte. Der erste Versuch misslang wie-der, weil der cacabus nach einiger Zeit plötzlich zerdrückt wurde, implodierte. Dievorhergehenden Versuche hatten ihn jedoch bereits in seiner Meinung so weit be-stärkt, dass er darin keine Bestätigung der cartesischen Auffassung sah, sondern eineNachlässigkeit des Kupferschmieds, der die Kugel nicht gleichmäßig gerundet hätte.

Eine zweite, offensichtlich dickwandigere Kugel führte denn auch zum Erfolg.Dass sie ‚leer‘ gepumpt war, zeigte das gewaltsame Einströmen von Luft und auch vonWasser beim langsamen Öffnen des Hahnes an.

Guericke hatte damit die Luftpumpe erfunden {&&&&812} oder vielmehr erwiesen, dasssich Luft genau wie Wasser pumpen lässt. Er hatte allerdings ursprünglich auch dabeidie Pumpe unten am Gefäß angesetzt, in dem Glauben, dass die Luft wie das Wasser

23 Vgl. F. Krafft: Horror vacui. In: J. Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philo-sophie. Band 3, Basel/Stuttgart 1974, Sp. 1206–1212.

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nachsinkt. Erst zusätzliche Versuche mit Glasgefäßen und zwei zusammengeschlos-senen, verschiedengradig evakuierten Gefäßen führten ihn allmählich zu der Erkennt-nis, dass die Luft sich gleichmäßig verdünnt, also Spannkraft (Elastizität) besitzt, unddass ihr deshalb offensichtlich ein Bestreben innewohnt, jeden ‚leeren‘ Raum gleich-mäßig auszufüllen. Daß dafür nicht eine vom Mittelalter im Anschluss an Roger Baconangenommene Eigenschaft der Natur, ihre ‚Furcht vor dem Leeren‘ (fuga oder horrorvacui)23, verantwortlich ist, stellt Guerickes große Entdeckung dar.

Eine andere Entdeckung, mit deren Nachweis ihm ohne sein Wissen allerdings1648 Blaise Pascal vorangegangen war, betrifft den atmosphärischen Luftdruck, das‚Gewicht‘ der Luft, wie Guericke sich ausdrückt. Bei dem Versuch, festzustellen, bis inwelche Höhe ein evakuierter cacabus Wasser ansauge, hatte er einen Grenzwert von 20Magdeburger Ellen erhalten, oberhalb dessen das Vakuum unausgefüllt blieb – eineweitere Widerlegung der horror-vacui-Theorie –, aber beim Stehenlassen der Ver-suchsanordnung festgestellt, dass die Höhe der Wassersäule in dem angeschlossenenRohr nach oben und unten schwankte, demnach das ‚Gewicht‘ der Luft variierte. Erhatte dann richtig einen Zusammenhang mit der Witterung erschlossen und ein aufdieser Erkenntnis basierendes ‚Wettermännchen‘ konstruiert und erstmals zur Wetter-vorhersage verwendet.

Guericke wusste davon bereits auf dem Reichstag in Regensburg zu berichten, undhier erfuhr er durch den ebenfalls anwesenden italienischen Philosophen Valeriano Magniauch von den Versuchen Blaise Pascals und Evangelista Torricellis. Als Kaspar Schottseinen zweiten Bericht über Guerickes Entdeckungen und Erfindungen vorbereitete,schrieb ihm Guericke am 28. Februar 1662 auf eine diesbezügliche Anfrage:

„Die erste Zweifelsfrage ist: Auf welche Grundlagen oder welchen Vernunftschluss ichmich stütze, wenn ich so mannigfache Wirkungen, als deren Ursache andere Gelehrteden horror vacui ansehen, dem Druck der aufliegenden oder umgebenden Luft zu-schreibe. lch entgegne, dass ich in das Werk, das ich unter den Händen habe, unter ande-ren ein besonderes Kapitel mit der Überschrift ‚Einrichtung eines hydraulisch-pneuma-tischen Gerätes ...‘ eingefügt habe. Unter vielfältigen anderen Verrichtungen saugt diesesGerät auch Wasser aus einem auf dem Fussboden stehenden Bottich an. Bezüglich diesesVorganges haben schon vordem wissensdurstige Zuschauer forschend gefragt, bis zuwelcher Höhe das erwähnte Gerät Wasser von der Erde aus an sich zu ziehen vermöge.Da ich das damals noch nicht wusste, schaffte ich die Vorrichtung in meine höher ge-legene Stube, verlängerte das Rohr und ließ es durch ein Fenster bis auf das Pflaster desHofes hinab in den Eimer hineinreichen. Ich beobachtete die gleiche Wirkung wie vor-her. Da ich aber nichtsdestoweniger vermutete, diese Anziehung und dieses Emporstei-gen des Wassers könne nicht bis ins Unbegrenzte wachsen, brachte ich das Gerät nachhöher und höher liegenden Plätzen meines Hauses, bis ich schließlich den Haltpunkt desWassers fand, der in senkrechter Richtung bei einer Höhe von 20 Magdeburger Ellen lag.

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Als ich dies einige Male wiederholte und die ganze Vorrichtung ein paar Tage lang ruhigam selben Platze hatte stehen und zu anderen Zeiten den Vorgang sich von neuem hatteabspielen lassen, bemerkte ich, dass die Höhe, bei der das Wasser haltmachte, nicht im-mer die gleiche war, sondern um den Be-{&&&&813}trag einer Elle stieg oder fiel, besonders,wenn Regen drohte. Daraus ersah ich schließlich, dass der Aufstieg des Wassers nichtdurch einen Ansog oder eine Flucht vor dem Leeren, sondern wirklich durch den Luft-druck erfolgte ...?

