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* Das Kapitel 2 dieser Arbeit beruht zu einem großen Teil auf einem Aufsatz, der unter dem Titel: sphaera sive orbis coelestis – Von den Grundlagen der Astronomie bis Johannes Kepler erschienen ist in: Joseph W. Dauben / Stefan Kirschner / Andreas Kühne / Paul Ku- nitzsch / Richsard P. Lorch (Hrsgg.): Mathematics Celestial and Terrestrial. Festschrift für Menso Folkerts zum 65. Geburtstag. (Acta Historica Leopoldina, Nr. 54 / 2008) Halle: Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina / Stuttgart: Wissenschaftliche Verlags- gesellschaft 2008, S. 489–506. Soweit beide Texte übereinstimmen, erfolgt der Wiederab- druck mit freundlicher Erlaubnis der Herausgeber der AHL und der Leopoldina. Den Herausgebern der Beiträge zur Astronomiegeschichte danke ich herzlich für die Möglichkeit, den Aufsatz in der ursprünglichen, demgegenüber erweiterten Form (nebst Einleitung und den Abschnitten zum terminologischen Wechsel bei Kepler) veröffentlichen zu können. Krafft Nr. 671 Beiträge zur Astronomiegeschichte 11 (2011), 25–99. [25] Fritz Krafft, Weimar (Lahn) orbis (sphaera), circulus, via, iter, orbita – zur terminologi- schen Kennzeichnung des wesentlichsten Paradigmawech- sels in der Astronomie durch Johannes Kepler * quae legentem fefellissent, transferentem fugere non possunt. „Was jemanden, der [den Text] nur liest, getäuscht hat, kann einem Übersetzer nicht entgehen.“ (Plinius Secundus d. J., Epistel 7, 9) Die Anwendung moderner Terminologie erschwert das Verständnis historischer astrono- mischer Texte beträchtlich und führt oft auf Irrwege. Die Studie versucht deshalb, die Vor- stellungen von dem Weg, den die Planeten vor der Fixsternsphäre zu durchlaufen scheinen, aus der ursprünglichen Sicht heraus und in der ursprünglichen Terminologie, also nicht-tele- ologisch, nachzuvollziehen. Sie geht historisch vor und erklärt: (1) Aristoteles’ System homo- zentrischer Sphären (gleichförmig um die Erde im Zentrum rotierender Hohlkugeln aus Äther), von denen jeweils mehrere den Bewegungsapparat eines Planeten bilden und kombi- niert seine scheinbar ungleichförmige Bewegung erzeugen; (2) Ptolemaios’ reduktionistisches System geometrischer Kreise (exzentrischer Deferenten, Epizykeln [26] usw.), eigentlich Groß- kreise auf nicht-homozentrischen Kugelschalen/Sphären, weshalb sie sich gleichförmig drehen; der Raum, den sie dabei insgesamt einnehmen, bildet die von zwei konzentrischen Kugelflächen umschlossene Sphäre eines Planeten; (3) Johannes’ de Sacrobosco Übertragung der geometrischen Astronomie ins Latein des Mittelalters und terminologische Präzisierung bei den Kommentatoren (circulus, sphera, orbis); (4) die gleichzeitig entstandene Theorica plane- tarum-Tradition, welche diese Geometrie physikalisiert, indem jede Teilbewegung jeweils einer partiellen, aber verschiedenformigen ,Hohlkugel‘ bzw. einer Epizykel-Vollkugel zugewiesen wird und mehrere von ihnen jeweils die Gesamt-Sphäre eines Planeten ergeben (orbes particula- res / orbis totalis) – in dieser Tradition stand auch Copernicus, nur bestanden die Gesamt-

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* Das Kapitel 2 dieser Arbeit beruht zu einem großen Teil auf einem Aufsatz, der unterdem Titel: sphaera sive orbis coelestis – Von den Grundlagen der Astronomie bis Johannes Keplererschienen ist in: Joseph W. Dauben / Stefan Kirschner / Andreas Kühne / Paul Ku-nitzsch / Richsard P. Lorch (Hrsgg.): Mathematics Celestial and Terrestrial. Festschrift fürMenso Folkerts zum 65. Geburtstag. (Acta Historica Leopoldina, Nr. 54 / 2008) Halle:Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina / Stuttgart: Wissenschaftliche Verlags-gesellschaft 2008, S. 489–506. Soweit beide Texte übereinstimmen, erfolgt der Wiederab-druck mit freundlicher Erlaubnis der Herausgeber der AHL und der Leopoldina. DenHerausgebern der Beiträge zur Astronomiegeschichte danke ich herzlich für die Möglichkeit,den Aufsatz in der ursprünglichen, demgegenüber erweiterten Form (nebst Einleitung undden Abschnitten zum terminologischen Wechsel bei Kepler) veröffentlichen zu können.

Krafft Nr. 671

Beiträge zur Astronomiegeschichte 11 (2011), 25–99.

[25] Fritz Krafft, Weimar (Lahn)

orbis (sphaera), circulus, via, iter, orbita – zur terminologi-schen Kennzeichnung des wesentlichsten Paradigmawech-sels in der Astronomie durch Johannes Kepler *

quae legentem fefellissent, transferentem fugere non possunt.„Was jemanden, der [den Text] nur liest, getäuscht hat,

kann einem Übersetzer nicht entgehen.“(Plinius Secundus d. J., Epistel 7, 9)

Die Anwendung moderner Terminologie erschwert das Verständnis historischer astrono-mischer Texte beträchtlich und führt oft auf Irrwege. Die Studie versucht deshalb, die Vor-stellungen von dem Weg, den die Planeten vor der Fixsternsphäre zu durchlaufen scheinen,aus der ursprünglichen Sicht heraus und in der ursprünglichen Terminologie, also nicht-tele-ologisch, nachzuvollziehen. Sie geht historisch vor und erklärt: (1) Aristoteles’ System homo-zentrischer Sphären (gleichförmig um die Erde im Zentrum rotierender Hohlkugeln ausÄther), von denen jeweils mehrere den Bewegungsapparat eines Planeten bilden und kombi-niert seine scheinbar ungleichförmige Bewegung erzeugen; (2) Ptolemaios’ reduktionistischesSystem geometrischer Kreise (exzentrischer Deferenten, Epizykeln [26] usw.), eigentlich Groß-kreise auf nicht-homozentrischen Kugelschalen/Sphären, weshalb sie sich gleichförmigdrehen; der Raum, den sie dabei insgesamt einnehmen, bildet die von zwei konzentrischenKugelflächen umschlossene Sphäre eines Planeten; (3) Johannes’ de Sacrobosco Übertragungder geometrischen Astronomie ins Latein des Mittelalters und terminologische Präzisierungbei den Kommentatoren (circulus, sphera, orbis); (4) die gleichzeitig entstandene Theorica plane-tarum-Tradition, welche diese Geometrie physikalisiert, indem jede Teilbewegung jeweils einerpartiellen, aber verschiedenformigen ,Hohlkugel‘ bzw. einer Epizykel-Vollkugel zugewiesenwird und mehrere von ihnen jeweils die Gesamt-Sphäre eines Planeten ergeben (orbes particula-res / orbis totalis) – in dieser Tradition stand auch Copernicus, nur bestanden die Gesamt-

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sphären bei ihm durch die Übertragung des Epizykel-Effekts auf die jährliche Erdbewegungaus sehr viel dünnerwandigen Hohlkugeln und folgten diese nicht mehr lückenlos auf ein-ander, sondern mit größeren Zwischenräumen; (5) Tycho Brahes Widerlegung der Unverän-derlichkeit und damit Festigkeit für alle Äthersphären, der Grundvoraussetzung für die Er-zeugung der indirekten Wege der Planeten in allen astronomischen Systemen ineinander grei-fender Teil- und Gesamtsphären. Vor allem Kepler erkannte, dass diese Erkenntnisse einevöllig andere Himmelsphysik erfordern. (6) Keplers Erneuerung der Himmelsphysik, indemer die erscheinenden Wege der Planeten nicht mehr aus der Kombination mehrerer Bewegun-gen (ätherischer Teil- und Gesamtsphären) entstehen ließ, sondern ursächlich aus dem ge-meinsamen Einwirken je zweier magnetartiger ,Kräfte‘ auf einen Planeten, der kreisbewegen-den der rotierenden Sonne im Zentrum und der abstoßenden und anziehenden des Planetenselbst. Für diesen durch Kräfte verursachten ,Weg‘ eines Planeten (iter, via, ambitus, circuitususw.) führte Kepler Ende 1604 als terminus technicus den Begriff orbita ein (den modernen,Orbit‘, im Deutschen ‚Bahn‘), den er dann nach und nach vermehrt und endlich ausschließ-lich verwendete, nachdem diese orbita von einem anfänglich perfekten exzentrischen Kreisüber ein Oval zu einer Ellipse geworden war. Er kennzeichnet den von ihm veranlasstenwesentlichen Paradigmawechsel der Astronomie damit auch terminologisch, wie Abschnitt 5detailliert belegt.

The use of modern terminology hinders to understand historical astronomical texts and oftenmisleads the reader. Therefore, this study tries to reconstruct the ideas of the way the planetsseem to move against the sphere of fixed stars in a non-teleological manner, that means in theoriginal view and with original terms. The study proceeds historically and explains: (1) Aristot-le’ system of homocentric spheres being hollow spheres of ether turning equally round the earthin the centre of the world, a number of which makes the apparatus of the movement of a pla-net which produces its apparently unequal motion. (2) Ptolemy’s reductionistic system ofgeometric circles (eccentric deferents, epicycles etc.), which are indeed great circles on non-concentric hollow spheres, whereupon they turn around equally. The space which they takeup in all is surrounded by an inner and an outer concentric spherical surface and makes thesphere of the planet. (3) John’s of Sacrobosco transferring of the geometric astronomy to theLatin [27] of Middle Ages and the commentators’ precision of the Greek-Latin terms. (4) Thetradition of the Theorica planetarum which makes this geometry physics by allotting every partialmoving to a partial material hollow sphere (with spherical surfaces of different centricity) orfull sphere of an epicycle (orbes particulares or partialis), a number of which makes the entiresphere of each planet (orbis totalis or totus). – Copernicus also stood within this tradition, exceptthat his entire spheres differ from the earlier ones in size or thickness (because he eliminatedthe partly very big synodic epicycles and allocated their effect as a mere parallactic one to theyearly moving of the earth) and in the great intervening spaces between each other (a resultof measuring the true distances of the planets on the basis of these parallactic effects). (5)Tycho Brahe’s refutation of the unchangingness and unpermeableness and therefore solidityof all etherial spheres, what had been the fundamental condition for creating the indirect waysof the planets in all astronomical systems with partial or entire spheres engaging one another.It was particularly Kepler who recognizes that as a result celestial physics requires a completechange. (6) Kepler’ replacement of celestial physics. He did not think any more that the appa-rent (unequal) way of a planet indirectly results from the combination of several equalmovements of etherial partial and entire spheres. His planets move their true and real waycaused directly by the joint effect of two corporal forces moving the planets both around thesun and to and from it, which latter makes the planet’s speed indeed naturally unequal. For

1 Zur Situation der Astronomie zwischen etwa 1550 und 1650 siehe jetzt Michael Weichen-han: „Ergo perit coelum ...“ Die Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der ari-stotelischen Kosmologie. (Boethius, Bd. 49) Stuttgart: F. Steiner 2004; Fritz Krafft: Astrono-mie und Weltbild zwischen Copernicus, Kepler und Newton. In: Barbara Mahlmann-Bauer(Hrsg.): Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst undMusik [10. Kongress des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung in der HerzogAugust Bibliothek, 5. bis 8. April 2000]. Wiesbaden: Harrassowitz 2004, S. 273–310.

2 Die hierzu folgenden Ausführungen beruhen auf der Einleitung zu einem Beitrag, den icheinem ‚geisteswissenschaftlichen‘ Wissenschaftshistoriker zum 60. Geburtstag widmete, undwiederholen manche Formulierungen daraus; siehe Fritz Krafft (a): Zur Philologie- und Na-turwissenschaftsgeschichte des Basalts. In: Wilhelm Kühlmann / Wolf-Dieter Müller-Jahn-cke (Hrsgg.): Iliaster. Literatur und Naturkunde in der frühen Neuzeit. Festgabe für JoachimTelle zum 60. Geburtstag. Heidelberg: Manutius Verlag 1999, S. 99–130; siehe auch densel-ben (b): Naturwissenschaftsgeschichte und Historische Naturwissenschaft. Mensch – Wissen-schaft – Magie. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 20 (2000), 5–36.

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this ,real way‘ he coins in late 1604 the specific term orbita (the modern ,orbit‘, the German,Bahn‘). This term then little by little replaced the former non-specific, general description ofthe apparent or real way (as via, iter, ambitus, circulus, circuitus etc.), and Kepler used it increa-singly from its introduction (initially frequently joined to a describing definition of this ,way‘)up to the exclusive use in the fifth book of the Epitome, after this orbita had changed its shapefrom a perfect eccentric circle to an oval and finally an elliptic form. This way Kepler marksthe paradigm change of astronomy caused by himself also terminologically.

1. Naturwissenschaftsgeschichte und ‚historische Naturwissenschaft‘

Auch das Denken der Giganten der Wissenschaft ist zu allen Zeiten niemals alleindurch die Erkenntnisse geprägt gewesen, mit denen sie aus der Sicht einer späteren Zeitwesentlich zur Erweiterung des Wissens und zum Umbruch des Denkens beigetragenhaben. Vielmehr war und ist dieses stets auch sehr viel mehr von der geistigen Traditi-on geprägt, als eine das ‚Fortschrittliche‘ aussondernde spätere Zeit aus teleologischerSicht glorifizierend gelten lassen will Das gilt besonders für Wissenschaftler in Um-bruchsituationen, und dann speziell für diejenigen, die von Überkommenem ausgehendzu neuen Sehweisen vorstießen. Eine solche Umbruchsituation stellt für die Naturwis-senschaften vor allem die Frühe Neuzeit mit dem [28] Beginn der sogenannten Wis-senschaftlichen Revolution dar, und hier insbesondere für die Physik und die Astrono-mie, in denen alte überkommene und neue, sich nur allmählich durchsetzende Seh-weisen lange Jahrzehnte nebeneinander Bestand hatten.1

Im eigenen Selbstverständnis blickt der Naturforscher und Naturwissenschaftleraber fast ausschließlich nach vorn und in Richtung auf sein eigenes Wissen und seineeigene Sehweise hin, und zwar selbst dann, wenn er vermeintlich und scheinbar dieeigene Vergangenheit in sein Denken einbezieht, die ja auch das Objekt des Wissen-schaftshistorikers bildet2. Es scheint nämlich nur so, als ob beide auf die gleichen

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materiellen und literarischen Quellen zurückgreifen. Tatsächlich sind es zwar dieselben,aber keineswegs die gleichen; denn sie dienen völlig anderen Zwecken und erscheinendem Betrachter deshalb auch jeweils anders.

