Fritz Krafft: Otto von Guericke über den Zusammenhang von Unwettern und Kometen sowie deren daraus...

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1 Ottonis de Guericke Experimenta Nova (ut vocantur) Magdeburgica de Vacuo Spatio, Primum à R. P. Gaspare Schotto, è Societate Jesu, & Herbipolitanae Academiae Mathe- seos Professore: Nunc verò ab ipso Auctore Perfectiùs edita, variisque Experimentis aucta. Quibus accesserunt certa quaedam De Aeris Pondere circa Terram; de Virtutibus Mundanis, & Systemate Mundi Planetario; sicut & de Stellis Fixis, ac Spatio illo Immenso, quod iam intra quam extra eas funditur. Amsterdam 1672 – im Folgenden zitiert als Exp mit Buch in römischen und Kapitel in arabischen Ziffern sowie p[agina], die deutsche Ausgabe (siehe Anm. 2) mit S[eite]. 2 Otto von Guerickes Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den leeren Raum. Nebst Briefen, Urkunden und anderen Zeugnissen seiner Lebens- und Schaffensge- schichte übersetzt und herausgegeben von Hans Schimank unter Mitarbeit von Hans Gossen †, Gregor Maurach und Fritz Krafft. Düsseldorf 1968 – die Zusätze zum deut- schen Text der Experimenta nova (XXI und 306 Seiten) sind hier unter dem Titel ‚Quellen und Dokumente zur Geschichte von Otto von Guerickes Leben und Forschen‘ [zitiert als QuD] gesondert in Klammern paginiert: (I)–(IV) und (1)–(392). Der deutsche Text ist nachgedruckt in F. Krafft (Hrsg.): Otto von Guerickes Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den Leeren Raum. Mit einer einleitenden Abhandlung „Otto von Gue- ricke in seiner Zeit“. Düsseldorf: VDI-Verlag (später: Berlin u. a.: J. Springer) 1996. - 1 - Krafft-Nr.695 Ingrid Kästner (Hrsg.): Von Kometen, Windhosen, Hagelschlag und Wetterballons – Beiträge zur Geschichte der Meteorologie. Beiträge der Tagung der Akademie gemeinnütziger Wis- senschaften zu Erfurt 18./19. Oktober 2013 in Erfurt. (Europäische Wissenschaftsbeziehun- gen, 8) Aachen: Shaker Verlag 2014, S. 99–122: Fritz Krafft Otto von Guericke über den Zusammenhang von Unwettern und Kometen sowie deren daraus resultierende Vorhersage Eberhard Knobloch zum 70. Geburtstag in Freundschaft gewidmet Otto von Guerickes 1672 erschienenes epochale Werk Experimenta nova (ut vocantur) Magdeburgica de vacuo spatio 1 umfasst in der Druckausgabe von 1672 insgesamt sieben Bücher. Aber obgleich drei davon ausschließlich astronomisch-kosmologischen Inhalts sind und zusammen mit dem vierten Buch über die kosmischen Kräfte die Konse- quenzen aus seiner Entdeckung der Leere des interplanetarischen Raumes aufweisen und einer Lösung zuzuführen suchen, fanden und finden diese Aspekte des gueri- ckeschen Werkes nur wenig Resonanz. Das gilt trotz meiner Kommentierungen der entsprechenden Bücher in der großen deutschen Ausgabe von 1968 2 und trotz meinem Forschungsbericht, der 1978 in der Reihe ‚Erträge der Forschung‘ der Wissenschaft- lichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienen war. Darin sind immerhin die bis dahin wirklich vernachlässigten astronomisch-kosmologischen Aspekte aufgewiesen und in

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1 Ottonis de Guericke Experimenta Nova (ut vocantur) Magdeburgica de Vacuo Spatio,Primum à R. P. Gaspare Schotto, è Societate Jesu, & Herbipolitanae Academiae Mathe-seos Professore: Nunc verò ab ipso Auctore Perfectiùs edita, variisque Experimentisaucta. Quibus accesserunt certa quaedam De Aeris Pondere circa Terram; de VirtutibusMundanis, & Systemate Mundi Planetario; sicut & de Stellis Fixis, ac Spatio illo Immenso,quod iam intra quam extra eas funditur. Amsterdam 1672 – im Folgenden zitiert als Expmit Buch in römischen und Kapitel in arabischen Ziffern sowie p[agina], die deutscheAusgabe (siehe Anm. 2) mit S[eite].

2 Otto von Guerickes Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den leeren Raum.Nebst Briefen, Urkunden und anderen Zeugnissen seiner Lebens- und Schaffensge-schichte übersetzt und herausgegeben von Hans Schimank unter Mitarbeit von HansGossen †, Gregor Maurach und Fritz Krafft. Düsseldorf 1968 – die Zusätze zum deut-schen Text der Experimenta nova (XXI und 306 Seiten) sind hier unter dem Titel ‚Quellenund Dokumente zur Geschichte von Otto von Guerickes Leben und Forschen‘ [zitiertals QuD] gesondert in Klammern paginiert: (I)–(IV) und (1)–(392). Der deutsche Text istnachgedruckt in F. Krafft (Hrsg.): Otto von Guerickes Neue (sogenannte) MagdeburgerVersuche über den Leeren Raum. Mit einer einleitenden Abhandlung „Otto von Gue-ricke in seiner Zeit“. Düsseldorf: VDI-Verlag (später: Berlin u. a.: J. Springer) 1996.

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Krafft-Nr.695Ingrid Kästner (Hrsg.): Von Kometen, Windhosen, Hagelschlag und Wetterballons – Beiträgezur Geschichte der Meteorologie. Beiträge der Tagung der Akademie gemeinnütziger Wis-senschaften zu Erfurt 18./19. Oktober 2013 in Erfurt. (Europäische Wissenschaftsbeziehun-gen, 8) Aachen: Shaker Verlag 2014, S. 99–122:

Fritz Krafft

Otto von Guericke über den Zusammenhang von Unwettern undKometen sowie deren daraus resultierende Vorhersage

Eberhard Knobloch zum 70. Geburtstag in Freundschaft gewidmet

Otto von Guerickes 1672 erschienenes epochale Werk Experimenta nova (ut vocantur)

Magdeburgica de vacuo spatio1 umfasst in der Druckausgabe von 1672 insgesamt siebenBücher. Aber obgleich drei davon ausschließlich astronomisch-kosmologischen Inhaltssind und zusammen mit dem vierten Buch über die kosmischen Kräfte die Konse-quenzen aus seiner Entdeckung der Leere des interplanetarischen Raumes aufweisenund einer Lösung zuzuführen suchen, fanden und finden diese Aspekte des gueri-ckeschen Werkes nur wenig Resonanz. Das gilt trotz meiner Kommentierungen derentsprechenden Bücher in der großen deutschen Ausgabe von 19682 und trotz meinemForschungsbericht, der 1978 in der Reihe ‚Erträge der Forschung‘ der Wissenschaft-lichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienen war. Darin sind immerhin die bis dahinwirklich vernachlässigten astronomisch-kosmologischen Aspekte aufgewiesen und in

3 F. Krafft: Otto von Guericke. (Erträge der Forschung, Band 87) Darmstadt 1978. – Siehehierzu jetzt F. Krafft: Hans Schimanks Otto von Guericke. In: Hans Schimank (1888–1979): Ausgewählte Schriften. Mit einem Beitrag „Hans Schimanks Otto von Guericke“von F. Krafft. (Nuncius Hamburgensis. Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaf-ten, Band 1) Hamburg: tredition 2009, S. 13–58.

4 J. Hamel: Otto von Guerickes »Welt im leeren Raum« – über Guerickes Stellung in derAstronomiegeschichte. Beiträge zur Astronomiegeschichte 9 (2008), 37–56. – Zur einschlägi-gen neueren Literatur gehört auch ein schöner Aufsatz des Jubilars E. Knobloch: Ottovon Guericke und die Kosmologie im 17. Jahrhundert. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 26(2003), 237–250, und: Monumenta Guerickiana – Zeitschrift der Otto-von-Guericke-Gesellschaft11/12 (2003), 19–28.

5 Nicht erwähnt wird Guericke in dem umfangreichen Kometen-Artikel bei J. G. Krünitz:Oekonomische Realenzyklopädie oder allgemeines System der Staats= Stadt= Haus=und Landwirtschaft in alphabetischer Ordnung. Zweite Auflage, Theil 43, (1788) 1799,S. 493–504; unerwähnt bleiben die Kometen auch im Guericke-Artikel bei J. H. Zedler:Grosses vollständiges Universallexicon Aller Wissenschaften und Künste. Halle/Leipzig1732–1754, Band XI: Gm.–Gz., Sp. 1260–1262, während im Comet-Artikel (Band VI,Sp. 792–814) Guericke unerwähnt bleibt.