Demonstration der Arbeitsfähigkeit des Luftdrucks (aus Experimenta nova, Tafel XIV)

Bei diesem Gerät handelte es sich um eine kunstvolle Verbindung von Rezipientenund Hebern, wobei die Rezipienten durch den mehrmaligen Anschluss an eine eva-kuierte Kupferkugel allmählich auch hochgradig evakuiert werden, so dass sie schließ-lich Wasser aus einem liefer gelegenen Bottich durch eine Röhre scheinbar 20 Ellenhochsaugten. Die damit gewonnene Erkenntnis der Höhe des Luftdrucks und seinesSchwankens brachte Guericke bereits 1653 mit nach Regensburg; diese und die vor-ausgehenden ersten und nach eigener Auskunft langwierigen Versuche mit der Luft-

24 Noch 1656 denkt Guericke keineswegs an die Darstellung und Ausarbeitung eines dieseKonsequenzen berücksichtigenden neuen Weltbilds, wenn er am 22. Juli (alten Stils) anSchott, der seinen ersten Bericht über die Regensburger Versuche vorbereitete, schrieb:„Ich bin aber nicht der Ansicht, dass im jetzigen Zeitpunkt dargelegt werden muss, wasdie Leere oder der Äther eigentlich darstellt und auf welche Weise sie und anderes damitZusammenhängendes in vollständiger Art zu erkennen und zu begreifen ist. Denn eswürde sich hieraus eine umfängliche neue Wissenschaft sowohl vom Planetensystem wieauch vom All entwickeln, eine Wissenschaft, die jedoch bis jetzt von Physikern wie vonMetaphysikern weitaus anders überliefert und verteidigt worden ist, und inzwischenwürde es, bis eine vollständige Unterrichtung erfolgte, viel Hin- und Hergerede, Wider-spruch und sogar überflüssige Arbeit geben.“

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pumpe müssen also geraume Zeit vorher angesetzt werden und lassen keinerlei Hin-weis erkennen, dass die seit Copernicus ungeheuer angewachsenen kosmischen Di-mensionen der eigentliche Anlass für seine Versuche gewesen seien, wie er selbstrückschauend behauptet. Es war sicherlich nur der alte, besonders durch Descarteswieder angefachte Streit zwischen den Plenisten und den Vakuisten. {&&&&814}

Aber Guericke zog aus seinen Versuchen bald die richtigen Konsequenzen, unddie Gespräche mit Valeriano Magni auf dem Regensburger Reichstag werden ihn be-stärkt und zugleich eine neue Konsequenz aufgedeckt haben24: Schwankt die gravitas

aëris, das ‚Gewicht‘ der Luft, der Luftdruck (wie wir sagen würden), zeitlich und ört-lich, so kann das nur aus der unterschiedlichen Höhe der darüber befindlichen Luft-säule resultieren. Die Lufthülle kann also nicht sphärisch begrenzt sein, über ihr kön-nen sich nicht Feuer- oder Äthersphären befinden. Würde man sich den ganzen Raumoberhalb der Lufthülle nämlich mit einem auch noch so feinen flüssigen Stoff Ätherausgefüllt denken, so müsste dieser den unterschiedlichen Druck der im Vergleichdazu geringen Stoffmenge der Luft, auf die er von allen Seiten gleichmäßig drückt,ausgleichen, und es könnten keine Schwankungen auftreten. Oberhalb der Lufthülle istalso stoffleerer Raum anzunehmen. Die Lufthülle verflüchtigt sich langsam sphärisch,bis sie in großer Höhe allmählich ein Ende findet.

Guericke hatte dann in Regensburg gehört, dass die Abnahme des Luftdrucks mit derHöhe, die diese Überlegung bestätigt, bereits 1648 durch den Schwager Pascals auf dessenVeranlassung hin bei barometrischen Messungen in verschiedenen Höhen auf dem Puy-de-Dôme nachgewiesen worden war. Er wollte einen solchen Versuch am Brocken auchselbst durchführen. Gelegenheit dazu ergab sich, als er im Juni 1658 zu Verhandlungen fürseine Vaterstadt in Quedlinburg weilte; doch wurde das Vorhaben vereitelt, weil derDiener, der das gläserne Barometer trug, beim Aufstieg stolperte und es zerbrach.

Die Lufthülle selbst sei – wie schon Copernicus annahm – Bestandteil eines jedenPlaneten. Luft sei jedoch, wie Guericke erkennt, kein elementarer Stoff, sie bestehevielmehr aus den Ausdünstungen aller Stoffe der Erdwasserkugel eines Planeten.Durch diese Deutung ließ sich für ihn auch eine trotz aller Vorsichtsmaßnahmen stets

25 William Gilbert (24. 5. 1544 Cholchester – 30. 11. 1603 London) war seit 1573 als Arzt inLondon tätig, wurde 1601 Leibarzt Elisabeths I., später Jakobs I. Sein großes Werk Demagnete, magneticisque corporibus, et de magno magnete tellure physiologia nova (London 1600)begründete die neuzeitliche Lehre vom Magnetismus und hat aufgrund der Deutung derErde als Magneten starken Einfluss auch auf die kosmologischen Vorstellungen insbe-sondere Keplers und Guerickes ausgeübt. Das zweite Buch untersucht daneben die an-dersartige Anziehung von Stoffen, die sich wie Bernstein (lat. electrum) verhalten, alsonach Reibung anziehen; er nennt sie deshalb electrica und begründet damit die Elektri-zitätslehre. Vgl. F. Krafft: Gilbert. In: Große Naturwissenschaftler (s. Anm. 9), S. 134 f.