Der Naturwissenschaftler erwartet von seinem Historiker (den er sich als eine ArtHofhistoriker hält) etwas völlig anderes als der geisteswissenschaftlich orientierteWissenschaftshistoriker erfüllen kann und will. Als sich der Methoden der Geistes- undGeschichtswissenschaften Bedienender ist letzterer für ihn auch kaum ein vollwertigesoder überhaupt ein Mitglied der Scientific community; denn diese definiert sich vom eng-lischen Begriff ‚science‘ her – und der meint die empirisch-experimentell und mathe-matisch vorgehende Naturforschung und die deren Ergebnisse theoretisch zusammen-fassende, deshalb ‚exakt‘ oder auch (nur vermeintlich tautologisch) ‚szientistisch‘ ge-nannte Naturwissenschaft.

Während die Arbeit des Geisteswissenschaftlers generell stets auch einen großenAnteil historischer und philologischer Aufarbeitung des gesamten Historischen Erfah-rungsraumes der jeweiligen Vergangenheit für das Ver[29]ständnis seines Objekts ent-hält, sieht der Naturwissenschaftler es insbesondere seit dem 19. Jahrhundert als urei-gene Aufgabe an, sein Objekt zu idealisieren, zu verabsolutieren und von jedem Haucheiner Geschichtlichkeit zu befreien. Das soll am ehesten durch Formalisierungen erfol-gen – und der Grad von ‚Wissenschaftlichkeit‘ einer naturwissenschaftlichen Disziplinwird seit Immanuel Kant denn auch an dem Umfang bereits erfolgter Formalisierunggemessen. ‚Wissenschaftsgeschichte‘ ist deshalb in den Augen von Naturwissen-schaftlern allerhöchstens Geschichte der eigenen Disziplin, und diese könne dann auchnur von Vertretern dieser Disziplin erarbeitet und geschrieben werden. Deren Aufgabesei es, aus der Sicht der gegenwärtigen, ‚richtigen‘ Wissenschaft aufzuzeigen, welcheEinzel- und Teilerkenntnisse daraus bereits in früheren Zeiten erbracht wurden. Dazuseien dann diese ebenfalls zu idealisieren und zu verabsolutieren, das heißt aus ihremKontext zu isolieren und von ihrem historischen ‚Ballast‘ zu befreien.

Wird vom Geisteswissenschaftler alles zur Rekonstruktion eines bestimmten His-torischen Erfahrungsraumes und eines darin befindlichen, meist literarischen Objektserforderliche Wissen gleichsam auf sein historisches Objekt fokussiert, um es aus diesemErfahrungsraum heraus sach- und formgerecht rekonstruieren, erfassen, deuten und er-klären zu können, so werden von der angesprochenen Form einer Naturwissenschafts-geschichte von und für Naturwissenschaftler die historischen Fakten aus der Sicht dermodernen Naturwissenschaft auf ihre Tauglichkeit, als Vorstufe modernen Wissensgelten zu können, geprüft und dann, um im Bilde zu bleiben, gerade von all diesemhistorisch-philologisch erfassbaren, zeitbedingten Ballast befreit und wieder auf diemoderne (absolute) Wissenschaft fokussiert.

Kennzeichnend für eine solche fachlich und gegenwartsorientierte, insgesamt teleo-logische Disziplingeschichte sind so denn auch etwa die Übersetzungen griechischer

3 Max von Laue: Geschichte der Physik. (Ullstein Buch, Nr. 222) Frankfurt am Main: Ull-stein 1947 (41959). – Ähnliche Einschätzungen finden sich innerhalb der ‚modernen‘deutschsprachigen Physikgeschichtsschreibung auch etwa bei Edmund Hoppe in seinerGeschichte der Optik (1927) und Geschichte der Physik (1926); zu seiner Vorgehensweise undteleologischen Einschätzung hatte schon damals der vom Physiker und Ingenieur ‚mu-tierte‘ Naturwissenschafts- und Technikhistoriker Hans Schimank vehement Stellungbezogen; siehe Hans Schimank: Edmund Hoppe oder über Inhalt, Sinn und Verfahreneiner Geschichtsschreibung der Physik. Archiv für Geschichte der Mathematik, der Naturwissen-schaft und der Technik 11 (1928/29), 345–351.

4 István Szabó: Geschichte der mechanischen Prinzipien und ihrer wichtigsten Anwendun-gen. Basel/Stuttgart: Birkhäuser 1976. Sonderausgabe der Stiftung Volkswagenwerk Han-nover. Mit einem Begleitwort von Armin Hermann und einer Beigabe von XIV Tafeln(hier S. XI).

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Mathematiker durch den britischen Mathematikhistoriker Thomas Little Heath mitTiteln wie: The Works of Archimedes, Edited in Modern Notation (seit 1897 immer wiedernachgedruckt). Es sind aber keine Editionen, weder des griechischen Textes noch derÜbersetzung, sondern schlicht relativ freie Übertragungen ins Englische, in denen diemathematischen Aussagen in moderne Formeln, eben „in modern notation“, gekleidetwerden, mit dem erklärten Ziel, Mathematikern einen solchen Text besser verständlichzu machen. – Es leuchtet ein, dass unter solchen Gesichtspunkten zeitlich weiterentfernten Erkenntnissen, wie denen der klassischen Antike und des Mittelalters,immer weniger Platz eingeräumt wird.

Der große deutschsprachige Mechaniker der Nachkriegszeit István Szabó empfanddenn auch in seiner Geschichte der mechanischen Prinzipien und ihrer wichtigsten Anwendungenvon 1976 aus Antike und Mittelalter nur [30] noch das ‚Archimedische Prinzip‘ alsAusgangspunkt für die vermeintlich erst mit Simon Stevin und Galileo Galilei begin-nende Prinzipien-Diskussion der Physik für aufnahmewürdig. Das ging sogar demselber von der Physik her zur Wissenschaftsgeschichte vorgestoßenen StuttgarterPhysikhistoriker Armin Hermann zu weit, so dass er in einem von der Stiftung Volks-wagenwerk für eine Sonderausgabe erbetenen Geleitwort versuchte, die für die Zweckedes Autors durchaus anzuerkennende teleologische Sehweise des Mechanikers durchfür den nicht-teleologisch vorgehenden Wissenschaftshistoriker wichtige Denkrichtun-gen zu ergänzen; und in diesem Zusammenhang zitierte er einen Brief, in dem AlbertEinstein am 15. Mai 1949 an Max von Laue zu dessen kleinen Geschichte der Physik3

schrieb4:

„Ich lese mit großem Entzücken Deine Geschichte der Physik, die mit Meisterschaft dasEntscheidende aus der Masse herausholt. Es ist wirklich verdienstvoll, daß einer, der dieganze Linie so verständnisvoll übersieht, den Philologen und Wortkrämern die Darstel-lung der Geschichte des menschlichen Gedankens aus der Hand nimmt und das großeDrama hinstellt gereinigt vom Staub der belanglosen Einzelheiten.“

5 Fritz Krafft: Historische Mathematik. Nikolai Nikolaijewitsch Stuloff sechzig Jahre alt.Nachrichtenblatt der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik24 (1974), Heft 2, 69–71. – Siehe jetzt auch Nikolai N. Stuloff: Axiom, Exaktheit undMethodenreinheit. Historische Beiträge zum Wandel von Konzepten der Mathematik. Miteiner Einleitung „Erinnerungen an Nikolai Nikolaijewitsch Stuloff“ versehen und herausgege-ben von Fritz Krafft. (Algorismus, Heft 71) Augsburg: Dr. Erwin Rauner Verlag 2008.

6 Die bei F. Krafft (wie Anm. 2/b) diskutierten Beispiele sind die Übersetzung von IsaacNewton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre. Mit Bemerkungen und Erläuterungenhrsg. von J. Ph. Wolfers. Berlin 1872 (Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchge-sellschaft 1963 und öfter), die Bemühungen um eine auf dem vermeintlichen Originaltextbasierende Ausgabe von Nicolaus Copernicus’ De revolutionibus orbium coelestium sowie dieFehleinschätzung der Leistungen der griechisch-römischen Antike aufgrund einer fälsch-lichen Zugrundelegung der modernen Auffassungen von Inhalt und Aufgabenstellung der‚Disziplinen‘ Physik (Natur), Mathematik und Technik (Kunst); hierzu siehe auch FritzKrafft: Wissenschaft – Mathematik – Technik: Ihre Wechselwirkung in der Antike. Berichtezur Wissenschaftsgeschichte 16 (1993), 129–149.

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Zumindest die Wissenschaftsgeschichte der Naturwissenschaftler kommt demnachohne jede Philologie aus; sie müsse sich sogar von ihr fernhalten und sich an die Stelleihrer Wortkrämerei setzen. Dieser Form von Wissenschaftsgeschichte geht es nicht umWorte und deren Sinnzusammenhang, ihr geht es allein um Sachen und Fakten im Sin-ne des eigenen (jeweils) gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Verstehens und Wissens– aus der Überzeugung, dass dieses das einzig richtige sei und dass es deshalb auch vonälteren Naturwissenschaftlern zumindest rudimentär hätte erfasst werden können(anderenfalls wären sie eben keine Naturwissenschaftler gewesen).

Eine solche teleologische Wissenschaftsgeschichte hat allerdings durchaus ihrenSinn, insbesondere im Hinblick auf die Didaktik der jeweiligen Inhal[31]te, auch etwader Mathematik. Ich habe sie schon 1974 aus Anlass des 60. Geburtstages eines indieser Hinsicht sehr erfolgreichen Mainzer Kollegen, des Mathematikers und Mathe-matikhistorikers Nikolai N. Stuloff, als ‚Historische Mathematik‘ (Naturwissenschaft)bezeichnet5. Die vermeintliche Antithese ‚Internalismus‘/‚Externalismus‘ deckt ja nureinen oberflächlichen Teil der anscheinend gegensätzlichen Sehweisen ab.

Es ist auch durchaus sinnvoll, wenn sich eine teleologisch verstandene Wissen-schaftsgeschichte irgendwelcher Anleihen aus den Geisteswissenschaften, etwa der Phi-lologie, enthält. Die Versuchung dazu ist natürlich besonders groß, wenn es um Edi-tionen oder Übersetzungen älterer Texte geht und der Herausgeber sich – aus welchenGründen auch immer – nicht mit dem diplomatischen Abdruck eines der Textzeugenbegnügen will6. Aber die von Albert Einstein als Sprachrohr der Naturwissenschaftlerso verurteilte ‚philologische‘ oder ‚philosophische‘ Wissenschaftsgeschichtsschreibung– heute würde er eine ‚soziologische‘ hinzufügen müssen – fällt häufig genug auch indas andere Extrem und kümmert sich ihrerseits gar nicht oder zu wenig um die von

7 (a) Johannes Kepler: Astronomia Nova – Neue, ursächlich begründete Astronomie. Über-setzt von Max Caspar. Durchgesehen und ergänzt sowie mit Glossar und einer Einleitungversehen von Fritz Krafft. (Bibliothek des verloren gegangenen Wissens [Naturwissen-schaften]) Wiesbaden: Marix Verlag 2005. – (b) Johannes Kepler – Was die Welt im Inner-sten zusammenhält. Antworten aus Schriften von Johannes Kepler (Mysterium cosmogra-phicum, Tertius interveniens, Harmonice mundi) in deutscher Übersetzung mit einer Einleitung,Erläuterungen und Glossar hrsg. von Fritz Krafft. (Bibliothek des verloren gegangenenWissens [Naturwissenschaften]) Wiesbaden: Marix Verlag 2005.

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ihren Vertretern nicht verstandenen naturwissenschaftlichen Inhalte der literarischenQuellen und Objekte. Dabei besäße die Wissenschaftsgeschichte gegenüber allenanderen historischen Disziplinen den nicht hoch genug einzuschätzenden Vorteil, dassman weiß, wie eine Aussage oder Erkenntnis der Vergangenheit hätte lauten müssen,wenn man denselben oder vielmehr den gleichen Gegenstand mit den Augen undMethoden des modernen Naturwissenschaftlers erfasst hätte; denn daraufhin wirdabschätzbar und vor allem viel deutlicher, welcher Art die anderen Voraussetzungenjeweils gewesen sein müssen, um zu verhindern, etwas genau so zu sehen, wie man esheute sieht. Man erhält also nicht [32] nur ein Gespür für die einzelnen Komponenten,die für die Wissenschaft in dem entsprechenden Erfahrungsraum der Vergangenheitnotwendig und hinreichend gewesen sind, sondern gleichzeitig eine Prüfinstanz dafür,ob die erkannten Gründe und Ursachen nicht nur richtig sind, sondern auch ausrei-chen, um damit die Andersartigkeit der Erkenntnisse und Sehweise erklären oder garbegründen zu können.

Die Kenntnis des modernen naturwissenschaftlichen Wissens weist aber den Wissen-schaftshistoriker nicht nur auf wichtige Etappen des Weges hin, der gegangen werdenmusste, um das andersartige Neue überhaupt erfahren zu können; sie ermöglicht oder er-leichtert ihm zumindest (als Voraussetzung dafür) auch den Zugang zu dem notwendigandersartigen naturwissenschaftlichen Wissen in den Textquellen aus der Vergangenheit– und ohne Kenntnis dieses Wissens ist Naturwissenschaftsgeschichte nun einmal nichtzu betreiben, nicht einmal als Institutionen- oder Sozialgeschichte, in die sich Geisteswis-senschaftler ohne diese nur mühsam zu erarbeitenden Kenntnisse deshalb gern flüchten.