6 Louis Gabriel Michaud (éd.): Biographie universelle ancienne et moderne: ou histoire, parordre alphabétique, de la vie publique et privée de tous les hommes qui se sont faitremarquer par leurs écrits, leurs talents, leurs vertus ou leurs crimes. Nouvelle édition ...,45 Bände, Paris 1843–1865 (Nachdruck Graz 1966–1970); hier Band 18: Gu - Ha. Paris

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ihrem {/100} historischen Kontext dargelegt worden.3 Aber wer nur in der astronomie-geschichtlichen, nicht aber in der GUERICKE-Literatur zu Hause ist, konnte noch 2008einen Aufsatz über Guerickes Stellung in der Astronomiegeschichte als Pioniertat hinstellen.4

Umso erstaunlicher ist, dass es außerhalb der Astronomie- und Physikgeschichts-schreibung eine alte, mindestens an den Anfang des 19. Jahrhunderts reichende Tradi-tionskette gibt, die betont, dass Otto von Guericke sich erfolgreich auch mit Astro-nomie beschäftigt hätte – dann aber nicht auf die astronomischen Bücher eingeht, son-dern als einziges Detail dazu seine vermeintlichen Ansichten über Kometen anführt,dass sich nämlich aus ihrem Auftreten sichere Vorhersagen über ihre Wiederkehrmachen lassen müssten, was spätere Erfahrungen hätten bestätigen können. Aber dazufinden sich in dem Werk sowie in den Aufzeichnungen und Briefen Guerickeskeinerlei Anhaltspunkte; denn Kometen sollen für ihn gerade nichts mit der Sternen-welt zu tun haben. Vielmehr wird hierbei dem einzigen bei Guericke indirekt bezüg-lichen Begriff der ‚Vorhersage‘, der sich aber auf Sturmtiefs als gelegentlichem Ur-sprung von Kometenerscheinungen bezieht, modernes Wissen und moderne Vorstel-lungen unterstellt, wie es eine internalistische, teleologische Wissenschaftsgeschichts-schreibung gerne tut – in dem vermeintlichen Wissen um die Wahrheit, die frühereZeiten auch erkannt oder erahnt haben müssten.

Der früheste mir bislang bekannte Beleg5 stammt aus dem Jahre 1817 und ist derkompendiösen Biographiensammlung von Louis Gabriel Michaud {/101} entnommen6,

1857, S. 53 f. (S. 54), identisch mit dem Text von 1817: „... Otto de Guericke s’était ap-pliqué avec non moins de succès à l’astronomie. Son opinion sur les comètes, dont ilannonça qu’on pouvait prédire le retour avec certitude, a été confirmée par l’expérience...“ – Auf einige der im Folgenden genannten Belegstellen wurde ich durch eine Anfragedes kanadischen Sachbuchautors Sean Mewhinney aufmerksam.

7 Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexi-con). Band 4, Leipzig: Brockhaus 1820, S. 464 s. v. Guericke. Ab der Neuausgabe von1834 (Band 4, S. 1004) lautet der Satz dann eleganter: „Er beschäftigte sich viel mit derAstronomie, und seine Meinung, daß die Wiederkehr der Kometen sich müsse bestim-men lassen, fand später Bestätigung.“ So etwa in der 9. Originalausgabe in 15 Bänden,Sechster Band: Gebler bis Heilsordnung, Leipzig 1844, S. 496. – Im Kleineren Brock-haus’schen Comversations-Lexikon für den Handgebrauch (Band 2, Leipzig 1854, S. 761) fällt derSatz den erforderlichen Kürzungen zum Opfer.

8 F. W. Theile: Guericke, Otto von. In: Ersch, J. S. / Gruber, J. G. (Hrsgg.): AllgemeineEncyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genanntenSchriftstellern bearbeitet. Erste Section: A–G. Hrsg. von Hermann Brockhaus. 96. Theil:Guanta–Gulaping. Leipzig: F. A. Brockhaus 1877, S. 190–192, hier S. 192.

9 Siehe etwa R. Wolf: Handbuch der Mathematik, Physik, Geodäsie und Astronomie. Band2, Zürich 1872; J. H. von Mädler: Geschichte der Himmelskunde von der ältesten bis aufdie neueste zeit. 2 Bände, Braunschweig 1873.

10 In der Allgemeinen Deutschen Biographie (Band 10: Gruber bis Hallencamp. Leipzig 1879, S.93) ist die zweite Hälfte des Satzes wohl nur wegen der extremen Kürze des Guericke-Artikels weggefallen: „Auch mit Astronomie beschäftigte er sich vielfach.“

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wo man liest: „Otto von Guericke hat sich mit nicht geringem Erfolg auch derAstronomie angenommen. Seine Meinung über die Kometen, aus deren Erscheinenman mit Sicherheit die Wiederkehr voraussagen kann, ist [später] empirisch bestätigtworden“, nämlich 1705 von Edmond Halley.

Eben dieser Wortlaut geht dann auch in die deutschen Konversations-Lexika undEnzyklopädien ein. Die früheste mir bekannte Aufnahme steht schon in der Allgemeinen

Encyclopädie für die gebildeten Stände im vierten Band von 1820 und lautet7:

„Auch mit der Astronomie beschäftigte er sich. Seine Meinung, daß sich die Wiederkehrder Cometen werde bestimmen lassen, hat sich bestätigt.“

So steht es dann auch 1877 innerhalb der ebenfalls bei F. A. Brockhaus erschiene-nen Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in dem namentlich gezeichnetenGuericke-Artikel innerhalb der Inhaltsübersicht von Buch 5 der Experimenta nova8:

„Der magdeburger Bürgermeister [...] spricht sich [in der dort abgedruckten Korres-pondenz mit Lubienietzki] schon dahin aus, dass die Wiederkehr der Kometen sichmüsse bestimmen lassen.“ {/102}

Obgleich die Handbücher zur Astronomiegeschichte dieser Zeit Otto von Gue-ricke überhaupt nicht erwähnen9, bleiben die großen Konversations-Lexika undEnzyklopädien bis ins 20. Jahrhundert bei der Formulierung Michauds10. So lautet derbetreffende Satz etwa in Meyers [Großem] Konversations-Lexikon noch unverändert 1888

11 Meyers Konversations-Lexikon. Vierte Auflage. Band 7, Leipzig/Wien 1888, S. 902;Meyers großes Konversations-Lexikon. Fünfte Auflage. Band 8, Leipzig 1907, S. 496.

12 The Encyclopedia Britannica, a Dictionary of Arts, Sciences and General Literature.Ninth Edition (America Reprint) Volume XI, Philadelphia 1894, p. 218 a; identisch auchin: ... New Werner Edition in Thirty Volumes. Twentieth Century Edition, Volume XI,New York usw. 1903, S. 246 a; ... 11th Edition, 1910–1911, Vol. XI, S. 670.

13 Isaac Asimov: Biographical Encyclopedia of Science and Technology. New York 1964,1972; 1976 (Revised edition), 1982 u.ö., # 166.

14 Isaac Asimov: Asimov’s Guide to Halley’s Comet. The Awesome Story of Comets. NewYork 1985, Pb: Dell Trade Paperback, New York 1985, S. 22; derselbe: Die Wiederkehr desHalleyschen Kometen. Die rätselhafte Geschichte der Kometen. Übersetzt und mit einemZusatzkapitel versehen von Hermann Michael Hahn. Köln 1985, S. 28.

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in der vierten und 1907 in der fünften Auflage11: „Er beschäftigte sich auch mit Astro-nomie und stellte zuerst die Meinung auf, dass sich die Wiederkehr der Kometenmüsse bestimmen lassen.“

Nur scheinbar steht zur selben Zeit 1894 dasselbe auch in der Encyclopedia Britan-

nica, wenn es dort heißt12:

„... and he made successful researches in astronomy, predicting the periodicity of the re-turn of comets.“

Natürlich beschäftigte sich Guericke intensiv, aber eben nur rezeptiv mit der Astrono-mie; dennoch wird diese Angabe hier zu aktiven astronomischen Forschungen umgedeutet,und aus der vermeintlichen Vorhersage der Wiederkehr eines Kometen wird gar derenPeriodizität. Hier hat der Autor also das astronomische Wissen seiner Zeit eingebracht.

Mit dieser Erweiterung geht der Satz dann auch in die englischsprachige Sachbuch-Literatur ein, deren Autoren in der Regel selber Naturwissenschaftler (gewesen) sind– wie etwa der russisch-amerikanische promovierte Biochemiker Isaac Asimov, dernach seiner bostoner Dozentur seit 1958 als freier Schriftsteller wirkte. Im Guericke-Artikel seiner seit 1964 mehrfach aufgelegten Biographical Encyclopedia of Science and

Technology schrieb er13: {/103}

„Guericke was also interested in astronomy and felt that comets were normal membersof the solar system and made periodic returns. This notion was to be successfully takenup by Halley some twenty years after Guericke’s death.“

Als Naturwissenschaftler weiß er um die Voraussetzungen der für Guericke frei erfun-denen ‚Periodizität‘ der Wiederkehr und fügt, ebenfalls frei erfunden, hinzu, dass nachGuericke Kometen ganz normale Mitglieder des Sonnensystems seien. Für die eng-lischsprachige Literatur ist es zudem, zumal völlig falsch, höchst ungewöhnlich, dass Halleydie Idee von Guericke übernommen haben soll. In seinem Buch Asimov’s Guide to Halley’s

Comet ging er 1985 darüber hinaus noch einen großen Schritt weiter und schrieb14:

„The first to suggest that comets might return periodically, as they moved round long el-lipses, was the German scientist Otto von Guericke“

15 The Hutchinson Dictionary of Scientific Biography (Consultant Editors R. Porter, M. Og-livie). Third edition, Volume 2: Lebedev to Zworykin. Oxford 2000, zum Jahr 1660.

