Fritz Krafft: Bergbau, Pharmazie oder Theologie: Zu einem Titelblatt-Entwurf von Mich(a)el Herr von...

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Manfred Rasch / Dietmar Bleidick (Hrsgg.): Technikgeschichte im Ruhrgebiet – Technik- geschichte für das Ruhrgebiet. Festschrift für Wolfhard Weber zum 65. Geburtstag. Essen: Klartext Verlag 2004, S. 232–252: Bergbau, Pharmazie oder Theologie Zu einem Titelblatt-Entwurf von Mich(a)el Herr von 1619 von Fritz Krafft, Weimar (Lahn) Im Ruhrgebiet, dem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aufblühenden, einst größten industriel- len Ballungsgebiet Europas mit dem Steinkohlenbergbau und der Eisen- und Stahlerzeugung als auf natürlichen Vorkommen beruhender dominierender Großindustrie und an ihnen orien- tierten Industrien, ist nach einem großen Zechensterben inzwischen ein Strukturwandel erfolgt. Das Landschafts- und Urbanisierungsbild, die Bevölkerungsstruktur und die Verkehrsvernet- zung, einst geprägt von Bergbau und Hüttenbetrieben, müssen neu identifiziert und definiert werden, weil diese und in ihrer Folge die daran hängende Schwerindustrie hier nach und nach zurückgedrängt und ganz zum Erliegen kommen werden. Dies kann sinnvoll nicht ohne Be- sinnung auf und Einbeziehung von Ursprung und Vergangenheit als prägenden Komponenten erfolgen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zu begrüßen, dass gerade auch der seit der Gründung der Ruhr-Universität Bochum bestehende Lehrstuhl für Wirtschafts- und Technikgeschichte, dessen erster Inhaber 1966 bis 1981 Albrecht Timm gewesen war, dem 1983 unser Jubilar Wolfhard Weber folgte, schon vor dessen Ausscheiden mit einer vergleichbaren Widmung (Technik- und Umweltgeschichte) wieder ausgeschrieben worden ist, so dass mit einer direkten Anschlussbesetzung gerechnet werden kann. Unter anderem eben diesem Zweck einer Integration des Bergbaus in das allgemeine soziokulturelle Bewusstsein dient auch das auf eine noch längere Tradition zurückblickende, 1930 gegründete Deutsche Bergbau-Museum in Bochum, dessen wissenschaftliche und kulturgeschichtliche Arbeit durch die ‚Vereinigung der Freunde von Kunst und Kultur im Bergbau‘ unterstützt wird, die schon seit 1949 die ‚Zeit- schrift für Kunst und Kultur im Bergbau‘ Der Anschnitt herausgibt. Das Museum steht seit 1987 unter der Direktion von Dr. phil. Rainer Slotta, der zuvor Leiter der Forschungsstelle zur Erhaltung von Kulturdenkmälern (nämlich des Bergbaus) am Museum gewesen ist und Bergassessor a. D. Hans Günter Conrad in diesem Amte folgte. Dieser Wechsel in der Direk- tion vom Fachmann der Bergbau-Technik zum Kenner der Bergbau-Kultur scheint vor dem Hintergrund des Strukturwandels im Ruhrgebiet nicht unbegründet gewesen zu sein. Die „kulturbildende Kraft des Bergbaus“, wie Rainer Slotta 1988 einen Vortrag und Aufsatz titelte, ist jedenfalls auch stets der Schwerpunkt seiner Arbeit gewesen; denn die „herausgehobene gesellschaftliche Stellung innerhalb der Bevölkerung und innerhalb ganz verschiedener Epochen [hat] immer wieder zu dem – heute bisweilen verblüffenden – Ergeb- nis geführt, dass der Bergbau als Wirtschaftszweig die Allgemeinkultur und die Kunst als Medium der Selbstdarstellung seiner Tätigkeit im besonderen geprägt und Objekte gestaltet hat, wobei es der heutigen Generation oft schwer fällt, die Beziehungen, die einst zum Ent-

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Manfred Rasch / Dietmar Bleidick (Hrsgg.): Technikgeschichte im Ruhrgebiet – Technik-geschichte für das Ruhrgebiet. Festschrift für Wolfhard Weber zum 65. Geburtstag. Essen:Klartext Verlag 2004, S. 232–252:

Bergbau, Pharmazie oder Theologie

Zu einem Titelblatt-Entwurf von Mich(a)el Herr von 1619

von Fritz Krafft, Weimar (Lahn)

Im Ruhrgebiet, dem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aufblühenden, einst größten industriel-len Ballungsgebiet Europas mit dem Steinkohlenbergbau und der Eisen- und Stahlerzeugungals auf natürlichen Vorkommen beruhender dominierender Großindustrie und an ihnen orien-tierten Industrien, ist nach einem großen Zechensterben inzwischen ein Strukturwandel erfolgt.Das Landschafts- und Urbanisierungsbild, die Bevölkerungsstruktur und die Verkehrsvernet-zung, einst geprägt von Bergbau und Hüttenbetrieben, müssen neu identifiziert und definiertwerden, weil diese und in ihrer Folge die daran hängende Schwerindustrie hier nach und nachzurückgedrängt und ganz zum Erliegen kommen werden. Dies kann sinnvoll nicht ohne Be-sinnung auf und Einbeziehung von Ursprung und Vergangenheit als prägenden Komponentenerfolgen.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es zu begrüßen, dass gerade auch der seit der Gründungder Ruhr-Universität Bochum bestehende Lehrstuhl für Wirtschafts- und Technikgeschichte,dessen erster Inhaber 1966 bis 1981 Albrecht Timm gewesen war, dem 1983 unser JubilarWolfhard Weber folgte, schon vor dessen Ausscheiden mit einer vergleichbaren Widmung(Technik- und Umweltgeschichte) wieder ausgeschrieben worden ist, so dass mit einerdirekten Anschlussbesetzung gerechnet werden kann. Unter anderem eben diesem Zweckeiner Integration des Bergbaus in das allgemeine soziokulturelle Bewusstsein dient auch dasauf eine noch längere Tradition zurückblickende, 1930 gegründete Deutsche Bergbau-Museumin Bochum, dessen wissenschaftliche und kulturgeschichtliche Arbeit durch die ‚Vereinigungder Freunde von Kunst und Kultur im Bergbau‘ unterstützt wird, die schon seit 1949 die ‚Zeit-schrift für Kunst und Kultur im Bergbau‘ Der Anschnitt herausgibt. Das Museum steht seit1987 unter der Direktion von Dr. phil. Rainer Slotta, der zuvor Leiter der Forschungsstelle zurErhaltung von Kulturdenkmälern (nämlich des Bergbaus) am Museum gewesen ist undBergassessor a. D. Hans Günter Conrad in diesem Amte folgte. Dieser Wechsel in der Direk-tion vom Fachmann der Bergbau-Technik zum Kenner der Bergbau-Kultur scheint vor demHintergrund des Strukturwandels im Ruhrgebiet nicht unbegründet gewesen zu sein.

Die „kulturbildende Kraft des Bergbaus“, wie Rainer Slotta 1988 einen Vortrag undAufsatz titelte, ist jedenfalls auch stets der Schwerpunkt seiner Arbeit gewesen; denn die„herausgehobene gesellschaftliche Stellung innerhalb der Bevölkerung und innerhalb ganzverschiedener Epochen [hat] immer wieder zu dem – heute bisweilen verblüffenden – Ergeb-nis geführt, dass der Bergbau als Wirtschaftszweig die Allgemeinkultur und die Kunst alsMedium der Selbstdarstellung seiner Tätigkeit im besonderen geprägt und Objekte gestaltethat, wobei es der heutigen Generation oft schwer fällt, die Beziehungen, die einst zum Ent-

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1 R. SLOTTA (1988), 19, und in der erweiterten Fassung „Der Beitrag des Bergbaus zurKunst“ in: S. SLOTTA / C. BARTELS (1990), 34–56, hier S. 34.

2 Siehe R. SLOTTA (1981), wieder abgedruckt in: S. SLOTTA / C. BARTELS (1990), 201 f.3 Siehe F. KRAFFT (2000).4 R. SLOTTA (1996), 40.

stehen dieser Phänomene geführt haben, nachzuvollziehen“1. Sich aufrufend zur kulturhisto-rischen Deutung solcher aus dem Berbau heraus oder für ihn entstandener Kunst- und Kultur-Objekte hat er auch zahlreiche Beiträge in der als ,Beilage‘ den Nummern von Der Anschnitteingehefteten Reihe Meisterwerke bergbaulicher Kunst und Kultur geliefert sowie Ausstel-lungen zusammengestellt, deren Exponate er durch ausführliche Kataloge der Gegenwart ver-mittelte. Einem dieser Objakte, dessen bergbaulichen Inhalt er erkannte und 1981 in Nr. 11der Anschnitt-Beilagenreihe vorstellte und das er seiner großen Ausstellung ,Meisterwerkebergbaulicher Kunst vom 13. bis 19. Jahrhundert‘ einreihte2, ist der folgende Beitrag gewid-met – nicht etwa, weil sein bergbaulicher Inhalt nicht (ganz) richtig gedeutet worden wäre,sondern, weil die einseitige Blickrichtung vom Bergbau her und aus dessen Selbstverständnisheraus auch andere Verständnis- und Deutungsmöglichkeiten verhindern oder ausschließenkann. Von diesen anderen Möglichkeiten soll hier eine aus einem für den Bildinhalt erst jüngsterschlossenen3 anderen soziokulturellen Umfeld vorgeschlagen werden, die dem Sinn der Dar-stellung gerechter zu werden scheint; denn, wie man abgewandelt sagen kann: es stammt nichtalles aus dem Bergbau, was Bergbau enthält – und kann deshalb auch überdauern, wenn derBergbau selbst (regional) verschwindet.