Vor diesem Hintergrund möchte ich hier Beobachtungen zur deutschen Überset-zung einiger Fachtermini in Texten zur mathematischen Astronomie der Frühen Neu-zeit, speziell von Nicolaus Copernicus und Johannes Kepler darlegen, die durch dieleicht überarbeitete Neuausgabe von Übersetzungen Max Caspars7 angeregt wurden.Sie scheinen mir vor allem deshalb mitteilungswürdig, weil sie den wohl wichtigstenParadigmawechsel hin zur neuzeitlichen Astronomie (nicht zum neuzeitlichen Welt-bild) dokumentieren, nämlich den Wechsel von der seit Aristoteles herrschenden Vor-stellung, dass die uns erscheinenden (ungleichförmigen) Bewegungen der Planeten ausdem Zusammenwirken von gleichförmig rotierenden körperlichen Himmelssphären

8 ‚Physikalische‘ Erwägungen enthält eigentlich nur Syntaxis mathematica I, 3, wo denn auchder aristotelische ‚Äther‘ für die Gleich- und Kreisförmigkeit der Bewegungen verantwort-lich gemacht wird (Pars I, p. 14, 14 Heiberg). – Die Schriften des Ptolemaios werden hier zi-tiert nach: Claudii Ptolemaei opera quae exstant omnia, edidit J. L. Heiberg. Volumen I:Syntaxis mathematica [2 Partes] / Volumen II: Opera astronomica minora. Leipzig: B. G.Teubner 1898 –1903/1907. Zur Syntaxis siehe auch folgende Übersetzungen: Des ClaudiusPtolemäus Handbuch der Astronomie. Aus dem Griechischen übersetzt und mit erklärendenAnmerkungen versehen von Karl Manitius. 2 Bde., Leipzig: B. G. Teubner 1912–1913 (mitVorwort und Berichtigungen von O. Neugebauer. 2 Bde., Leipzig: B. G. Teubner 1963); Pto-lemy’s Almagest. Translated and Annotated by Gerald J. Toomer. London: Duckworth1984 (Sonderausgabe, mit einem Vorwort von Owen Gingerich, Princeton, N. J.: Prince-ton University Press 1998).

9 So übersetzte Max Caspar orbis bei jeder Benutzung durch Johannes Kepler (gelegentlichmit Ausnahme der konzentrischen ‚Sphären‘ des Aristoteles) mit ‚Bahn‘, so dass es zu soabsurden Formulierungen kommt wie, dass Brahe die ‚festen Bahnen‘ abgeschafft habe

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(gemäß einem ‚Parallelogramm der Bewegungen‘ auf Kugeln, worüber die sogenannteSphärik handelt) resultieren, von denen für jedes einzelne Bewegungselement auchjeweils eine eigene Äther-Sphäre erforderlich ist, woraufhin die wahrgenommeneBewegung eines jeden Planeten (die ‚Resultante‘) nur scheinbar ungleichförmig erfolgt, hinzu der Vorstellung von einer „Astronomie ohne Sphären“ (astronomia sine orbibus), in derdie Planeten nicht mehr in rotierende Sphären eingebettet sind und von ihnen mittelbarbewegt werden, sondern frei im Raum (vorerst im [33] Äther) schweben und vonäußeren (und inneren) Kräften direkt längs des tatsächlich ungleichförmig durchlau-fenen Weges, auf dem er beobachtet wird, als ihrer ‚Bahn‘ bewegt werden.

2. Die Astronomie der Äthersphären

2.1. Aristoteles und Klaudios Ptolemaios

In der ptolemaiischen Tradition einer mathematischen (vorerst geometrischen) Astro-nomie wird zwar ausschließlich von ‚Kreisen‘ (κύκλοι, circuli) gesprochen, und schonPtolemaios hatte sich die Freiheit genommen, von physikalischen Überlegungen undBegründungen Abstand zu nehmen8. Ein solcher ‚Kreis‘ war aber niemals der Weg, aufdem ein Planet am Himmel umläuft. Er war vor Johannes Kepler vielmehr stets diemittelbare Kreisbewegung des ‚Äquator‘-Großkreises einer (notwendig gleichförmig)rotierenden Kugel oder Kugelschale (orbis). Auf dem Äquator der innersten (letzten)rotierenden Kugel(schale) seines speziellen Systems befindet sich der jeweilige Planet.Dessen Bewegung bildet somit das letzte, resultierende Glied des gesamten Systems(ebenfalls orbis) eben dieses Planeten, in dem jeweils mehrere für sich selbständigegeometrische Elemente zusammen wirken. Solche ,Kreise‘ dürfen deshalb auch nichtmit ‚Bahn‘ (englisch: orbit) übersetzt werden, wie es die teleologisch orientierte Astro-nomiegeschichte aus nachkeplerscher Sicht fast ausnahmslos tut.9 [34]

und die ‚Bahn‘ eines Planeten Epizykel und Exzenter mitführe (trage). – Die Überset-zungen Caspars (Johannes Kepler: Das Weltgeheimnis – Mysterium cosmographicum.Übersetzt und eingeleitet von Max Caspar. München/Berlin: R. Oldenbourg 1936;Johannes Kepler: Neue Astronomie. Übersetzt und eingeleitet von Max Caspar. Mün-chen/Berlin: R. Oldenbourg 1929, jeweils mehrmals bis in die Gegenwart nachgedruckt)sind von mir in bearbeiteter Form, in der insbesondere solche falschen oder doch irrefüh-renden Termini beseitigt wurden, neu herausgegeben worden; siehe Kepler (wie [34]Anm. 7/a und b). Caspars Übersetzung von orbis wird auch übernommen von PeterMichael Schenkel: Johannes Kepler, Gesammelte Werke. Register zu Band III: Astro-nomia nova. Bearbeitet im Auftrag der Kepler-Kommission der Bayerischen Akademieder Wissenschaften. (Berichte der Kepler-Kommission, Heft 6) München: BayerischeAkademie der Wissenschaften 1995, S. 21 als Oberbegriff: „planetarum orbes <Bahn-kreise>“; vgl. auch Anm. 79.

10 Wie Buch 2 ist auch dieser Teil der Schrift (Buch I, Teil 2) nur in arabischer Übersetzungüberliefert; sie wurde 1967 publiziert von Bernard R. Goldstein: The Arabic Version ofPtolemy’s Planetary hypotheses. (Transactions of the American Philosophical Society, N.S.57, Part 4) Philadelphia: The American Philosophical Society 1967. – Syntaxis mathematicaIV, 1; Pars I, p. 266, 1 f. Heiberg, meint º σnαÃρα τ−ς σgλήνης die Mondkugel (im Lateini-schen dann meist globus).

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In der Syntaxis mathematica, dem später so genannten Almagestum, benutzte KlaudiosPtolemaios (ca. 100 bis ca. 160) den Begriff ‚Planetensphäre‘ neben I, 8, wo er die ‚phy-sikalischen‘ Grundlagen abhandelt, nur in dem Kapitel (IX, 1), das zu Beginn der Be-handlung der Theorie der fünf Planeten neben Sonne und Mond über die Anordnung(τάξις) der ‚Sphären‘ im All handelt – dem entspricht dann in seinen Hypotheses planeta-rum Buch I (2), Abschnitt 210. Dieses wird in der Folgezeit, insbesondere in der nicht-technischen Sprache, die wichtigste Bedeutung des Begriffs σnαÃρα / sphaera (als grie-chisches Fremdwort für das lateinische orbis, anfangs als spera) / orbis; er bezeichnet,präzis, die innerhalb einer äußeren konvexen und einer inneren konkaven Begren-zungskugel eingeschlossene, relativ ‚dickwandige‘ Hohlkugel, deren ‚Wand‘ aus unver-änderlichem Äther besteht und die Fixsterne beziehungsweise einen der Planeten-(körper) – samt den geometrischen Bewegungselementen seiner ‚Theorie‘ – in sichenthält und durch ihre notwendig gleich- und kreisförmige Rotation mit herumführt.– Deshalb werden die ‚Sphären‘ auf bildlichen Darstellungen des Mittelalters auchnicht als Kreis-Linien abgebildet, sondern als mehr oder weniger breite Ringe, als diediese ‚Sphären‘ bei einem Schnitt durch das gesamte All erschienen.

Ptolemaios hatte sich zwar in der Syntaxis, wie zuvor auch Eudoxos von Knidos(408– 355), Apollonios von Perge (ca. 260 bis ca. 190) und Hipparchos von Nikaia (2. Jh.v. Chr.), weitestgehend reduktionistisch auf die beschreibenden Elemente der ebenenund sphärischen Geometrie und die Ableitung von Aussagen aus eben diesen Elementenbeschränkt, hatte aber das gesamte aus geometrischen Gebilden zusammengesetzteBewegungssystem (die ‚Theorie‘) eines Planeten auch als σnαÃρα bezeichnet, wie zuvor

11 Aristoteles: Metaphysik XII, 8, 1073b17–1074a14. – Die mathematischen ‚Sphären‘ vonEudoxos und Kallippos werden erst bei Aristoteles zu aus Äther bestehenden ‚physischen‘(Hohl-)Kugeln, woraufhin er dem physikalischen Sphärensystem eines jeden Planeten ne-ben den zur Beschreibung der erscheinenden Bewegung erforderlichen ‚Sphären‘ eine umjeweils eine geringere Anzahl von so genannten ‚zurückrollenden Sphären‘ (•νgλιττοØσαισnαÃραι) innen hinzurechnen muss, um das physikalisch entstehende spezifische Bewe-gungsbild eines Planeten rückgängig zu machen (zu kompensieren). Die Sphären über-tragen allerdings nicht ihren Drehimpuls (wie aus moderner Sicht immer wieder an-genommen wird), sondern verändern nur die Stellung der Achse der jeweils nach innenfolgenden, mit je spezifischer Eigenrotation versehenen Sphäre, deren Pole in der äußeren(wie etwa die Ekliptikpole in der Sphäre der Himmelspole) gelagert sind. Jede der zusätzli-chen Sphären rotiert mit derselben Periode wie die von ihr kompensierte Sphäre, aber inentgegengesetzter Richtung, so dass nur die Richtung der Achse der täglichen Rotationum die Himmelspole als Ausgangslage für das System des folgenden Planeten erhaltenbleibt. Siehe dazu Fritz Krafft : „... denn Gott schafft nichts umsonst!“ Das Bild derNaturwissenschaft vom Kosmos im historischen Kontext des Spannungsfeldes Gott –Mensch – Natur. (Natur – Wissenschaft – Theologie. Kontexte in Geschichte undGegenwart, Bd 1) Münster: LIT Verlag 1999, S. 191–193.

12 Πgρ τäν καh’ Òµαλ¬ν κα ¦γκύκλιον κίνησιν ßποhέσgων. K. Manitius übersetzt in diefalsche Richtung weisend ¦γκύκλιος κίνησις stets mit „Bewegung auf Kreisen“. Die Be-wegung erfolgt nicht ‚auf‘ oder längs Kreisen, sondern ein Punkt auf einer rotierendenSphäre beschreibt einen Kreis, seine Bewegung erfolgt ‚kreisförmig‘, und zwar aufgrundder Sphärenrotation ‚naturgemäß‘ (siehe Syntaxis III, 3; Pars I, p. 216, 6 f.: Òµαλα µένgÆσιν π÷σαι κα ¦γκύκλιοι τ± nύσgι).

13 Ptolemaios: Syntaxis III, 3; Pars I, p. 216, 12 f. Heiberg. – Zur Bedeutung von κατά (längs,auf) und ¦πί (auf) in der Formulierung der Ausführung einer Bewegung auf einem ‚Kreise‘siehe hier p. 216, 22 –217, 2: ... ³τοι κατ� µ¬ Òµοκέντρων τè κόσµå κύκλων [...] ποιgÃσhαιτ�ς κινήσgις ´ κατ� Òµοκέντρων µέν, οÛχ �πλäς δ¥ ¦π’ αÛτäν, •λλ’ ¦π ©τέρων ßπ’ ¦κgίνωνngροµένων, καλουµένων δ¥ ¦πικύκλων („... führen ihre Bewegungen auf [längs] zum Kosmosnicht konzentrischen Kreisen oder auf konzentrischen aus, dann aber nicht direkt, sondernauf anderen [Kreisen], die von jenen bewegt werden, sogenannten Epizykeln“).

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Aristoteles die einzelnen konzentrischen Äthersphären11, von denen jeweils [35] mehrereden Bewegungsapparat eines einzelnen Planeten(körpers) bilden sollten, der seinerseitsin die jeweils innerste seiner Sphären als eine Art ‚Verdichtung‘ eingebettet gedacht war.Im dritten Kapitel des dritten Buches, in dem er die „Hypothesen zur gleichförmigen undkreisförmigen[12] Bewegung“, die Exzenter- und die Epizykeltheorie, einführt, hattePtolemaios allerdings ausdrücklich betont, dass die scheinbaren Anomalien der wahrge-nommenen (resultierenden) Umlaufbewegungen der Planeten aufgrund dieser ‚Hypo-thesen‘ als bloße Effekte der unterschiedlichen Lagen und Stellungen „der Kreise direktauf den Sphären [entstehen], mit deren Hilfe sie ihre Bewegungen ausführen“ (τäν ¦νταÃς σnαίραις αÛτäν κύκλων, δι’ ôν ποιοØνται τ�ς κινήσgις)13. Darauf weist er nochmalsim zweiten Kapitel des neunten Buches hin, das auf die allgemeinen Schwierigkeiteneiner Planetentheorie eingeht und seine Vorgehensweise rechtfertigt. Diese wende ein

14 Ptolemaios: Syntaxis IX, 2; Pars II, p. 211, 24 ff. Heiberg; vgl. demgegenüber die Überset-zungen von Toomer (wie Anm. 8, S. 422: „... to use a procedure not in strict accordancewith theory (for instance, when we carry out proofs using without further qualification thecircles described in the planetary spheres by the movement [of the body, i.e.] assumingthat these circles lie in the plane of the ecliptic, to simplify the course of the proof) ...“)und Manitius (wie Anm. 8, S. 97: „... wenn wir genötigt werden, ein mit der Logik nichtganz in Einklang zu bringendes Mittelchen anzuwenden, wie z. B. wenn wir unsereBeweise unter der Annahme führen, dass die von der Bewegung an ihren Sphären be-schriebenen Kreise feine Linien seien und in derselben Ebene mit der Ekliptik liegen, weildiese Annahme zur Erleichterung des Beweisverfahrens dient ...“).