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zurückbleibende erbsengroße Luftblase erklären, wenn er einen evakuierten Glasrezi-pienten zum Nachweis der Leere anschließend mit Wasser gefüllt hatte. – Neben dem‚künstlichen‘ Vakuum, dessen vollkommene Herstellung Guericke anfänglich selbstangezweifelt hatte, war damit die Existenz des ‚natürlichen‘ Vakuums, das aufgrundder Eigenschaften der Luft nur außerhalb der Lufthülle angetroffen werden könne,zwingend erschlossen.

Für Guericke stellte sich nun eine weitere Frage: Wie ist dann eine Übertragungder Bewegungskraft der Sonne auf die Planeten und dieser auf die Monde über denleeren Raum hinweg möglich? Das heliozentrische System konnte im Gegensatz zumgeozentrischen des Aristoteles mit seinen ineinander geschachtelten konzentrischenSphären physikalisch nur so gedeutet werden, dass das Zentralgestirn gleichzeitig auchdas bewegende Zentrum der es umkreisenden Körper war. Und Johannes Kepler hatteden ersten Versuch einer solchen Himmelsphysik unternommen. Nach der aristo-telischen Lehre ließ sich aber Bewegung, wenn der Antrieb nicht im bewegten Körperselbst vorhanden ist, nur unmittelbar durch Kontakt mitteilen oder mittelbar über einMedium (Wasser, Luft, Äther); und diese Auffassung hatte durch die Impetustheorieder Scholastik nur insofern eine Differenzierung erfahren, als jetzt die Bewegungskraftals auf die genannten Arten dem Körper eingeprägt galt, so dass diese sich eine Zeit-lang auch ohne direkten oder indirekten Kontakt mit der Bewegungsquelle bewegensollten. Die Vorstellung einer Fernwirkung war auch damit nicht gegeben.

Eine solche Vorstellung war jedoch allmählich im Bereich der Lehre vom Magne-tismus entstanden. William Gilbert25 hatte 1600 gezeigt, dass die Wirkung der gegen-seitigen ‚An{&&&&815}ziehung‘ und der ‚Richtkraft‘ eines Magneten an kein stoffliches Me-dium gebunden ist, vielmehr durch andere Stoffe hindurch erfolgt. Er hatte dann dieErde und die anderen Himmelskörper als große Kugelmagneten gedeutet, die auf-einander ohne Medium wirken, und bestimmte Erscheinungen des Erdmagnetismusin verkleinertem Maßstab an einem Kugelmagneten – deshalb ‚Kleine Erde‘ (terrella)genannt – demonstriert. Johannes Kepler hatte einige Jahre später diese Idee zu einerphantastischen Himmelsphysik erweitert, in die auch die Gravitation und die elliptischeExzentrizität der Planetenbahnen mit einbezogen war. Sonne und Planeten musste erdabei als nach außen einpolig wirkende Magnete deuten (der andere Pol befinde sich

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im Zentrum der Himmelskörper), die Planeten (und die Monde) aber insofern alszweipolige, als sie – je nachdem welcher Pol dem einpoligen Zentralgestirn zugekehrtist – von diesem angezogen oder abgestoßen werden, so dass sich die elliptische Formder Bahn ergebe, entlang welcher kreisförmige magnetische ‚Kraftlinien‘ der rotieren-den Sonne die Planeten treibe.

Diese Physik eines tellurisch-kosmischen Magnetismus fand allerdings keine An-hänger und wurde zu Beginn der vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts ebenso wie dieVorstellungen Gilberts von Athanasius Kircher mit Experimenten widerlegt und einervernichtenden Kritik unterzogen. Die Vorstellung kosmischer Zentralkräfte mit Fern-wirkung schien damit völlig abgetan. Guericke kannte auch von Anfang an die KritikKirchers und schloss sich ihr an. Er war jedoch von der Richtigkeit des copernicani-schen Systems, seiner eigenen experimentellen wie erschlossenen Ergebnisse und jenerKeplerschen Idee der kosmischen Zentralkräfte so überzeugt, dass er nach einemAusweg suchte:

War die Kritik Kirchers berechtigt, so mussten jene ‚Kräfte‘ eben nicht magneti-scher, sondern anderer Art sein. Man müsse die terrella Gilberts der tatsächlichen ‚che-mischen‘ Zusammensetzung des Erdkörpers anpassen und versuchen, ob sich nicht aneiner ihr entsprechenden Kugel die kosmischen Wirkkräfte adäquater demonstrierenließen. Offensichtlich aufgrund solcher Überlegungen goss Guericke aus verschiede-nen Mineralien mit einem großen Schwefelanteil (dem paracelsischen ‚Prinzip‘Schwefel entsprechend) eine Kugel, an und mit der sich die kosmischen ‚Kräfte‘ (virtu-

tes mundanae genannt) und ihre Fernwirkung demonstrieren ließen: etwa die Mitführungüber eine Distanz und die Anziehung sämtlicher Stoffe (nicht nur des Eisens). ZurDemonstration des Erdmagnetismus und der seit Gilbert als auf Magnetismus beru-hend angesehenen Konstanz der Richtung der Erdachse musste er allerdings in dieSchwefelkugel als Kern (!) einen kleinen Magneten einpassen.