Zwar musste Rainer Slotta bei seiner analytischen Fragestellung „Der Bergbau und dieKunst – Wer hat wen beeinflußt?“ 1996 feststellen, dass der Bergbau keine eigene Kunstgat-tung oder Stilart hervorgebracht, sondern sich stets der vorhandenen Kunstmittel und -formenbedient habe und dass bergbauliche Details in Bergbaugebieten gleichsam von selbst als,Staffage‘ in die Werke der bildenden Kunst eindrangen, bevor sie diese auf Wunsch von Auf-traggebern aus dem Bergbau, die sich Kunst „auf der Höhe der Zeit geleistet“ haben undleisten konnten, gelegentlich inhaltlich auch vollständig ausfüllten; doch fehlt meines Erach-tens dann dem aus der bemerkenswert großen Anzahl bergmännisch ausgerichteter Kunst-werke des 16. und 17. Jahrhunderts gezogenen Resümee4, dass darin „die hohe gesamtkultu-relle Bedeutung des Bergbaus für jene Zeitläufte ersichtlich“ werde, eben der ,gesamtkultu-relle‘ Aspekt, weil damit nur die ,kunstschaffende‘ Wirtschaftskraft des Bergbaus angespro-chen sein soll. Gemeint ist die Rolle, die der Bergbau hauptsächlich aufgrund seiner Wirt-schaftskraft für, nicht aber die Rolle, die er in der Kultur und Kunst gespielt hat, und zwarauch dann gespielt hat, wenn diese nicht direkt oder indirekt vom Bergbau abhängig waren.Die Kulturgeschichte des Bergbaus in seinem Selbstverständnis sollte folglich ergänzt werdendurch eine Untersuchung des Bergbaus in der allgemeinen Kulturgeschichte, also in seinemFremdverständnis.

Bei dem betreffenden Objekt handelt es sich um eine sparsam farbig aquarellierte Feder-zeichnung von Michel Herr im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen PreußischerKulturbesitz, Berlin, höchstwahrscheinlich einem Entwurf für ein Frontispiz (Abb. 1). Siewird von Rainer Slotta mit „nach 1620“ datiert und als „ein genau beobachtendes Dokumentdes nach 1620 umgehenden Bergbaus im alpinen Raum“ charakterisiert.

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Abb. 1: Entwurf für ein Fronstispizt zu einem protestantischen Erbauungtsbuch (1618/19).Lavierte und teilaquarellierte Federzeichnung (19,3 x 14,5 cm) von Michel Herr (Berlin, Staatliche

Museen Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. KdZ 17628).

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5 Zu Biographie und Werk von Mich(a)el Herr (auf seinen Zeichnungen und Bildern sig-niert er in der Regel mit „Michel Herr“) siehe jetzt S.GATENBRÖCKER (1996), 31–71 (imAnschluss daran ein kommentierter Werkkatalog), und (1991), 11–56 (hier S. 57–116auch ein Katalog der seinerzeit ausgestellten Zeichnungen).

6 Schwach angedeutet findet sich hierin auch ein Wappenschild mit Helm und Helmbusch,in den der Text hätte aufgenommen werden können; siehe S. GATENBRÖCKER (1996), 449,die darin allerdings ein Indiz für eine „selbständige Arbeit“ sieht, obgleich sie das Blattweiterhin als „Frontispiz (Entwurf)“ bezeichnet, was F. KRAFFT (2001), 207 f., entkräftet.

Mich(a)el Herr5 stammt aus einer angesehenen Leinenweberfamilie im lutherischen Met-zingen bei Reutlingen und wurde am 13. Dezember 1591 ebendort geboren (gestorben am 21.Januar 1661 in Nürnberg). Er absolvierte in Stuttgart (möglicherweise beim dortigen HofmalerGeorg Thonauer) 1605/06 bis 1609/10 eine Malerlehre und ist erstmals 1610 durch einStammbuchblatt als Malergeselle aus Stuttgart im protestantischen Nürnberg nachzuweisen,wohin er nach der Lehre vermutlich wegen der besseren künstlerischen Entfaltungs- und Er-werbsmöglichkeiten übersiedelt war. Von hier aus unternahm er 1614/15 eine Studienreisenach Italien (Rom und Venedig) sowie kürzere Reisen in das nahe Süddeutschland (Nach-weise 1618 für Riedlingen, 1620 für Regensburg). Ab 1618/19 gibt es Bestätigungen für einenkontinuierlichen Aufenthalt in Nürnberg, wo Herr Anfang 1622 sein Probestück einreichte(Die sieben Freien Künste mit Mars und Justitia), die Meisterwürde erhielt und anschließendauch das Bürgerrecht. Zwei Monate später heiratete er am 8. Mai 1622 die KaufmannstochterBlandina Sattler. Die Ehe blieb kinderlos. Ein halbes Jahr nach ihrem Tode heiratete er 1640in zweiter Ehe Martha Schletz, ebenfalls eine Kaufmannstochter, die ihm 1648 eine Tochtergebar. Diese Ehen setzten einen hohen Grad an Anerkennung als ‚Handwerker‘ unter den Bür-gern der Reichsstadt voraus und brachten ihm ein ansehnliches Vermögen ein. 1639 wurdeHerr als Geschworener in den Größeren Rat der Stadt gewählt; zweimal war er aber auch‚Vorgeher‘ (Sprecher der Gilde) der Maler Nürnbergs. Er war rasch zu einem der führendenMaler der Stadt geworden, geschätzt einerseits als Porträt- und Historienmaler (Mythologie,Geschichte der Antike, christliche Themen), andererseits als Zeichner und Illustrator von pro-testantischen emblematischen und theologischen Werken der Erbauungslitreratur und Bibel-ausgaben (Weimarer Bibel, Dilherr-Bibel). Anders als in Residenzstädten mit einer abgeho-benen höfischen Malerzunft ohne Bezug zum Bürgertum (wie etwa in Stuttgart) herrschte inNürnberg ein allmählicher Übergang von der dort anzutreffenden breiten Schicht eines hoch-gebildeten Bürgertums zum gehobenen Handwerkerstand, der zwar selten dieselben Bildungs-höhe besaß (auch nicht Latein oder eine lebende Fremdsprache sprach), zu einem großen Teilaber die Werke schuf, die dem Nürnberger Handel zu seinem Reichtum verhalfen. Herr arbei-tete eng mit führenden lutherischen Theologen der Stadt (und damit Deutschlands) und mitNürnberger Bürgern zusammen, deren Ideen er selbständig bildlich umzusetzen vermochte.

Seine in diesem Nürnberger Umfeld entstandene Federzeichnung enthält vier um ein freiesMittelfeld6, ein vor eine Mauer gespanntes rechteckiges Tuch als potentiellen Schriftträger,gruppierte Einzelszenerien – von denen die drei oberen in Durchblicken eines ruinenhaftenGemäuers erscheinen, über das zwei Putten ein Spruchband mit der Aufschrift ‚vivificat‘halten. Sie gilt für die Darstellung in dem flachen Rundbild darunter, das einen Taghimmelmit Sonne und Wolken, aus denen es regnet (links), und einen Nachthimmel mit Mond und

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7 Siehe S. SLOTTA (1981), wiederholt in S. SLOTTA / C. BARTELS (1990), 201 f.; danach S.GATENBRÖCKER (1991), 99 f., worauf vverwiesen wird von S. GATENBRÖCKER (1996),449 f.

8 G. AGRICOLA (1556), p. 150. – Die Originalpaginierung [p. X] wird auch notiert in AGA,hier Bd 8; angeführt wird im folgenden auch die Seite [S. X] in G. AGRICOLA: ZwölftBücher... (1928), hier S. 163.

Sternen über einem runden Hügel, der fast die Form der Erdkugel annimmt, zeigt. Links nebendem aufgespannten Tuch kniet ein Mann auf einem über Treppen erstiegenen Podest und betetmit zum Himmel erhobenem Haupt, neben sich ein Spiegel als Symbol der Selbsterkenntnisund Gottesebenbildlichkeit des Menschen; den Hintergrund bildet eine Kirche, über der be-waldete Gebirgslandschaft aufsteigt. Rechts wird das Eckhaus einer städtischen Straße darge-stellt, in dem sich eine Apotheke befindet, wie die durch die beiden über Eck stehenden Fen-ster erkennbaren Standgefäße und Schachteln und die Darstellung der beiden SchutzheiligenKosmas und Damian auf der aufgeschlagenen Seite der hohen Fensterläden der Hauptfrontandeuten; der Apotheker gibt seine Arznei durch dieses Fenster an Bedürftige ab, die in großerZahl vor der Straßenfront der Apotheke stehen. Zwei von ihnen gehen auf Krücken, ein Jungeim Vordergrund mit einem Rezept in der Linken tastet sich mit einem Blindenstock heran.