15 Théon d’Alexandrie: Commentaire sur les livres 3 et 4 de l’Almageste. Texte établi etannoté par A. Rome (Commentaires de Pappus et de Théon d’Alexandrie sur l’Almageste,Tome III). (Studi e Testi, 106) Vatikanstadt: Biblioteca Apostolica Vaticana 1943, S.845–877, hier S. 853.

16 Ptolemaios: Hypotheses planetarum I (2), 3–5; p. 7–9 Goldstein.17 Ptolemaios: Hypotheses planetarum I (1), 2; p. 72, 24 f. Heiberg.

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insgesamt logisch eigentlich nicht berechtigtes (παρ� τÎν λόγον) Mittel an, insofern unteranderem die Beweise so geführt werden, als ob die Bewegungen unmittelbar „auf bloßenKreisen erfolgten, die an (auf) den Sphären von der[en] Bewegung beschrieben werden“(ñς ¦π ψιλäν τäν ¦ν [36] ταÃς σnαίραις αÛτäν γραnοµένων ßπÎ τ−ς κινήσgως κύκλων)14

– während sie doch realiter mittelbar durch die entsprechend um ihre Achsen rotierendenSphären bewegt werden. Das ist in der Tradition dann weitgehend unberücksichtigt ge-blieben.

Theon von Alexandria (4. Jh. n. Chr.) spricht dann in seinem Kommentar15 zur erstenStelle von den ‚Sphären‘ der Planeten, die, eingebettet „in den aristotelischen kreisbeweg-ten Körper“ (die in 24 Stunden rotierende, der Bewegung der Fixsternsphäre entspre-chende Sphäre), jeweils einen Exzenter oder Epizykel auf Konzenter enthielten, ausderen Ausmaßen (Exzentrizität, Epizykelradius) der Abstand von konvexer äußerer undkonkaver innerer Begrenzungskugelfläche einer Planetensphäre, ihre ‚Dicke‘ (‚Tiefe‘),resultiere (òστg τÎ µgταξ× τäν κύκλων διάστηµα πάχους ³τοι βάhους τυγχάνgιν τ−ς [hier:]ºλιακ−ς σnαίρας). Diese Betrachtungsweise hatte aber auch Ptolemaios schon in denHypotheses planetarum angewandt, um die Ausmaße der Saturnsphäre (und damit des vonder angrenzenden Fixsternsphäre begrenzten Alls) zu berechnen16; und auch hier hatteer ausdrücklich betont, dass er die Vereinfachung der (mathematischen) Beschreibungeiner Bewegung beziehungsweise ihre Reduzierung auf ‚Kreise‘ zur einfacheren Kon-struktion der hier beschriebenen Armillarsphäre vornehme und dazu nur so tue, „als obdie Kreise abgelöst wären von den Sphären, die sie enthalten“17 – so dass er auf die frü-her, in der Syntaxis, geführten mathematischen Beweise zurückgreifen könne.

18 Hier ‚Astrolabion‘ (‚Stern[ort]erfasser‘) genannt, was später der Fachterminus für diePlanisphäre, das scheibenförmige Astrolab, wurde.

19 Manitius (wie Anm. 8, Bd. 1, S. 254–258) gab in seiner Übersetzung des Almagest-[37]Kapitels (V, 1), das die Konstruktion und Herstellung einer die fiktiven Hilfskreise amHimmel enthaltenden Armillarsphäre (‚Astrolab‘) beschreibt, diese ,Kreise‘ richtig mit demspäteren Fachausdruck ‚Ringe‘ wieder. Schon Pappos von Alexandria hatte in seinemAlmagest-Kommentar das Wort κύκλος stillschweigend durch κρίκος (‚Ring‘) ersetzt; siehePappus d’Alexandrie: Commentaire sur les livres 5 et 6 de l’Almageste. Texte établi etannoté par A. Rome (Commentaires de Pappus et de Théon d’Alexandrie sur l’Almageste,Tome I). (Studi e Testi, 54) Vatikanstadt: Biblioteca Apostolica Vaticana 1931, S. 1–16.

20 Ptolemaios spricht in diesem Zusammenhang (Hypotheses planetarum I, 2; p. 74, 2 Hei-berg) auch von einem παράδιγµα, Goldstein (wie Anm. 9) von ‚model‘.

21 Ptolemaios: Hypotheses planetarum I (1), 11; p. 90, 8 Heiberg.22 Ptolemaios: Hypotheses planetarum I (1), 10, 13 und 14; p. 86, 2; 100, 4; 104,5 Heiberg;

siehe auch p. 86, 27 f.: νοgίσhω κυκλίσκος πgρ τÎ κέντρον τ−ς ¦πικύκλου σnαίρας.23 Plolemaios: Hypotheses planetarum I (2), 1; p. 6a Goldstein.24 Siehe dazu oben Anm. 8.

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Während die in der Syntaxis (V, 1) beschriebene Armillarsphäre18 gemäß dem mathema-tischen Grundstil aus (materiellen, sc. hölzernen) ‚Kreisen‘, vielmehr ‚Ringen‘19, bestehensoll, sind die Himmelskreise des ‚materiel[37]len‘/‚mechanischen‘ Sphärenmodells20 derHypotheses die Überbleibsel der einzelnen Hohlkugeln der wirklichen Welt, die so weit „ab-gesägt“ wurden, bis jeweils ein ‚Kreis‘ übrig blieb, der sie repräsentiere. Für die in dem‚künstlichen‘ Modell vereinfacht wiedergegebene ‚natürliche‘ Welt sprechen dann ins-besondere die Hypotheses planetarum von der ‚Fixsternsphäre‘ (º τäν •πλανäν σnαÃρα), von„den ‚Sphären‘ der Planeten, auf (an) denen die ‚Kreise‘ zu denken sind“ (¦π τ−ς ºλιακ−ς[σgληνιακ−ς / τοØ ΈρµοØ, Άρgως, ∆ιÎς, Κρόνου] σnαίρας νοgίσhω κύκλος) – nur im Falleder Venus wird der Begriff ‚Sphäre‘ durch den Begriff ‚Stern‘ ersetzt (¦π τοØ τ−ς Άnρο-δίτης •στέρος)21, wie üblicherweise in der Syntaxis – und vom kleinen Kreis auf der ‚Epi-zykelsphäre‘ (¦ν τ± ¦πικύκλå σnαίρ‘ κυκλίσκος)22. Letztere unterscheide sich von allenanderen ‚Sphären‘ hauptsächlich dadurch, dass sich die Erde nicht in ihrem Inneren be-finde und sie sich nicht um diese herum bewege23 (ihr Zentrum sitze vielmehr auf den ex-zentrischen Sphären der Deferenten) sowie eine Vollkugel und keine Hohlkugel sei.

Dieser methodische abstrakte Reduktionismus ist jeweils zu beachten, wenn in derptolemaiischen Tradition einer geometrischen Astronomie weitgehend ausschließlichvon ‚Kreisen‘ (κύκλοι, circuli) gesprochen wird. Schon Ptolemaios hatte sich ja weit-gehend physikalischer Begründungen enthalten24; und so sollten diese ‚Kreise‘ dennauch niemals die ‚Wege‘ sein, längs denen ein Planet am Himmel umläuft.

25 Kritische Textedition in Lynn Thorndike: The Sphere of Sacrobosco and Its Commen-tators. Chicago usw.: The University of Chicago Press 1949, S. 76–117; hier S. 79. – Alsfür Kepler zeitgenössische Ausgabe habe ich herangezogen: Sphaera Ioannis de Sacro-bosco emendata: Eliae Vineti Santonis Scholia in eandem Sphaeram, ab ipso autore resti-tuta, et Annotationibus Iacobi Martini Pedemontani aucta. [...] Post omnes omnium edi-tiones, auctior & locupletior. Leiden: A. Pillehotte 1617; hier S. 2 . – Zu Sacrobosco siehespeziell Olaf Pedersen: In Quest of Sacrobosco. Journal for the History of Astronomy 16(1985), 175–221.

26 In den frühen Kommentaren auch „sphaera mechanica“ genannt. 27 Mit „spera terre“ (in den Kommentaren auch „globus / orbis terrae / solis“) ist wiederum

die Erdkugel gemeint, die jeweils zur Hälfte von der Sonne beleuchtet werde.28 Robertus Anglicus: Kommentar zu De sphaera, Lectio XIV; S. 194 bei Thorndike (wie

Anm. 25).

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2.2. Johannes’ de Sacrobosco De spera und seine Kommentatoren

In dieser ptolemaiischen Tradition steht auch der Traktat De spera von Johannes de Sa-crobosco (1. Hälfte 13. Jh.)25, der gegen Ende der ersten [38] Hälfte des 13. Jahrhun-derts auf der Basis des Almagestum entstand und bis ins 17. Jahrhundert dem Unterrichtder Eingangsfakultät der Universitäten zugrunde gelegt wurde. Hier heißt es entspre-chend, dass die himmlische, vom Äther eingenommene Region aus „neun Sphären“(novem spere) bestehe, nämlich der des Mondes, Merkurs, der Venus, der Sonne, desMars, Jupiters, Saturns und der Fixsterne sowie des „letzten Himmels“ (celi ultimi). Aufsie beziehe sich der Begriff spera „secundum substantiam“, es sollen also ‚physische(natürliche) Sphären‘ sein – im Gegensatz zur spera „secundum accidens“, welche keinewirkliche ‚Sphäre‘ sei, sondern ein Instrument mit den sphärischen Hilfskreisen derAstronomie am Himmel (als „Sphaera recta“ oder „Sphaera obliqua“), die Sacroboscodann im 2. Kapitel einzeln beschreibt und im 3. anwendet. Die für die Beschreibungder ‚Armillarsphäre‘26 verwendete Sphärik spricht auch vom „Kreis auf der Sphäre, derauf der Oberfläche der Sphäre beschrieben wird“ (circulus in sphaera, qui descriptus insuperficie sphaerae). Das vierte Kapitel behandelt dann die einzelnen ‚Kreise‘ (circuli) derSonnen-, Mond- und Planetentheorie (Exzenter/Deferent, Epizykel, Ausgleichskreis)und enthält sich dazu des Begriffs ‚sphaera‘ (spera)27.

Die bereits früh sehr zahlreichen Sacrobosco-Kommentare werden gelegentlichschon präziser. Robertus Anglicus spricht bereits 1271 etwa bei der Mondtheorieabschließend von der „Mondsphäre, die alle diese [vier Mond-]Bewegungen enthält“(spera lune continens omnes istos motus)28, und führt dann die ptolemaiischen Tiefenausmaßeder einzelnen Planetensphären (Entfernung der inneren Oberfläche von der Erde und‚Dicke‘ der ‚Sphäre‘) an. Für den lateinisierten griechischen Begriff ‚sphaera‘ wird in derFolge auch nach und nach häufiger die lateinische Übersetzung ‚orbis‘ gewählt. SchonJohn Peckham hatte in seinem eigenen, um 1250 abgefassten Traktat hierfür einheitlichdas lateinische Wort verwendet und nur für die fiktive ‚Sphaera materialis‘ den Begriff

29 Siehe die Exzerpte bei Thorndike (wie Anm. 25), S. 445–450; hier S. 448/449.30 Selbst noch in der Erstlingsschrift Johannes Keplers, dem Mysterium cosmographicum (in der

Astronomia nova ist der Ausdruck mir dagegen nicht mehr begegnet); siehe etwa KGW I,9, 4 und 6 (die orbes der 6 Planeten); 10, 35 (ad numerum Sex Coelorum mobilium, andererAusdruck für orbes mobiles, den Caspar [wie Anm. 9] stets mit „bewegliche Bahnen“ über-setzt); 47, 9 / 12 (ab ima coeli lunaris superficie / coeli Martij locus), usw.; siehe auch Epitome,KGW VII, 265, 7–17 und 320, 16 ff. (dazu unten S. 95 sowie Anm. 98). – Keplers Schrif-ten werden hier mit KGW (und Band in römischen sowie Seite / Zeile in arabischenZiffern) zitiert nach: Johannes Kepler, Gesammelte Werke. Begründet von Max Caspar,hrsg. von der Kepler-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 1ff., München: C. H. Beck 1939 ff. (kurz vor dem Abschluss).

31 Mir liegt die fünfte Auflage vor (a): Christophori Clavii Bambergensis, ex Societate Iesu, inSphaeram Ioannis de Sacro Bosco Commentarius. Nunc quinto ab ipso Auctore hoc anno1606. recognitus, & plerisque in locis locupletatus. Rom: J. P. Gellius 1606 [zuerst 1570,²1581, 31585, 41594], hier S. 19. Die im Rahmen der Gesamtausgabe der Clavius-Schriftenim Mainzer Jesuitenkollegium noch zu Lebzeiten Clavius’ 1611 erschienene und von ihmautorisierte Ausgabe liegt jetzt als Nachdruck vor (b): Christoph Clavius: In SphaeramIoannis de Sacro Bosco Commentarius. Mit einem Vorwort hrsg. von Eberhard Knobloch.Hildesheim usw.: Olms-Weidmann 1999; hier S. 10. – Zu C. Clavius siehe Albert Krayer:Mathematik im Studienplan der Jesuiten. Die Vorlesung von Otto Catenius an der Univer-sität Mainz (1610/11). (Beiträge zur Geschichte der Universität Mainz, Bd 15) Stuttgart: F.Steiner 1991, besonders S. 72–81; James M. Lattis: Between Copernicus and Galileo:Christoph Clavius and the Collapse of Ptolemaic Cosmology. Chicago usw.: The Universityof Chicago Press 1994.

