Fritz Krafft: Den Bewegungen der Gestirne auf der Spur: Die mathematisch-physikalischen Grundlagen...

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700 v. Chr. 600 500 400 300 Hesiodos Thales Anaximandros Anaximenes Hekataios Leukippos Demokritos Xenophanes Parmenides Zenon Herakleitos Anaxagoras Empedokles Pythagoras Philolaos Hippokrates Archytas Hippasos Protagoras Eudoxos Theaitetos Platon Sokrates Aristoteles Herodotos Kephallenia Lesbos Kreta Rhodos Korkyra Ionisches Meer Kykladen Kretisches Meer Mittelmeer Ägäisches Meer Adriatisches Meer Tyrrhenisches Meer Propontis Schwarzes Meer Aoos Axios Nestos Strymon Makestos Hermos 100 0 150 50 km N S Kos Milet Assos Abdera Knidos Eudoxos Pergamon Mytilene Athen Korinth Sparta Byzantion Chalkis Lampsakos Kyzikos Kolophon Xenophanes Kroton Philolaos Akragas Empedokles Neapolis Tarent Archytas Metapont Hippasos Stageira Aristoteles Thales Anaximandros Anaximenes Hekataios Leukippos Hallikarnassos Herodotos Klazomenai Anaxagoras Ephesos Herakleitos Chios Hippokrates Pythagoras Eudoxos Heslodos Samos Chios Thera Athen Parmenides Zenon Anaxagoras Protagoras Sokrates Demokritos Herodotos Platon Theaitetos Aristoteles Eudoxos Pythagoras Syrakus Ekphantos Hiketas Platon Elea Parmenides Zenon Panormos Xenophanes Leukippos Leukippos Demokrjtos Protagoras CHALKIDIKE EPIROS Pythagoreer Abb. 1 a Geburtsorte, Wanderungen (Zuzug zu dem Ort, bei dem der Name steht) und Wirkstätten bedeutender frühgriechischer Denker verdeutlichen zusammen mit der Synopsis (Abb. 1 b), wie das im multikulturellen Kontaktbereich entstandene naturphilosophische Denken von den griechischen Metropolen in Kleinasien ins Mutterland eindrang und hier schließlich neben dem pythagoreischen Unteritalien eine erste Hochburg der Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft in Athen entstehen ließ. Abb. 1 b Synopsis der Lebenszeiten der für das Entstehen der Naturwissenschaften wichtigen griechischen Denker – bis hin zu Platon und Aristoteles, den Gründern der ersten dauerhaften Schulen (Akademie bzw. Peripatos) in Athen, denen 307/6 v. Chr. die stoische und um 300 v. Chr. die epikureische Schule folgten. ANTIKE WELT 4/11 20

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Den Bewegungen der Gestirne auf der Spur – Die mathematisch-physikalischen Grundlagen antiker Astronomie

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700 v. Chr. 600 500 400 300

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Abb. 1 a Geburtsorte, Wanderungen (Zuzug zu dem Ort, bei dem der Name steht) und Wirkstätten bedeutender frühgriechischer Denker verdeutlichen zusammen mit der Synopsis (Abb. 1 b), wie das im multikulturellen Kontaktbereich entstandene naturphilosophische Denken von den griechischen Metropolen in Kleinasien ins Mutterland eindrang und hier schließlich neben dem pythagoreischen Unteritalien eine erste Hochburg der Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft in Athen entstehen ließ.

Abb. 1 b Synopsis der Lebenszeiten der für das Entstehen der Naturwissenschaften wichtigen griechischen Denker – bis hin zu Platon und Aristoteles, den Gründern der ersten dauerhaften Schulen (Akademie bzw. Peripatos) in Athen, denen 307/6 v. Chr. die stoische und um 300 v. Chr. die epikureische Schule folgten.

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AthenKorinth

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Lampsakos Kyzikos

Kolophon Xenophanes

KrotonPhilolaos

Akragas Empedokles

Neapolis

Tarent Archytas

MetapontHippasos

StageiraAristoteles

ThalesAnaximandrosAnaximenesHekataiosLeukipposHallikarnassosHerodotos

Klazomenai Anaxagoras

Ephesos Herakleitos

ChiosHippokrates

Pythagoras

Eudoxos

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ParmenidesZenonAnaxagorasProtagorasSokrates

DemokritosHerodotos

Platon TheaitetosAristotelesEudoxos

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von Fritz Krafft

Die frühe Kultur der Griechen war auf-grund der Randlage zu den umgeben-

den Hochkulturen vielfältig durch das dort gesammelte Wissen über die umgebende, in der Regel religiös gedeutete Natur mitgeprägt worden (Abb. 1 a.b). Hierzu zählte vornehm-lich das Erfassen und Deuten des Geschehens am Tag- und Nachthimmel, das neben der kalendarischen Chronologie die natürlichen Jahreszeiten bestimmte und zu Regeln insbe-sondere für Handel, Ackerbau und Lebens-führung umgemünzt wurde. Im Zweistrom-land und in Ägypten hatte die Beobachtung der Gestirne wegen der Identifizierung von «Himmelszeichen» mit Gottheiten, die auf das Geschehen auf Erden Einfluss nehmen, v. a. astrologische Bedeutung erhalten.

imFokusbenachbarterhochkulturenDie Kontakte der ionischen Städte zum Osten wurden durch die Expansion des Perserrei-ches, den (niedergeschlagenen) Aufstand der griechischen Städte und die Perserkriege aller-dings stark beeinträchtigt. Förderlich wirkte sich dann jedoch die erneute Öffnung nach Osten (und Süden) durch die von Alexander dem Großen eingeleitete Helleni sie rung aus, die in den nachfolgenden Diadochenreichen das Griechische zur Sprache der Oberschicht

und der Wissenschaft machte. So wurden die in Ägypten und zwischenzeitlich im Zwei-stromland erbrachten astronomischen Er-kenntnisse und astrologischen Lehren den Griechen durch Schriften in ihrer eigenen Sprache vermittelt. Die Diadochenreiche schufen sich zudem eigene geistige Zentren – am Makedonen- und Attalidenhof, in Per-gamon und Sardes, v. a. aber in Alexandria am westlichsten Nilarm, das bis zur Erobe-rung durch die Araber neben Rhodos für den Bereich der Wissenschaften Athen bei weitem übertraf.