Guericke erzielte diese Wirkungen durch Reiben der gedrehten Kugel, und wirwissen, dass sie auf Effekten der Reibungselektrizität beruhen. Davon wusste er aller-dings noch nichts; und es ist deshalb falsch, schon diese Schwefelkugel als die ersteElektrisiermaschine zu bezeichnen. Für Guericke war sie nichts als ein Demonstrati-onsgerät für unstoffliche, animistisch gedeutete, in die Ferne wirkende kosmische Zen-tralkräfte der verschiedensten Art – für die ‚seelischen‘ Fähigkeiten der Himmelskör-per; und er verstand, wie wir gesehen haben, Leibniz gar nicht und wies ihn nocheinmal ausdrücklich auf den Zweck der ihm übersandten Schwefelkugel hin, als dieserihm brieflich mitteilte, er habe aus seiner Kugel Funken ziehen können. Erst das aus-gehende 17. Jahrhundert wandte sich dann den Erscheinungen der Reibungselektrizitätselbst zu und griff dabei natürlich auf die Bemerkungen Guerickes zurück. Dieserhatte nämlich die später als Anziehung und Abstoßung elektrisch ungeladener bezie-hungsweise geladener Körper, als Spitzenwirkung, {&&&&816} als entladende Wirkung einerFlamme, als Influenz und als elektrische Leitung bezeichneten Erscheinungen beobachtet

26 Vgl. F.Krafft: Sphaera activitatis – orbis virtutis. Das Entstehen der Vorstellung vonZentralkräften. Sudhoffs Archiv 54 (1970), 113–140.

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Guerickes Versuch mit 18 Pferden, welche die evakuierten Halbkugeln nichtauseinanderziehen können (Stich aus Experimenta nova III, 23)

und das ‚Knistern‘ der elektrisierten Schwefelkugel sowie ihr Leuchten im Dunkelnwahrgenommen, diese Phänomene jedoch alle jeweils anderen ‚Wirkfähigkeiten‘ derSeele der Erde und der anderen Himmelskörper zugesprochen.

Alle diese virtutes mundanae galten ihm in ihrer Wirkfähigkeit als sphärisch begrenzt– damit eine bei Gilbert ausgereifte, von Kepler und Kircher übernommene Idee vondem orbis virtutis und der sphaera activitatis des Magneten, seiner Wirkkugel, aufgrei-fend26. Nur innerhalb dieser Wirksphäre könne überhaupt eine Wirkung ausgeübtwerden und nur auf solche Dinge, die dafür aufnahmefähig sind und eine entspre-chende ‚Kapazität‘ besitzen. Sie müssen also zum Einen auf die spezifische Wirkkraftansprechen, zum Anderen aber auch eine der sich mit der Entfernung abschwä-

27 Die Moralia des Plutarchos enthielten auch Erörterungen physikalischer Probleme - wiein der Schrift De facie in orbe lunae (Das Mondgesicht), in der Plutarchos die (später vonCopernicus übernommene und abgewandelte) Kohäsionstheorie entwickelt. Vgl. dazu F.Krafft: Copernicus retroversus II. Gravitation und Kohäsion. In: Colloquia CopernicanaToruń 1973. Band 4 (Studia Copernicana, 14), Wrocław usw. 1975, S. 63-76.

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chenden Wirksphäre entsprechende Größe (Kapazität) besitzen. So spreche der etwagleichweit wie die Erde von der Sonne entfernte {&&&&817} Mond wegen seiner um vielesgeringeren Größe nicht auf die ‚Kräfte‘ der Sonne an (er ist kalt, wird nur von derErde herumgeführt), während die Erde die genau der Entfernung entsprechende Grö-ße habe. Folge dieser Vorstellung von der Kapazität war die Annahme, dass die Plane-ten um so größer seien, je größer ihr Sonnenabstand ist, aber auch, dass die Himmels-körper sich auf exakten Kreisen um die Sonne bewegen, weil sie sonst ihre Kapazitätüberschreiten und aus dem für sie spezifischen Wirkungsbereich ausbrechen würden.Die beobachteten Exzentrizitäten der Bahnen musste Guericke deshalb als optischeTäuschungen, resultierend aus der schwankenden Dicke und Dichte der lichtbrechen-den Lufthülle, erklären. Die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegungen waren zudieser Zeit ohnehin noch keineswegs allgemein anerkannt; Guericke schien mit dervon ihm vertretenen Physik vielmehr endlich dem alten, als platonisch oder pythago-reisch geltenden, aber auf der aristotelischen Physik basierenden Prinzip der Astro-nomie ihr Recht zu geben, nach der alle Himmelsbewegungen auf konzentrischenKreisen zu erfolgen haben.

Die Wirksphäre der Sonne ende erst weit außerhalb der Saturnsphäre; sie höre dortauf, wo die Wirksphären der nächsten Fixsterne, ebenfalls als Sonnen mit Planeten-systemen gedeutet, begännen. Die verschiedenen Sonnen können demnach also nichtaufeinander wirken – ebenso wie jeweils Planeten oder Monde ihrerseits gegenein-ander keine Wirkung ausüben: Das Weltbild Guerickes ist statisch.