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‚sphaera‘ (spera) beibehalten, was natürlich für die Unterscheidung hilfreich war29: „DieAnordnung der [39] Sphären ist so, dass die Sphäre des Mondes an erster Stelle steht,die zweite die des Merkur [...], die siebte die des Saturn ist und dann die Fixsternsphäremit den oberen Sphären [folgt].“ (Ordo autem orbium talis est ut primo sit orbis lunarissecundus mercurialis tertius venerealis quartus solaris quintus martialis sextus iovialis septimus satur-nalis et deinde celum sydereum cum orbibus superioribus.) – „... zu lernen ist, dass ein Unter-schied besteht zwischen den Bewegungen der himmlischen Sphären und der Kreise,die in der materiellen Sphäre verwendet werden ...“ (...ad sciendum autem diversitatem mo-tuum orbium celestium accipienda est distinctio circulorum qui in materiali spera ponuntur ...). Die‚Planetensphäre‘ (orbis coelestis) in diesem Sinne wird dann auch ‚Himmel‘ (coelum) ge-nannt30.

Später hat sich die Unterscheidung terminologisch gefestigt, so dass Christoph Cla-vius in seinem voluminösen, die Sacrobosco-Ära zum Abschluss auf den Gipfel füh-renden, erstmals 1570 erschienenen Kommentar regelrecht definieren konnte31:

„Die tatsächliche Weltkugel (sphaera mundi secundum substantiam) unterteilt der Autor inneun Sphären. Bei dieser Unterteilung verwendet er nicht ‚Sphäre‘ in dem Sinne, dass siealle Körper, die das Universum bilden, umfasst, also auch die Himmel und die Elemente.Dann wären es nämlich mehr als neun [...]. Vielmehr versteht er unter einer ‚Himmelssphä-

32 Siehe auch oben Anm. 30.33 Diese Begriffe (auch als ‚sphaera ...‘) entsprechen der Tradition der Theorica-Literatur.34 Nikolaus Kopernikus: Erster Entwurf seines Weltsystems sowie eine Auseinandersetzung

Johannes Keplers mit Aristoteles über die Bewegung der Erde. Nach den Handschriftenhrsg., übersetzt und erläutert von Fritz Roßmannm. München: Hermann Rinn 1948; hierS. 10.

35 Nicolaus Copernicus: Das neue Weltbild. Drei Texte: Commentariolus, Brief gegenWerner, De revolutionibus I. Im Anhang eine Auswahl aus der Narratio prima des G. J.

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re‘ (sphaera coelestis) diejenige, die beständig ist und umfasst wird von zwei Oberflächen,einer konvexen äußeren [40] und einer konkaven inneren; sie wird ‚orbis‘ im eigentlichen Sinnegenannt. Ein orbis unterscheidet sich nämlich von einer sphaera dadurch, dass letztere vonder Mitte her als ganze dicht und gediegen ist und nur eine einzige Oberfläche besitzt, dasheißt nur von einer konvexen äußeren umschlossen wird, während ein orbis von zweiOberflächen begrenzt wird, einer äußeren und einer zweiten, inneren; und derartig sindalle ‚Himmel‘“

– das sind: die Planetensphären32, die Fixsternsphäre und die nach außen folgenden‚Himmel‘, später insgesamt bis zu 14.

Eine sphaera im Sinne einer solcher ‚Himmelskugel‘, „Sphäre oder vielmehr Himmels-kugel“ (sphaera seu orbis coelestis), fährt Clavius dann fort, bestehe bei den Planeten

„aus vielen Teilkugeln, die gemäß der Bewegung eines Planeten angeordnet sind: Entspre-chend sagt man, jeder Planet besitze einen eigentlichen und ihm eigentümlichen orbis, derseinerseits andere, partielle orbes enthält, teils konzentrische, teils exzentrische, wie in derTheorica planetarum deutlich gemacht wird. Nach dieser, später abzuhandelnden Art undWeise wird angenommen, dass bei dieser Unterscheidung eine Sphäre im Sinne einer voll-ständigen Himmelskugel [eines vollständigen himmlischen orbis: ‚orbis totus‘ oder ‚totalis‘33]– wenn wir über die ‚Himmel‘ der Planeten sprechen – mehrere andere partielle (orbes) be-sitzen [‚orbis partialis‘ oder ‚orbis particularis‘], die gemäß der Bewegung des Planeten an-geordnet sind, seien diese konzentrisch oder exzentrisch.“

2.3. sphaera sive orbis coelestis

Der Ausdruck „sphaera sive orbis coelestis“ stellt also eine begriffliche Präzisierungdar, keine sachliche Alternative: sphaera, oder vielmehr [präziser] orbis coelestis. BeideWörter bezeichnen denselben Gegenstand! Und das taten sie beispielsweise auch schonbei Nicolaus Copernicus, wenn er im ersten Axiom seines Commentariolus von etwa1510 schreibt:

„Nicht alle Himmelskugeln oder Sphären haben ein [und denselben] Mittelpunkt.“(Omnium orbium coelestium sive sphaerarum unum centrum non esse.)

Fritz Roßmann hatte das Axiom übersetzt mit den Worten34: „Für alle Himmels-kreise oder Sphären gibt es nicht nur einen Mittelpunkt“, Hans [41] Günter Zekl neu-erdings mit35: „Der Mittelpunkt aller Himmelskreise oder -kugeln ist nicht ein ein-

Rheticus. Übersetzt, hrsg. und mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von HansGünter Zekl. Lateinisch–deutsch. (Philosophische Bibliothek, Bd 300) Hamburg: FelixMeiner1990; hier S. 4.

36 Johannes Kepler: Prodromus dissertationum cosmographicarum, continens Mysteriumcosmographicum, de admirabili proportione orbium coelestium [...] demonstratum perquinque regularia corpora Geometrica. Tübingen: Georg Gruppenbach [übrigens auch M.Mästlins Verlag] 1596, Caput I, p. 14; KGW I, 17, 20 f.: Primus est ipsius Sphaerae seu Orbis,qui tellurem ceu stellam circa Solem annuatim circumagit.

37 Kepler [Caspar] (wie Anm. 9/a), 34.38 Nicholas Copernicus: Minor Works. Edited by Pawel Czartoryski. Translation and Com-

mentary by Edward Rosen with the assistance of Erna Hilfstein. (Nicholas Copernicus,Complete Works, Vol. III) Warschau/Krakau: Polish Scientific Publishers 1985; hier S.81.

39 Three Copernican Treatises, The Commentariolus of Copernicus, the Letter against Werner,the Narratio prima of Rheticus. Translated with introduction and notes by Edward Rosen[1939]. Second edition, revised with an annotated Copernicus bibliography, [42] 1939–1958. New York: Dover Publications 1959 (³1971); hier S. 58.

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ziger“. Sie gehen also davon aus, dass beide Wörter etwas Anderes, etwas Unter-schiedliches bezeichnen, ‚sphaera‘ eine Kugel (Roßmann lässt den aus dem Griechi-schen übernommenen Begriff sphaera unübersetzt), ‚orbis‘ dagegen einen Kreis („Him-melskreis“). Im 3. und 6. Axiom übersetzt Roßmann orbis gar mit „Bahnkreis“, was erdann im gesamten Text beibehält, worin ihm auch Zekl weitgehend folgt (mit Aus-nahme des „großen Kreises“ für den orbis magnus, das ist aber die ‚Erdsphäre‘).

Max Caspar hatte noch weiter gehend ‚modernisiert‘, wenn er den Ausdruck„Sphaera seu Orbis“ in Johannes Keplers Mysterium cosmographicum36 mit den Wortenübersetzte: „Die erste Bewegung [von drei Erdbewegungen neben der Erdrotation], dieder Sphäre oder der Bahn selber, führt die Erde wie einen Wandelstern jährlich um dieSonne herum“37, um dann im gesamten Text des Werkes und nicht nur im Zusammen-hang dieses Passus, in dem die Theorie Nicolaus Copernicus’ dargelegt wird, orbis mit‚Bahn‘ wiederzugeben, ohne etwa hier zu bedenken, dass bei drei gleichzeitig ausge-führten Bewegungen kaum die eine schon die ‚Bahn‘ ergeben könnte, selbst wenn mandarunter nur den scheinbaren ‚Weg‘ (die Resultante der Sphärenbewegungen) verstehenwollte.

Im Englischen kann man es sich dagegen leichter machen, indem man die lateini-schen Begriffe einfach anglisiert; und so übersetzte Edward Rosen zuletzt das ersteAxiom mit den Worten38: „There is no one center of all celestial orbs or spheres“. Inseiner älteren Übersetzung von 1939 (1959 und 1973) hatte auch er allerdings noch diefälschliche Unterscheidung getroffen und übersetzt39: „There is no one center of all[42] the celestial circles or spheres“ (im 3. Axiom benutzte Rosen schon damals für‚orbes‘ den Begriff ‚spheres‘, ansonsten hatte er innerhalb des Textes orbis noch stets

40 Edward Rosen: Copernicus’ Spheres and Epicycles. Archives Internationales d’Histoire desSciences 25 (96) (1975), 82–92; siehe hierzu auch Eric J. Aiton (a) im Zentralblatt für Ma-thematik 356 (1978), 8–9, sowie (b): Celestial Spheres and Circles. History of Science 19(1981), 75–114; und vor allem Nicholas Jardine: The Significance of the Copernican Orbs.Journal for the History of Astronomy 13 (1982), 168–194, der auch die Theorica-Traditioneinbezieht.

41 Siehe neben N. Jardine (wie Anm. 40), 170, auch schon Noël M. Swerdlow: The Derivationand First Draft of Copernicus’s Planetary Theory: A Translation of the Commentarioluswith Commentary. Proceedings of the American Philosophical Society 117, Nr. 6. Philadelphia: TheAmerican Philosophical Society 1973, S. 423–512; hier S. 424 a, bezogen auf Georg Peur-bachs Theoricae novae planetarum, „the principal textbook of planetary theory in Copernicus’stime“: „This entire apparatus of spheres and axes, rotations and inclinations, is taken over byCopernicus in the Commentariolus, although his description is not thorough since the reader’sfamiliarity with such models is taken for granted. Copernicus usually describes planetarymotions in terms of rotations of spheres and inclinations of axes.“ – Zu seiner durch man-che Bemerkung innerhalb des Kommentars (besonders S. 432a) ausgelösten, heftig geführ-ten Kontroverse mit Edward Rosen siehe N. Jardine (wie Anm. 40) und E. J. Aiton (wieAnm. 40/a und 40/b). – Siehe neuerdings auch M. Vesel: Copernicus and orbes [slowakischmit englischem Summary]. Filozofski Vestnik 26 (2005), 7 ff.

42 Swerdlow (wie Anm. 41), 436.43 Roßmann (wie Anm. 34), 37 f., möglicherweise in Reaktion auf Max Caspars Wortwahl.

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mit ‚circle‘ wiedergegeben). Rosen hatte inzwischen den Begriff ‚orbis‘ im copernica-nischen Commentariolus untersucht40 – und der entspricht eben der Tradition innerhalbder sogenannten Theoricae planetarum41, auf die auch Clavius im obigen ersten Zitat hin-gewiesen hatte. Noël M. Swerdlow hatte schon 1973 ‚orbis‘ stets mit ‚sphere‘ übersetzt,folglich auch im ersten Postulat („There is no one center of all the celestial spheres[orbium] or spheres [sphaerarum].“42) und zum ersten Postulat bemerkt: „In my readingof the text I take sphaerarum to be a synonym clarifying the meaning of orbium“; Coper-nicus sei auf die ‚physikalischen‘ Probleme allerdings nicht näher eingegangen undhätte rein mathematisch argumentiert.

Roßmann hatte seine Wortwahl begründet43: Copernicus’ Begriff ‚orbis‘ habe erstets mit ‚Bahnkreis‘ wiedergegeben. Bloß ‚Bahn‘ oder ‚Planetenbahn‘ oder auch ‚Kreis-bahn‘ habe er vermieden, „weil diese neueren Begriffe beträchtlich von den älterenVorstellungen des ‚orbis‘ abweichen“, insofern Altertum und Mittelalter „noch jedephysikalische Vorstellung von einer Dynamik des Himmels, geschweige denn von derallgemeinen Massenanziehung fehlte“, weshalb es nahe gelegen habe, „die Himmels-körper von Sphären, das heißt starr vorgestellten Kugelschalen bewegt zu denken“.[43] Copernicus habe zwar an solche Vorstellungen bei Eudoxos angeknüpft, aber nurim ersten Axiom noch kurz auf diese alte Vorstellung von Sphären hingewiesen, sichaber ansonsten „wesentlich freier“ davon gemacht und sie sonst „geflissentlich unter-drückt“.