DenBewegungenderGestirneaufderSpurDie mathematisch-physikalischen Grundlagen antiker Astronomie

Eingebettet in Hochkulturen mit Jahrtausende alter astronomisch-astrologi-scher Tradition übernahmen die Griechen so manche Kenntnis und Praktik aus dem Zweistromland. Doch wurden die friedlichen Kontakte zum Osten gerade zu der Zeit unterbrochen, als in Babylon Methoden ersonnen wurden, die Örter der Gestirne arithmetisch genauer zu berechnen. Die Griechen erfuhren erst im Zuge der von Alexander dem Großen eingeleiteten Hellenisierung davon. Sie hatten inzwischen eigene naturphilosophische Vorstellungen von dem Entste-hen und der geometrischen Gestalt des Universums entwickelt, in die allmäh-lich auch geometrische (statt arithmetische) Elemente für die Beschreibung der Bewegungen am Himmel eingingen. Ein im 2. Jh. n. Chr. durch Ptolemaios entwickeltes System wurde schließlich bis ins 16. Jh. in der astronomischen Praxis unangefochten verwendet.

Abb. 2 Die Dauer des lichten Tages in «Großstunden» (entsprechend je vier Stunden des 24-stündigen Tages) nach der neuen Methode mit abgestuften Differenzen. Die Tages-dauer wird als Funktion der Sonnenlänge im Tierkreis (von Frühlings-punkt bei 10° Widder zu Frühlingspunkt) berechnet. Die ältere Methode hätte die gestrichelte Kurve zwischen Maximum und Minimum ergeben.

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BabylonischeastronomieWährend in Ägypten der Schwerpunkt auf das Auf- und Untergehen von Stern zeichen gelegt wurde, galt im Zweistromland das Interesse v. a. den Wegen der als Götter geltenden sie-ben Wandelsterne (Sonne, Mond und Plane-ten) am Himmel. Hier sind schon um 2750 v. Chr. die wichtigsten Sternbilder längs dieses Weges benannt worden. Aus der Zeit um 1500 v. Chr. lassen sich bereits Listen mit Plane-tenaspekten nachweisen, die eine Ausweitung der Himmelsgottheiten auf die fünf kleineren Planeten bezeugen. Auf solchen, teilweise bis zu 1000 Jahre zurückreichenden Aufzeichnun-gen auf Keilschrifttafeln basieren dann die der Vorherberechnung von Kardinalpunkten der Sonnen-, Mond- und Planetenbahnen die-nenden theoretischen Erkenntnisse babyloni-scher Astronomie, für welche die Bel-Priester in den Schulen von Babylon, Uruk und Sippar, von den Griechen «Chaldäer» genannt, verant-wortlich waren, und zwar über die Zeiten un-terschiedlicher politischer Konstellationen vom Assyrerreich über das Perserreich bis zu dem hellenistischen Seleukidenreich und der römi-schen Zeit hinweg. Aus der Blütezeit (im 5. bzw. 4. Jh. v. Chr.) sind sogar mit Naburianu und Kidinnu zwei der Priester-Astronomen nament lich bekannt, auf die Verfahren zur ge-naueren Berechnung der Pla netenstellungen zurückgehen.

Hierzu wurde seit assyrischer Zeit ein Zeitraum zwischen den aus Beobachtungen ge-wonnenen «Kardinalpunkten» (bei der Sonne die Solstitien und Äquinoktien, bei den Pla-neten vor allem die Stillstände, wenn die

erscheinende rechtläufige Bewegung in die rückläufige umschlägt) in gleich große Ab-schnitte unterteilt, mit denen als kleinster Differenz durch Addi tion oder Subtraktion der Wert für einen bestimmten Zeitpunkt errechnet wurde. Abbildung 2 illustriert am Beispiel der Länge des lichten Tages das dem gegenüber neue Verfahren des 5. Jhs. v. Chr. mit abgestuften Differenzen, wodurch auch unterschiedliche Bahngeschwindigkeiten der Wandelsterne berücksichtigt werden konn-ten. Damals war auch der gesamte «Weg der Sonne» sowohl in 360 gleiche «Teile» (die späteren «Grade») als auch in die zwölf von der Sonne monatlich durchlaufenen Tier-kreiszeichen unterteilt worden. Die gegebe-nenfalls für einzelne Tage errechneten Werte wurden in umfangreichen Keilschrift-Tafel-werken niedergelegt (Abb. 3 a.b).

BabylonischesWissenbeidenGriechenDas älteste griechische Werk, in dem die bis heute benutzte Teilung des Kreises in 360 «Grade» mit jeweils mehrstelliger sexagesi-maler Unterteilung angewendet wird, ist der Anaphorikos («Aufgangszeiten der Gestirne») des Hypsikles (Mitte 2. Jh. v. Chr.). Hierin werden die Aufgangszeiten von Sonne und Tierkreiszeichen nach der neuen babyloni-schen Differenzenmethode für die Breite von Alexandria berechnet. Anwendung fand die Methode auch weiterhin v. a. im astrologi-schen Schrifttum der Griechen und Römer. Berossos von Babylon hatte schon um 280 v. Chr. auf Kos eine Schule zur Vermittlung ba-bylonischen Wissens an die Griechen einge-

Abb. 3 a.b Fragment einer Keilschrift-tafel mit Jupiter-Daten für

die Jahre 147–218 der Seleukidenära (entspre-

chend 165–94 v. Chr.). Der untere Teil lehrt die Berechnung, der obere

listet die in Kolumnen (I bis V) angeordneten Daten

auf: (I) Ort des Stillstands bei Sonnenaufgang, (II) Datum und (III) Ort der Opposition, (IV) Datum

und (V) Ort des Stillstands bei Sonnen untergang.

British Museum, BM 34 571, London.

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richtet. Ausführlich wird die Mond theorie nach den «Chaldäern» im Kontrast zu den bereits etablierten griechischen Methoden in den

Elementa astronomiae von Ge minos beschrie-ben, der im 2. Drittel des 1. Jhs. v. Chr. in Rho-dos wirkte. Jedoch hatte schon im frühen 5. Jh. v. Chr. babylonisches Wissen um den zwölftei-ligen Tierkreis über Kleostratos von Tenedos Eingang in griechisches Denken gefunden.