Das eigentliche Interesse Slottas galt aber der das untere Bilddrittel einnehmenden Sze-nerie mit Darstellungen aus dem Bergbau7: Dieses von einer oben durch eine angedeutete Kar-tusche begrenzte Bild besteht aus mehreren montanistischen „Inseln“ (Silke Gatenbröcker),die zum Teil durch die Abfolge der dargestellten Arbeitsgänge, soweit sie über Tage erfolgen,von der Gewinnung aus erzführendem Gewässer über die bergmännische Förderung deserzhaltigen Gesteins zu den verschiedenen Stufen der Aufbereitung thematisch miteinanderverbunden sind. Links im Vordergrund wird das aus dem überdachten eingefassten Mundlocheines Wasserlösestollns austretende Wasser nach ausgespültem erzhaltigem Gestein abgesucht(gleichsam stellvertretend für das Erzseifen in Bachläufen). Die übrigen Darstellungen sindin drei Ebenen angeordnet:

Den Hintergrund bildet ein nach rechts ansteigendes bergiges Gelände mit spärlichemBaumbewuchs – eine „Waldlandschaft“ (Rainer Slotta) wäre in Bergwerks- und Hüttennähevor systematischen Aufforstungen kaum anzutreffen gewesen. Neben einem Schachthausstehen drei wie Kirchen aussehenden Göpelgebäuden, unter deren bis den Boden reichendenschindelgedeckten kegelförmigen Spitzdächern sich jeweils eine senkrecht stehende Haspelund die sogenannte ,Rennbahn‘ befanden. Das anschließende ,Schachthaus‘ – nicht „Ver-sammlungs- und Administrationsraum“ (Rainer Slotta) – stand über dem Schacht, aus demheraus das erzhaltige Gestein in Kübeln durch über Rollen zur Seiltrommel auf dem Haspelgeführte Seile gefördert oder Wasser über eine mittels Zahnradgetriebe von der Haspel ange-triebene Heinzenkunst gehoben wurde. Bei den Glocken im First der Schachthäuser (die auchin einem Dachreiter aufgehängt sein konnten) handelt es sich nicht um „Schichtglöckchen“(Rainer Slotta), sondern um sogenannte Kunstglöckchen, die über einen Seil- oder Stangenzugmit dem Wasserkunstrad oder -kunstgezeuge unter Tage beziehungsweise dem Göpel verbun-den waren und deren ordnungsgemäßen Gang über Tage weithin schallend permanent an-zeigten, was insbesondere an Feiertagen, wenn kein Personal darüber wachte, erforderlich war.Georgius Agricola hat diese Glocken bereits in De re metallica libri XII beschrieben8, und das

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9 Siehe H. Prescher in AGA VIII, 750, Note 237, und H. PRESCHER / O. WAGENBRETH

(1994), 167. – Möglicherweise ist die „lange Gerte in der Hand des [auf den linken Göpelzueilenden] Mannes“ tatsächlich „als Peitsche für das Antreiben der Pferde im Göpel zudeuten“ (Slotta); dann könnte der Laufschritt des ‚Göplers‘ auf die notwendige Eile hin-weisen, die erforderlich war, um eine Störung zu beheben, die ein unregelmäßiges An-schlagen des ‚Kunstglöckchens‘ verhieß.

10 G. AGRICOLA (1556), p. 281 (S. 307) mit Holzschnitt auf p. 282 (S. 306).11 R. SLOTTA (1981), (3): „Die letzte Stufe der Aufbereitung, der Schmelzprozess, ist eben-

falls vorgestellt worden: Unter einem Pultdach ist ein kalottenförmig gemauerter Treibe-ofen mit viereckiger Abstichöffnung zu erkennen.“

12 Da das gebrannte Zinnerz ebenso wie Ofenbrüche und Schlacken nochmals ‚verpocht‘und in den gesamten Arbeitsgang eingebracht wurde [G. AGRICOLA (156), p. 281 (S. 308)beziehungsweise p. 332 (S. 359)], könnte der Karrenmann auch solches Material in dasPochwerk transportieren sollen.

ständige Kunstglöckchen-Geläut war in Freiberg noch Anfang des 20. Jahrhunderts üblich ge-wesen9.

Im Übergang zur mittleren Ebene stehen zwei mit Kurbeln versehene sogenannte ‚Berg-haspel‘, die links von einem Haspelknecht, rechts von zwei Haspelknechten bedientm werden,die durch ‚Arschleder‘ und ‚Gugel‘ eindeutig als Bergmänner zu identifizieren sind. Der linkeHaspel befindet sich unter einer ‚Kaue‘ in Form eines einfachen Pultdachs (zum Schutz derhier wohl ein- und ausfahrenden Bergleute und der Haspelknechte vor Witterungseinflüssen).Dass der rechte der Förderung erzhaltigen Gesteins dienen soll, zeigt das neben ihm für denAbtransport mittels Schubkarren angehäufte Fördergut, das ‚Haufwerk‘.

In der mittleren Ebene befindet sich links, wiederum unter einem Pultdach, ein gemauerterbackofenartiger Ofen mit viereckigem Loch, wie er im Erzgebirge speziell zum ‚Brennen‘/‚Rösten‘ des Zinnerzes (entsprechend dem ‚Rösten‘ in offenen gemauerten Brennstellen beiSilber- und Kupfererzen) benutzt wurde. Hierüber berichtet Agricola am Ende des achtenBuches, das insgesamt der Aufbereitungen der Erze gewidmet ist10: „Die Zinngraupen werdendurch die Hitze des Feuers in einem einem Backofen ähnlichen Ofen geröstet, wenn sie einebläuliche Farbe besitzen oder Kies und Eisenerz mit ihnen vermischt ist. Die nichtgeröstetenblauen Erze saugen nämlich das Blei [das heißt: das weiße Blei = Zinn] auf, und Kies undEisenerz machen das Zinn, das aus den Graupen hergestellt wird, fleckig, wenn sie nicht ineinem Ofen solcher Art als Rauch ausgetrieben werden“, wobei die brennenden Scheite oderdie Holzkohlen, anders als beim offenen Rösten von Kupfer- oder Silbererzen (oder gar ineinem Schmelz- oder Treibeofen), nicht mit den Graupen selbst in Berührung kommendürften. Es handelt sich bei diesem Vorgang also keineswegs um eine Erzschmelze (RainerSlotta11), für die vielmehr selbet bei Zinnerzen Schacht- oder Hochöfen verwendet wurden.– Auch die beiden anderen Rauchfahnen im Hintergrund sollen wohl die beim Brennen ‚inRauch aufgehenden‘ schädlichen Beimischungen des Zinnerzes andeuten.

Zuvor musste das in Schubkarren herbeigebrachte ‚Haufwerk‘ (Bildmitte)12 zerkleinertund aufbereitet werden. Ersteres erfolgte in dem mächtigen, eingemauerten Pochwerk, dessensechs Stempel mit eisernem Pochschuh sich, (über eine Nockenwelle) von einem oberschläch-tigen Wasserrad angetrieben, heben und senken und das von einem Arbeiter in den von

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13 G. AGRICOLA (1556), p. 219–222 (S. 240–245).14 G. AGRICOLA (1556), p. 245–256 (S. 270–280).15 Siehe H. PRESCHER / O. WAGENBRETH (1994), 179–181.16 G. AGRICOLA (1556), p. 265–280 (S. 289–306).

Wasser durchflossenen Pochtrog geschaufelte Fördergut zerstampfen. Solche Pochwerke ka-men als Trockenpochwerke schon im 14./15. Jahrhundert auf; Agricola hat sie ausführlich be-schrieben13. 1507 führte dann der Herzogl. Sächsische Rat und Amtmann Sigismund vonMaltitz in Dippoldiswalde im sächsichen Osterzgebirge das Nasspochverfahren ein, das ihm1511 priviligiert wurde und für das die Zwitterstocksgewerke im benachbarten Altenberg 1519einen Nutzungsvertrag abschlossen; Agricola kannte es von dort her und beschrieb es aus-führlich14. Das Verfahren, das die Zerkleinerung des Gesteins im Trockenpochwerk und dasangeschlossene Waschen in Schlämmgräben ökonomischer und effektiver zu einem einzigen,weitgehend mechanisierten Arbeitsgang zusammenfasste, wurde hauptsächlich im Zinn-bergbau angewandt, weil das Silbererz nur selten, Zinnerz dagegen fast stets feinkörnig (als‚Graupen‘ von Kassiterit) mit dem Gestein verwachsen ist. Daher wurde dieses Vorkommenvon Zinnerz auch ,Zwitter‘ genannt15.

In der vorderen Ebene des Blattes befinden sich rechts drei sogenannte ,Herde‘, hier wohlmit Planen bedeckt (,Planherde‘), auf die der vom Wasser gebundene Zinnsteinstaub und derdurch eine Siebwand im Pochtrog ausgeschwemmte gekörnte Zwitter durch Gerinne geleitetwird (wodurch sich der Übergang in die vordere Ebene prozessual ergibt) und wo sich dann dasschwerere Erz und erzhaltige Gestein aufgrund ständigen Aufrührens mittels eines von Agricolarubrum ligneum (,Kiste‘) genannten Schiebers vom leichteren tauben Gestein, das ausschwemm-te, absetzen konnte – auf dem Blatt wird diese Tätigkeit des Aufbereitens von zwei ‚Wäschern‘erledigt. Das so gewonnene Gemisch wurde dann nochmals ausgesiebt und gewaschen. Hierzuwird es in der mittleren Szene des Vordergrundes von einem weiteren ‚Aufbereiter‘ in ein Sieb(links) und einen Wasserbottich geschaufelt sowie auf einem weiteren ‚Planherd‘ gewaschen,in den über ein Gerinne (von links) Wasser eintritt, welches das in das angehobene ‚Haupt‘ ge-schüttete Gut vom leichteren tauben Gestein trennt, während das Erz (die Zinngraupen) sich aufund unter den Planen absetzt – zum Aufrühren des Schlammes wurden hier durchaus auchFrauen eingesetzt, wie Agricola bezeugt und abbildet (siehe unten Abb. 3, oben Mitte) und Herrzeichnete.