Aber dadurch, dass den einzelnen ähnlichen Himmelskörpern begrenzte Wirk-sphären zugesprochen werden, die eine gegenseitige Beeinflussung ausschließen, berei-tete Guericke gedanklich die Vorstellung einer allgemeinen Gravitation vor. Diese istja ohne das erst von den Schülern Galileis aufgestellte Trägheitsprinzip undenkbar,weil sonst alle Himmelskörper sich zu einer Masse vereinen müssten. Für Aristotelesbestand diese Schwierigkeit nicht, da die als Schwerezentrum beobachtete Erde alseinziges und deshalb in der Weltmitte befindliches Schwerezentrum galt. Wurde dieErde aus dieser Mitte gerückt, so musste ihr ein spezifisches Schwerezentrum zuge-wiesen werden, das nicht mehr identisch mit dem Schwerezentrum der ganzen Weltwar. Eine solche Kohäsionstheorie, die jedem Himmelskörper ein eigenes Schwe-rezentrum zuwies, hatte bereits Plutarchos einmal versuchsweise aufgestellt27. Sie hätteauch von jedem anderen entwickelt werden müssen, der die Erde aus dem direktenZentrum nahm – so sah sich Nikolaus von Kues und natürlich auch Copernicus und

28 Nur daraufhin vermochte er wahrscheinlich die ‚elektrische Abstoßung‘ zu entdecken!29 Robert Hooke (18. 7. 1635 Freshwater/lsle of Wight – 3. 3. 1703 London) war Professor

der Geometrie am Gresham College in London und Sekretär der Royal Society. Er erfandden Kreispendel und die Ankerhemmung der Uhr, arbeitete auf dem Gebiet der Optik,wobei er Fernrohr und Mikroskop verbesserte, und wurde vor allem bekannt durch seineMicrographia (1665), deren sechzig minuziös ausgeführte Wiedergaben mikroskopischerAnsichten von Insekten und anderen winzigen Organismen oder Organstrukturen fürlange Zeit Maßstäbe setzte. Als erster benutzte er das Wort cella für Zelle (Zellwände) beider Beschreibung der Mikrostruktur des Korks. Auch die Metamorphose der Insekten hater am Beispiel der Stechmücke erstmals beschrieben. Hooke schlug vor, den Schmelz-punkt des Eises als Nullpunkt der Thermometerskala festzulegen, konstruierte eine derersten arithmetischen Rechenmaschinen und formulierte das Hooksche Gesetz, demzu-folge das Maß der Dehnung bei Metallen dem Maß der dabei ausgeübten Spannung (z.B. Gewichtzug) in direkter Proportion entspricht. Auch er erkannte den Zusammenhangzwischen Luftdruckschwankungen des Barometers und meteorologischem Geschehenund stellte jene beiden Theorien über die Entstehung der Mondkrater (vulkanisch oderdurch Meteorite) auf, die durch die Mondlandungen bestätigt wurden.

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alle seine Anhänger dazu gezwungen. Ja selbst die Vertreter des tychonischen Systemsschlossen sich dieser Auffassung an, nachdem die Fernrohrbeobachtungen Galileisgezeigt hatten, dass neben dem Mond auch die (anderen) Planeten nicht selbstleuch-tend, sondern offenbar ‚erdartigU sind. Nur zur Erde gehörige Körper streben demnachihr zu, und entsprechendes gilt für die Sonne, die Monde und anderen Planeten. Die-ses war die übliche Auffassung, die auch noch Galilei und seine Anhänger vertratenund die nicht wesentlich von der aristotelischen abweicht. Erst Guericke kommt vonder Keplerschen Idee der Zentralkräfte her zu der Überzeugung, dass nicht den ein-zelnen von dem Zentralkörper getrennten, ihm aber zugehörigen Teilchen dieses Stre-ben zu ihrem ‚natürlichen Ort‘ hin innewohnt, sondern dass der Zentralkörper selbst,seine Seele, die selektive ‚Erhaltungskraft‘ (virtus conservativa) besitzt, um das ihm Zuge-hörige an sich zu ziehen und ihm Fremdes, Unzuträgliches, abzustoßen28 – womit derMagdeburger eine Idee der mittelalterlichen und paracelsischen Medizin aufnahm.

Das für Guericke auf der fehlenden Kapazität und der Begrenzung des Wirkbe-reichs beruhende Nebeneinander der wechselseitig voneinander bewegten Körpermusste allerdings {&&&&818} auf das Trägheitsprinzip zurückgeführt werden, um der Ideeeiner allgemeinen Gravitation nach Anregungen durch Robert Hooke29 bei lsaac New-ton zum Durchbruch zu verhelfen. Die gedankliche Vorarbeit ist aber hier bei Gue-ricke schon mit geleistet.

Doch nicht nur mit dem Nachweis des ‚künstlichen‘ und ‚natürlichen‘ Vakuumsund dieser Vorstellung von mitführenden und Schwere verursachenden, in die Fernewirkenden Zentralkräften sämtlicher Himmelskörper mit sich abschwächender undbegrenzter Wirksphäre bereitete Guericke die Wandlung des aristotelischen Weltbildeszum newtonischen vor, er tat dies noch durch einen weiteren Schritt:

30 O. von Guericke: Experimenta Noua (ut vocantur) Magdeburgica De Vacuo Spatio [...].Amsterdam 1672, Buch II, Kap. 7, p. 62 f.