Durch Schattenmessungen mittels des von den Babyloniern übernommenen Gnomon hatte allerdings bereits Anaximandros von Milet (ca. 610–546 v. Chr.) die Sonnenhöhe zur Zeit der Sonnenwenden bestimmt – und damit die Schiefe des von den Babyloniern sog. «Weges der Sonne» (Tierkreis, Ekliptik) gegenüber dem Himmelsäquator. Meton und Euktemon stellten im Jahre 433/2 v. Chr. in Athen ein solches «Helio trop» zur Bestimmung der Jahrespunkte (Jahres länge) auf und bestä-tigten den von ihnen 432 v. Chr. in Athen eingeführten, aber babylonischen 19-jähri-gen Schaltzyklus zur Angleichung des ka-lendarischen Mondjahres an das natür liche Sonnenjahr (19 Sonnenjahre werden 235 syno dischen Mondmonaten gleichgesetzt), der nur um 30 Minuten zu lang ist. Die Baby-lonier hatten diesen daraufhin von den Grie-chen «metonisch» genannten Schaltzyklus amtlich erst später statt eines 27-jährigen, der 505–383 v. Chr. in Gebrauch war, eingeführt. Zuvor waren die von den Priesterastrono-men beobachteten Abweichungen bei Bedarf durch königliches Dekret mit Schaltmonaten ausgeglichen worden. Nach einer der von den Babyloniern erstellten Perioden wiederkeh-render Mond- und Sonnenfinsternisse hatte Thales von Milet für das Jahr 585 v. Chr. eine tatsächlich eingetretene Sonnenfinster-nis vor ausgesagt.

DieanfängegriechischerastronomieDie Griechen hatten allerdings während der Zeit der Unzugänglichkeit des Ostens für die Beschreibung und Berechnung der Planetenbewegungen eigene Wege beschrit-ten. Das zeigt recht eindrucksvoll das Werk des Autolykos von Pitane, der um 300 v. Chr. in Sardes, dem politischen Zentrum im Wes-ten des Seleukidenreichs, wirkte. Er wid-mete sich in den beiden ältesten erhaltenen mathematischen Schriften der Griechen der

gleichen Thematik wie später Hypsikles, aber rein theoretisch, grundlegend auf der Basis der geometrischen Lehre bewegter Kreise.

Die Ansätze zu einer mathematischen, vorwiegend geometrischen Betrachtung ge-hen zurück auf Anaximandros, nachdem He-siodos in seiner Theogonie einen Wandel der Götterwelt in eine Welt göttlicher Naturhy-postasen vorgezeichnet hatte, deren Bestand und mit dem Geiste erfassbare Ordnung durch den Sieg von Zeus als Gott des Geistes über die älteren Göttergeschlechter gewähr-leistet sei. Er fasste die von Zeus geordnete Welt, den «Kosmos», als eine Kugel auf, zwi-schen deren zwei Hälften sich der Horizont der Erdscheibe befinde. Die größte Entfer-nung oberhalb (Himmel) und unterhalb der Erde (Unterwelt), der Radius der Himmels-kugel, betrage jeweils die Strecke, die eine Sternschnuppe mit ihrer schnellsten damals bekannten Bewegung während einer Dekade, d. h. in neun Tagen zurücklege, bevor sie am zehnten Tag ihr Ziel erreiche.

Dieses letztlich dekadische Maß übernahm Anaximandros für die propor tionalen Abmes-sungen seines nach mathematischen Prinzi-pien geordneten «Kosmos», dessen Entstehen und Verlauf er erstmals natur philosophisch aus Urprinzipien (also physikalisch) statt aus Handlungen von Göttern herleitete (Abb. 4). Als Maß einheit für die Verhältnisgrößen von Erde, Himmelskugel, Mond- und Sonnen-schlauch wählte er als gleichsam «natürliches Maß» den Durchmesser der Erdscheibe; ihre

Abb. 4 Der «Kosmos» nach Anaxi-mandros: Die kosmischen Körper bilden die Reihen-folge (1) Erdscheibe im Zentrum (Dicke : Durch-messer = 1 : 3), (2) kristal-lene Himmelskugel, (3–4) aus undurchdringlichem Nebel bestehende, Feuer enthaltende Schläuche, aus denen durch ein Loch ein Feuerstrahl (Lichtstrahl) geblasen wird, der auf Erden die Erscheinungsbil-der von (3) Mond und (4) Sonne erzeugt.

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Durchmesser sollen sich wie 1 : 9 : 18 : 27 ver-halten. Die beiden in der jeweiligen Umlaufzeit von Mond und Sonne rotierenden nebeligen Schläu che würden darüber hinaus wippenar-tig durch die abwechselnd zusammengepresste und wieder zurückstoßende Luft hin und her verschoben, woraus sich der Wechsel der Höhe von Sonne und Mond ergebe.

Dieser erste Versuch, bewegte Dinge und Vorgänge durch Mathematisierung (Geome-trisierung) für die Erkennbarkeit zu fixieren, wie es gleichzeitig auch der «geo metrische Stil» in der griechischen Kunst praktizierte, bestimmte fortan die Grundsätze griechi-scher Astronomie und Kosmologie. Danach hatte eine geometrische Beschreibung der Be-wegungen am Himmel mit einer natürlichen (physikalischen), die Willkür von Göttern ausschließenden Erklärung einherzugehen. Die Missachtung führte entweder zu wilden mathematischen Spekulationen, wie etwa bei den Pythagoreern (für die von ihnen speku-lativ erschlossene Kugelgestalt der Erde erga-ben sich allerdings sofort auch empirische Ar-gumente), oder zu ähnlichen Auswüchsen bei bloß erklärendem Hintergrund, wie etwa bei den alles dem Zufall überlassenden Wirbeln der älteren Atomisten. Da die erscheinenden Bewegungen der Gestirne durch das Zusam-menwirken unterschiedlicher Elemente ent-stehen, müssen sie in diese auch zerlegt wer-den: in die tägliche Komponente und die ihr entgegen gerichtete Eigenbewegung. Diese Eigenbewegung erwies sich später als eben-falls aus zwei Komponenten resultierend, ei-ner «siderischen» (erste Anomalie) und einer «synodischen» (zweite Anomalie).