16 B. Hetherington: Centenaries for 2002. Journal of the British Astronomical Association 111(2001), Nr. 6, 343–344.

17 K. A. McGrath / B. Travers (Hrsgg.): World of Scientific Discovery. Second Edition.Detroit/London 1999 (Gale Research).

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– da sie sich auf langgestreckten Ellipsen herumbewegen. Der Übersetzer HermannMichael Hahn, studierter Physiker und Astronom sowie hochdotierter Sachbuchautor,schwächt Guerickes vermeintliche kausale Verknüpfung („da sie ...“) durch paratak-tische Anordnung zwar ab, lässt aber den natürlich nicht für Guericke zu erschlie-ßenden Sinn weiterhin bestehen und erweitert die ursächliche Begründung einer mög-lichen Wiederkehr um die Sonne als Fokus der elliptischen Kometenbahn:

„Otto von Guericke äußerte als erster die Vermutung, Kometen könnten die Sonne auflanggestreckten Ellipsen umrunden und müssten entsprechend periodisch erscheinen.“

Noch in der dritten Auflage des erstmals 1994 erschienenen Hutchington Dictionary

of Scientific Biography von 2000 steht zum Jahre 1660 zunächst, völlig korrekt15: „Germanscientist Otto von Guericke discovers the sudden drop in air pressure preceding a vio-lent storm – a discovery that will revolutionize weather forecasting.“ Ohne zu wissen,dass beide Aussagen für Guericke zusammen gehören, fährt der Artikel dann, ohnedass für das Jahr 1660 dazu ein Anlass bestünde, fort: {/104}

„He also suggests comets might return priodically, preempting Edmond HALLEY’s workon this subject by 45 years.“

Schließlich schreibt der Vorsitzende der ‚Cleveland and Darlington AstronomicalSociety‘ Barry Hetherington in seinen jährlichen Centenaries im Journal of the British

Astronomical Association zum Jahr 2002 kurz und bündig, aber nichts desto wenigeranachronistisch und falsch16:

„Otto von Guericke born, a German physicist, believed that comets were normal mem-bers of the solar system and made periodic returns.“

Sämtliche zwischenzeitlich erfundenen Details gingen dann in neuer Formulierungin das kompendiöse Nachschlagewerk der Gale Group World of Scientific Discovery von1999 ein. Dort liest man17:

„Guericke also was [a] interested in astronomy, [b] suggesting that comets were menbersof the solar system and [c] made regular returns [d] as they orbited around the sun. [e]Edmond Halley jumped on this idea [und das in England!] and became famous when‘his’ comet returned precisely when he predicted.“

– Der Autor hat also eifrig die lexikalischen Sekundärquellen studiert und alle Detailsaufgenommen, die je zu der Fragestellung erfunden worden waren; das moderneWissen schien für Guerickes Gedanken eine sicherere ‚Quelle‘ zu sein als dieschriftlichen Äußerungen Otto von Guerickes selber, die er deshalb wie alle seineVorgänger gar nicht erst herangezogen hat.

18 ‹http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Gericke› – wie die folgenden zuletzt eingesehenam 03.10.2013. – Auf obigen Satz folgt die ebenso aus der Luft gegriffene Behauptung:„Im Jahr 1678 [sic] konstruierte Guericke aus Knochen, die 1663 in der Nähe von Qued-linburg gefunden worden waren, ein Einhorn“; siehe dazu F. Krafft: Alt und Jung. DieKontakte zwischen Otto von Guericke und Gottfried Wilhelm Leibniz: virtutes mundanaeund ‚Einhorn‘. In: B. Heinecke / I. Kästner (Hrsgg.): G. W. Leibniz und die gelehrte WeltEuropas um 1700. Beiträge der Tagung der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zuErfurt vom 4. bis 6. Mai 2012 auf Schloss Hundisburg. (Europäische Wissenschafts-beziehungen, Band 6) Aachen: Shaker Verlag 2013, S. 233–260.

19 ‹http://www.process.vogel.de/index.cfm?pid=2995&title=Otto_von_Guericke›.20 ‹http://www.gedenkseiten.de/otto-von-gericke›, Wikipedia wird als Quelle genannt. 21 ‹http://www.sachsen-anhalt-wiki.de/index.php/Otto_von_Guericke› – hier ist der in

Anm. 18 genannte Satz allerdings weggelassen.22 ‹http://library.thinkquest.org/C006011/german/sites/guericke_bio.php3?f=2&b=50&

j=1&v=0›.23 ‹http://www.mosapedia.de/wiki/index.php/Otto_von_Guericke›.24 ‹http://www.magdeburg-urlaub.de/kultur/persoenlichkeiten/otto-von-guericke.htm›

(aktualisiert am 3.10.2013).

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Die Globalisierung des Informationsflusses einschließlich der Vermittlung undReproduktion älterer Quellen durch das Internet lässt die auf Michaud zurückgehendeBehauptung mehr und mehr auch in Internet-Kompendien eingehen, wo sie dannwiederum mit modernen Kenntnissen weiter ausgeschmückt werden:

– So steht jeweils unter dem Stichwort ‚Otto von Guericke‘ ein identischer Text in:Wikipedia, freie Enzyklopädie18; im: Chemielexikon – die Wissensdatenbank auf process.de19;auf: Gedenkseiten.de20; und in: sachsen-anhalt-wiki21: {/105} „Er beschäftigte sich auchmit Astronomie und stellte als erster die Behauptung auf, das sich der Zeitpunktder Wiederkehr eines Kometen bestimmen lassen müsse.“

– In: start your engines steht unter Otto von Guericke22 in begrifflichem Wirrwar: „Erbetrieb auch erfolgreiche Forschung im Gebiet Astrologie [sic], indem er vor-aussagte, dass Kometen regelmässig aus dem entfernten Weltraum zurückkehren.“Vorhersagen scheinen dem Autor nur in der Astrologie zu erfolgen.

– MosaPedia23: „In der Astronomie arbeitete er an der Vorhersage von Kometen.“

– Magdeburg Urlaub – Ihr Reiseportal für Magdeburg und Umgebung24: „Auch eine astro-nomische Überlegung Guerickes konnte später bestätigt werden: Die Ansicht, daßKometen als Mitglieder des Sonnensystems periodisch wiederkehren.“

Soweit die sicherlich noch unvollständigen Belege für das Fortwirken der vonMichaud aufgestellten Behauptung über Otto von Guerickes Vorstellungen von denKometen, die nicht selten durch das jeweilige Wissen der Autoren ergänzt und ausdem hohlen Bauch heraus begründend ausgeschmückt wurden. In Guerickes Werkhineingeschaut hat niemand von ihnen; denn dann hätte man den Satz gar nicht über-

25 Zur Ergobiographie Otto von Guerickes siehe H. Schimank: Einführung: Otto vonGuericke und seine Zeit. In: QuD (wie Anm. 2), S. (177)–(220); Krafft 1978 (wie Anm.3); D. Schneider: Otto von Guericke. Ein Leben für die Alte Stadt Magdeburg. UnterVerwendung zeitgenössischer Dokumente und Bilder. (Einblicke in die Wissenschaft)Stuttgart/Leipzig und Zürich 1995, ²1997; Krafft 1996 (wie Anm. 2), S. X– LXXXVIII.

26 13.02.1653 (verzögerte Eröffnung 30.06.1653) bis 13.06.1654, unterbrochen wegen Er-krankung der Ehefrau (27.10. bis Ende Dezember 1653).

27 K. Schott: MECHANICA HYDRAULICO-PNEUMATICA, Qua Praeterquam quodAquei Elementi natura, proprietas, vis motrix, atque occultus cum Aëre conflictus, a

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nehmen können. Verlassen wir deshalb diese Art der rückschauenden, teleologischenwissenschaftsgeschichtlichen Betrachtung und sehen, was Otto von Guericke ausseiner eigenen Gedankenwelt heraus über die Kometen dachte und wie er sie in seinGesamtkonzept einordnete.