Vergleicht man die hier auf dem Blatt dargestellten einzelnen Arbeitsgänge mit den vonGeorgius Agricola in seinen De re metallica libri XII beschriebenen und mit Holzschnittenillustrierten, so fällt auf, das alles fehlt, was mit dem Salzbergbau, mit dem Seifenbergbau(Erzwäsche) auf Zinn16, Gold und Silber, mit dem ‚Rösten‘ der Edelmetall-Erze (Austreibenvon Schwefel und Arsen in offenen gemauerten Feuerstellen) und dem Schmelzen in Schacht-öfen sowie mit dem damals modernen Seigerverfahren der Edelmetallgewinnung (De re me-tallica, Liber XI) zu tun hatte. Schon das schließt eigentlich aus, dass die Darstellung auf Aut-opsie eines tätigen Gold-, Silber- oder Kupferbergwerks- und -hüttenbetriebs beruhen kann,zumal ein Pochwerk, vor allem in der hier gezeigten Größenordnung, unter anderem zur weit-gehenden Sicherung des Winterbetriebs in der Regel in einem festen Gebäude untergebracht war,so dass sich ein zeichnerisch wiederzugebender Anblick wie auf dem Blatt für einen Besuchergar nicht ergab. Einblick in die verborgenen technischen Details einer ‚Black-box‘ geben da-

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17 S. GATENBRÖCKER (1996), 53 f.18 Ebenso wie eine hiernach, aber wohl nicht von M. Herr selbst angefertigte Ausschnitts-

gegen technische Zeichnungen von Fachleuten, von Ingenieuren (für Ingenieure), in denen dannumgekehrt das äußere Gehäuse nur angedeutet wird. Georgius Agricola war nicht nur der besteKenner des Montanwesens seiner Zeit, er war auch ein Meister solcher Zeichnungen, die alsHolzschnitte in sein montanistisches Hand- und Lehrbuch De re metallica libri XII eingingen.– Zur mit Herrs Blatt vergleichenden Veranschaulichung soll vorerst der Holzschnitt mit dem(Trocken-)Pochwerk dienen (Abb. 2).

Abb.2: (Trocken-)Pochwerk. Holzschnitt aus G. AGRICOLA (1556), p. 220 (S. 244).

Aber, wie Silke Gatenbröcker hinsichtlich Michel Herrs Italien-Studienaufenthalt kon-statierte, dessen Verlauf nach der Lehrzeit und Gesellenprüfung (wohl 1609) in Stuttgart undder Übersiedlung nach Nürnberg sie aus datierten Skizzenblättern aus Rom (August und Sep-tember 1614) und Venedig (November 1614 und 1615) rekonstruiert17: „Die Reiseroute überMünchen und Tirol nach Italien, wie sie auch von anderen Nürnbergern bevorzugt wurde, istfür Michael Herr neben der Nachzeichnung von Sustris’ Wandgemälde im Münchner Grot-tenhof (Z 260) v[or] a[llem] wegen einer Bergbaudarstellung (Kat. Z 253 [des hier betrach-teten Blattes]) zu vermuten, die sich durch ihre dokumentarische Authentizität auszeichnet,weshalb Slotta die Autopsie eines Tiroler Bergwerkes voraussetzt...“ Nur: die genannte Nach-zeichnung des großen Wandbildes von Friedrich Sustris datiert sie aus stilistischen Gründengleichzeitig auf „um 1620“18, so dass sie kaum für einen Aufenthalt sechs Jahre zuvor als

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zeichnung (Z 349, fol. 6 r); siehe S. GATENBRÖCKER (1996), 456 f. und 552 f.19 R. SLOTTA (1981), wiederholt in R. SLOTTA / C. BARTELS (1990), 201 f. (Katalog Nr. 27).20 H. GEISSLER (1979), Bd 1, 220, worüber aber die von ihm herangezogene Quelle – BA-

ROCK IN NÜRNBERG (1962), Exponate A 97–107 – wiederum nichts besagt. Bezüglicheiner aus Datierungen von Zeichnungen erschlossenen Gesellenwanderung neben der Stu-dienreise nach Italien meldet S. GATENBRÖCKER (1996), 54, auch berechtigte Zweifel an.

21 M. LOCHERT (1990/b).

Zeugnis in Frage käme. Bliebe die von Rainer Slotta festgestellte Autopsie von Bergwerks-szenen in Tirol, die er an drei Stellen anspricht19:

(a) „Vor 1611 [korrekt: 1610] hielt er sich in Stuttgart auf, um auf seinen Wanderungen auchin Hall in Tirol Station zu machen.“

(b) „Das hier vorgestellte Blatt ist ein [...] Entwurf zu einem Buchfrontispiz der aufgrund derdargestellten Bergbauszenen mit seinem Aufenthalt in Tirol in Zusammenhang stehenkönnte.“

(c) „Dieses Blatt [...] ist ein genau beobachtetes Dokument des nach 1620 umgehendenBergbaus im alpinen Raum...“Für einen Aufenthalt in Hall in Tirol gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Er scheint aus dem

bergbaulichen Inhalt des vorliegenden Blattes (das Silke Gatenbröcker aber jetzt aufgrundeiner kunstgeschichtlich-vergleichenden Analyse korrekt auf „1618/19“ datiert; die ältereDatierung war wie bei Rainer Slotta „nach 1620“ gewesen) und dem unbeschwerlichsten Wegvon Nürnberg nach Italien über Innsbruck und den Brennerpass abgeleitet und in die vornürn-berger Zeit gesetzt worden zu sein, ohne zu bedenken, dass Herr gerade keinen Salzbergbau,wie er in Hall betrieben wurde,.darstellt; außerdem würde das Gesellenwanderjahre vor Ab-schluss seiner Stuttgarter Lehrzeit (1605/06 bis 1609/10) bedeuten. In der von Rainer Slottahierfür angegebenen Quelle heißt es denn auch20: „1611 ist er wahrscheinlich bei seiner Gesel-lenwanderung in Hall i. Tirol“. Zudem wäre das optische Gedächtnis, das über zehn Jahreüberraschende technische Details aus einem Herr sonst nicht interessierenden Umfeld bewahrt,phänomenal. Was Slotta aber schließlich in der Aussage (b) noch als eine (aus einem falschenSchluss gezogene) Möglichkeit des Jahre 1611 (die sich erst 1620 als Zeichnung nieder-schlüge) hinstellt, wird nach seiner Aussage (c) bei der Kunsthistorikerin dann zur „doku-mentarischen Authentizität“ im Jahre 1618/19 (aus der Erinnerung an ein Ereignis des Jahres1614 heraus, das seinerseits aufgrund der Verknüpfung mit belegbaren Lebensdaten aus ebender vom Kenner der Bergbaugeschichte vermeintlich erkannten „Authentizität“ erschlossenworden war); während Rainer Slotta selbst ohne jeden Anhaltspunkt vom „Hall“ seiner Quelleüber „Tirol“ zum „genau beobachtenden Dokument des nach 1620 umgehenden Bergbaus imalpinen Raum“ steigert und dabei Herr gleichzeitig prophetische Gaben unterstellt; soll er sichdoch bereits vor 1611 in Hall aufgehalten haben.

Aber was hätte Michel Herr denn als 18/19-jähriger junger Mann, der die italienische Ma-lerei kennen lernen wollte, in Hall, in Tirol oder im alpinen Raum auf seinem Weg nach Rom(oder zurück nach Nürnberg) an Erz-Bergbaurevieren vorfinden können, die um 1610/15 soflorierten, dass sie mindestens ein großes Pochwerk und drei Pferdegöpel in unmittelbarerNachbarschaft aufzuweisen gehabt hätten? Von Herrs Darstellungen her fallen Hall und dieOrte an Inn und Salzach mit Salzbergbau schon einmal weg21. Das Tiroler Erzbergbauzentrum

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22 H. DOPSCH (1994), 331; M. LOCHERT (1990/b).23 Siehe etwa L. SUHLING (1976).24 G. AGRICOLA (1556), p. 125–128 (S. 137–142). Agricolas ‚Noricum‘ bezieht sich auf

diese Salzburger Reviere; vgl. H. DOPSCH (1994), 335–340; generell zu diesem Reviervgl. K-H. LUDWIG / F. GRUBER (1987).

25 Wobei allerdings Protestanten die Durchreise durch Tirol damals durchaus auch verwehrtwurde, wie S. GATENBRÖCKER (1996), 54, aus einem Bericht des Nürnberger Baumeistersund Kartographen Hans Bien anführt, der 1618 in Innsbruck abgewiesen wurde, so dasser seine Reiseroute von Nürnberg nach Venedig ändern und den Umweg über Stuttgarteinschlagen musste.

26 Aus der Zeit um 1574 stammt die 62 x 73,5 cm große Federzeichnung (Goldpunkt-Riss)der Grubenfelder des Altenberger Zwitterstocks im Sächsischen Bergarchiv Freiberg (I.

in Schwaz war dann zwar lange Jahre in der Kupfer- und Silberproduktion führend gewesen;hier hatte sich aber trotz des Engagements Augsburger Handelshäuser „bereits nach dem Bau-ernkrieg 1525/26 ein allmählicher, aber unaufhaltsamer Niedergang abgezeichnet“22. Abgelöstwurde es im alpinen Raum durch die Salzburger Reviere von Gastein und Rauris an rechtenNebenflüssen der oberen Salzach. Hier war der durch den Holzraubbau direkt bedrohte Nie-dergang, den die Einführung des holzaufwendigen Seigerns noch beschleunigt hatte23, 1569dadurch vom Landesfürsten Herzog Ernst von Bayern abgewendet worden, dass er am Sal-zachufer zwischen den Zuflüssen des Rauriser Bachs und der Gasteiner Ache „eine gemeineGasteiner Lende“ (woraus der spätere Ortsname Lend entstand) einrichtete, wo Holz aus demPinzgau angelandet und zu Holzkohle für die gleichzeitig hier errichteten modernen Verhüt-tungsanlagen verarbeitet wurde. Daraufhin waren aber Verhüttung, Aufbereitung und För-derung des Erzes lokal getrennt, wobei das im Gebirge geförderte erzhaltige Gestein hier wiein Kärnten sowieso vor der Aufbereitung stets erst von Trägern und Tragtieren mühsam hattezu Tal gebracht werden müssen, wie schon Georgius Agricola beschrieb24. Der Niedergangdes Gastein-Rauris-Reviers hatte aber dennoch, nicht so sehr aufgrund der billigeren Importeaus Übersee, sondern hauptsächlich wegen der Erschöpfung der Lagerstätten (1567 hatte sichder Ertrag innerhalb von zehn Jahren halbiert, im frühen 17. Jahrhundert war er auf einZehntel geschrumpft), nicht aufgehalten werden können. 1616 verstaatlichte Erzbischof Mar-kus Sittikus die Reste des dortigen Bergbaus, um wenigstens dem Beschäftigungsnotstand ent-gegenzuwirken. – Im Gasteiner und Rauriser Tal dürften also kaum noch Anlagen anzutreffengewesen sein, wie sie Herr zeichnete. Zudem wäre die Alpenüberquerung durch das GasteinerTal über die Hohen Tauern sehr viel beschwerlicher gewesen als über den von Italienreisendenaus dem Norden meist benutzten Brenner, so dass Herr kaum zufällig hierher hätte kommenkönnen.25