Dieerklärungmittels«homozentrischerSphären»

Während die Atomisten Leukippos und Demo-kritos die Bewegungen der Gestirne auf einen allgemeinen Wirbel um die Erde zurückführ-ten, dessen Drehgeschwindigkeit nach außen zunehme, fasste Platon die zur Umdrehung der Fixsternsphäre gegenläufige Bewegung der Planeten wieder als eine von dieser unab-hängige Eigenbewegung auf, so dass umge-kehrt der nächste, der Mond, am schnellsten und der fernste, der Saturn, am langsamsten seinen Umlauf vollenden würde. Sein «Kos-mos» erhält dann die in Abbildung 5 aufge-führten Ausmaße und Geschwindigkeiten, die detailliertes Wissen seiner Zeit widerspie-geln.

So betonte Platon, dass die fünf kleinen Planeten nur scheinbar immer wieder ver-schiedene Wege nähmen, vielmehr besäßen auch sie ein spezifisches «Jahr» und vollführ-ten wie Sonne und Mond stets ihren eigen-tümlichen, gleichbleibend wieder kehrenden Kreis am Himmel. Das war zwar speziell gegen Demokritos gerichtet, der für diese Sterne ge-rade den Begriff «Planet» (plan»thj) geprägt hatte, der so viel wie «Irrstern» bedeutet, regte aber Platons zeitweiligen Schüler Eudoxos von Knidos (ca. 408–ca. 355 v. Chr.) dazu an, ein erstes geometrisches System zur Bestätigung Platons zu konstruieren, dargestellt in sei-nem Werk «Über Geschwindigkeiten» (Perˆ

tacîn).Er zerlegte den postulierten gleichbleiben-

den «Kreisweg» für jedes der sieben Gestirne kinematisch in mehrere Komponenten. De-nen ordnete er jeweils eigene Kreisbewegungen

himmelskörper BreitenderRinge FarbenGeschwindigkeitenderrückläufigeneigenbewegungen

1.Fixsternhimmel Fixsterne / Saturn: 1 bunt –

2.Saturn Saturn / Jupiter: 8 gelblich 5

3.Jupiter Jupiter / Mars: 7 weißest 4

4.mars Mars / Merkur: 3 rötlich 3

5.Venus Merkur / Venus: 6 gelblich 2

6.merkur Venus / Sonne: 2 zweitweißest 2

7.Sonne Sonne / Mond: 5 glänzendst 2

8.mond Mond / Erde: 4 von der Sonne beleuchtet

1

Abb. 5Platons am Ende seiner

Politeia in einen Mythos gekleidete Vorstellung

vom konzentrischen Aufbau des Kosmos und

den Proportionen der den einzelnen Planeten zuge-wiesenen konzentrischen

Ringe («Wirteln»).

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zu, die ihrerseits mittels gleichförmig rotieren-der konzentrischer Kugeln (griech. sfa‹rai) ausgeführt werden. Die Geschwindigkeit der jeweiligen Sphären- oder Kreisbewegungen galt es für die Dauer einer vollen Rotation (griech. per…odoj) zu bestimmen (Abb. 6). Die Achsen solcher Sphären seien in der je-weils nach außen folgenden Kugel gelagert, so dass ihre Richtung von deren Bewegung ent-sprechend verändert würde. Es handelte sich, wie schon die jedesmalige Wiederholung der Fixsternkomponente zeigt, um ein rein ma-thematisch-kinematisches Bewegungsmodell zur Analyse der Einzelkomponenten der Be-wegung jeweils eines Planeten ohne physika-lischen Hintergrund und ohne die Modelle der einzelnen Planeten zu einem System zu-sammenzufassen.

Wohl im Auftrag von Aristoteles versuchte dessen jüngerer Zeitgenosse Kallippos von Kyzikos (ab 334 v. Chr. in Athen), dem von den Babyloniern neuerdings wiedergegebenen Erscheinungsbild durch die Hinzufügung wei-terer Sphären näher zu kommen (Abb. 7). In dieser Form legte Aristoteles (Metaphysik XII) das mathematisch-kinematische System der «homozentrischen Sphären» seinen Über-legungen zu einem «physisch-realen» Him-melssystem zugrunde. Es passte bestens zu seinem aus anderen Zusammenhängen ab-geleiteten «Äther», der nur um das Zentrum Erde herum «kreisbewegten», ansonsten aber eigenschaftslosen und folglich in jeder Hin-sicht unveränderlichen «himmlischen» Ma-terie, die jenseits der irdischen Feuersphäre, konzentrisch kugelförmig angeordnet, den irdischen Bereich abschließe und nach außen begrenze. Daraus folgt ein von der äußersten Fixsternsphäre kugelförmig begrenztes Uni-versum. Aristoteles muss dazu allerdings die mathematischen Kugeln von Eudoxos und Kallippos zu physischen Hohlkugeln («Sphä-ren») aus eben dieser himmlischen Materie machen. Sämtliche innen und außen konzen-trisch begrenzten Äthersphären fügte er lü-ckenlos ineinander und verband sie mit ihren jeweils äußeren Achsen so miteinander, dass ihre spezifische Eigenrotation um eine jeweils in anderer Richtung gelagerte Achse erfolgte.

Durch die Ineinanderschachtelung der Sphären entstand zwar eine Einheit, doch führte die in sich schlüssige Erweiterung des

physikalischen Systems zu einer Schwierig-keit, deren Lösung das Sphärenmodell wei-ter komplizierte. Die Sphären innerhalb des Systems eines einzelnen Planeten bei Eudo-xos und Kallippos bestimmen und verändern sukzessive von außen nach innen die für den Planeten jeweils spezifischen Richtungen der Drehachsen – weiter aber nichts. Insbe-sondere sollen sie ihren eigenen Drehimpuls nicht auf die folgende Sphäre übertragen, sondern jede einzelne soll ihre eigene, «na-türliche» Rotation durchführen. Um den spe-zifischen Bewegungsapparat eines Planeten auf die allen gemeinsame tägliche Rotation um die Himmelspole zu reduzieren, damit er nicht auf den folgenden Planeten übertra-gen wird, fügte Aristoteles für jeden Planeten (bis auf den Mond) innen einen Satz von ent sprechenden, mit derselben Geschwin-digkeit in jeweils entgegengesetzter Rich-tung ro tie renden, von ihm «zurückrollend» genannten Sphären ein. Er benötigt damit für sein physikalisches System insgesamt 55 Sphären (Abb. 8).