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Wenn der Raum nur das Behältnis für die Weltkörper und anderen Körper ist,wenn er leer ist und der Ausbreitung und Wirkung der ‚Kräfte‘ keinerlei Widerstandentgegensetzt, wenn er also unabhängig von ihnen besteht und keinen körperlich-stofflichen Abschluss erfährt, so ist nicht einzusehen, dass er irgendwo und irgendwiebegrenzt sein sollte; und dann ist wiederum nicht einzusehen, dass die Zahl der Son-nen, ihrer Planeten und ihrer aneinander grenzenden unstofflichen Wirksphären be-grenzt sein sollte. Dies wäre eine unangebrachte Beschneidung der göttlichen Allmachtund Schöpfungskraft.

Aber gerade gegen Giordano Bruno, der ja bereits einmal aufgrund des schein-baren Fehlens einer Fixsternparallaxe spekulativ zu dem Schluss vorgedrungen war,dass es im unendlichen (äthergefüllten) All unendlich viele solche Sonnensysteme ge-ben müsse, waren deshalb nicht nur von Theologen beider Konfessionen so starkeEinwände erhoben worden, dass diese seine Vorstellung keine Anhänger gefundenhatte. Gottes Allmacht, Gott selbst ist unendlich, aber nicht seine Schöpfung; denn dashieße etwas Gleichwertiges neben ihn stellen, was der Person Gottes selbst vorbehal-ten ist. Johannes Kepler, Athanasius Kircher und René Descartes, die sich den Schlüs-sen Brunos nicht ganz zu verschließen vermochten, ließen das All deshalb zwar uner-messlich, also für menschliches Fassungs- und Vorstellungsvermögen unendlich sein,nicht aber unbegrenzt und tatsächlich unendlich; die beiden letzteren sahen diesesauch für sie stofflich lückenlos erfüllte All dann mit unermesslich vielen – nicht aberunendlich vielen – Welten angefüllt, wobei Kircher und vielleicht auch Descartes sichdiese Welten als tychonische vorstellten, also mit einem nicht-selbstleuchtenden Zen-tralgestirn entsprechend unserer Erde. Gegen diese theologischen oder theophysikali-schen Argumente konnte sich kein Forscher des 17. Jahrhunderts verschließen – ge-wiss nicht Guericke, dessen tiefe Religiosität und Gläubigkeit aus vielen Kapiteln sei-nes Werkes deutlich zu uns spricht: Gottes Schöpfung kann nicht wie er selbst unend-lich sein!

Der leere Raum ist aber nur Behältnis für die Dinge, für das Seiende, für die Schöp-fung Gottes, argumentiert Guericke: Er selbst sei ein Nichts, Nichtdingliches – also keineSchöpfung Gottes30:

„Alles was ist, ist entweder etwas Unerschaffenes oder etwas Erschaffenes; ein Drittesgibt es nicht. Nichts ist nämlich die Verneinung des einen und die Bejahung des anderen,folglich kein Drittes. Was daher kein Erschaffenes ist, das ist Unerschaffenes, und waskein Unerschaffenes ist, ist etwas Erschaffenes. [...] Etwas Unerschaffenes ist eine zuallem Erschaffenen gegensätzliche unbegrenzte, unermessene ewige Wesenheit, die Vor-herbestand besitzt, durch sich selbst fortbesteht und ihr Sein von sich selbst empfängt,alles enthält und von nichts enthalten wird. [...] Weil es aber nur zwei Grundarten des

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{&819} Guerickes Pumpe 3. Bauart, 1662 {&&&&820} Die beiden Original-Halbkugeln und diePumpe 3. Bauart im Deutschen Museum München

Seienden gibt und keine dritte, folgt: Was an Erschaffenem und dem davon Hergeleitetenein Nichts ist, ist etwas Unerschaffenes, und umgekehrt. [...] Was nicht etwas Erschaf-fenes ist, ist ein Unerschaffenes und mithin kein völliges Nichts. Wenn nun gefragt wird:Was war {&&&&819} denn vor der Erschaffung der Welt da, und es würde jemand antworten‚das Unerschaffene‘ und ein anderer ‚das Nichts‘, so wären beide Antworten richtig. [...]Ebenso sagen wir, aus Nichts seien Himmel und Erde erschaffen, das heißt aus nichtsErschaffenem, sondern aus Unerschaffenem. Und wie aus Nichts alle Dinge erschaffensind, so sind sie auch alle darin aufgenommen und darin gegründet, das ist: im Uner-schaffenen. [...] {Abb.820&&&&821} Es hat also jegliches Ding seine Stätte im Nichts; und wennGott das Gefüge der Welt, das er schuf, wieder zunichte machte, bliebe an seiner Stellenichts als das Nichts, das Unerschaffene, wie es vor Anfang der Welt gewesen [...]. Außerder Welt ist nur das Nichts; das Nichts ist überall. Das Leere heißt man ein Nichts undden nur vorgestellten Raum, ja der Raum selbst soll ein Nichts sein.“

Also sei der Raum als unabhängiges Behältnis etwas Unerschaffenes, keine SchöpfungGottes, und somit unendlich, ein unendliches Bezugssystem der in ihm erschaffenen Din-ge. Isaac Newton sollte diesen, dann von ihm ‚absolut‘ genannten Raum als sensorium Dei,als ‚Denkraum Gottes‘ bezeichnen, der deshalb schon notwendig unendlich sei.

Und dieser unendliche Raum enthält dann nach Guericke zwar nicht unendlichviele diskrete Welten, aber unbegrenzt viele; denn es gebe keine unendliche Zahl, aberauch keine größte, weil man jede Zahl erweitern könne. Das Zählen habe keine Gren-ze, wie er in einem besonderen Kapitel darlegt.