Die Erstkonstruktion einer einfachen Luftpumpe, mit der er die Pumpfähigkeit undElastizität der Luft aufweisen konnte, gelang Otto von Guericke25, nachdem er Ende1647 vom Friedenskongress in Osnabrück und {/106} Münster zurückgekehrt war, woer mit dem Gedankengut der 1644 erschienenen Principia philosophiae von René Des-cartes bekannt geworden war, das seinen eigenen Vorstellungen widersprach. Mit Hilfedieser Pumpe gelang ihm der Nachweis des (von Descartes geleugneten) ‚künstlichenVakuums‘ im Bereich der Erd-Wasser-Luft-Kugel und die vielfältige Demonstrationder ungeheuren Größe der Arbeitsfähigkeit des Luftdrucks. Er nutzte dann die – poli-tisch erfolglose – Entsendung auf den Regensburger Reichstag (1653 /54)26, um seineneuartigen Versuche bekannt zu machen. Er hatte während der Wartezeiten zwischenden Audienzen in Regensburg den Kapuzinermönch Valeriano Magni kennen gelernt,der als päpstlicher Legat am Warschauer Hof zugegen war. Von ihm erfuhr er erstmalsvon den Vakuum-Versuchen eines Evangelista Torricelli, die Magni sogar unabhängigund wohl auch früher selber vorgenommen hatte. Das regte Guericke an, von einerwegen der Erkrankung seiner Frau von Ende Oktober bis Ende Dezember 1653 vor-genommenen Heimreise sein Experimentiergerät mitzubringen, um die Versuche mitder Luftpumpe und im ‚Vakuum‘ nicht nur fortzusetzen, sondern mehrmals aucheinem größeren Kreis von Interessenten vorzuführen, gegen Ende des Reichtstages aufvielfachen Wunsch sogar im Beisein von Kaiser und Kurfürsten. Der Kurfürst undErzbischof von Mainz, Johann Philipp von Schönborn, zeigte besonderes Interesse; daaber in Regensburg keine Handwerker zu finden waren, die einen Nachbau hätten aus-führen können, erwarb er Guerickes Gerätschaft und ließ die Versuche an seiner Resi-denz in Würzburg von dem Mathematikprofessor an seiner Universität, Kaspar Schott,wiederholen. Dieser arbeitete damals an einem Werk über pneumatische Erfindungenund eröffnete im Juni 1656 einen Briefwechsel mit Guericke über dessen Versuche,den er in einem Anhang zu seinem Werk Mechanica hydraulico-pneumatica 1657 in latei-nischer Übersetzung abdruckte27. Hier{/107}in beschreibt Guericke nicht nur seine

primis fundamentis demonstratur ... Opus bipartitum. Accessit Experimentum novum Mag-deburgicum, quo vacuum alij stabilire, alij evertere conantur. Frankfurt am Main 1657.

28 K. Schott: TECHNICA CURIOSA; SIVE MIRABILIA ARTIS; libris XII. Comprehensa... Nürnberg 1664, 1687.

29 Schott 1664 (wie Anm. 28), S. 7–34: Experimenta Magdeburgica antiqua; ebendort S. 35–86:Experimenta Magdeburgica nova.

30 Experimenta nova III, 11; siehe auch schon Brief Nr. 123 vom 18.06.1656 (Nr. 4), Nr. 136vom 30.12.1661 a.St. (Nr. 5) und Nr. 138 vom 28.02.1662 sowie seine VersuchsskizzeOperatio des Grossen Glases in QuD (wie Anm. 2), S. (68) und (75). – Die im Folgenden zi-tierten Briefe sind nummeriert nach F. Krafft: Die Korrespondenz des Otto von Gueri-cke (d. Ä.). Eine Übersicht. Technikgeschichte 45 (1978), 37–54; hier auch jeweils nähereAngaben einschließlich Publikationsort.

31 Brief Nr. 127.

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Versuche, sondern legt auch dar, wozu er sie anstellte und wie er seine Ergebnisseeinordnete und deutete.

Im Juli 1660 nahm Schott diesen Briefwechsel wieder auf. Er arbeitete damals aneiner erneuten Bestandsaufnahme pneumatischer Erfindungen und Versuche für seinWerk Technica curiosa, das dann 1664 erschien28. Hierin ist Guericke und seinen Ver-suchen das gesamte erste Buch gewidmet (Liber primus: Mirabilia Magdeburgica, sive

experimenta pneumatica Magdeburgi exhibita), das auch den Briefwechsel ab 1660 ein-schließlich manchen der älteren Briefe wieder in lateinischer Übersetzung abdruckte.Diese Briefe sind eine unschätzbare Quelle für viele Fragen um Guerickes Experi-mente, die sich aus seinem eigenen Werk Experimenta nova nicht beantworten lassen,vor allem auch zu ihrer Datierung.

SCHOTT bezeichnete hier die bereits in Regensburg vorgeführten Experimente,über die er auch schon 1657 in der Mechanica hydraulico-pneumatica berichtet hatte, als„die alten Magdeburger Versuche“29. Zu diesen gehörte als Experiment VIII die Er-zeugung von Winden, Nebeln und Wolken durch plötzlichen Luftdruckabfall in einemGlasrezipienten30, entsprechend dem modernen Nebelkammern zugrunde liegendenPrinzip. Guericke schloss daraus richtig, dass Winde unterschiedlichen Luftdruck aus-gleichende Luftströmungen seien.

Sodann Experiment X, bezeichnet mit: Der äußere Luftdruck [die Schwere der Luft]hebt Wasser in einer luftentleerten Röhre bis in ‚große Höhe‘. Hierzu schrieb Guericke am04.01.1657 an Schott31:

So „drückt und treibt die Luft, da sie mit einem bestimmten Gewicht auf der Erdwas-serkugel lastet, alles Wasser in jeder Röhre, die leer ist [...], bis zu einer solchen Höhe em-por, wie sie dem Druck der uns umgebenden Luft entspricht. Dabei kommt es nicht da-rauf an, ob die Röhren eng oder weit sind. Ich habe das in Regensburg durch Erfahrungfestgestellt, die genaue Höhe aber nicht beachtet ...“. {/108}

Guericke hat also während seiner Vorführungen in Regensburg oder bei den Vor-bereitungen dazu dieses Phänomen entdeckt, mit dessen Nachweis ihm ohne sein

32 Brief Nr. 138, in K. Schott 1664 (wie Anm. 28), S. 53–58; hier S. 54 f.; deutsch QuD (wieAnm. 2), S. (31).

33 Die alte Magdeburger Elle betrug 57,6 cm; siehe QuD (wie Anm. 2), S. (261). Demnachhätte die dem Luftdruck entsprechende Wassersäule eine Höhe von mehr als 11,5 m be-tragen müssen. In den Experimenta nova änderte Guericke später den Wert an den meistenStellen in 19 oder 19 bis 20 Ellen um und nannte auch 18 Ellen.

34 Exp III, 17, Iconismus IX.35 Brief Nr. 125, in: Schott 1657 (wie Anm. 27), S. 458 und 460–462; wieder abgedruckt in

Schott 1664 (wie Anm. 28), S. 26 ff.; deutsch in QuD (wie Anm. 2), S. (19).

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Wissen allerdings 1648 Blaise Pascal vorangegangen war, nämlich den atmosphäri-schen Luftdruck, die ‚Schwere‘ der Luft (gravitas aëris), wie er beziehungsweise derÜbersetzer Schott es noch ausdrückte. Die Höhe der Wassersäule scheint allerdingsweder ihn selber noch einen der Zuschauer interessiert zu haben. Als Schott seinenzweiten Bericht über Guerickes Arbeiten vorbereitete, schrieb ihm dieser jedenfalls am28. Februar 1662 (a.St.) auf eine diesbezügliche Anfrage32:

„Die erste Zweifelsfrage ist: Auf welche Grundlagen oder welchen Vernunftschluss ichmich stütze, wenn ich so mannigfache Wirkungen, als deren Ursache andere Gelehrte denhorror vacui ansehen, dem Druck der aufliegenden oder umgebenden Luft zuschreibe. lchentgegne, dass ich in das Werk, das ich unter den Händen habe, unter anderen ein beson-deres Kapitel mit der Überschrift ‚Einrichtung eines hydraulisch-pneumatischen Gerätes,das nicht nur Gelegenheit zu vielen Entdeckungen bietet, sondern auch im Studierzimmerzur geistigen Erquickung aufgestellt werden kann‘ eingefügt habe. Unter vielfältigen ande-ren Verrichtungen saugt dieses Gerät auch Wasser aus einem auf dem Fußboden stehendenBottich an. Bezüglich dieses Vorganges haben schon vordem wissensdurstige Zuschauerforschend gefragt [offenbar aber erst nach 1654 in Magdeburg], bis zu welcher Höhe daserwähnte Gerät Wasser von der Erde aus an sich zu ziehen vermöge. Da ich das damalsnoch nicht wusste, schaffte ich die Vorrichtung in meine höher gelegene Stube, verlängertedas Rohr und ließ es durch ein Fenster bis auf das Pflaster des Hofes hinab in den Eimerhineinreichen. Ich beobachtete die gleiche Wirkung wie vorher. Da ich aber nichtsdestowe-niger vermutete, diese Anziehung und dieses Emporsteigen des Wassers könne nicht bis insUnbegrenzte wachsen, brachte ich das Gerät nach höher und höher liegenden Plätzenmeines Hauses, bis ich schließlich den Haltpunkt des Wassers fand, der in senkrechterRichtung bei einer Höhe von 20 Magdeburger Ellen [33] lag.“

Das genannte Gerät stellt eine kunstvolle Verbindung von Rezipient und Heberndar34, wobei die Glaskugel durch den mehrmaligen Anschluss an {/109} eine evakuierteKupferkugel allmählich auch hochgradig evakuiert wurde, so dass schließlich Wasseraus einem offenen Bottich durch eine luftdichte Röhre ‚20 Ellen‘ hochgedrückt wurde.