Bedacht werden muss schließlich, dass die Darstellungen in den szenischen ‚Inseln‘ aufdem unteren Teil von M. Herrs Blatt sicherlich, wenn schon nicht unbedingt eine Einheit inRaum und Zeit, so doch ein Ensemble zusammengehöriger Details bilden sollten; und unterdiesem Gesichtspunkt spricht alles gegen Edelmetall-Erzbergbau und -Verhüttung als Inhalt.Vielmehr passt alles zusammen auf ein Zinnrevier und speziell auf die Zinnreviere im osterz-gebirgischen Meißner Land, etwa in Altenberg, das schon 1574 allein 40 Gruben besessenhatte, von denen zwölf mit einem Pferdegöpel versehen waren26, und das Georgius Agricola

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V. a. la P), abgebildet etwa bei B. ERNSTING (1994), 284 (Katalog Nr. 6.30). Siehe auchdas Verzeichnis nachweisbarer Göpel in europäischen Revieren bei H. PRESCHER / O. WA-GENBRETH (1994), 146, wonach Altenberg alle anderen Reviere weit übertraf, bis derOberharz 1606 gleichzog.

Abb. 3: Ausschnitte von Holzschnitten aus G. AGRICOLA (1556), oben von links: p. 80, 259, 171(S. 90, 284, 184) [interessant ist, daß Agricola ausdrücklich hervorhebt, daß einer der Haspler

schiebt, der andere zieht (so p. 118; S. 131), was hier und bei Herr nicht der Fall ist]; unten vonlinks: p. 282, 240, 248 (S. 306, 265, 273).

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27 Zur Aufbereitung von Zwitter durch Pochen, Sieben, Waschen in Schlämmgräben (für dasZinnerz erfunden), Trögen und auf Planherden sowie Brennen in Rundöfen siehe G. AGR-ICOLA (1556), p. 219–283 (S. 240–309) – danach auch H. PRESCHER / O. WAGENBRETH

(1994), 177–182 – und entsprechend in der zeitgenössischen deutschen Übersetzung vonPhilippus Bechius G. AGRICOLA (1557), p. CCXXIIII–CCXCII.

28 G. AGRICOLA (1546), p. 410 f.; AGA VI, S. 100 f., vgl. Georg Fraustadts Anmerkungen81 und 118 (S. 114 f. und 117) zu den böhmischen und 117 (S. 117) zu den von Agricolaebenfalls genannten vogtländischen Lagerstätten. – R. Slotta erwähnt in seinem Beitrag„Der Metallerzbergbau im Sächsischen Erzgebirge“ in R. SLOTTA / C. BARTELS (1990),59–64, das östliche Erzgebirge nicht.

29 G. AGRICOLA (1557).30 Zur deutschen Übersetzung und ihren Auflagen siehe H. PRESCHER (1985), 85–139.31 H. DICKMANN (1936); zum Bericht siehe R. SLOTTA / C. BARTELS (1990), 161–163

[Autor: CHRISTOPH BARTELS]. Moses Thyms Pferdegöpel (siehe ebendort S. 162) ist dann

nach Autopsie und Berichten seines von dort stammenden Vertrauten, des Leipziger Profes-sors Wolfgang Meurer, den Beschreibungen und Illustrationen im achten Buch seiner De remetallica libri XII zugrundegelegt hatte27. In seiner Erzlagerstättenkunde von 1546 hatte erauch die neueren Zinnerzgruben und -reviere aufgezählt und dabei das Meißner Land unddarunter wiederum Altenberg an erster Stelle genannt28, während es sich beim auch erwähntenZinnbergbau auf der böhmischen Seite des Erzgebirges nur um Zinnseifen handelte. In densächsisch-böhmischen Zinnbergbau war auch reichlich Geld aus Augsburg geflossen; und abder Mitte des 15. Jahrhundert war Nürnberg das deutsche Bronzegusszentrum geworden, wozuZinn ein unentbehrlicher Rohstoff war, so dass es hier durchaus auch näheren Bezug zumAltenberger oder generell zum erzgebirgischen Zinnbergbau gegeben haben kann, man zu-mindest Kenntnis von ihm hatte.

Eine Reise ins Erzgebirge ist für Michel Herr vor 1620 allerdings sicherlich ebenso un-wahrscheinlich wie ein weiter Umweg über unwirtliche Alpentäler und -pässe auf dem Wegnach oder von Italien zehn Jahre früher. Aber muss er denn all das, was er zeichnete, auchselber mit eigenen Augen gesehen haben? Kann er sich nicht fremder, kundigerer Augen be-dient haben, die ihm das ‚genaue Beobachten‘ abnahmen? In Abbildung 3 sind Ausschnitteaus Holzschnitten in De re metallica libri XII zusammengestellt, die (ergänzt durch das Poch-werk in Abbildung 2) durchaus als Vorlagen für die Bildzitate hätten dienen können – undzwar sogar, ohne dass Herr sie direkt dorther hätte nehmen müssen. Denn das bei Froben inBasel nach 1556 im Jahre 1561 erneut und in deutscher Übersetzung mit denselben Holz-schnitten 155729 (deren Restbestände 1580 Sigmundt Feyrabendt aufkaufte und in Frankfurterscheinen ließ) sowie 1621 gleichzeitig mit der lateinischen nochmals erschienene Werk30

stellte ja nicht nur über Jahrhunderte das unübertroffene Lehr- und Handbuch für Bergbau undHüttenwesen dar. Mit den darin enthaltenen Holzschnitten war und blieb es auch ‚Muster-buch‘ für montanistische Darstellungen in Malerei, Graphik und Skulptur.

So konnte auch nicht zuletzt aufgrund der Holzschnitte von Moses Thym Georg Engel-hardt Löhneyß’ erstmals 1617 in Zellerfeld erschienener Bericht vom Bergkwerck: Wie mandieselben Bawen/ und in guten Wolstandt bringen soll... mit seinen 15 Holzschnitt-Tafeln als„größtes Plagiat im berg- und hüttenmännischen Schrifttum“ bezeichnet werden31; übernahm

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mit allen Details übernommen worden von J. LEUPOLD (1725), Tabula XIII zu §§ 45 f.:„Ein so genannter Göpel / dadurch bey denen Berg=Wercken so wol Berg und Ertze alsauch Wasser ausgefördert werden“.

32 Vgl. K.-H. LUDWIG (1979), H. DOPSCH (1994), 339. Als Maler wurden Johann Weiß ausAugsburg und Benedikt Werkstätter, der 1757 einen großen Zyklus der Salzgewinnungin den Fürstenzimmern des Halleiner Pflegamtsgebäudes schuf, vorgeschlagen. Auftrag-geber war wahrscheinlich der Salzburger Berghauptmann Judas Thaddäus Anselm Lürzervon Zehendthal.

33 Zu erzgebirgischen Schnitzwerken bis in die Gegenwart siehe M. BACHMANN / H. PRE-SCHER (1993).

34 Katalog-Nr. 26 a und b in R. SLOTTA / C. BARTELS (1990), 198–201; 2 Zeichnungen des17. Jahrhunderts, Feder und Tusche (34,4 x 49 cm), Nürnberg, Staatsarchiv, Bildersamm-lung 108.1 und 2.

35 R. SLOTTA (1981), (4), und in R. SLOTTA / C. BARTELS (1990), 202.

er doch auch Formulierungen aus Agricolas Werk und der Beschreibung: AllerfürnehmistenMineralischen Ertz / vnnd Berckwercksarten [...] wie dieselbigen auf alle Metalen Probiretwerden von Lazarus Ercker (zuerst Prag 1574, dann Frankfurt 1580 und 1598 usw.) teilweisewörtlich. Die Agricola-Holzschnitte bildeten noch etwa 175 Jahre später die am häufigstenverwendete Bildvorlage in dem Zyklus von acht farbenprächtigen, detailgenauen Ölgemäldenaus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit wichtigen Szenen aus dem Bergbau, der sichim Salzburger Museum Carolino-Augusteum befindet. Maler und Auftraggeber des Bilder-zyklus sind zwar unbekannt32, doch ist der Entstehungsort des Zyklus eindeutig das SalzburgerSalzbergbaurevier, das selbst ausreichend Anschauungsmaterial hätte bieten können.33

Für zwei andere, erstmals bekannt gemachte, offenbar zusammengehörige Zeichnungen des17. Jahrhunderts im Nürnberger Staatsarchiv hat R. Slotta schon selber feststellen können34, „daßDarstellungen aus Georgius Agricolas ‚De re metallica‘ [...] als Vorbilder gedient haben: Siedürfte[n] eine Gesamtkomposition zahlreicher Einzelbilder aus Agricolas Werk sein.“ Dies giltauch für das Blatt von Michel Herr, und die Auswahl zusammengehöriger Vorlagen war durchden deutschen Übersetzungstext auch einem nicht des Lateinischen Kundigen möglich.