44 Swerdlow (wie Anm. 41), 432 a.45 Siehe N. Copernicus: De revolutionibus I, 10; S. 20, 8–10 Nobis: „Quartum in ordine

annua revolutio [Umwälzung des orbis magnus, nicht ‚Kreisbahn‘] locum obtinet, in quoterram cum orbe Lunari [Mondsphäre, nicht Mondbahn] tanquam epicyclo contineridiximus.“ – Schon C. L. Menzzer übersetzte (Nicolaus Coppernicus aus Thorn: Über dieKreisbewegungen der Weltkörper. Übersetzt und mit Anmerkungen von C. L. Menzzer.Durchgesehen und mit einem Vorwort von Moritz Cantor. Thorn: Ernst Lambeck 1879,S. 27; Neudruck Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft): „Die vierte Stelle nimmt derjährliche Kreislauf ein, in welchem die Erde mit der Mondbahn, als Epizykel, enthaltenist.“ Siehe auch im Abschnitt ‚De ordine orbium‘ des Commentariolus: „Orbis autem Lunaecirca centrum terrae vertitur, et cum ea ceu epicyclus defertur“, sowie im folgendenAbschnitt ‚De motibus, qui circa solem apparent‘: „... quando terra in loco huic opposito

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„Die ‚orbes‘ müßten sich auch, wenn sie als Sphären zu denken wären, wiederholt durch-schneiden, was mit Starrheit schwer zu vereinbaren ist. So würde beispielsweise der ‚orbis‘des Mondes als Kugel gedacht den der Erde [...] durchdringen. An Kopernikus’ Vorstel-lung vom ‚orbis‘ dürfte am nächsten ein starrer in sich rotierender Kreisring kommen, andem Erde, Mond und Planeten oder ihre Epizykel festhaften. Bei Kopernikus laufen nichtdie Planeten auf Bahnen um, wie die Vorstellung seit Kepler ist [!], sondern die Bahnkreisereißen die an ihnen hängenden Himmelskörper bei ihrer Umwälzung – revolutio – mitherum [?].“

Er ist sich also der Andersartigkeit copernicanischer und keplerscher Ansichtenüber die Planetenbewegungen durchaus bewusst, nur ist seine eigene Alternative einreines Phantasiegebäude, das weder modernen noch zeitgenössischen Vorstellungenentspricht. Sie berücksichtigt weder die Tradition, in der Copernicus (und anfangs auchKepler) stand, noch den Wortlaut des Textes bei Copernicus. Schon N. M. Swerdlowvermerkte deshalb zu recht bezüglich der Übersetzungen von A. Müller (1899), E. Ro-sen und F. Roßmann44:

„I do not think that any of these translations can be recommended for its accuracy [...].The accompanying notes are in all cases superficial, non-technical, and frequently errone-ous so that I wonder how any reader has been able to understand much of the treatisethrough the use of these translations.“

Aber bezüglich der ‚physikalischen‘ Theorie muss man auch ihm vorhalten, dass ersich zu sehr auf die mathematischen (= astronomical, technical) Details konzentriert. Diehier in Abbildung 1 dargestellte copernicanische ‚physikalische‘ Theorie des Mondes,eingebettet direkt in den orbis magnus der Erde, war seinerzeit noch nicht wieder er-kannt. Copernicus’ Mondsphäre durchdringt (schneidet) nämlich keineswegs die (ex-zentrische) Erdsphäre (orbis magnus), sondern sie ist in diese eingebettet und wird sovon ihr mit herumgeführt, so dass letztere zumindest eine solche ‚Dicke‘ aufweisenmuss, dass sie die gesamte um die Inklinationssphäre der Erde, die den Erd-Wasser-Luft-Feuer-Körper umgibt, angeordnete, zum Erdkörper (nicht zur Erdsphäre) konzen-trische Mondsphäre (orbis Lunae) mit auf[44]nehmen kann45. Nur deshalb kann ja Jo-

versatur, centro orbis [terrae] inter eos [terram et solem] mediante, et per hunc quidemorbem non terra solum, sed quicquid simul cum orbe lunari comprehensum est, circum-ducitur.“ Dazu siehe Krafft (wie Anm. 10), S. 201–207, und Fritz Krafft: Johannes Kep-ler – Die neue, ursächlich begründete Astronomie. In: Kepler [Krafft] (wie Anm. 7/a),XII–XXXVI.

46 Selbst wenn Copernicus sich noch nicht des Epithetons ‚solidus‘ (fest) bedient – woraufsich Vesel (wie Anm. 41) beruft –, das aber für die Theorica-Tradition selbstverständlich ist.Aus der Materialität und der Unveränderlichkeit in jeglicher Hinsicht als Eigenschaftender Ätherkörper ergibt sich von selbst deren Unverformbarkeit und damit Undurchdring-lichkeit, das heißt mit einem anderen Wort: Festigkeit (die darauf beruht).

47 Selbst in diesem Zusammenhang (Mysterium cosmographicum, KGW I, 17, 4–10) übersetztCaspar (wie Anm. 24) ‚Venussphäre‘ (orbis) mit ‚Venusbahn‘.

48 Felix Schmeidler: Kommentar zu „De revolutionibus“. (Nicolaus Copernicus Gesamt-ausgabe, Bd. III/1) Berlin: Akademie Verlag 1998, S. 73 zu Beginn der ‚Anmerkungen zu

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hannes Kepler in seinem Mysterium cosmographicum von insgesamt nur sechs Planeten-Sphären (orbes) ausgehen, die daraufhin zwischen die fünf Platonischen Körper einge-passt werden konnten, statt der üblichen sieben (Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars,.Jupiter, Saturn). Daraufhin sind aber auch die absoluten Ausmaße der ‚Mondsphäre‘unvergleichlich kleiner geworden, als wenn sie die Erdsphäre (bei Copernicus: orbismagnus) umgeben hätte.

Dass Copernicus an unveränderliche materielle (daraus folgt aber auch: feste undundurchdringliche46) ‚orbes‘ denkt (im Commentariolus ausdrücklich, in De revolutionibusaufgrund der Konsequenzen der reduktionistischen mathematischen Astronomie), gehtschon daraus hervor, dass er daraufhin, um zu verhindern, dass die Rotationsachse derErde während der jährlichen Herumführung (der ‚revolutio‘) des ‚orbis magnus‘ stetsnach außen geneigt ist und einen Kegelstumpf beschriebe, einen zusätzlichen ‚orbis‘einfügen muss (seine „dritte“ Erdbewegung der inclinatio), der durch seine gegenläufige,kompensierende Rotationsbewegung bewirkt, dass die Richtung der Erdachse gleichbleibt – positiver Effekt ist dann, dass er durch eine geringfügige Veränderung der Ro-tationsperiode eine Beschreibung und Erklärung der Präzession erhalten konnte.Kepler, der ja ‚feste‘ Sphären im Anschluss an Tycho Brahes Nachweis, dass der Ko-met von 1577 unbeeinträchtigt und widerstandslos mitten in der und durch die ‚co-pernicanische Venussphäre‘47 ziehen würde, ablehnt, lässt diesen zusätzli[45]chen ‚or-bis‘ dann weg und macht für die gleichbleibende Ausrichtung der Erdachse eine ‚Kraft‘in der Art des Magnetismus verantwortlich.

Dadurch dass Felix Schmeidler sich in seinem Kommentar zu De revolutionibus Roß-mann ohne nähere Erläuterung oder Begründung angeschlossen und sich darüberhinaus einer von einem Kommentar doch eigentlich zu erwartenden Diskussion einesZentralbegriffs des Werkes von Copernicus völlig enthalten hat, stellt er sich auf die-selbe Ebene48: „Über die Bedeutung des Begriffs ‚orbis‘ bei Copernicus bestehen in der

einzelnen Stellen‘. – Die Stellen zur Einordnung der Mondsphäre in die Erdsphäre (sieheAnm. 45) bleiben bei Schmeidler unkommentiert.

49 Schmeidler (wie Anm. 48), 17; ähnlich Felix Schmeidler: Nikolaus Kopernikus. (Große Na-turforscher, Bd. 34) Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1970, S. 203, wo die„Kreisförmigkeit aller Bahnen im Raum“ sogar noch als aristotelisches Dogma bezeichnetwird.

50 Menzzer (wie Anm. 45), Titel und S. 9.

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Abb. 1: Die Erdsphäre (orbis magnus) nach N. Copernicus mit zusätzlicher zweiter Bewegungs-sphäre (Inklination zur Parallelhaltung der Erdachse) und Mondsphäre (Zeichnung: F. Krafft)

Literatur [46] unterschiedliche Auffassungen. Die beste Erklärung dessen, was Coper-nicus unter ‚orbis‘ verstanden hat, dürfte Roßmann [an oben zitierter Stelle] gegebenhaben.“ So wundert es denn auch kaum, dass er gleich zu Beginn der ‚InhaltlichenKommentierung des Hauptwerks von Copernicus‘ die Behauptung aufstellt, dass inKapitel 4 „die These begründet wird, daß alle Bewegungen im Weltall auf kreisförmi-gen Bahnen vor sich gehen“, was kein „Analogon“ im Almagest des Ptolemaios finde,während „Copernicus die Kreisförmigkeit der Bahnen im Weltall mit mehreren Argu-menten philosophischer Art ausführlich begründet hat“.49 Entsprechendes lässt sichnatürlich bei Ptolemaios nicht finden – aber auch selbstverständlich ebenso wenig beiCopernicus. Hier schlägt wieder einmal die leidige Übersetzung des copernicanischenTitels von C. L. Menzzer durch, „Über die Kreisbewegungen der Weltkörper“, wobeier dann zu Beginn des übersetzten Textes die wahrscheinlich ursprüngliche Form (Derevolutionibus, ohne den Zusatz ‚orbium coelestium‘) wählte: „Nicolaus Copernicus’Kreisbewegungen“50.

51 Nicolaus Copernicus: De revolutionibus libri sex. Besorgt von Heribert Maria Nobis undBernhard Sticker †. (Nicolaus Copernicus Gesamtausgabe, Bd. II) Hildesheim: Gersten-berg (jetzt Berlin: Akademie Verlag) 1984, S. 9.

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Der Text des vierten Kapitels bei Copernicus besagt aber etwas Anderes undspricht von ‚rotierenden Sphären‘, die sich jeweils gleichförmig ‚im Kreise‘ drehen undnur im Verbund mit anderen den Anschein einer ungleichförmigen Bewegung (derResultante) entstehen lassen können51:

„Danach werden wir bedenken, dass die Bewegung von Himmelskörpern kreisförmigsind; denn die Bewegungsform einer Sphäre ist, sich im Kreise zu wälzen und genau durchdiese Tätigkeit ihre ‚Form‘ [forma gemäß der aristotelischen Philosophie: Verwirklichung,Sinn] in einem höchst einfachen Körper auszudrücken, wo weder ein Beginn noch einEnde zu finden und eins nicht vom anderen zu unterscheiden ist, während sie sich durchdasselbe in sich selbst bewegt [die übliche Definition der Rotation auf der Stelle]. Es gibtaber bei der großen Zahl von Sphären (orbes) auch mehrere (unterschiedliche) Bewegun-gen. Die offenkundigste von allen ist die tägliche Umwälzung (revolutio). [...] In diesergleitet, glaubt man, die ganze Welt mit Ausnahme der Erde von Ost nach West. [...] So-dann sehen wir andere, gleichsam entgegengesetzte Umwälzungen (alias revolutiones), dasist von West nach Ost, die (Umwälzung) der Sonne, des Mondes und der fünf Planeten.Auf diese Weise misst uns die Sonne das Jahr, der Mond den Monat als die bekanntestenZeiten. So macht aber [47] auch jeder der anderen fünf Planeten jeweils seinen Umlauf(circuitum). Diese unterscheiden sich allerdings vielfältig; erstens insofern sie sich nicht umdieselben Pole wie jene erste Bewegung [die tägliche] wälzen, vielmehr durch die Schiefeder Ekliptik ihren Lauf nehmen, sodann insofern sie in ihrem eigenen Umlauf selbst nichtgleichförmig bewegt zu werden scheinen; denn Sonne und Mond nimmt man auf ihremKurs mal langsamer mal schneller wahr, und bei den übrigen fünf Planeten bemerkt manauch noch, dass sie zurücklaufen und dann stillstehen. Und während die Sonne stets aufdemselben direkten Weg (iter) dahinzieht, irren jene auf verschiedene Weise, einmal nachSüden, einmal nach Norden, ab, weshalb man sie Planeten [Irrsterne] nennt. Hinzukommt, dass sie sich einmal näher zur Erde befinden und erdnah genannt werden, ein an-deres Mal entfernter und erdfern genannt werden. Nichtsdestoweniger muss man beken-nen, dass die Bewegungen kreisförmig sind, wenn auch aus mehreren Kreisen zusammen-gesetzt, wobei die Ungleichförmigkeiten dieser Art nach festen Regeln und bestimmtenPerioden erfolgen, was nicht ermöglicht werden könnte, wenn sie nicht zirkulär wären [...].Es ist ja unmöglich, dass ein einfacher Himmelskörper von einer einzigen Sphäre un-gleichförmig bewegt wird (Quoniam fieri nequit, ut caeleste corpus simplex uno orbe inaequalitermoveatur)...“

Abgesehen davon, dass hier noch die ältere, geozentrische Astronomie dargestelltwird (deren geometrische Elemente Copernicus ja weiterhin verwendete), werden diedamit zusammenhängenden Fragen, nämlich die einem perfekten Kugelkörper ange-messene Bewegungsform der gleichförmigen Rotation und die Erzeugung des Effektsungleichförmiger Bewegung durch die Kombination gleichförmiger Rotationsbewegun-gen, bei Ptolemaios durchaus und sehr viel ausführlicher in der Syntaxis mathematica dis-kutiert (I, 3 und vor allem I, 8, wo ausdrücklich von den ‚Sphären der Planeten‘ gespro-

52 Siehe Olaf Pedersen: The corpus astronomicum and the Traditions of Medieval Latin Astro-nomy. In: Colloquia Copernicana III. (Studia Copernicana, Bd. 13) Wroc»aw usw.: Ossoli-neum 1975, S. 57–96.

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chen wird). Allerdings geht Copernicus wie Ptolemaios im Almagestum ziemlich reduktio-nistisch vor und sagt nicht immer ausdrücklich, dass auch die in der ‚Sphäre‘ eines Pla-neten (als orbis totalis) enthaltenen unterschiedlichen Bewegungen jeweils eigenen ‚Sphä-ren‘ (als orbes partiales) zuzuordnen sind. Das wird in der zeitgenössischen ‚physikalisieren-den‘ Theorica-Literatur sehr viel deutlicher.

2.4. Die Theorica-Tradition

Die Theorica-Tradition geht zurück auf einen Text, der Bestandteil des mittelalterlichenCorpus astronomicum war52, zu dem neben dem Traktat [48] De sphaera des Sacroboscound dessen Anleitung zur Kalenderrechnung (Computus) auch der anonyme TraktatTheoric(a)e planetarum gehörte. Dieser wurde zwar in den Druckausgaben Gerhard vonCremona (gestorben 1187) zugeschrieben, stammt aber ebenfalls aus der Zeit der Ab-fassung des Sacrobosco-Traktats. Hierin wird die mathematische Theorie der Syntaxis,die Sacrobosco zugrundelegte, ergänzt durch eine ‚physikalische‘, die im Anschluss anPtolemaios’ Hypotheses planetarum das dort entwickelte mechanische Modell der ‚ma-teriellen Sphäre‘ nach dem Vorbild einer in der lateinischen Fassung Liber de mundo etcoelo genannten Schrift Ibn al-Haythams (um 965 bis 1040) in ein physikalisches Systemvon konzentrischen ‚orbes‘/‚Sphären‘ mit ihren nicht-konzentrischen ‚Teilsphären‘umsetzt.