Die Erkenntnis, dass dieses scheinbare ‚Ansaugen‘ über große Höhen erfolgt, kamGuericke offenbar erst in Regensburg. Schon am 22. Juli 1656 hatte er dann Schott,der Guericke um eine Stellungnahme zu dem Entwurf des Anhanges gebeten hatte,schreiben können35:

„Ich wüsste nichts dabei zu bemerken, außer dass es mir ganz kürzlich erneut rein zufäl-lig glückte – nicht durch meine Kunst und Rührigkeit, sondern sozusagen durch die

36 Noch 1656 denkt Guericke keineswegs an die Darstellung und Ausarbeitung eines diese Kon-sequenzen berücksichtigenden neuen Weltbilds, wenn er am 22. Juli (alten Stils) an Schott(Brief Nr. 125), der seinen ersten Bericht über die Regensburger Versuche vorbereitete,schrieb: „Ich bin aber nicht der Ansicht, dass im jetzigen Zeitpunkt dargelegt werden muss,was die Leere oder der Äther eigentlich darstellt und auf welche Weise sie und anderes damitZusammenhängendes in vollständiger Art zu erkennen und zu begreifen ist. Denn es würdesich hieraus eine umfängliche neue Wissenschaft sowohl vom Planetensystem wie auch vomAll entwickeln, eine Wissenschaft, die jedoch bis jetzt von Physikern wie von Metaphysikernweitaus anders überliefert und verteidigt worden ist, und inzwischen würde es, bis eine voll-ständige Unterrichtung erfolgte, viel Hin- und Hergerede, Widerspruch und sogar überflüssigeArbeit geben.“

37 Nur gelegentlich bezeichnete Guericke den von ihm unabhängig von den italienischenNaturforschern entdeckten atmosphärischen Luftdruck mit pressura aëris – siehe etwa ExpIII, 19, p. 97 b (aëris aliqua gravitas circa Tellurem, seu pressura [...]. Causari autem hanc aquaeascensionem aëris externi pressuram). In der Regel sprach er einfach von der Luftschwere(gravitas aëris), der Schwere einer Luftsäule (deren Bestimmung er auch als Gesamtwägungder Luft bezeichnete).

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Verrichtung der Natur selbst (quasi per Naturae ipsius operationem) –, einen augenschein-lichen Nachweis des reinen Vakuums, wie ihn die Aristoteliker verlangen, zu entdecken.“

Was er damit meinte, geht dann auch aus dem bereits zitierten Brief von 1662 her-vor, der fortfährt32:

Als ich das Steigen des Wassers in einer luftleeren Röhre durch den Luftdruck einige Ma-le wiederholen ließ „und die ganze Vorrichtung ein paar Tage lang ruhig am selben Platzehatte stehen und zu anderen Zeiten den Vorgang sich von neuem hatte abspielen lassen,bemerkte ich, dass die Höhe, bei der das Wasser Halt machte, nicht immer dieselbe war,sondern um den Betrag einer Elle stieg oder fiel, besonders, wenn Regen drohte. Darausersah ich schließlich, dass der Aufstieg des Wassers nicht durch einen Ansog oder eineFlucht vor dem Leeren, sondern wirklich durch den Luftdruck erfolgte ...“

Guericke gewann die Erkenntnis der Höhe des Luftdrucks und vor allem seinesSchwankens zwar erst nach der Rückkehr aus Regensburg, aber er zog aus seinen Ver-suchen bald die richtigen Konsequenzen. Nicht zuletzt die Gespräche mit ValerianoMagni auf dem Reichstag werden ihn für die daraus zu ziehenden Konsequenzensensibilisiert haben, ohne dass Guericke damals allerdings schon eine sämtlicheAspekte berücksichtigende kosmologische Gesamtdarstellung im Auge gehabt hätte36:Schwanke die {/110} gravitas aëris, das ‚Gewicht‘ der Luft oder vielmehr der Luftdruck37,nicht nur zeitlich und örtlich, sondern auch nach oben und nach unten, so könne dasnur aus der unterschiedlichen Höhe der darüber befindlichen Luftsäule resultieren. DieLufthülle (Atmosphäre) könne also nicht, wie Aristoteles und die Aristoteliker noch zuseiner Zeit dachten, sphärisch begrenzt sein, über ihr könnten sich nicht Feuer- oderÄthersphären befinden. Würde man sich den gesamten Raum oberhalb der Lufthüllenämlich mit einem auch noch so feinen flüssigen Stoff ‚Äther‘ ausgefüllt denken, somüsste dieser den unterschiedlichen Druck der im Vergleich dazu geringen Stoffmengeder Luft, auf die er von allen Seiten gleichmäßig drückt, ausgleichen, und es könnten

38 Zeitgenössische Literatur hierzu findet sich bei Krafft 1978 (wie Anm. 3), S. 64, Anm. 24.39 Siehe Experimenta nova III, 30, p. 114, deutsch S. 127. Näheres bei Krafft 1978 (wie Anm.

3), S. 62 f., Anm. 22.40 Siehe Krafft 1978 (wie Anm. 3), S. 64, Anm. 26.41 Exp V, 9, p. 162 f.: „... ad 1000 vel 2000 milliaria extendat...“, deutsch S. 184.42 Selbst Krünitz (wie Anm. 5), Theil 81, 1801, Sp. 417 s. v. Luftkreis, führt noch Guerickes

Ausführungen als einzige Quelle an: „Von den Regionen der Gegenden des Luftkreisesläßt sich nicht viel bestimmtes sagen, weil diese vielen Abänderungen unterworfen sind.Guericke (Exp V, 9) theilte mit älteren Schriftstellern den Luftkreis in 3 Regionen. Dieuntere soll bis dahin gehen, wo die Erwärmung durch zurückgeworfene Sonnenstrahlenaufhört [...]. Die mittlere soll bis in die Gipfel der höchsten Berge, oder nach anderen bisin die höchsten Wolken reichen, die oberste aber sich bis ans Ende der Atmosphäre

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keine Schwankungen auftreten. Oberhalb der Lufthülle müsse sich folglich stoffleererRaum befinden. Die Lufthülle verflüchtige sich allmählich sphärisch, bis sie in großerHöhe allmählich ein Ende finde. Er vergleicht das Ganze mit der Dufthülle einer Blü-te, die sich allmählich verflüchtige.

Luft ist für Guericke und viele seiner Zeitgenossen38 nicht mehr ein ‚elementarer‘Stoff, sondern besteht aus den stofflichen Ausdünstungen der Erd-Wasser-Kugel, diemit dem Erdkörper eine Einheit bilden und entsprechend dessen sämtliche Bewegun-gen mit ausführen, die tägliche und die jährliche; denn Guericke ist Anhänger derHeliozentrik.

Eine Bestätigung der Folgerungen aus dem Schwanken des Luftdrucks ergab sichauch aus der Abnahme des Luftdrucks (des Gewichts der Luftsäule) mit der Höhe.Guericke hatte schon in Regensburg gehört, dass dies bereits 1648 durch den Schwa-ger Blaise Pascals auf dessen Veranlassung hin bei barometrischen Messungen inverschiedenen Höhen auf dem Puy-de-Dôme nachgewiesen worden war. Er wolltedeshalb einen solchen Versuch auch selber auf dem Brocken, der höchsten Erhebungin näherer Umgebung, durchführen, als er im Mai 1657 von Verhandlungen {/111} inHelmstedt zurückkam39; doch wurde das Vorhaben vereitelt, weil der Diener, der dasgläserne Barometer trug, beim Aufstieg stolperte und es zerbrach.

Neben dem ‚künstlichen‘, mittels Luftpumpe hergestellten Vakuum, dessen abso-lute Erzeugung Guericke übrigens anfänglich und bis 1655 (im Nachhinein zu Recht)selbst angezweifelt hatte40, war damit die Existenz des ‚natürlichen‘ Vakuums zwingenderschlossen. Diese ‚natürliche Leere‘ könne aber wegen der elastischen Eigenschaftender Luft nur außerhalb der Lufthülle angetroffen werden.

Als Höhe der Grenze dieser Lufthülle hatte Guericke bei der Abfassung der ersten,1663 fertig gestellten Fassung seiner Experimenta nova im 9. Kapitel des 5. Buches 1000bis 2000 Meilen angesetzt41. Er beschreibt in diesem Kapitel die zu seiner Zeit bereitsüblichen drei Hauptschichten der Lufthülle und die nochmalige Dreiteilung der un-tersten Schicht42: Die eigentliche ‚Erdatmosphäre‘ mit den wässrigen und erdigen Aus

erstrecken.“43 Brief Nr. 160, (in lateinischer Übersetzung) abgedruckt in: S. Lubienietzki: Theatrum co-

meticum, Duabus partibus constans ..., Amsterdam 1668, Pars I, S. 456–459, hier S. 457,Nr. 4: „sed etiam si ad 10. millia ut puto, vel ad 20. millia milliaria Germanica perveniat“.Siehe hiewrzu unten Anm. 47.

44 Nr. X: Communicatio Magdeburgo-Guerichiana, in: Lubienietzki (wie Anm. 43, S. 453–466; Nr. IV: Communicatio Hamburgi-Gerichiana [Otto von Guericke, jun.], in: eben-dort, S. 237–251.

45 Siehe meinen Kommentar in QuD (wie Anm. 2), S. (296)–(302).46 Experimenta nova V, Appendix, Nr. 4, p. 188 b: „... sed etiam si ad 1 mille, ut puto, vel ad

2 millia milliar[ia] Germanica perveniat... “. Das ist, von mir leider 1967/68 übersehen, inder großen deutschen Guericke-Ausgabe (wie Anm. 2) falsch übersetzt worden: „... wennman, wie ich glaube, eine oder zwei deutsche Meilen hoch empor gelangte ...“. Insofernsind auch meine Ausführungen zu revidieren in F. Krafft: Experimenta nova. Unter-suchungen zur Geschichte eines wissenschaftlichen Buches, I: Das Manuskript der ‚Ex-perimenta nova (ut vocantur) Magdeburgica‘ Otto von Guerickes in den Jahren von 1663bis 1672. In: E. Schmauderer (Hrsg.): Buch und Wissenschaft. Beispiele aus der Ge-schichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik. Düsseldorf 1969, S. 103–129(Technikgeschichte in Einzeldarstellungen, Nr. 17), hier S. 117–120.