Die Bergbauszenen seines Entwurfes wären folglich nicht aus einer besonderen Gele-genheit heraus, etwa der Besichtigung eines Bergwerks (die dann möglicherweise zu er-schließen wäre, wie es ja bisher versucht wurde) entstanden, sondern für eine besondere Gele-genheit, etwa eine Auftragsarbeit, verwendet worden, für die sie dann gezielt ausgesucht wor-den sein müssten. Das für diesen Zusammenhang beabsichtigte Grundmotiv muss deshalbauch nicht notwendig montanistischer Art sein, wie Rainer Slotta aufgrund teilweise fragwür-diger Deutungen annimmt35: „Solche Bildszenen sind am ehesten in einem montanistisch-alchimistischen Zusammenhang zu verstehen. Der (tirolische?) Gold- und Silberbergbau magder Hintergrund gewesen sein. Aus dem Berg kommt das Leben (‚vivificat‘), man huldigt denErträgen, hofft auf andauernde Ausbaute, die der Herr geben möge (‚sanctificat‘), man hat eszu solchem Wohlstand gebracht, dass man den Leidtragenden Heilmittel geben kann (‚purifi-cat‘): Grundlage dieses Wohlstands aber ist der reiche, blühende Bergbau (‚fructificat‘).“

Peter Hartwig Graepel erweiterte in einem Aufsatz von 1998 diese von ihm zitierte Per-spektive durch pharmazeutische Aspekte und stellte auf seine Frage, was dieses Blatt der Phar-

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36 H. P. GRAEPEL (1998), 44.37 Der Heidelberger Katechismus von 1563, der eine gleich weite Verbreitung fand wie der

Kleine Katechismus Martin Luthers und eine weit größere als der gesamte Liber concordiae,beantwortet entsprechend diesem ‚sola fide‘-Prinzip Frage 60, „Wie bist du gerecht vorGott?“ (nicht: Wie wirst du gerecht vor Gott?), mit den Worten: „Allein durch wahren Glau-ben in Jesum Christum; also daß [...] Gott ohn alle meine Verdienste, aus lauter Gnaden, mirdie vollkommene Genugtuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi schenket und zurechnet,als hätte ich nie eine Sünd begangen noch gehabt...“ Nicht der Mensch kommt, wie nachkatholischer Rechtfertigungslehre, durch Frömmigkeit und ‚gute Werke‘ zu Gott, sondernGott ist hiernach in Christus zum Menschen gekommen, um ihn in seiner Sündhaftigkeitaufzunehmen und aus freier Gnade zu rechtfertigen.

maziegeschichte sagen könne, fest36: Zum einen sei es ein Zeugnis dafür, dass in Nürnbergdamals Medikamente von Apothekern direkt über eine Fensterbank auf die Straße verkauftwurden, zum anderen dafür, „daß viele Medikamente mineralischen Ursprungs waren. [...]Medikamente mineralischen Ursprungs (‚Anorganika‘) hatten durch Paracelsus im 16. Jahr-hundert einen großen Aufschwung genommen [...]. Der Bergbau war nun zu einem wichtigenLieferanten für Arzneimittel geworden, und so liegt es auch nahe, daß dieses Frontispiz ent-weder für ein (Lehr-)Buch über den Bergbau, die Bergbautechnik oder über anorganische Arz-neimittel und deren Gewinnung bestimmt sein konnte.“

Wie Rainer Slotta übersetzt er die Worte „gratia gratis“ in der Kartusche über dem Apo-thekenfenster, aus dem heraus der ‚Apotheker‘ seine Arznei abgibt, mit „Dank ist umsonst“.Aber was könnte damit gemeint sein? Die Worte ergäben kaum einen Sinn, höchstens denmoralischen, dass Dank nichts koste und deshalb ruhig ausgesprochen werden könne. Dafürgäbe es aber keinen bildlichen Anhaltspunkt. Die Alliteration ‚gratia gratis‘ bedeutet vielmehr:„die Gnade ist umsonst“ (nicht: vergebens). Gemeint ist Gottes oder Christi Gnade, und dasheißt: Gott und Christus erweisen dem Gläubigen ihre Gnade ohne Gegen- und Vorleistung– aber nur gemäß der Rechtfertigungslehre Martin Luthers37, die schon immer einen Zentral-punkt der konfessionellen Auseinandersetzungen gebildet hatte, vor allem auch in den Glau-bensauseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges, in dem wir uns 1619 ja befinden.Genau in diesem Sinne hatte schon die Apostelgeschichte (15, 8–11) bezüglich der JüngerJesu verkündet: „Vnd Gott der Hertzkündiger zeugete vber sie / vnd gab jnen den heiligenGeist / gleich wie auch vns / vnd macht kein vnterscheid zwischen vns vnd jnen / Vnd rei-nigete jre Hertzen durch den glauben. Was versucht jr denn nun Gott / mit aufflegen des Jochsauff der Jünger helse / welches weder vnser Veter / noch wir haben mügen tragen? / sondernwir gleuben / durch die gnade des Herrn Jhesu Christi selig zu werden / gleicherweise wieauch sie.“ Und Luther glossierte die Worte „kein vnterscheid“ in einer Marginale: „Das heisseton Gesetz vnd verdienst selig worden.“ – Michel Herr war geborener und überzeugter Pro-testant, wie auch seine Bilder und Graphiken immer wieder bezeugen.

Dieser in den Worten ‚gratia gratis‘ enthaltene Bezug gibt dann auch sofort den Bei-schriften der vier Bilder einen schlüssigen Sinn. Nicht der gleichsam personifizierte ‚Bergbau‘ist hier als Subjekt zu ergänzen, wie es Rainer Slotta seiner Interpretation zugrundelegt, son-dern ‚deus‘, Gott(vater) oder Gott(sohn) Jesus Christus: (deus) vivificat – Gott schafft Leben,erweckt zum Leben, macht lebendig (das Bild erinnert an Darstellungen der Schöpfung, hier

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38 In pharmazeutisch-medizinischem Sinne wäre wohl auch zu Beginn des 17. Jahrhundertseher an die alte, verbreitete humoralpathologische Lehre des ‚Purgierens‘ zu denken, der-gemäß die Arzneien den Körper von den schädlichen Säften reinigen (wie Christus dieSeelen der Gläubigen von den Sünden), indem sie sie abführen, als an paracelsische ‚arca-na‘ der neuen Iatrochemie.

39 H. G. PÖHLMANN (2000), 555 (§ 504).40 H. G. PÖHLMANN (2000), 631 (§ 647).

nach dem vierten Tag); (deus) sanctificat – Gott macht heilig; (deus) purificat – Gott machtrein, befreit (nämlich den Gläubigen von den Sünden, und das ‚umsonst‘38); (deus) fructificat– Gott erzeugt Früchte, Erträge (deren Nutzung durch den Menschen ja für den Christenbekanntlich seit dem Sündenfall mit großen Mühen verbunden ist).

Durch das Mauerwerk werden Schriftträger und die drei oberen Bilder zu einer Einheitzusammengefasst:

Das obere stellt das Werk des Schöpfergottes (Gottvater) nach dem vierten Tag dar(Genesis 1, 14–19), als mit Tag und Nacht die Voraussetzungen für die Erschaffung des‚Lebens‘, der Wasser- und Landbewohner, geschaffen waren (siehe auch Psalm 74, 16). Auchdie bergwerklich ausgebeutete ‚Erde‘ im gegenüberliegenden, unteren Bild nutzt nur diesenTeil der Schöpfung.

Das linke Bild mit dem Betenden und der Kirche gibt den Sinn des 3. Artikels („Von derHeiligung“) des 2. Hauptstücks (Glaubensbekenntis) des Kleinen Katechismus wieder: „Ichglaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Ver-gebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ Martin Luther erläutertdiesen Teil des Glaubensbekenntnisses39: „Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft nochKraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Hei-lige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechtenGlauben geheiligt und erhalten; gleichwie die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt,erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben; in welcher Chri-stenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tagmich und alle Toten auferwecken wird...“ Der große Katechismus führt ergänzend zum 4. Ge-bot unter anderem aus40: „Vor Gott macht ja ausschließlich der Glaube heilig.“ – und der Hei-delberger Katechismus beantwortet die 116. Frage, warum den Christen das Gebet nötig sei:„Darum, daß es das vornehmste Stück der Dankbarkeit, welche Gott von uns erfordert, unddaß Gott seine Gnade und Heiligen Geist allein denen will geben, die ihn mit herzlichem Seuf-zen ohn Unterlaß darum bitten und ihm dafür danken.“

Johann Arndt, der insbesondere mit seinem erstmals 1610 in vier Büchern erschienenen,sehr häufig wieder aufgelegten Erbauungswerk Vom wahren Christentum den Pietismuseinläutete, beginnt in seinem Paradies-Gärtlein voller Christlicher Tugenden, wie solche zurÜbung des wahren Christentums durch andächtige, lehrhafte und trostreiche Gebete in dieSeele zu pflanzen (zuerst Magdeburg 1612) die zweite Klasse mit Dankgebeten „für die Wohl-taten Gottes, unseres Herrn Jesu Christi und des Heiligen Geistes nach den drei Hauptartikelnunseres christlichen Glaubensbekenntnisses“ mit einem Morgen- und einem Abendsegen, der

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41 Zitiert nach J. ARNDT (1996), 917 f.42 Zitiert nach J. ARNDT (1996), 918 f.43 Zitiert nach J. ARNDT (1996), 950.44 Zitiert nach J. ARNDT (1996), 78J.45 J. ARNDT (1996), 68: „Hier ist ein heller Spiegel auf einem Tisch, in welchem sich die Son-

ne helle spiegelt; also spiegelt sich auch in einer gläubigen Seele die Klarheit des Herrn,oder das Bild Gottes mit aufgedecktem Angesicht. Es spiegelt sichn in uns allen des HerrnKlarheit mit aufgedecktem Angesichte, und wir werden verkläret in dasselbige Bild, voneiner Klarheit zu der andern [als vom Geist des Herrn] (2. Kor. 3, 18).“