10 14 6 2

12 8 16 4

3 4

2

1Quadranten

1, 5, 179, 11, 13 15 7 3

Abb. 6 System homozentrischer Sphären nach Eudoxos von Knidos (HP = Himmels- [nord]pol, EP = [Nord]pol der Ekliptik): Sphäre 1 rotiert innerhalb von 24 Stunden von Ost nach West um die Himmels-pole (entsprechend der täglichen Umdrehung der Fixsternsphäre); Sphäre 2 in der siderischen Periode von West nach Ost um die Pole der Ekliptik; Sphäre 3 in der synodischen Periode von Nord nach Süd senk-recht zu Sphäre 2; Sphäre 4 mit dem Planeten auf ih-rem Äquator gleichschnell und entgegengesetzt sowie je nach Umfang der Schleifenbewegung schräg zu Sphäre 3.

Abb. 7 Kallippos’ Verbesserung des Effektes der inneren Sphären bei Eudoxos: Durch eine zusätzliche Sphäre entsteht vom Zentrum her gesehen das Bild einer Dreifach-Acht mit den Stationen 1 bis 17. Hierdurch werden in den Quadranten 1 und 3 die Phasen der resultierenden Rechtläufigkeit vor und nach der Schleifenbewe-gung (Quadranten 2 und 4) verlängert und das Erschei-nungsbild der Planeten-bewegungen insgesamt besser wiedergegeben.

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Leider ließen sich die einzelnen Stationen der Planetenwege auf diese Weise aber nicht berechnen. Außerdem hatte Autolykos von Pitane sich aufgrund von Beobachtungen der Helligkeitsschwankungen der Planeten gegen eine Konzentrizität ihrer Bewegungen ausge-sprochen. Obgleich die physikalische Grund-legung des aristotelischen Systems bis hin zu Johannes Kepler im ausgehenden 16. Jh. maßgebend geblieben ist, wurde es gerade vor diesem Hintergrund immer wieder kritisiert.

BewegungendererdeDa die im Zentrum ruhende Erde eine not-wendige Folge der aristotelischen Elemen-tenlehre war, verstummten fortan auch Über-legungen, der kleinen Erde statt der riesigen Himmelskugel die tägliche Rotation zuzu-schreiben. Dies hatten im Syrakus des 5. Jhs. v. Chr. die Pythagoreer Hiketas und Ekphantos getan, später angeblich auch Platon, dem He-

rakleides Pontikos (ca. 388– ca. 310 v. Chr.), der ab etwa 365 v. Chr. an der platonischen Akademie wirkte, es aufgrund der von nieman-dem nachvollziehbaren Interpretation einer Stelle im Timaios unterstellte.

Erste Vorstellungen von den tatsächlichen Ausmessungen der Planetenwelt ermöglichte allerdings erst Aristarchos von Samos (ca. 310– ca. 230 v. Chr.), der am Peripatos in Athen studiert hatte. Seine Messungen erga-ben für den Winkel Mond/Erde/Sonne bei Halbmond zwar einen viel zu großen Wert (87° statt etwa 89°51'), der allerdings bis ins 16. Jh. anerkannt wurde (Abb. 9 a.b). Da-durch erhielt aber schon dieser innere Aus-schnitt des Planetensystems eine unvorstell-bar große Ausdehnung. Vermutlich war es die daraus resultierende, ebenso unvorstellbare Geschwindigkeit des vergleichsweise riesigen Sonnenkörpers, die ihn veranlasste, zumindest als Hypothese ein mal stattdessen die «kleine»

eudoxossiderisch synodisch

KallipposSphären

aristotelesSphären

modernsiderisch synodisch

Saturn 4 30 Jahre 390 Tage 4 4 plus 3 29a, 166d 378 Tage

Jupiter 4 12 Jahre 390 Tage 4 4 plus 3 11a, 315d 399 Tage

mars 4 2 Jahre 260 Tage 5 5 plus 4 1a, 322d 780 Tage

Venus 4 1 Jahr 570 Tage 5 5 plus 4 1 Jahr 584 Tage

merkur 4 1 Jahr 110 Tage 5 5 plus 4 1 Jahr 116 Tage

Sonne 3 1 Jahr – 5 5 plus 4 1 Jahr –

mond 3 1 Monat – 5 5 plus 0 1 sider. Monat 1 synod.

26 33 33 plus 22 = 55

Sonne

Sonne

Erde

Erde

b)

a)

(19)(1)

Mond

Mond

Abb. 8 Anzahl der erforderlichen Sphären bei Eudoxos und Kallippos (mathematisch)

sowie Aristoteles (mate-riell) mit einem Vergleich

der von ihnen angesetzten Perioden mit den moder-

nen Werten. Die 22 zusätz-lichen «zurückrollenden Sphären» bei Aristoteles

sollen jeweils die für einen Planeten spezifischen Be-wegungen kompensieren

und Stück für Stück wieder in die Ausgangsposition

«zurückrollen». Die Achsen aller ersten Sphären sind somit parallel ausgerich-tet in den Himmelspolen

gelagert.

Abb. 9 a Methode des Aristar-

chos von Samos zur Bestimmung der relativen Entfernungen von Sonne

und Mond bei Halbmond, wenn der Winkel Erde/

Mond/Sonne 90° beträgt. Nur mangelnde Mess-genauigkeit führte bei

einem Winkel Mond/Erde/Sonne von 3° (statt ca. 9')

auf eine viel zu geringe Sonnenentfernung (Erde–

Mond : Erde–Sonne = 1 : 19, statt etwa 1 : 380).

Sie wurde dennoch bis ins ausgehende 16. Jh. unver-

ändert beibehalten.