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dünstungen der untersten Unterschicht habe eine Höhe von unter 4 Meilen, die mitt-lere der unteren Schicht, welche mit ihrem geringen Feuchtigkeitsanteil noch geradedie Sonnenstrahlung einfangen könne und so die Dämmerungserscheinungen hervor-rufe, eine Höhe von etwa 24 Meilen, die obere erscheine nur noch als das Himmels-blau, das den Beginn der zweiten, mittleren Hauptschicht anzeige, die ihrerseits danneine Höhenausdehnung von einigen 100 Meilen aufweise.

Zwei Jahre später, als Guericke sich nach einer Anfrage des in Hamburg lebendenadligen polnischen Gelehrten Stanislaus Lubienietzki erstmals detaillierte Gedankenüber die Eigenschaften und das Entstehen von Kometen machte, sprach er sich ihmgegenüber in seinem Brief vom 22. {/112} Juli 166543 für zehn bis zwanzig Meilen aus,von wo ab der absolut stoffleere Raum beginne.

Lubienietzki hatte mehrere Gelehrte nach ihrer Meinung über den Kometen von1664 und generell die Kometenerscheinungen gefragt und die jeweilige Korrespondenzals Communicatio in seinem 1668 erschienenen kompendiösen dreiteiligen Werk Thea-

trum cometicum abgedruckt. Guericke hat von dort seinen eigenen Briefwechsel in derlateinischen Übersetzung von Lubienietzki44 bei der Endrevision der Experimenta nova

(1670 /71) als Anhang zum fünften Buch wieder abgedruckt und dabei kleinere Ände-rungen an der von Lubienietzki publizierten Fassung vorgenommen45. Hierzu zähltauch die Wiederanpassung des Betrags der Höhe der Lufthülle von 10 bis 20 Meilen anden in Exp III, 9 genannten von 1000 bis 2000 Meilen46. So lautet der Passus in denExperimenta nova: Aus den Versuchen habe sich mit Sicherheit ergeben,

„dass die Luft nicht nur mit wachsender Höhe in wachsendem Maße dünner und leichterwird, sondern dass auch von ihr überhaupt nichts mehr übrig bleibt, wenn man

47 Ob die abweichende Höhenangabe auf einem Versehen Guerickes oder des ÜbersetzersLubienietzki beruht oder Guericke 1665 tatsächlich von der angegebenen neuen Höheüberzeugt war, lässt sich nicht mehr feststellen.

48 Brief Nr. 140, vom 15./25.04.1662, abgedruckt in Schott 1664 (wie Anm. 28), S. 59–62(Nr. 5) und 69–70, deutsch in QuD (wie Anm. 2), S. (34)–(40), hier S. (34) f.

49 Exp III, 20, p. 100a: „Ad hanc aëris gravitatem quovis tempore deprehendendam ...“50 Siehe Exp III, 31. 51 Lubienietzki (wie Anm. 43), Pars I, S. 251. Siehe schon J. S. T. Gehler: Physicalisches

Wörterbuch. Fünfter Theil: Supplemente von A–Z. Neue Auflage, Leipzig 1799, S. 29 f.,jetzt auch E. Moewes: Irrtümer und Unklarheiten. Bemerkungen zu Beschreibungen derGuerickeschen Experimente. Monumenta Guerickiana – Zeitschrift der Otto-von-Guericke-Gesell-schaft 6 (1999), 41–50; hier S. 45 (die Korrektur Gehlers [zu Erster Theil. Neue Auflage,

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eintausend, wie ich glaube, oder zweitausend Deutsche Meilen hoch empor gelangte, unddass dort der reine, von jeglichem Stoff freie Raum beginnt (incipiat purum & ab omnimateriato vacuum).“

– Über mögliche Gründe für eine Reduzierung der ursprünglich angenommenen Höheder Lufthülle auf den hundertsten Teil äußerte Guericke sich nicht, so {/113} dass einspäter korrigiertes Versehen am wahrscheinlichsten ist47. Es hätte für unsere Frage-stellung insofern von Bedeutung sein können, als er ja an dieser Grenze der Lufthülledie Kometen ansiedelte, die dadurch der Erdoberfläche sehr nahe kämen.

Bei der Beobachtung der Schwankungen des Luftdrucks hatte Guericke eine Ent-deckung gemacht, die er sich nicht erklären konnte. Im April 1662 schrieb er Schottauf dessen Frage, ob überall der gleiche Druck von der Luftsäule ausgeübt werde48:

„dass die Luft, solange ihre Schwere unverändert bleibt, auf alle Gebiete und Gegenden,auf denen sie waagerecht rings um die Erde ruht, den gleichen Druck ausübe; denn waa-gerecht wie das Meer über der Erde, lagert auch die Luft über Erde und Wasser. In denGegenden aber, wo die Luft Wasser ausscheidet, wo es also regnet, wird sie leichter; des-wegen rückt die nächstbefindliche Luft nach, bis alles erneut ins Gleichgewicht gebrachtwird, bis alles also wieder waagerecht liegt. Weshalb aber die Luft leichter wird, wennsehr heftige Winde wehen, so dass ich ihr Nahen, noch bevor sie da sind, mit meinemVersuchsgerät (experimentum) erkennen kann, das habe ich noch nicht zu ermitteln ver-mocht.“

Wann Guericke erstmals einen Zusammenhang zwischen Luftdruckschwankungenund Witterungsveränderungen sah, ist ungewiss, scheint aber zeitnah zur Entdeckungersterer erfolgt zu sein. Denn um daraufhin den Luftdruck schneller und genauer messenzu können49 als durch die Exp III, 20/21 beschriebenen komplizierten und aufwendigenVerfahren (siehe Bild 1, Iconismus X: rechts oben über zehn Meter hohes Wasserba-rometer an der Außenwand seines Hauses, unten so genannte Teilluftwägung mittelsnoch nicht erkannten Manometers), mit denen er die Zusammenhänge entdeckt hatte50,konstruierte er sein so genanntes Wettermännchen (virinculus). Er nannte es unter anderemauch semper vivum und perpetuum mobile, Lubienietzki in seiner lateinischen Übersetzungmissverständlich anemoscopium51. {/114}

1798, p. 103] in den Supplementen kennt er allerdings nicht). 52 Philosophical Transactions, Nr. 88 (18.11.1672), S. 5103 f.: „Concerning our Authors

Contrivance of his virinculus [...], made to indicate the Weight of the Air at any time, andso foretell Wind and Weather; since he ...“

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Bild 1: Luftdruckmessverfahren Guerickes Bild 2: Guerickes Wettermännchen(Exp III, 20, Iconismus X) {114/115} (Rekonstruktion Erich Moewes) {116/}

{/115}Aus seiner Konstruktion hatte Guericke aber stets ein Geheimnis gemacht, sodass Henry Oldenbourg in seiner ungerechtfertigt negativen Rezension der Experimenta

nova in den Philosophical Transactions der Royal Society of London meinte52: „since hethinks to make e secret of it, we must let him enjoy it alone, till he shall think good todisclose it.“ Es blieb auch ein nur spekulativ und nie ausreichend gelöstes Rätsel, bis

53 E. Moewes: Das Guerickesche Wettermännchen oder Anemoskop. WissenschaftlicheZeitschrift der Technischen Universität ‘Otto von Guericke’ Magdeburg 35 (1991), Heft 6, 102–111, gekürzt wieder abgedruckt in: Physikalische Blätter 48 (1992), 935–937; Ergänzungenhierzu in Moewes 1999 (wie Anm. 51), 43–45; hieraus die obige Abbildung 2. Bei denTests des Nachbaus konnte Moewes feststellen (p. 61 b), dass auch „bei (langsamen)Temperaturschwankungen [...] das Steigen und Fallen des Luftdrucks richtig registriert“wird

54 Erich Moewes 1999 (wie Anm. 51), entscheidet sich für Wasser, bedenkt aber nicht, dasses einen handschriftlichen deutschen Text Guerickes zur Herstellung eines Wettermänn-chens gibt [siehe QuD (wie Anm. 2), S. (79) f.], in dem er genau beschreibtz, wie dasQuecksilber blasenfrei einzufüllen ist.

55 Brief Nr. 136, abgedruckt in Schott 1664 (wie Anm. 28), Liber I, S. 52, Auszug darausunverändert wieder abgedruckt in Exp III, 20, p. 100 b (durch Kursive als Zitat ge-kennzeichnet), deutsch (ie Anm. 2), S. 112.

56 Zu den unterschiedlichen Annahmen zum Zeitpunkt der Erfindung siehe Krafft 1978(wie Anm. 3), S. 113, Anm. 42.

57 Lubienietzki (wie Anm. 43), Pars I, S. 250 f., deutsch in QuD (wie Anm. 2), S. (56)–(58);hier S. (58).

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im Jahre 1991 dem Magdeburger Physik-Studienrat Erich Moewes die Rekonstruktiongelang53 (Bild 2): Der Luftdruck wirkt auf das untere elastische Gefäß (a),möglicherweise eine Schweinsblase, und beeinflusst so die Höhe der Flüssigkeitssäule54

(h), auf der das Männchen (b) im luftleeren Raum des oberen Teiles schwimmt.