In einem solchen ‚physikalischen‘ System müssen die äthergefüllten Sphären insge-samt wie bei Aristoteles unveränderlich, also auch fest und undurchdringlich sein, weilsie anderenfalls die enthaltenen exzentrischen und epizyklischen Gebilde nicht mitzu-führen vermocht hätten. Die vormals (ursprünglich durch abstrahierende Reduktiongewonnenen) mathematischen Kreise der Exzenter und Epizykel müssen sich beidieser ‚Physikalisierung‘ ebenfalls auf ätherischen Sphärenkörpern befinden, die aller-dings nicht auf beiden Seiten konzentrisch begrenzt sein können, wie bei Aristoteles.Aber die Gesamtsphäre eines Planeten (tota[lis] sphaera) blieb weiterhin durch zwei zumErdzentrum konzentrische Kugeln begrenzt und erfüllte daraufhin für viele die Forde-rung der Prinzipientreue im Sinne der aristotelischen Physik, für Copernicus allerdingsnur ohne die Ausgleichsbewegung. Diese ‚Sphären‘ der Planeten gelten dann alslückenlos ineinander geschachtelt, wie in den Hypotheses planetarum – in denen Ptolemai-os daraufhin den Durchmesser des Gesamtkosmos zu etwa 20000 Erddurchmessernberechnen kann. – Eine frühe grafische Darstellung dieser seit dem 14. Jahrhundertweitgehend anerkannten ‚Astrophysik‘ findet sich beispielsweise für den Mond in Ro-

53 Siehe dazu Edward Grant: Cosmology. In: David C. Lindberg (Hrsg.): Science in theMiddle Ages. (The Classical History of Science and Medicine) Chicago Press 1978, S. 265–302, vor allem S. 280–284; generell zu Übernahme und Umformung antiker Astronomieim lateinischen Mittelalter auch Fritz Krafft: Naturwissenschaften III: Astronomie. In:Manfred Landfester / Hubert Cancik / Helmuth Schneider (Hrsgg.): Der neue Pauly.Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. Bd. 15, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2001,Sp. 790–803, und die dort genannte Literatur.

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Abb. 2:

Mondtheorie der Theorica planetarum ausRoger Bacons Opus tertium

ger Bacons Opus tertium53.

Wie Sacroboscos De sphaera fanden auch die anonymen Theoricae planetarum raschkritische Kommentierungen; es kam aber erst seit dem ausgehenden 15. Jahrhundertvermehrt zu ergänzenden, aktualisierenden und schließlich früher als bei Sacroboscodas ältere Kompendium verdrängen[49]den, meist ebenfalls mehrfach aufgelegtenSchriften zu den dort skizzierten ‚physikalischen‘ Grundlagen – so etwa von GeorgPeurbach (1423–1461) (Theoricae novae planetarum, 1472 postum von Regiomontanus[1436–1476] herausgebracht, bis 1653 mehrfach neu aufgelegt – auf diese beruft sichKepler mehrmals) und Jacob Faber Stapulensis (1503 im Rahmen seines Astronomicon,ab 1517 auch gesondert gedruckt). Spätere Autoren berücksichtigten dabei auch dieDaten und mathematischen Elemente des Copernicus mit, ohne damit allerdings dasheliozentrische Weltbild anerkennen zu müssen oder auch anzuerkennen. – DieseNeubelebung der Theorica-Literatur verlief parallel zur allgemeinen, ungefilterten Be-kanntmachung der mathematischen Astronomie der ptolemaiischen Syntaxis mathematica,beginnend wieder mit Georg Peurbach, dessen unvollendet hinterlassene Kurzfassungaber erst, wiederum von seinem Schüler Regiomontanus, unter Zugrundelegung desgriechischen Originals fertiggestellt, 1496 in Venedig als Epytoma Joannis de monte regio Inalmagestum ptolomei erstmals gedruckt wurde. [50]

54 Mit unverändertem Wortlaut noch angekündigt in der letzten Ausgabe von 1611 (wieAnm. 31/b), p. 290: Theoricae Planetarum, quas fauente Deo, breui in lucem edemus, und p.305: Vberimus tamen omnia haec exponemus in Theoricis planetarum.

55 Clavius 1606 (wie Anm. 31/a), 582–612, und 1611 (wie Anm. 31/b), 290–304.

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Abb. 3: ‚Physikalische‘ Planetentheorie der Theorica planetarum-Tradition: Links Sonnentheorie(aus Georg Peurbach: Theoricae novae planetarum. Nürnberg 1472), rechts Saturntheorie (ausGregor Reisch: Margarita philosophica. Straßburg 1504); in den inneren konzentrischenweißen Kreis sind lückenlos die Systeme der nach innen (unten) folgenden Planeten eingebet-tet zu denken.

Auch Christoph Clavius hatte vor, ein Werk zur Theorica zu veröffentlichen54, hattejedoch als Vorläufer eine kurze Übersicht samt einer Rechtfertigung dieser Körper ge-gen Averroës zu Beginn des Kommentars zum vierten Kapitel des Sacrobosco-Traktatseingefügt: „Eccen trici, et epicycli qvibus nαινοµένοις ab Astronomis inuenti sint incoelo“, mit dem Ergebnis55: „Es gibt innerhalb der Planetensphären [eigene] exzentri-sche und epizyklische ‚orbes‘ (dari in sphaeris coelestibus [hier auch wieder coela Planetarum ge-nannt] orbes Eccentricos & Epicyclos)“. Eigenartig mutet es dann an, wenn er danach dieErklärungen dieser Theoricae zur Kommentierung auch des (als Zitat wiederholten) Sa-crobosco-Textes anwendet, der (wie die ptolemaiische Syntaxis, wie aber auch Coperni-cus in De revolutionibus) reduktionistisch ausschließlich von circuli spricht.

Einheitlich ist darin jedoch das Lehrbuch, das den abschließenden Höhepunkt vor-keplerscher astronomischer Lehrbuchliteratur darstellt, nach dem auch JohannesKepler von Michael Mästlin in die Astronomie eingeführt [51] wurde, des letzteren

56 Michael Mästlin: Epitome Astronomiae, qua brevi explicatione omnia, tam ad Sphaericamquam Theoricam eius partem pertinentia, ex ipsius scientiae fontibus deducta, perspicueper quaestiones traduntur. Heidelberg: Iacobus Mylius 1582; ab ²1588 bei Georg Grup-penbach (61610 bei Philipp Gruppenbach) in Tübingen erschienen. Im Jahre 1582 er-schien in Heidelberg auch die Disputatio, in der er den Inhalt des 2. Buches zusammen-fasst, unter dem für unseren Zusammenhang vielsagenden Titel: De astronomiae hypothesibvssive de circvlis sphaeris et orbibvs theoricis, Disputatio ad discutiendum proposita. – Hierzu siehe Frie-demann Rex: Keplers Lehrer Michael Mästlin und sein Lehrbuch der Astronomie (1582).In: Gerhard Betsch / Jürgen Hamel (Hrsgg.): Zwischen Copernicus und Kepler – M.Maestlinus, Mathematicus Goeppingensis 1550–1631. (Acta Historica Astronomiae, Bd.17) Frankfurt am Main: Harri Deutsch 2002, S. 11–32; Charlotte Methuen: Mästlin’sTeaching of Copernicus: The Evidence of His University Textbook and Disputations. Isis87 (1996), 230–247.

57 So jetzt auch wieder Rex (wie Anm. 56), 20.58 Clavius 1606 (wie Anm. 31/a), S. 586, und 1611 (wie Anm. 31/b), S. 292, zählt zu den or-

bes particulares ausdrücklich auch die homozentrischen Sphären eines Planeten bei Eudo-xos, Kallippos und Aristoteles, wiewohl nur die des letzteren orbes naturales sein könnten.

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Epitome Astronomiae von 1582, von der insgesamt sieben Auflagen erschienen56. Dasvierte Buch behandelt hier die Doctrina theorica, die ‚physikalischen‘ Theorien der orbessecundorum mobilium, und das sind eben nicht die ‚Bahnen‘57, sondern die einzelnen orbesparticulares innerhalb einer ‚Planetensphäre‘, aus deren Zusammenwirken das Erschei-nungsbild (nicht die ‚Bahn‘) der Bewegung eines Planetenkörpers entstehe, sowie dienicht unterteilten orbes der achten bis zehnten Sphäre.

Im ersten Buch wird einleitend der Begriff sphaera in Frage- und Antwort-Stil klarund deutlich gemacht (S. 21 ff.):

– sphaera werde auf zwei Weisen benutzt, als „sphaera naturalis“, das sei das Primummobile (als äußerste Himmelssphäre) oder das Gesamtuniversum (tota mundi machina),sowie als „sphaera materialis“, das ist die mechanische Armillarsphäre (bei ihr sinddie Kreise /Ringe fiktiv).

– Die „Theorie der zweitbewegten (Himmelskörper)“ liefere das „aus bestimmten fe-sten orbes, die einander umgeben, gewonnene Bild (effigies extractae) der Sphäre [...]eines der sieben Planeten, wodurch die Art und Weise (ratio) einer jeden Bewegung[...] eines Planeten aufgezeigt wird.“

– Der „orbis sive sphaera“ eines jeden Planeten komme diesem von Natur (κατ� nύ-σιν), nicht durch bloße Setzung (κατ� hέσιν, also bloß fiktiv) zu; aber die einzelnenPlanetensphären (sphaerae) sind weiter in für sich separate ‚Teilsphären‘ (orbes particula-res) unterteilt. Sodann werden im ersten Teil des zweiten Buches die verschiedenen Arten und

Formen der orbes partiales systematisch vorgestellt (S. 90–98): Es gebe insgesamt siebenverschiedene Arten58: der orbis eccentricus, zwei or[52]bes deferentes der Apogäen und Peri-

59 Im Kommentarteil zum 4. Kapitel von Sacrobosco betont Clavius 1606 (wie Anm. 31/a),614, und 1611 (wie Anm. 31/b), 305, ausdrücklich, dass die (in seiner Theorica-Einleitungauch nicht behandelten) circuli aequantes keine realen orbes und Teile einer Planetensphärewie die Exzenter seien, sondern bloß vorgestellte, ‚imaginäre‘ (sed solum imaginarij).

60 Tycho Brahe: De Mundi aetherei recentioribus phaenomenis Liber secundus, qui est deillustri stella caudata ab elapso fere Nouembris anno MDLXXVII usque in finem Januarissequentis conspecta. Uraniborg: Selbstverlag 1588; wieder abgedruckt in: Tychonis BraheDani Opera omnia, edidit J. L. E. Dreyer. 15 Bde., Kopenhagen 1913–1929, hier Band 4.– Kepler hat sich intensiv mit dieser Schrift beschäftigt, auf die ihn M. Mästlin hingewie-sen hatte, und den noch unveröffentlichten Liber primus 1602 in Prag unter dem Titel:Astronomiae instauratae progymnasmata herausgegeben.

61 Siehe dazu neuerdings Weichenhan (wie Anm. 1), zur Diskussion unter Theologen undspeziell Jesuiten Krafft (wie Anm. 1), 301 f.

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gäen, der orbis epicyclus, der (orbis) aequans (der allerdings eigentlich kein orbis, sondern einbloßer circulus [Kreis] sei59), der orbis eccentricus eccentrici (obgleich auch dieser in zwei orbeszu unterteilen sei) und der orbis, der (beim Mond) die Knoten herumführt. Von denorbes seien die einen ‚einformig‘ (uniformes), die anderen ‚zweiformig‘/‚ver-schiedenformig‘ (diformes). Einformig werden die orbes mit gleichbleibender Dicke(aequalis spißitudo) genannt, deren beide Oberflächen Kugeln mit demselben Mittelpunktsind, entweder konzentrisch oder wie beim Exzenter, dessen Oberflächen zu ein unddemselben zur Erde exzentrischen Punkt als Zentrum konzentrisch sind – „in diesemSinne sind auch die Gesamtsphären der Planeten einformig“ (sic etiam vniformes sunt inte-grae sphaerae planetarum). In gewissem Sinne „zählten auch die Epizykel dazu, wenn esauch gediegene (ausgefüllte) orbes mit nur einer Oberfläche sind“. Zweiformig und vonungleicher Dicke (inaequalis spißitudo) seien die orbes, deren Oberflächen nicht konzen-trisch sind. Die orbes seien entweder zur Welt konzentrisch (wie auch die integrae sphaeraecoelestes, die Planetensphären, und die oberen ‚Himmel‘), exentrisch (wie die Exzenterund Epizykel) oder gleichzeitig kon- und exzentrisch (wie die Deferenten von Apo-und Perigäum).

Die Theorien der Theoricae planetarum gehen also weiterhin von der aristotelischen‚Physik‘ mit großen, aus dem unveränderlichen Äther als fünftem Element gebildetenHohlkugeln oder Kugelschalen aus, die, ineinander geschachtelt, auf der innerstenTeilsphäre beziehungsweise auf dem Epizykel den jeweiligen Planetenkörper mit sichführen und dazu als fest und undurchdringlich angenommen werden mussten – nurdass diese Hohlkugeln (orbes), insbesondere die orbes partiales, inzwischen vielfältigeFormen erhalten hatten; die Gesamtsphäre eines Planeten war jedoch ebenso wie dieoberen ‚Himmel‘ weiterhin konzentrisch und ‚uniform‘ geblieben.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts, nachdem Tycho Brahes Parallaxenmessungen derNova von 1572 und des Kometen von 1577 bekannt geworden waren60, gab es dannallerdings nur noch wenige, die seine Berechnungen [53] anzweifelten61, insbesondere

62 Clavius 1606 (wie Anm. 31/a), 220, und 1611 (wie Anm. 31/b), 105. Wohl im Anschlussan diese Stelle erklärte 1612 auch Christoph Scheiner (De maculis Solaribus et stellis circa Jovemerrantibus accuratior disquisitio, in: Le opere di Galileo. Bd. V, S. 68 f.), dass die gewöhnlicheAuffassung von der Undurchdringlichkeit und Unveränderlichkeit der Äthersphären,insbesondere in den Regionen der Sonne (wegen der Sonnenflecken beziehungsweise dersie verursachenden Kleinplaneten) und des Jupiter (wegen der neuen Monde), aufgegebenwerden müsse.