Abb. 9 b Aus (a) folgt wegen der scheinbar gleichgroßen Scheiben (30') von Sonne und Mond und der Breite des Schattens der Erde von zwei Mondbreiten (erschlossen aus der gemessenen Dauer einer totalen Mondfins-ternis) ein Volumenverhältnis für Erde/Mond/Sonne von 1 : 1/30 : 300 (statt etwa 1 : 1/48 : 1.300.000).

Sphären

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Erde um die Sonne kreisen zu lassen. Die Phänomene sprächen jedenfalls nicht dage-gen, wenn man postulierte, dass anstelle der Erde, für die es schon Aristoteles festgestellt hatte, die Erdsphäre («Erdbahn») im Ver-gleich zur Fixsternsphäre die Ausdehnung ei-nes Punktes hätte – was dann aber eine noch viel größere Ausdehnung des Gesamtkosmos nach sich gezogen hätte. Diesen Schritt sollte erst Nicolaus Co pernicus wagen. Eine nähere Ausführung der Konsequenzen für die Plane-tenbewegungen fehlt denn auch bei Aristar-chos. Die Geozentrik war für ihn als Schüler des Peri patos, der philosophischen Schule des Aristoteles, folgerichtig und unantastbar, und so war es dem Nichtgriechen Seleukos von Seleukeia (1. Hälfte 2. Jh. v. Chr.) vor-behalten, eine Heliozentrik ernsthaft zu ver-treten, ohne dass man wüsste, wie er sie im Einzelnen begründete. – Übrigens sollte die von Aristarchos aufgefundene große Distanz zwischen Mond und Sonne später für Ptole-maios das einzige Argument sein, um Venus und Merkur gegen die Tradition unterhalb der Sonne anzusiedeln, was dann seinerseits kanonisch wurde.

VoraussetzungenfürpräzisePlanetentheorien

Zwei Voraussetzungen mussten erfüllt sein, bevor ein geometrisches Modell zur exak-ten Bestimmung von Planetenörtern benutzt werden konnte: zum einen die Übertragung der ebenen Geometrie und Trigonometrie auf die Kugel, zum anderen eine genaue Veror tung der Fixsterne, relativ zu denen die Planeten sich in der Nähe des Tierkreises bewegen.

Eine Geometrie der Kugel, die «Sphairika», hatte schon Autolykos initiiert. Die entspre-chende sphärische Trigonometrie erfand und entwickelte Hipparchos von Nikaia, der im 2. Jh. v. Chr. in Rhodos wirkte (er errechnete auch eine erste Sehnentafel von 3° zu 3°). Den generellen Grundlagen der sphärischen Ast-ronomie widmeten sich weiterhin Theodo-sios von Tripolis, Bithynien (1. Jh. v. Chr.), vor allem aber, für die Antike abschließend, Menelaos von Alexandria (1./2. Jh. n. Chr.), auf dessen Er kenntnissen hundert Jahre spä-ter vor allem Ptolemaios fußen konnte. Auch er beschäftigte sich mit der Erstellung von Sehnentafeln.

Eine erste systematische Bestimmung von Fixsternörtern nahm Aristyllos vor, der in der 1. Hälfte des 3. Jhs. v. Chr. in Alexand-ria wirkte. Seine Daten wurden gezielt von Hipparchos und Ptolemaios verwertet. Spe-ziell die Umkehrpunkte von recht- zu rück-läufiger Bewegung der Planeten, den für die Bestimmung der synodischen Perioden maß-geblichen Örtern der Stillstände, beobachtete Apollonios von Perge, Pamphylien (ca. 240–ca. 170 v. Chr.), der in Alexandria studiert und geforscht hatte, bevor er nach Pergamon an den Attaliden-Hof ging. Er hatte sich der Kegelschnittlehre, speziellen Kreisproble-men, Kreisberührungen und -zusammen-setzungen, gewidmet, die er zum lange nicht übertroffenen Abschluss führte, und dabei auch die für die zukünftige mathematische Darstellung der synodischen Komponente wichtige Epizykelbewegung beschrieben.

Den unbestrittenen Höhepunkt der be-ob achtenden Astronomie vor Tycho Brahe (1546–1601) erbrachte Hipparchos in Rho-dos, wo er einen Katalog der Positionen von 850 Fixsternen erstellte, die er durch An-schluss an den Mond gewonnen hatte. Die-ser Katalog wurde unverändert auch von Ptolemaios und im 16. Jh. noch von Nicolaus

Abb. 10 Exzentertheorie der Sonne von Hipparchos: Die Sonne muss einen exzentri-schen Kreis durchlaufen, um die unterschiedliche Dauer ihrer Bewegung zwischen den vier auf der Ekliptik gleichweit (90°) voneinander entfernten Jahrespunkten (FÄ / HÄ = Frühlings-/Herbstäquinok-tium, SS / WS = Sommer-/Wintersonnenwende) unter der Voraussetzung einer gleichbleibenden Lineargeschwindigkeit erklären zu können. Die von Hipparchos beobach-tete Länge der Jahreszeiten beträgt (abgerundet auf 365 Tage):Sommer: SS–HÄ 92½d = 91° 14'Herbst: HÄ–WS 88d = 86° 48'Winter: WS–FÄ 90d = 88° 46'Frühling: FÄ–SS 94½d = 93° 12'

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Den Bewegungen der Gestirne auf der Spur – Die mathematisch-physikalischen Grundlagen antiker Astronomie

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Copernicus verwendet, allerdings auf die je-weils andere Epoche reduziert, was durch eine Entdeckung des Hipparchos erforderlich geworden war. Dieser hatte um das Jahr 128 v. Chr. bei der vergleichenden Auswertung älterer (vor allem des Aristyllos) und ei-gener Beobachtungen von Finsternissen, Solstitien und Äquinoktien bemerkt, dass der astronomische Frühlingspunkt nicht konstant geblieben, sondern um 1° in hun-dert Jahren vorgerückt war. Dieser Wert ist zwar etwas zu klein, blieb aber den-noch bis ans Ende des 16. Jhs. anerkannt – man vertraute den Daten von Hipparchos uneingeschränkt und konstruierte, als die Ab-weichung von der Beobachtung signifikant ge-worden war, im Mittelalter (Thabit Ibn Qurra aus Harran/Mesopotamien, 826/36–901) statt einer Korrektur mit der «Trepidation» (Schwankung in der Präzession der Äquinok-tien) eine zusätzliche Bewegung, um die Dif-ferenz zwischen errechnetem und beobachte-tem Frühlingspunkt wieder auszugleichen.