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Durch diese begriffliche Differenzierung erhält Guericke die Möglichkeit – undgleichzeitig eröffnet er seinen Zeitgenossen diese Vorstellung –, einen unendlichenRaum mit unbegrenzt vielen gesonderten Welten anzunehmen, deren Körper durchunstoffliche ‚Kräfte‘ aufeinander wirken, unmittelbar über diesen Raum hinweg, dernur ihr Behältnis und Bezugssystem darstellt und keinerlei Eigenschaften besitzt.

Es lässt sich nicht mehr feststellen, wann genau Guericke diese Konsequenzen ausseinen Versuchen und anfänglichen Überlegungen gezogen hat. Mit der detailliertenAusführung in seinem Buch begann er Ende der fünfziger Jahre, doch finden sie sichteilweise schon in Briefen an Kaspar Schott, der in Würzburg die Versuche Guerickeswiederholt hatte – anfänglich, um sie zu widerlegen – und mit entsprechenden Fragen anGuericke herangetreten war. Zumindest jene Versuche mit der Luftpumpe und im Va-kuum hatte Guericke bereits in Regensburg vorgeführt, zusätzlich aber auch solche,welche die ungeheure Größe und (berechnete) Leistungsfähigkeit des Luftdrucks und dieAusbreitung des Lichts im Vakuum demonstrierten. Erst in der Folgezeit hat er indesseine Luftpumpe verbessert zu einer stationären, über zwei Stockwerke seines Hausesreichenden Anlage mit hydraulischer Abdichtung (sogenannte Pumpe ‚zweiter Bauart‘);und erst 1656 stellte er die Überlegung an, dass die Größe des Luftdrucks sehr ein-drucksvoll demonstriert werden könne, wenn man versuche, zwei fest aneinanderpassende Halbkugeln nach der Evakuierung von Pferden auseinander ziehen zu lassen.Im Jahr 1657 – und noch nicht in Regensburg, wie man immer wieder liest – führte erdiesen Versuch mit den sogenannten ‚Magdeburger Halbkugeln‘ erstmals in Magdeburgmit Pferden aus. Diesen wie andere Versuche führte er dann auf Einladung des GroßenKurfürsten im Dezember 1663 auch am Berliner Hof vor, und erst zu diesem Zweckkonstruierte er im Laufe des Jahres 1663 aus seiner stationären Pumpe jene Pumpe‚dritter Bauart‘, die in drei Exemplaren in Braunschweig, Lund und München erhalten istund deren Form ohne Zweifel durch die Weiterentwicklung der von Schott veröffent-lichten ersten Guerickeschen Pumpe durch Robert Boyle angeregt war.

Dieser war ihm 1659 mit einer Veröffentlichung seiner Pumpe und der Wiederho-lung und Ergänzung der früheren Versuche Guerickes zuvorgekommen. Nur diesemUmstand ist es zu verdanken, dass man lange Zeit – in den angelsächsischen Ländernnoch heute – neben {&&&&822} dem Torricellischen Vakuum vom Boyleschen und nicht vomGuerickeschen Vakuum spricht. Aber Boyle hatte keinerlei Konsequenzen aus denVersuchen gezogen – doch erst von den Folgerungen her wird die Erfindung derLuftpumpe, werden die anderen Entdeckungen Guerickes verständlich und sinnvoll;denn die Lösung des Problems stand im Zusammenhang mit drei Fragen, deren Zu-sammengehörigkeit Guericke wie kein zweiter Denker seit Aristoteles erkannt hatte undderen Frag-Würdigkeit im Zusammenhang keinem vor ihm so deutlich geworden war:

1. Was ist der Raum? Gibt es einen leeren Raum oder ist Raum stets erfüllter Raumund als leerer Raum nur ein denkbarer, ein spatium imaginarium, ein ‚rein gedachterRaum‘ als bloße logische Abstraktion?

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2. Wie können über den leeren Raum hin die individuellen Weltkörper aufeinanderwirken, und wie werden sie bewegt?

3. Ist der Raum und damit die Zahl der in ihm enthaltenen Weltkörper begrenzt oderunbegrenzt, also unendlich?

Galilei hatte gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Gültigkeit der zuvor seit ihrer Be-gründung in der Antike nur für den Bereich der menschlichen ‚Kunst‘ (τέχνη) gelten-den Mechanik auch auf den Bereich der irdischen Natur ausgedehnt. Nachdem erdann auch die Flut der Entdeckungen eingeleitet hatte, die nach Tycho Brahes Ent-deckungen dazu führte, den alten Dualismus zwischen supra- und sublunarer Welt inaristotelischem Sinne aufzugeben, versuchte man im 17. Jahrhundert, die Gesetze derirdischen Mechanik auch auf die Bewegungen der Himmelskörper auszudehnen. Aufder Erde und mit irdischen Mitteln gewonnene Kenntnisse erhielten jetzt auch für denHimmel grundsätzlich Gültigkeit. So konnte Guericke ohne weiteres seine Beobach-tungen an der Schwefelkugel auf die Weltkörper übertragen – der Mond wird, wie dieFlaumfeder von der elektrisierten Kugel, von der Erde herumgeführt, er wendet ihrdeshalb auch wie die Feder der Schwefelkugel stets dieselbe Seite zu – und versuchen,aus den Galileischen Pendelgesetzen eine Beziehung zwischen Radien und Zeiten derUmlaufbahnen der Planeten abzuleiten.