46 Zitiert nach J. ARNDT (1996), 69 / 71.47 S. GATENBRÖCKER (1996), 449.

Gott für die Erschaffung von Tag und Nacht dankt41. Das dritte Gebet dankt für das geof-fenbarte Wort42, „dadurch hast du uns berufen zur Gemeinschaft deiner heiligen Kirche. Deinheiliges Evangelium ist auch eine Kraft Gottes, selig zu machen alle, die daran glauben. Da-durch erweckest du in uns den Glauben, gibst uns den Heiligen Geist, lässest uns Vergebungder Sünden verkündigen. [...] Durch Gottes Wort werden wir geheiligt und an Leib und Seelegesegnet.“ (hier klingt 1. Tim. 4,5 an: „Denn es wird geheiliget durch das wort Gottes vndgebet.“) – und das 25. für die Offenbarung des Heiligen Geistes43, „ein ewiger, allmächtigerGott, gleich ewig und allmächtig mit dem Vater und dem Sohn, der du ausgehest und gesandtwirst vom Vater und dem Sohn, als ein Geist des Vaters und des Sohnes, und machest uns zuTempeln und Wohnungen der Heiligen Dreieinigkeit, der du uns gebierest, erleuchtest, heiligstund tröstest!“ Im dritten Kapitel des Liber scripturae überschriebenen ersten Buches Vomwahren Christentum heißt es, dass für die Erneuerung des Menschen „in Christo“ der HeiligeGeist verantwortlich sei, durch den „unsere Natur erneuert, gereigit und geheiligt werden“müsse44. Das erste Kapitel verwendet dann im Anschluss an den 2. Paulus-Brief an die Ko-rinther 3, 18 auch die Metapher des Spiegels (sogar in einer Abbildung45), der verdeutliche,wie Gott den Menschen als Abbild seiner selbst erschaffen habe, in dem daraufhin „derMensch Gott, seinen Schöpfer, und sich selbst erkennen“ könne, aber auch „daß er dadurchmit Gott vereinigt wäre und daß in dieser Vereinigung des Menschen höchste Ruhe, Friede,Freude, Leben und Seligkeit stünde“46.

Herr muss natürlich nicht genau diese Textstellen im Sinn gehabt haben; aber sie sindAusdruck der Reflexionen in der protestantischen Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahr-hunderts, deren Inhalte besonders in der lutherischen Enklave Nürnberg innerhalb des katho-lischen Bayern zur kämpferischen Verteidigung und Vertiefung des evangelischen Glaubensdienten. Nürnberg war damals süddeutsches Druckzentrum für solche Werke, was auch denCharakter des Blattes als Entwurf für ein Frontispiz zu einem solchen Werk aus dem Bereichder protestantischen Erbauungsliteratur erklärte, einem Gebet-, Trost-, Erbauungsbuch oderpopulären Bibelkommentar.

Silke Gatenbröcker stellt zur Apothekendarstellung im rechten Bild immerhin erstmalsfest, dass sie in der Darstellung „an Herrs Gemälde in Marburg (G 1) erinnert“47, ohne jedochdarauf und insbesondere auf mögliche inhaltliche Bezüge näher einzugehen. Peter HartwigGraepel, der dieses Bild ausdrücklich und ausführlich, aber nur als ein weiteres in der Pharma-

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48 P. H. GRAEPEL (1998), 43.49 Erstmals erkannt bei F. KRAFFT (2000); siehe auch F. KRAFFT (2001), 206–213, und

(2002), 142 f..50 Die Läden sind im Entwurf, der das Gebäude um 90° dreht, seitlich angebracht und nach

außen geklappt, im Gemälde oben angebracht und nach innen hochgeklappt. 51 Die rechte Figur auf dem Gemälde trägt Stock, Kürbisflasche und Leprosenklapper.

ziegeschichte bekanntes Werk von Michel Herr erwähnt48, übersieht dagegen die Ähnlich-keiten und Übereinstimmungen, die schließlich zu der eindeutigen Interpretation der Szenemit ‚Christus als Apotheker‘ in der ‚Himmelsapotheke‘ führen49 (siehe Abb. 4).

Abb. 4: Christus als Apotheker in der Himmelsapotheke. Öltafelbild auf Kupfer (26,6 x 35 cm)von Michel Herr (07.02.1619) (Marburg, Universitätsmuseum für Kunst und Kulturgeschichte,

Inv.-Nr. 7040).

In beiden Fällen ist die ‚Apotheke‘ ebenerdig in einem von zwei Straßen umgebenen Eck-gebäude untergebracht. Sie öffnet sich an den beiden Außenseiten durch große Fenster mitaufgeklappten Läden50 einem für eine damalige Apotheke ungewöhnlich zahlreichen Publi-kum, das zudem, wie die Attribute zeigen, aus Bettlern, Krüppeln, Aussätzigen51 und einfa-chem Volk besteht, das sich teure Ärzte und Arzneien gar nicht leisten konnte. Im Genrege-mälde wird die Szene natürlich weiter ausgeschmückt, aber auch hier hält eine Figur im Vor-

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52 Die eigentliche Signatur steht auf der Unterseite (Außenseite) der rechten Fensterlade:„Jesus Liber Maister erbarme dich Unser. Luce 17. MDCXIX. Mensi Februarius 7. /Niermberg / Michel Herr, Fecit“.

53 Ausführliche Bildbeschreibung bei F. KRAFFT (2001), 198–206 und Farbtafel auf S. VI,sowie (2002), 136–139 und 128 (Farbtafel), in der Liste bei W.-H. HEIN (²1992) Bild-Nr.119. – Ähnlich wie der Frontispiz-Entwurf stellt ein Holzschnitt aus einem noch nichtidentifizierten protestantischen Bibelkommentar, Gebets- oder Erbauungsbuch um 1650die Szenerie dar; siehe F. KRAFFT (2002), 152–155 und 120 (Farbtafel), W.-H. HEIN

(²1992) Bild-Nr. 15.54 Mt 9, 12 Die Starcken dürffen des Artztes nicht / Sondern die krancken. – Die Bibelverse

werden hier in der Übersetzung Martin Luthers nach der Ausgabe letzter Hand (Witten-berg: H. Lufft 1545) zitiert.

55 Mt 11, 28: Kompt her zu mir / alle die jr müheselig vnd beladen seid / Ich wil eucherquicken.

56 Jes 55, 1: Wolan alle die jr Dürstig seid / komet her zum Wasser / Vnd die jr nicht Gelthabt / kompt her / keuffet vnd esset / Kompt her vnd keufft on gelt vnd vmb sonst / beidewein vnd milch.

dergrund (wohl ein Selbstporträt des Malers) ein Rezept in der Linken, jetzt beschriftet mit:„Mein Hoffnung zu Gott [...] Hilff Mier / MH [nämlich: Michel Herr52]“. Durch das Fenster,durch das der ‚Apotheker‘ die Arzneien abgibt, blickt man jeweils in das Innere einer Apo-theke mit Standgefäßen und Schachteln in einem Repositorium. Auf dem Gemälde ist der‚Apotheker‘ durch seinen Heiligenschein und die für Christus-Bilder typische Bekleidungeindeutig als Christus dargestellt, was weitere Attribute und Zutaten des Bildes absichern53.Er wägt mit einer Handwaage, wie sie Apotheker benutzten, die für seine Arznei erforderli-chen Ingredienzien ab. Dies sind hier kleine Kreuze, die er einem Kräutersack entnimmt, alsSymbole seines eigenen, die Menschheit erlösenden Leidens und der Leiden, die er dem Sün-der zur Kräftigung seines Glaubens als ‚Kreuz‘ auferlegt. Hier sind auch auf eine Triumph-fahne, die von über Christus schwebenden Putten gehalten wird (wie das Spruchband auf demEntwurf), syntaktisch verbundene Versatzstücke aus Bibelversen geschrieben, die Inhalt undAbsicht des Bildes verdeutlichen:

„Ich Bin der Herr dein / Artzt, dein heiland, / Vnd ein Meister Zuhilf / Der all dein gebre-chen / heilet, Exod.15 / ESA. 45, 60, 63, / PSALM 103. / Die starcken dörffen [= bedürfen]deß Artztes nicht / Sundern die Krancken, darumb kompt / alle Zu mir die ihr miehselig Vnd/ Beladen seit, Jch will euch erquicken. / Kompt Her Vnnd kaufft ohne gelt, / Vnnd umb sunst.Math. 9.12 [und 11.18], Esa 55, Johan: 7.“

Text und Darstellung erklären sich somit gegenseitig: Nicht die Starken und Reichen, diesich Arzt und Apotheker leisten können], sondern die Schwachen und Kranken strömen herbeiund belagern regelrecht den Heiland (Mt 9, 1254) und folgen damit seinem Ruf (Mt 11, 28, inder Luther-Tradition auch als „Heilandsruf“ bezeichnet)55. Sie alle erhalten ,Erquickung‘ undVergebung der Sünden, weil der ,himmlische Apotheker‘ kein Geld nimmt, sondern seineArzneien kostenfrei abgibt (Jes 55, 156).

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57 Siehe dazu J. A. Steiger (1999) und A. Rieke-Müller (2003), 116–120.58 Siehe hierzu F. KRAFFT (2003).59 Für die sogar der Ausgangspunkt, eine Musterzeichnung, erhalten ist; siehe in der Liste

W.-H. HEIN (²1992) Bild-Nr. 98; vgl. auch F. KRAFFT (2002), 208–212. 60 Siehe hierzu F. KRAFFT (2003), 169–175.