epizykel-undexzentertheorieZur Wiedergabe der ersten Anomalie hatte Hipparchos für die Sonne die Exzenterthe-orie eingesetzt: Dass sie sich innerhalb ihrer siderischen Periode (eine synodische Über-lagerung findet bei ihr ja nicht statt) nicht gleichförmig bewegt, zeigt schon die unter-schiedliche Dauer der Jahreszeiten zwischen den auf dem Tierkreis je einen Quadranten voneinander entfernten astronomischen Kar-dinalpunkten Äquinoktien und Solstitien. Sollte sich allerdings auch die Sonne gleich-förmig längs des Tierkreises bewegen, wie es die Physik forderte, so war dies allein auf einem zur Erde exzentrischen Kreis möglich (Abb. 10). Die zugrunde gelegten Wegpunkte waren von Hipparchos so genau bestimmt, dass seine Theorie unter Berücksichtigung der Präzession weitestgehend unverändert von Ptolemaios und der Folgezeit übernom-men werden konnte.

Seine Mondtheorie blieb jedoch angreifbar und musste von Ptolemaios kompliziert erwei-

Abb. 11 Epizykeltheorie des

Apollonios von Perge, hier für Jupiter mit seinem

zwölfjährigen Umlauf als Beispiel eines äußeren

Planeten: Eine konzentri-sche Trägersphäre (Defe-rent) führt in siderischer

Periode einen in derselben Richtung in synodischer

Periode rotierenden Epizy-kel mit dem Planeten um

die Erde. Nach Ptolemaios rotiert der Epizykel bei den

inneren Planeten Venus und Merkur in entgegen-

gesetzter Richtung.

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tert werden. Für die kleinen Planeten war nach eigenem Bekunden das Beobachtungsmaterial für eine Theorie noch nicht ausreichend, ob-wohl Apollonios mit der Epizykeltheorie ein Gestaltungselement geschaffen hatte, das sich vorzüglich zur Wiedergabe der zweiten, syno-dischen Anomalie eignete (Abb. 11): Danach wandert nicht der Planet selbst um die Erde, sondern der Mittelpunkt eines kleinen Krei-ses, des «Epizykels», gleichförmig in sideri-scher Periode auf einem konzentrischen Kreis als Deferent, während der Epizykel seinerseits mit dem Planeten auf seiner Peripherie in sy-nodischer Periode rotiert – und zwar in Ptol-emaios’ späterer Theorie bei den inneren Pla-neten Venus und Merkur in zum Deferenten entgegengesetzter, bei den äußeren dagegen in gleicher Richtung.

Apollonios und Hipparchos hatten schon bemerkt, dass beide Konzepte unter bestimm-ten Voraussetzungen auf dasselbe Erschei-nungsbild der Bewegung führen, was dann um die Zeitenwende auch mathema tisch

bewiesen wurde, so dass sie fortan nach Be-darf ausgetauscht werden konnten (Abb. 12). Es lag zudem nahe, für Planeten, bei denen beide Anomalien zusammenwirken, auch beide Theorien zu verbinden und den Epi-zykel auf einem exzentrischen Deferenten um die Erde kreisen zu lassen. Diese Ver-knüpfung ist auch schon für die Zeitenwende in astrologischen Texten bezeugt, auch wenn sie den Epizykel noch in falscher Richtung rotieren lassen.

DasptolemaiischeSystemAber seit Hipparchos waren so genaue Beob-achtungsdaten der Planetenbewegungen er-bracht worden, dass selbst mit der Verknüpfung beider Theorien keine ausreichende Genauig-keit mehr in der Beschreibung der beobachteten Längenbewegung erreicht werden konnte. Das gelang erst dem größten Astronomen der An-tike, Klaudios Ptolemaios aus Ptolemais in Oberägypten (ca. 100– ca. 160 n. Chr.), der in Alexandria wirkte. Sicherlich nicht aus-

Abb. 12 Nachweis der kinemati-schen Identität eines Ex-zenters und der Resultante eines Epizykels auf konzen-trischem Trägerkreis unter folgenden Bedingungen: gleiche Länge von Epizy-kelradius und Exzentrizität und entgegengesetzte Rotation von Epizykel und Trägerkreis.

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schließlich aus praktischen Gründen benutzte der Ägypter das ganztägige Jahr des ägyp-tischen Kalenders mit 365 Tagen für seine Berechnungen, was dann bis ins 16. Jh. beibe-halten werden sollte.

Die siderische Komponente bedurfte einer Korrektur, die darauf hinauslaufen musste, den Effekt der Exzentrizität des Deferenten zu verdoppeln, ohne dabei den Effekt der bereits die synodische Periode exakt wieder-gebenden epizyklischen Kom ponente zu ver-ändern. Die Verdoppelung der Exzentrizität durfte auch innerhalb des mathematischen Modells nur «scheinbar» sein und sich nur auf die «Geschwindigkeit» des Deferenten, nicht aber auf die von dem Epizykel bewirkte Elon-gation auswirken. Ptolemaios führte dazu eine entsprechende Ausgleichsbewegung ein, mit-tels der ein Epizykelmittelpunkt in sideri-scher Periode seinen Lauf ungleichförmig auf dem exzentrischen Deferenten durchführt (Abb. 13). Diese Ausgleichsbewegung wird später durch das zweite Keplersche Gesetz (Flächensatz) wiedergegeben.