Dass Guericke die astronomischen Kenntnisse seiner Zeit nicht richtig deutete,können wir ihm schwerlich zum Vorwurf machen. Er war Ingenieur und nichtAstronom und entnahm sein Wissen den Handbüchern und astronomischen Werkenseiner Zeit. Die unterschiedlichen Beobachtungs- und Messdaten seiner Quellen, diemitgeschleppten alten, teilweise überholten Daten, alles das konnte ihm keine sichereGrundlage geben, da er nicht selbst Beobachtungen anstellte. All dies musste ihn viel-mehr von seiner Bewegungslehre überzeugen, meinte er doch in der Entdeckung derSchwankung des Luftdrucks, also in der wechselnden Höhe der Lufthülle, eine Erklä-rung dafür gefunden zu haben, weshalb die von den Gestirnen kommenden Licht-strahlen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten verschieden stark abge-lenkt zu sein schienen, so dass die beobachteten Daten der Parallaxe und die schein-baren Durchmesser stark voneinander abwichen. Die von anderen beobachtete Ex-zentrizität der Bahnen von Sonne, Erde und Mond ließen sich für ihn als Erschei-nungen der Refraktion, der Lichtbrechung, deuten. Die von der Antike geforderteGleich- und Kreisförmigkeit der Gestirnsbahnen konnte so noch einmal gerettet, jasogar durch die Vorstellung von der Kraftausbreitung und der ‚Kapazität‘ gestütztwerden. Dass Guericke so die Keplerschen Gesetze verwarf, ist verständlich; er stehtdamit in der Mitte des 17. Jahrhunderts auch keineswegs allein. Besonders das {&&&&823}

Dritte Gesetz, das aufgrund fehlender verlässlicher Daten über die Parallaxe und damitüber die Entfernungen der Planeten jedem nüchternen Betrachter dieser Zeit als reineSpekulation erscheinen musste, war vor Isaac Newton als wissenschaftliche Erkenntnis

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schwerlich ernst zu nehmen; denn gerade die Denker dieser Zeit hatten dem Experi-ment und dem Augenschein großen Erkenntniswert für jegliches Naturverständnis ab-gerungen, und Otto von Guericke gehört an hervorragender Stelle in die Reihe dieserDenker.

[Im Originaldruck folgen hier die Anmerkungen: 1–7 {&&&&824} 7–21 {&&&&825} 21–30 {&&&&826}

31–40. Von diesen wurden hier die bloßen Verweise auf andere Artikel innerhalb desSammelwerkes weggelassen.]

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{&&&&827} Schriften:

Experimenta Nova (ut vocantur) Magdeburgica De Vacuo Spatio Primum a R. P.Caspare Schotto [...], Nunc vero ab ipso Auctore Perfectius edita, variisque Ex-perimentis aucta. Quibus accesserunt simul certa quaedam De Aeris Pondere circaTerram; de Virtutibus Mundanis, & Systemate Mundi Planetario; sicut & de StellisFixis, ac Spatio illo Immenso, quod tam intra quam extra eas funditur. Amsterdam1672; Faksimile-Ausgabe mit einem Nachwort von H. Schimank. (Milliaria 1)Aalen 1962; Faksimiledruck innerhalb der Otto von Guericke Gesamtausgabe,Reihe II, Teilband 1.1. (Herausgeber Otto-von-Guericke-Gesellschaft) Halle ander Saale: Janos Stekovics 2002.

Otto von Guerickes Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den leeren Raum.Nebst Briefen, Urkunden und anderen Zeugnissen seiner Lebens- und Schaf-fensgeschichte, übersetzt und hrsg. von Hans Schimank, unter Mitarbeit von HansGossen †, Gregor Maurach und Fritz Krafft. Düsseldorf: VDI-Verlag (ab 1997:Berlin usw.: Springer) 1968 (mit Kommentar, Biographie, Bibliographien undRegistern); die Übersetzung allein ist ebenda in verkleinerter Ausgabe erschienen:

Otto von Guerickes Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den leeren Raum.Übersetzt und hrsg. von Hans Schimank, unter Mitarbeit von Hans Gossen †,Gregor Maurach und Fritz Krafft. Düsseldorf: VDI-Verlag 1968.

Otto von Guerickes Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den leeren Raum[Übersetzt und hrsg. von Hans Schimank, unter Mitarbeit von Hans Gossen †,Gregor Maurach und Fritz Krafft]. Zweite, durchgesehene Auflage. Mit einer ein-leitenden Abhandlung Otto von Guericke in seiner Zeit hrsg. von Fritz Krafft. Düs-seldorf: VDI-Verlag (ab 1997: Berlin usw.: Springer) 1996.

A. Kauffeldt: Otto von Guericke, Philosophisches über den leeren Raum. Berlin(DDR) 1968 [mit Übersetzung längerer Passagen].

Literatur:

F. Krafft: Otto von Guericke. (Erträge der Forschung, Bd 87) Darmstadt 1978 [mitBibliographie der Literatur bis 1978].

E. Grant: Medieval and Seventeenth-Century Conception of an Infinite Void Spacebeyond the Cosmos. Isis 60 (1969), 39-60.

A. Kauffeldt: Otto von Guericke. (Biographien hervorragender Naturwissenschaftlerund Techniker, 7) Leipzig 1973.

F. Krafft: Experimenta nova. Untersuchungen zur Ceschichte eines wissenschaftlichenBuches ... (siehe Anm. 2).

--: Otto von Guericke. In: Dictionary of Scientific Biography, edd. C. C. Gillispie u.a.,Bd 5, New York 1972, S. 574–576.