Guericke erwähnte es erstmals am 30.12.1661 gegenüber Schott, der den um-fangreichen Brief in lateinischer Übersetzung in seiner Technica curiosa von 1664 mitIllustrationen abdruckte, von wo GUERICKE eine längere Passage in die Endfassungseines Werkes wörtlich übernahm55. Der entsprechende Abschnitt lautet:

„Allerdings ist es [das Wettermännchen] nicht ständig in Bewegung, sondern nur entspre-chend der Änderung des Luftzustandes (aura) in der ganzen Gegend ringsum. [...] Ichjedenfalls habe im vergangenen Jahr ([19.12.]1660), als es den furchtbaren Sturm und dasUnwetter gab, mittels meines gerade erwähnten Versuchsgerätes (experimentum) [das er al-so Ende 1660 bereits besaß56] eine absonderliche und außerordentliche Veränderung derLuft (aëris alteratio) wahrgenommen, die im Vergleich {/116} zum gewöhnlichen Zustand(modus) so leicht wurde, dass der Finger des Männchens noch unter den tiefsten am Glas-rohr vermerkten Punkt hinabstieg – ich also habe, als ich das bemerkte, den Anwesendenganz unverhohlen erklärt, dass zweifellos irgendwo ein großes Unwetter (tempestas) aus-gebrochen wäre. Kaum waren zwei Stunden verflossen, als jener stürmische Wind auchüber unsere Gegend hinweg fegte ...“ {/117}

Guerickes gleichnamiger Sohn, ab 1663 Kurbrandenburgischer Rat und Residentin Hamburg, berichtete später in einem Brief vom 1. August 166557 Stanislaus Lubie-nietzki nicht nur von dieser ersten Unwettervorhersage, sondern auch von regelmä-ßigen „täglichen Beobachtungen“, die sie „während sechs, sieben Jahren“ durchgeführthätten – in Magdeburg durch Otto von Guericke d. Ä., bis 1663 gemeinsam mit sei-

58 Otto von Guericke d. J. berichtet (wie Anm. 57) Lubienietzki, dass er nach seiner Über-siedlung nach Hamburg alles daran setzte, eine Nachbildung dieses Gerätes auch dort zuhaben; auf seine Veranlassung hin habe der Kurfürst dank der Bemühungen seines Va-ters ebenfalls ein ähnliches Gerät in seiner Bibliothek zu stehen und überwache es „inaufmerksamer Beobachtung (diligenti observatione)“.

59 Guericke betonte immer wieder, dass das Gerät wegen seiner Empfindlichkeit nicht zutransportieren sei. Er muss das Berliner Exemplar also aus Anlass der von seinem Sohnangeregten Vorführungen am Berliner Hof 1663 erstellt oder zumindest zusammenge-baut haben; siehe Krafft 1978 (wie Anm. 3), S. 112 f., Anm. 41.

60 Siehe dazu Gehler (wie Anm. 51), Theil III, S. 134 f.: Guericke und Boyle „verkanntennoch die wahre Absicht desselben“.

61 Also waren solche Beobachtungen nicht erst mit dem Wettermännchen gemacht worden,so dass nicht auf das Jahr 1658 für dessen Erfindung geschlossen werden kann. Für diegleichzeitigen vergleichenden Wetterbeobachtungen wurden allerdings ab 1663 nur Wet-termännchen benutzt, deren ‚Eichung‘ durch die gleiche Bauart und denselben Bastler Ottovon Guericke Vater gewährleistet war. Zur Erstellung einer gleichen Skala siehe seine inAnm. 54 genannte Beschreibung.

62 Siehe auch etwa Exp III, 31 (Schlusssatz), p. 115 b: „nec Machinula haec de loco in aliumfacile deferri possit“.

63 Wie Anm. 57.64 So hatte Guericke es auch im Oktober 1663 Balthasar de Monconys bei dessen Besuch

in Magdeburg beschrieben; siehe QuD (wie Anm. 2), S. (48) f.

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nem Sohn, sowie ab 1663/64 in Hamburg durch eben seinen Sohn58 und in Berlindurch den Kurfürsten und seinen Bibliothekar Johannes Raue59 – mit unterschied-lichen Verfahren, zuerst dem haushohen Wasserbarometer, dann dem später als Mano-meter60 bezeichneten Verfahren (Exp III, 21 als Teilwägung der Luft gedacht: ponderatio

particularis) und schließlich mit solchen Wettermännchen61. Wegen deren Empfindlich-keit62, die einen Transport unmöglich mache, habe sein Vater vor, ein weniger emp-findliches Luftdruckmess-Verfahren zu erfinden, komme aber wegen der Arbeit anseinem Buche noch nicht dazu. Wie die Jahresangabe zeigt, ist das Wettermännchen auchnicht von Anfang an dafür eingesetzt worden.

Das Ergebnis dieser langjährigen Beobachtungen fasst Guericke d. J. in demBrief63 mit folgenden Worten zusammen:

„Befindet sich der Finger des Männchens in der Nähe der Geraden [Mittellinie], dannneigt bei seinem Sinken die Luft zu Niederschlägen, {/118} beim Steigen aber zu Trocken-heit. Und je mehr das Männchen steigt, desto länger haben wir Trockenheit; und um-gekehrt, je mehr es allmählich sinkt, desto länger ist Regen zu erwarten. Bleibt es obenund dauernd ruhig stehen, so ist dies ein Zeichen für anhaltende Trockenheit. Beobach-ten wir jedoch ein plötzliches Fallen [...], dann werden wir nur allzu gewiss Unwetterbekommen [64], wie tägliche Beobachtungen während sechs, sieben Jahren gelehrt haben[diese Zeitangabe gilt allerdings nicht für die Unwetteranzeige, die erstmals 1660 wahr-genommen wurde, weshalb sie gleichzeitige Beobachtungen] in Berlin, Magdeburg undHamburg angestellt und gefunden [haben], dass der Zustand der Luft an diesen drei Or-ten häufig übereinstimmend, bisweilen aber auch abweichend war“

65 Brief Nr. 164, in lateinischer Übersetzung abgedruckt in Lubienietzki (wie Anm. 43), ParsI, S. 463–465, mit geringfügigen Änderungen wieder abgedruckt in Exp V, Anhang, Nr.7, p. 194–196 / S. 222–224.

66 Otto von Guericke: Bericht von dem Vinculo oder Tempestatis indice. Edition in QuD(wie Anm. 2), S. (76). Guericke erwähnt in Brief Nr. 190, QuD (wie Anm. 2), S. (88), dieMöglichkeit der Wettervorhersage mittels des tempestatis index Ende August des Jahres1671 auch gegenüber Gottfried Wilhelm Leibniz, der einwandte (Brief Nr. 204), dass eswohl auch parallel angestellter hygrometrischer, thermometrischer und barometrischerMessungen bedürfe, um korrekte Wettervorhersagen erhalten zu können.

67 Brief Nr. 136 (wie Anm. 55).68 Brief Nr. 152, Ende Dezember 1664, an Basilius, Schlosshauptmann in Leipzig, Abschrift

als Beilage zum Brief O. von Guerickes d.J. an S. Lubienietzki, 03.01.1665 n. St., publi-ziert in Lubienietzki (wie Anm. 43), Pars I, S. 239–241, deutsch in QuD (wie Anm. 2), S.(52)–(53). Guericke betont den Sachverhalt nochmals in den Briefen Nr. 160 und 164 anS. Lubienietzki, in lateinischer Übersetzung abgedruckt in Lubienietzki (wie Anm. 43),

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– auch das gilt erst ab 1663/64. Noch am 2. April 1666 a. St.65 hatte Guericke auchselber Lubienietzki geschrieben, dass er das Wettermännchen nicht zur Vorhersage vonUnwettern konstruiert hätte. Ja, er habe an eine solche Möglichkeit nicht einmal ge-dacht, hätte nur einen unkomplizierten ‚Anzeiger‘ für drohenden Regen konstruierenwollen. (In einer nach Erscheinen der Experimenta nova entstandenen handschriftlichenAufzeichnung nennt er das Gerät auch noch ‚Wetteranzeiger‘, tempestatis index.66)

Erst als Zeitungsmeldungen Ende Dezember 1660, nachdem Guericke den jähenAbsturz des Luftdrucks beobachtet hatte, von gleichzeitigen starken Unwettern beson-ders auf Hoher See berichteten, ergab sich die Zusammenführung beider Ereignissefür ihn zwangsläufig, obgleich die Winde in Magdeburg selbst nicht mehr so stürmischgewesen wären. Überhaupt könnten die angezeigten Unwetter auch 100 oder 200Deutsche Meilen entfernt auftreten. {/119}

Durch die Anfrage Stanislaus Lubienietzkis nach Guerickes Ansichten über dieKometen ließen ihn dann anscheinend bereits schlummernde Ideen von deren Her-kunft ausarbeiten. Schon zum Jahresende 1661 hatte er nämlich im Zusammenhangmit dem Unwetter von 1660 Schott geschrieben67:

„Ich zweifle nicht im Mindesten, dass durch dieses gewaltige Unwetter ein großer Fet-zen der die Erde umgebenden Luft losgerissen wurde, ein Fetzen, der sich dann ineinen für uns unsichtbaren Kometen verwandelte (als die Erde sich infolge ihrerschnellen jährlichen Bewegung um die Sonne von diesem Luftfetzen entfernte und die-ser alsdann abgesondert im Äther [das ist für Guericke der luftleere interstellare Raum]zurückblieb).“

Als Guericke den meteorologischen Inhalt des von Schott ins Lateinische über-setzten und 1664 publizierten Briefes dann in sein Werk (Exp III, 20) übernahm, ließer bezeichnenderweise diese abschließenden Bemerkungen zur Entstehung eines Ko-meten aus dem Unwetter weg. Anfang Januar 1665 hatte er auch noch Lubienietzkigeschrieben68:

Pars I, S. 456–459 / 463–465, übernommen in Exp V, Anhang, Nr. 4 / Nr. 7, p. 194–196(ohne den Briefanfang), deutsch (wie Anm. 2), S. 214–216 / 222–224, der fehlendeBriefanfang in deutscher Übersetzung in QuD (wie Anm. 2), S. (59).