Die ptolemaiische Theorie der Bewegung der Planeten in Länge sah jetzt und bei den Nachfolgern bis hin zu Copernicus im ein-fachsten Fall folgendermaßen aus (Abb. 14):

Der in synodischer Periode rotierende Epizy-kel mit dem Planeten wird vom exzentrischen Deferenten in siderischer Periode derart her-umgeführt, dass seine Winkelgeschwindigkeit gleichförmig bezüglich des Ausgleichspunktes A ist. Die Längenbewegung (des Epizykel-mittelpunktes) längs des Tierkreises erfolgt daraufhin ungleichförmig. Diese Längen-bewegung ist beim Mond und den fünf klei-neren Planeten, deren Weg von dem Kreis der Tierkreiszeichen (dem Weg der Sonne) nach oben und unten abweicht, durch eine Breitenbewegung überlagert, die ebenfalls mittels gleichförmiger Rotation von Sphä-ren beschrieben wird, sowie durch die täg-liche Rotation der Fixsternsphäre (Auf- und Untergänge), korrigiert durch den Wert der Präzession. All diese Komponenten wurden mittels Winkelfunktionen einzeln in Tafeln errechnet, deren Werte dann zu «Ephemeri-den», Listen der errechneten, meist täglichen Planetenstände, zusammengeführt wurden.

Ptolemaios hatte (wie entsprechend in seinen Werken zur Harmonielehre und Geo-graphie) das gesamte mathematisch-astrono-mische Wissen der Griechen (und Chaldäer/Babylonier sowie Ägypter), das ihm in der bewusst als zentrale Sammelstelle auch äl-

Abb. 13 Ptolemaiische Ausgleichs-

bewegung des Deferenten: Der Epizykelmittelpunkt

bewegt sich nicht gleich-förmig um den Mittelpunkt seines exzentrischen Defe-

renten (M), sondern zwar auf dem Deferenten, aber

mit gleichförmiger Winkel-geschwindigkeit um einen

dazu exzentrischen Aus-gleichspunkt (A), der sich

(bei den äußeren Planeten) jenseits der exzentrischen

Erde (E) im Abstand der Exzentrizität (ME) auf der

Apsidenlinie befindet. Der Deferent «rotiert» also

ungleichförmig.

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terer Literatur konzipierten Bibliothek des Museion in Alexandria zur Verfügung stand, für seine systematische Zusammenfassung in der Syntaxis mathematike, dem almagestum des Mittelalters, ausgewertet. Damit war die ältere Literatur dann aber auch bis auf einige grundlegende Schriften, die durch die Zu-sammenfassung in einem Konvolut zur Ein-führung in den Almagest erhalten blieben, überflüssig geworden. Die wissenschaftliche Astronomie lebte fortan in der Kommentie-rung seiner Schriften fort, die während der Antike vorwiegend in Alexandria selbst er-folgte. Wie bei Aristoteles’ Werken flossen neue Erkenntnisse und abweichende Beob-achtungen vorwiegend über sie in die For-schung ein, und so blieb es letztlich auch über das arabische und das lateinische Mittelalter bis ins 15. Jh.: Ptolemaios bildete über mehr als tausend Jahre den Maßstab aller Astrono-mie, soweit sie sich pragmatisch auf die Auf-gabe, die Erscheinungen am Himmel vorher-sagefähig zu berechnen, beschränkte.

Er verstieß allerdings mit seiner Ausgleichs-theorie in signifikanter Weise gegen das phy-sikalische Prinzip der Gleichförmigkeit aller Rotationsbewegung am Himmel. Die un-gleichförmige Bewegung, die auch er grund-sätzlich von einer rotierenden materiellen Sphäre ausführen ließ (die Ausgleichsbewe-gung selber galt auch später als «physikalisch» nicht darstellbar), konnte deshalb selbst im Rahmen einer modifizierten aristotelischen Physik nicht für real gehalten werden. Eine solche Modifizierung hatte der Peripatetiker Sosigenes, der zur Zeit des Ptolemaios in Rhodos wirkte, angemahnt. Er hatte im Jahre 164 n. Chr. eine ringförmige Sonnenfinsternis beobachtet, wie sie bis dahin zumindest noch nie dokumentiert worden war, und die auch in Alexandria nicht beobachtet werden konnte. Die Ringförmigkeit schien gegenüber den sich sonst total abdeckenden Gestirnen auf ein Wachsen der Sonnenscheibe oder Schrump-fen der Mondscheibe hinzuweisen, was aber bei himmlischen Körpern ausgeschlossen war. Die Erscheinung musste folglich scheinbar sein und konnte nur auf einer veränderten Entfernung zwischen beiden beruhen. Die Empirie sprach also eindeutig gegen die un-eingeschränkte Geltung der aristotelischen Konzentrizität und Exzenter und Epizykel

konnten durchaus der Physik entsprechen – nicht aber die Ausgleichsbewegung. An ihr entzündete sich immer wieder die Kritik an der mathematisch-hypothetischen Theorie des Ptolemaios, obgleich diese ihren Zweck nach kleineren Korrekturen einzelner Para-meter weiterhin voll und ganz erfüllte. Diese Kritik sollte auch den Ausgangspunkt für ihre Überwindung durch Nicolaus Copernicus bilden.

adressedesautors

Prof. Dr. Fritz Krafft Schützenstraße 18 D-35096 Weimar (Lahn)

Bildnachweis

Abb. 1 a, 4, 7, 9 a.b: Zeichnung P. Palm nach F. Krafft; 2, 3 b: nach van der Waerden (1965) 141, Taf. 16; 3 a: British Museum, London; alle übrigen Abb. vom Verfasser.

literatur

H. BALSS, Antike Astronomie. Aus griechischen und lateinischen Quellen (1949).

G. VAN BRUMMELEN, The mathematics of the heavens and the earth: The early history of trigonometry (2009).

F. KRAFFT, Die Begründung einer Wissenschaft von der Natur durch die Griechen (1971).

F. KRAFFT, «… denn Gott schafft nichts umsonst!» Das Bild der Natur-wissenschaft vom Kosmos im histo-rischen Kontext des Spannungsfeldes Gott – Mensch – Natur (1999).

F. KRAFFT, Die bedeutendsten Astro-nomen (2007).

O. NEUGEBAUER, A history of ancient mathematical astronomy (3 Bde., 1975).

N. M. SWERDLOW, The Babylonian theory of the planets (1998).

B. L. VAN DER WAERDEN, Science awakening, II. The birth of astronomy (1974, zuerst deutsch 1965, ²1968).

Abb. 14 Das Zusammenwirken der Komponenten der Eigenbewegung eines Planeten (Jupiter) in Länge nach Klaudios Ptolemaios.