Das Bild entspricht damit mehreren der Forderungen, die Martin Luther an reformatori-sches Bildgut gestellt hatte57: Die Ikonographie soll Christus nicht als Schmerzensmann undLeidenden oder als Weltenrichter darstellen, sondern lieblich und als Freund und Erlöser derMenschen, besonders der Armen und Kranken; sie soll der Illustrierung und Erklärung vonChristi Wort und von Aussagen der Bibel dienen, um sie dem Betrachter besser einzuprägen;und sie soll schließlich hierzu das Alte Testament als prophetische Hinführung zum Ge-schehen des Neuen Testaments deuten. In diesem Sinne werden hier insbesondere die VerseMt 11, 28 und Jes 55, 1 zu einer syntaktischen und exegetischen Einheit zusammengefasst.Auch das scheint zwar durch die Erbauungsliteratur und zeitgenössische Bibelexegese vorge-geben gewesen zu sein; doch ist es hier im Gemälde Michel Herrs erstmals ins Bild gesetzt,‚verbildlicht‘. Die damit verbundene propagandistische Stoßrichtung kämpferischer Verteidi-gung der protestantischen Glaubensinhalte bildete dann den Inhalt einer rasch einsetzendenund lange währenden Tradition, für die das Herrsche Genrebild ‚Christus als Apotheker in derHimmelsapotheke‘ durch radikale Abstraktion auf den Akt des Wägens durch Christus miteiner Auswahl von Gefäßen mit christlichen Seelenarzneien vor sich (auf Herrs Bild vorerstnur die paulinischen Kardinaltugenden Glaube, Liebe und Hoffnung) verkürzt und konzentriertwurde (siehe das Beispiel in Abb. 5)58. Der ‚Heilandsruf‘ Mt 11, 28 wird auf jedem der bislangmehr als 150 bekannt gewordenen Bilder mit diesem Motiv zitiert, auch in der als Reaktionzu dieser Tradition spätestens 1650 entstandenen katholischen Abwandlung59, in der dieEucharistie als das eigentliche Seelen-Heilmittel propagiert wird. Dagegen befindet sich derJesaja-Vers (55, 1) ausschließlich, aber auch stets auf den protestantischen Bildern, so dasssein Auftreten regelrecht als Indiz für eine protestantische Herkunft des Bildes dienen kann.Er wurde zwar noch nicht bei Martin Luther selbst, aber spätestens im frühen 17. Jahrhundertals biblischer Kern-Beleg und Leitvers für das ‚sola fide‘-Prinzip der lutherischen Rechtferti-gungslehre immer wieder verwendet60, demgemäß der gläubige Christ allein aufgrund seinesGlaubens an Christus als Gottes Sohn von seinen Sünden erlöst wird, ohne Vor- und Gegen-leistungen erbracht haben zu müssen, die der Katholizismus weiterhin als Vorbedingungenverkündete. – Dieses kirchenspalterische Prinzip stellt ja auch heutzutage noch das größteHindertnis für ökumenisches Denken und Handeln dar.

Christus erlöst mit seinen himmlischen Arzneien den Menschen von den Sünden alleinaufgrund dessen Glaubens, seine sich darin ausdrückende Gnade ist „umsonst“, so dass sieauch und gerade Mittellosen zukommen kann. Diese Aussage, die Herr auf seinem Bild zu-sätzlich durch die Fahneninschrift ausdrückt (Einheit von Schrift und Bild) und die er in denWorten „Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst“ aus dem Jesaja-Vers als Quintessenzgipfeln lässt, fokussiert Herr auf dem Frontispiz-Entwurf in den beiden Worten: „gratiagratis“. Dieser auch inhaltlich enge Bezug zwischen Bild und Zeichnung, die zudem im selbenJahr 1618/19 entstanden sind, sichert dann auch die Deutung des rechten Bildchens auf derZeichnung als ‚Christus als Apotheker‘ (in der ‚himmlischen Apotheke‘) und bezeugt damit

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61 Zu den unmittelbaren Nachwirkungen der beiden Darstellungen von M. Herr außerhalbder Tradition des verkürzten Sinnbildmotivs siehe F. KRAFFT (2001), 215–233.

62 S.GATENBRÖCKER (1996), im Tafelteil zu Z 253.63 S.GATENBRÖCKER (1996), 450. S.GATENBRÖCKER (1991), 100.

Herrs intensive geistige und gestalterische Auseinandersetzung mit der lutherischen Recht-fertigungslehre und ihrer Propagierung durch die Verbildlichung des Heilandsrufs auf derGrundlage der uralten, schon von Chrysostomos verkündeten und in der Erbauungsliteraturausgiebig verwendeten Metapher der Heiligen Schrift als ‚Schatzkammer‘ (Apotheke) derSeelen-Arzneien. Es spricht vieles dafür und bisher nichts dagegen, dass Michel Herr es selberwar, der diese Verbildlichung erstmals durch die Umsetzung des Verbalen ins Darstellendevornahm und damit das Sinnbildmotiv ‚Christus als Apotheker‘ schuf.

Die drei auf dem Entwurf durch das im Stile des Manierismus ruinenhafte Mauerwerkoptisch zusammengehaltenen Bilder stellen eine Allegorese des dreieinigen Gottes dar, mitGottvater als Schöpfergott (oben), Gottsohn Jesus Christus (rechts) und dem Heiligen Geist(links), sowie dessen, was sie für den (gläubigen) Menschen jeweils bedeuten. Dazu wird dasBild der Schöpfung nach vier Tagen durch die menschliche Nutzung dieses Teils der Schöp-fung im unteren Teilbild mit dem Zinnbergbau und der besonders arbeitsaufwendigen Aufbe-reitung des geförderten Zinnerzes ergänzt, die sich aus zugänglichen Mustervorlagen ausführ-lich und detailliert darstellen ließen.

Fasst man die Ergebnisse der hier vorgelegten Analyse zusammen, so kann es sich bei derZeichnung von Michel Herr eigentlich nur um den Entwurf für ein protestantisches Erbau-ungs- oder Gebetsbuch handeln, was für Nürnberg als Verlagsort gerade auch für solcheLiteratur nichts Ungewöhnliches gewesen wäre. In der Folgezeit ist das hier kreierte Bildmotiv‚Christus als Apotheker‘ dann auch in diese Literaturform eingegangen61. In diese Richtunghat auch schon die Interpretation der Gesamtbildaussage der Zeichnung durch die Kunsthisto-rikerin Silke Gatenbröcker gewiesen, wenn sie auch für die Apothekenszene noch nicht deninhaltlichen Zusammenhang mit dem Tafelbild von Herr und dem Motiv ‚Christus als Apo-theker‘ erkannt hatte. Sie nennt die Zeichnung ja weiterhin „Bergbau-Frontispiz“62, so dasssie den eigentlichen Sinn noch als das „in übertragenem Sinn“ Dargestellte andeuten muss63:„Allegorisch spielt es [das Blatt] mit seinen Titeln auf das Wirken eines allmächtigen Schöp-fers an, der das Leben schafft, für dessen geistige Erhöhung sorgt und die Menschen vonKrankheiten heilt, was auch im übertragenen Sinn zu verstehen ist: er befreit die Menschenvon ihrer Sünde. Er sorgt für die Existenz seiner Geschöpfe, indem er sie das gewinnen läßt,was die Erde hervorbringt.“ Sie hatte diese Formulierung aus ihrem Ausstellungkatalog von1991 übernommen, dabei aber den dort folgenden zusammenfassenden Satz weggelassen, derdas Blatt besser charakterisiert: „Zusammengefaßt handelt es sich also um Gotteslob in einerfür den Protestantismus charakteristischen Form, die die Aufforderung an den Menschenbeinhaltet, sich der erwiesenen Gnade würdig zu erweisen, indem er die zur Verfügunggestellten Möglichkeiten mit Fleiß benutzt.“

Der beim städtischen Publikum nicht so geläufige Bergbau dient dabei als Bild-Metapherfür die seit dem Sündenfall dem Menschen zur Erringung seines Lebensunterhalts auferlegtenMühen, zu deren Erleichterung sich der Mensch allerdings durchaus der ihm von Gott zur

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64 Siehe zu diesem Aspekt im 16. und 17. Jahrhundert vor allem im Protestantismus A.STÖCKLEIN (1969), 35–59, sowie F. KRAFFT (1999), 64–68.

65 Zur möglichen Auftragslage für das Tafelbild siehe F. KRAFFT (2001), 199–201.

Annäherung an die ursprüngliche Perfektion gegebenen Künste und Techniken bedienen soll64.Und gerade das war im Bergbau besonders augenscheinlich zu demonstrieren, und innerhalbdessen galt die Zinnerzgewinnung als besonders aufwendig.

Der Bergbau dient hier also als Metapher für die Mühen und Plagen, die der Mensch zurErringung seines Lebensunterhalts (nach dem Sündenfall) aufzubringen hat, und der Gott-gefälligkeit, ja Gottgegebenheit der technischen Hilfsmittel, derer er sich dazu bedienen kann.Es ist dieses Fremdverständnis des Bergbaus innerhalb eines nicht dem Bergbau selbstgewidmeten Zusammenhangs, das unser Blatt zu einem bemerkenswerten kulturhistorischenZeugnis für den Bergbau des frühen 17. Jahrhunderts macht. – Leider ließ sich bisher wederermitteln, ob der Entwurf auf einen Auftrag zurückgeht65, noch auch, ob er zu einem Kup-ferstich als Vorlage benutzt wurde oder als Frontispiz für ein entsprechendes Werk der Erbau-ungsliteratur Verwendung gefunden hat.

Abb. 5: Christus als Apotheker (um 1630). Ölbild (107 x 97 cm) unbekannter Herkunft in derevangelischen Pfarrkirche Plötzin.

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