69 O. v. Guericke d. J. an S. Lubienietzki, 19.01.1665 a. St., in Lubienietzki (wie Anm. 43),Pars I, S. 242.

70 In Brief Nr. 4 des Anhangs zu Exp V (Brief Nr. 160, 22.07.1665 a. St., geringfügig er-gänzt in Exp übernommen, deutsch [wie Anm. 2], S. 214–216) schreibt Guericke, „Dassdie geschweiften Kometen nicht höher emporsteigen, als das Luftreich sich erstreckt,kann unschwer aus dem Umstand gefolgert werden, dass die Schweife nichts anderessind als [Leuchtspuren oder] Brechungen der Sonnenstrahlen[, die den durchsichtigenKopf der Kometen] im Bereich dieser dunklen und dünnen Luft oder Aura [durch-dringen].“ Wie hier weist Guericke schon in Brief Nr. 2 des Anhangs (Brief Nr. 158,29.05.1665 a. St.; geringfügig geändert übernommen in Exp V, Anhang, p. 186 / S. 212)den (geschweiften) Kometen den mittleren oder oberen Bereich der Lufthülle zu: „Dortführen sie ihre unsteten oder unregelmäßigen Bewegungen gleich einem Wurffeuer, einer

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„Und muss in sonderheit der Cometen halber bekennen, weil es die occasion in meinemBuch de Spatio Vacuo [in der Fassung von 1663] (welches doch noch nicht gedrücket)nicht gegeben, etwas von denenselben zu schreiben, dass mich auch niemals bemühet,etwas ihretwegen zu ergründen.“

Und der Sohn hatte ihm gleichzeitig vom Vater geschrieben69: „non libenter hanc ma-teriam tractat, quia non consistit in vera demonstratione & experimentis, sed in con-templationibus.“

Das hatte sich aufgrund der Anfrage Stanislaus Lubienietzkis aber geändert; und sokonnte Guericke schon in dem soeben zitierten Brief zusammenfassend über seineTheorie der Kometen ausführen, seine Meinung sei, {/120}

„dass sie entstehen von grossen tempesten [Unwettern] / die auß den klüften der berge undhöhlen des Erdbodens entspringen / und die große sturmwinde causieren [verursachen].Dann weil ich vermittelst des [...] Wetter-Männichens / augenscheinlich sehe / dass dielufft zur zeit grosser sturmwinde [...] sonderlich leicht wird / soo halte davor / wann solchetempest geschiehet / dieselbe zugleich sambt ein particul lufft sich zu zeiten cum impetu[mit Ungestüm] abreissen / und in die höhe ziehen möge. Dahero dann / weil so viel lufftsentgehet / dieselbe so viel leichter wird [... Wie allerdings nicht jedes Unwetter starkeSchäden auf der Erdoberfläche auslöse, so lasse auch nicht jedes einen Kometen entstehen.Wenn aber] eine solche tempest mit allem gewölcke von der Sonnen erleuchtet wird / inunsern augen [also nur optisch] / Cometen auß werden / entweder caudati [geschweifte],oder sine cauda [ohne Schweif] [...]. Die caudati stehen noch im obersten theil der lufft /welches nur eine aura ist [... die so genannten Rosen aber außerhalb dieser Aura im reinenRaum. Die geschweiften], so noch in der aura stehend bleiben / vagiren vermittelst der-selben / auß ihrer mit sich selbst streitenden natur / wunderlich umbher [also nicht aufbestimmten Bahnen] / und haben in unsern gedancken [also nur scheinbar] schwäntze /welche doch nicht anders sind / alß die / durch dass Corpus Cometae erleuchtete aura, soumb sie her stehet.“

Die Schweife sollen also der bloße Widerschein des von der Sonne erleuchtetenKometen in der äußerst feinen Luft der Aura sein.70 Daraus folgt dann, dass die

so genannten Rakete aus, bis sie nicht mehr höher steigen können, weil dort der reineund von jedem Stoff freie Raum beginnt, in dem es kein Mittel mehr gibt, sich höher em-porzubewegen“ – unklar bleibt dann nur, wie die ungeschweiften ‚Rosen‘ sich in den an-schließenden stofffreien Raum bewegt haben sollen.

71 O. von Guericke d. J. an S. Lubienietzki, 16./26.12.1665, abgedruckt in Lubienietzki (wieAnm. 43), Pars I, S. 239, danach in QuD (wie Anm. 2), S. (50)–(52), hier S. (52).

72 O. von Guericke d. J. an S. Lubienietzki, 01.08.1665, abgedruckt in Lubienietzki (wieAnm. 43, Pars I, S. 250 f., deutsche Übersetzung in QuD (wie Anm. 2), S. (56)–(58), hierS. (57) f.

73 Brief Nr. 157, 26.03.1665 a. St., Guericke an seinen Sohn, auszugsweise von letzterem am31.03. an S. Lubienietzki weitergeleitet, abgedruckt in Lubienietzki (wie Anm. 43), S. 249und 454 f.; der Auszug deutsch in QuD (wie Anm. 2), S. (59).

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ungeschweiften ‚Rosen‘ sich außerhalb dieser Aura jenseits der obersten Luftschichtbefinden müssen. Diese seien unbewegt, ihre Bewegung sei nur scheinbar und beruheauf den Bewegungen der Erd-Wasser-Kugel, aus der sie ja auch entstanden seien undsomit ihr angehörten. {/121}

Kometen ent- und bestehen für Otto von Guericke also aus (dichteren) Ausdün-stungen des Erd-Wasser-Körpers, die als Unwetter in die Höhe geschleudert werden,was er mit dem Feuerschweif von Feuerwerksraketen veranschaulicht, und damit dieLuft leichter werden lassen, das heißt: den Luftdruck schlagartig stark erniedrigen, bisdie stürmischen Winde ihn wieder ausgleichen. Deshalb müsste ihr Entstehen wie dasvon Unwettern ebenfalls durch plötzlich extrem niedrigen Luftdruck angezeigtwerden. Nur bestehen insofern hierbei Unsicherheiten, weil zwar jedes Unwetter zueinem Kometen führen könne, aber nicht führen müsse; und weil nicht jeder Kometauch von der Erde aus sichtbar sei. Verwunderlich ist jedoch, mit wie großer und un-terschiedlicher zeitlicher Distanz Guericke offenbar zwischen dem Auftreten von Un-wettern und dem von vermeintlich daraus entstandenen Kometen rechnet.

So übermittelte sein Sohn Lubienietzki dessen Beobachtungen des Kometen vomDezember 166471 und fügte in seinem Brief hinzu:

„Mein Herr Vater sagte die Erscheinung dieses Kometen vor acht Wochen voraus undbeauftragte die Wachsoldaten, auf dessen Erscheinen zu achten.“

Am 1. August 1665 schrieb er ihm zum Unwetter von 166072:

„Eine dadurch losgerissene beträchtliche Menge Luft blieb zweifellos im Äther zurückund wurde in einen, wenn uns auch vorläufig noch unsichtbaren, Kometen verwandelt.“

Da waren bereits fast fünf Jahre vergangen. Guerickes eigene Unsicherheit wird auchdeutlich, wenn er am 26. März 1665 seinem Sohn schreibt73:

„Habe auch warhafftig am verschienenen 12. Febr[uar], wie dass Wettermännchen aber-mahls so niedrig stund, die gedancken gehabt, dass ein Comet entstehen würde. Weil wirsie aber nicht alle zu sehen bekommen, und es folgt darauf nicht gewiß, was propheceyetwird, so giebts ein schlechte ansehen; derowegen hiervon nichts in die Feder bringen mö-gen. Nunmehr aber da nicht allein die avisen [Zeitungen] melden, daß sich vor 4 Wochen

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wiederumb einer sehen lassen, sondern ich auch den selben heute am Ostertage früheumb drei Uhr recht im morgen [im Osten] stehend gesehen, so werde meine sache destogewisser gemacht.“ {/122}

Der Leser möge selber urteilen, ob und wie man aus solchen Vorstellungen kosmischeKörper nicht-irdischer Herkunft machen kann, die auf lang gestreckten Ellipsen dieSonne umlaufen, so dass sie periodisch wiederkehren und diese Wiederkehr sichervorher zu bestimmen ist.