63 Während Tycho Brahe Kepler auf die Zusendung von dessen Mysterium Cosmographicumvon 1596 noch zurückhaltend dankte – und ihn aufforderte, seine Fähigkeiten doch ein-mal am Tychonischen System zu erproben (Brief Nr. 92 in KGW XIII, 197–202) –, hälter gegenüber Michael Mästlin, der im Vorwort das Tychonische System kritisiert hatte,den Ansatz einer physikalisch-metaphysischen Begründung für grundsätzlich verfehlt(Brief Nr. 94, KGW XIII, 204 f.).

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unter den zünftigen Astronomen (zu denen ein Galileo Galilei allerdings nicht zählte).Der Äther musste vielmehr ein allerfeinstes fluidum sein und war damit zur Mitführungeines Himmelskörpers ungeeignet; er galt fortan als ein Medium, in dem die Planeten undanderen Himmelskörper frei im Gleichgewicht schwimmen. Der Bewegungsantriebmusste entweder dem Körper eingepflanzt sein oder von außen durch den Äther hin-durch auf ihn übertragen werden. Selbst der Jesuitenpater Christoph Clavius sah darauf-hin die Notwendigkeit einer neuartigen Physik, insbesondere als es darum ging, auch dieaufgrund der Diskussion um die Folgen der Entdeckung Brahes mit viel größerem In-teresse beobachtete Nova von 1604 in die Betrachtungen einzubeziehen. So formulierteer im Sacrobosco-Kommentar, ohne seine eigene Meinung preiszugeben, vorsichtig62:

„Wenn [die Entfernungsbestimmung der Nova] richtig ist, dann müssen die Peripatetikersehen, wie sie Aristoteles’ Meinung von der Materie des Himmels verteidigen. Vielleichtwird man sagen müssen, dass der Himmel nicht irgend eine fünfte Wesenheit ist, sondernein veränderlicher Körper, wenn auch weniger zerstörbar als die niederen Körper hier (aufErden), was vor Aristoteles tatsächlich Platon mit vielen anderen Philosophen meinte, undauch nach Christus nicht wenige für nicht abwegig hielten, darunter Ambrosius, Basilius,Gregor von Nyssa und fast alle übrigen Leuchten der Kirche.“ (Hoc si verum est, videantPeripatetici, quomodo Aristotelis opinionem de materia caeli defendere possint. Dicendum enim fortasseerit, caelum non esse Quintam quandam essentiam, sed mutabile corpus, licet minus corruptibile sit, quamcorpora haec inferiora: quod sane ante Aristotelem Plato cum multis aliis Philosophis sensit, et postChristum non pauci, inter quos D. Ambrosius, Basilius, Gregorius Nissenus, et caetera fere Eclesiaelumina, non obscure docuerunt.)

Tycho Brahe hatte sich nach der Zerschlagung der alten allerdings nicht um eineneue physikalische Erklärung der Planetenbewegungen bemüht, sondern sich program-matisch auf die aposteriorische Gewinnung einer die [54] Phänomene ‚rettenden‘ ma-thematischen Theorie beschränkt63, für die er aber die systematische Zusammenfassungvon Bewegungen bei Copernicus weiter nutzen wollte. Hier setzte erst ein JohannesKepler mit den erforderlichen Überlegungen zu einer neuen Physik des Himmels an.

64 Siehe J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 22.04.1603 (KGW XIV, Brief Nr. 255, 89 f.):prospectum totius itinertis semper habere ob oculos.

65 Siehe KGW XIX, 52–56: Am 04.12.1606 erbat Kepler vom Kaiser die Druckkosten fürdie Astronomia nova, die ihm unter dem Vorbehalt des kaiserlichen Eigentumsrechts inHöhe von 400 fl. mit Befehl vom 28.03.1607 ausgezahlt wurden; im August 1608 erbittetKepler vom Kaiser Geld, um nach Frankfurt (zum Drucker) fahren zu können, da erwegen ausgebliebener Zahlung seines Gehaltes das Geld für die Druckkosten zur Le-bensführung habe verwenden müssen. – Zur Chronologie der Drucklegung der SchriftenKeplers siehe Friedrich Seck: Johannes Kepler und der Buchdruck. Zur äußeren Ent-stehungsgeschichte seiner Werke. Archiv für Geschichte des Buchwesens 10/11 (1970), Sp.610–726; speziell zur Astronomia nova hier Sp. 643–647.

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3. Johannes Keplers Begriffe für die tradierte Astronomie und Astrophysik

In seinem für die Geschichte der Astronomie wichtigsten Werk, der Astronomia nova,,stellt Kepler sein Ringen um eine gleichzeitig geometrische und ,physikalische‘ Plane-tentheorie dar, das sich trotz aller erforderlichen Lösungen von Teilproblemen stetsden gesamten Weg eines Planeten zum Ziel setzte64. Indem er dazu auf über die Jahrevon 1601 bis 160665 entstandenes Material zurückgreift, entsteht in der Druckfassungnicht nur eine fast chronologische Abfolge seiner Problemlösungen, einschließlich derSackgassen – sondern es hat sich auch die Abfolge seiner sich mit den Vorstellungenwandelnden Terminologie erhalten, gleich Leitfossilien. Man darf deshalb auch nichtseine Terminologie der endgültigen Theorielösung (Flächensatz und Ellipsenbahn) auffrühere Kapitel übertragen.

Kepler musste auch die ältere, von ihm überwundene Astronomie (des Ptolemaios,Tycho Brahe und Nicolaus Copernicus) und Astrophysik (Peurbach als letztem Vertreterder Theorica-Tradition) beschreiben, um zu verdeutlichen, gegen welche Theorien er zuargumentieren beabsichtige. In deren Darstellung, vor allem innerhalb der ersten beidenTeile der Astronomia nova (siehe vor allem die Kapitel 17 bis 19), aber auch bei gelegentli-chen Rückblicken auf ältere Theorien, hatte er sich deshalb auch weiterhin der [55] älterenTerminologie der orbes und orbes particulares zu bedienen – wenn er dann auch gelegentlichzwecks Richtigstellung seine späteren Erkenntnisse in nachträglichen Zusätzen dagegensetzt, wenn erforderlich, auch in der neuen Terminologie.

3.1. Orbis planetaeIm Mysterium cosmographicum verwendete Kepler den Begriff orbis noch vornehmlich in derVerbindung orbes planetarum (auch ohne den Zusatz) für die sieben ‚Planetensphären‘ –bei ihm selbst sind es sechs – der geozentrischen und der heliozentrischen (copernicani-schen) Astronomie, die umschlossen werden von zwei konzentrischen kugelförmigenBegrenzungsflächen. Diese galten ja bis 1588 unbestritten als ausgefüllt mit undurch-dringlichem, festem Äther, der vielfältiges Mitführen der ihrerseits ebenfalls rotierenden

66 KGW I, 68, 8 f.67 KGW I, 20, 1 / 21, 1 / 22, 12.68 KGW I, 27, 28 / 10, 35.69 KGW I, 18, 7 ff.70 KGW I, 17, 4; 22, 12.71 KGW I, 49; 48, 39 und 40; 56, 36; ebenso aber auch Epitome, KGW VII, 266, 22. Siehe unter

den in Anm. 30 aufgeführten Stellen für coelum auch die Verkleinerungsform coelulum.72 KGW I, zwischen 26/27. Dieser Wechsel etwa auch noch in der Epitome, KGW VII, 265,

25–38.73 KGW I, 56, 15.

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Bestandteile dieser ‚Gesamtsphäre‘ eines Planeten (Exzenter, Epizykel usw.) begründeteund die (gleichförmig-kreisförmige) Rotationsbewegung des Gesamtsystems und einerjeden Teilsphäre gewährleistete – wie es „einem runden (kugelförmigen) orbis-Körper[C[aspar]: Bahn] zukommt“ und genügt (orbi rotunda sufficiens)66. Daraufhin nennt er diesePlanetensphären auch orbes mobiles: sphaerae coelestes mobiles67; sex orbes mobiles / coela mobilia68

[C: „sechs bewegliche Bahnen“ [?] / „Himmelsbahnen“]. Ihre Bewegungsform ist dierevolutio, das ‚Umwälzen‘, ‚Rotieren‘, mit dem sie oder vielmehr ein Punkt auf ihnen‚Kreise‘ beschreibt: „alle übrigen beschreiben bei ihren Umwälzungen [C: Umläufen] im-mer Kreise von demselben Umfang“ (caeteri omnes in singulis revolutionibus describant eiusdemamplitudinis circulos69). Bei der Darstellung ihrer Reihenfolge werden sie hier auch Sphaeraeoder orbes Mundi [C: Weltkreis]70, gelegentlich aber auch coelum eines Planeten genannt.Wegen seiner vergleichsweise geringen Größe bezeichnet Kepler den orbis Lunae imZusammenhang der copernicanischen und der keplerschen Astronomie auch mit derVerkleinerungsform sphaerula oder orbiculus Lunae [C: „Mondkreischen“].71

Dass auch Kepler mit orbis und sphaera der Planeten dasselbe bezeichnet, gehtbesonders deutlich aus der beschreibenden Legende seines Modells [56] des Mysteriumcosmographicum hervor, das als Kupfertafel dem zweiten Kapitel beigeheftet ist72. Hierwechseln nämlich die Begriffe: „α Sphaera Saturni / β Cubus primum corpus regulareGeometricum distantiam ab orbe Saturni usque ad Iovis / [...] ι Sphaera Veneris / κOctaedron a Sphaera Veneris ad Mercurii orbem exhibens distantiam / λ SphaeraMercurii ...“

Das für Keplers Überlegungen wichtigste Detail des Inhalts einer Gesamtsphäre istder die Epizykel tragende (deferens) Exzenter (in den historischen Abschnitten: orbiseccentricus, natürlich ein orbis particularis). orbes partiales sind es dann auch, wenn er imFalle der ‚Mondsphäre‘ von lunares orbes spricht73, wie sonst wäre der Plural zu ver-stehen.

orbis ist aber bei Kepler daneben weiterhin auch die (mathematische) Kugel, in-nerhalb des Mysterium cosmographicum vor allem die In- und Um-Kugel der fünf Plato-nischen Körper (orbes, qui corporibus inscribuntur, et circumscribuntur), welche die Abstände

74 Siehe insbesondere Mysterium cosmographicum, Kap. 13 (KGW I, 43–46).75 Siehe unten den Text zu Anm. 88, weiterhin beispielsweise die Überschriften der Kapitel 54

und 55 der Astronomia nova, KGW III, 342, 21: Accuratius examen proportionis orbium [C:Verhältnis der Bahnhalbmesser], 342, 33 und 343, 19: proportio orbium [C: Verhältnis derBahnen]; 344, 16 und 25: proportio orbium [C: Verhältnis der Bahnen]. So lautet denn auch dieursprüngliche Formulierung des dritten Planetengesetzes in der Harmonice mundi (1619), quodproportio que inter binorum quorumcunque Planetarum tempora periodica, sit praecise sequialtera proportio-nis mediarum distantiarum, id est Orbium ipsorum; attento tamen hoc, quod medium arithmeticum interutramque diametrum ellipticae orbitae sit paulo minus longiore diametro (KGW VI, 302, 21–24; denZusatz bezieht Caspar in seinem Nachbericht, S. 546, auf die „Ellipsenumfänge“ [?]). Indiesem Werk heißt es neben proportio orbium (etwa 303, 12) dann auch schon proportio Orbita-rum Planetarum (etwa 298, 33). – In der Astronomia nova spricht Kepler entsprechend auch vonder „Linie der [imaginären] mittleren Bewegung der Sonne“ (KGW III, 110/111, 10: lineamedii motus Solis; siehe auch 142, 17: linea apparentis motus Solis).

76 Astronomia noca, Kap. 34, KGW III, 244, 34–37.77 Astronomia noca, Kap. 37, KGW III, 252, 32 f.

78 KGW VII, 267, 8 f. Siehe auch die Note 3 zum 16. Kapitel der zweiten Auflage desMysterium cosmographicum (zum Text: eadem fere proportio globi Telluris ad orbem Lunae),KGW VIII, 93, 18–21): Das Verhältnis sei nicht 1 : 59, at proportio corporis Solis adorbem Mercurij est paulo alia, sc. non medius orbis Mercurij, sed intimus et angustissimus estassumendus, und das ergebe ein Verhältnis von 1 : 56. Bei der Beschreibung des

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der Planetensphären bestimmen sollen74, die dann ihrerseits eine gewisse ‚Dicke‘ auf-wiesen.

Geht es um einen Vergleich der (mittleren) Planetenabstände und der Ausmaße derSphären im Verhältnis zu einander, so ist orbis / sphaera innerhalb des geometrischenSystems nicht nur der Raum, den die (imaginäre) Hohlkugel mit dem gesamten ma-thematischen Bewegungsapparat eines Planeten einnimmt, sondern auch die [ima-ginäre] Kugel mit dem mittleren Abstand eines Planeten als Radius75 (also ohne die,Dicke‘ zu berücksichtigen). Gleiches gilt für mit einander verglichene Umlaufzeitender Planeten(-Sphären) oder Planeten in ihren Sphären, wenn Kepler in Anlehnung anÜberlegungen im Mysterium cosmographicum, die auf ei[57]ne bewegende Kraft in derzentralen Sonne führten, vom periodos orbis Planetae (orbis Mercurii, Lunae, Terrae)76

spricht, oder vom Umlauf des Mondes und der Erde in suo orbe.77

Dass mit einem solchen (imaginären) orbis bei Kepler keineswegs die ‚Bahn‘ gemeintist, macht er später in der Epitome, als ihm der neue Begriff vorliegt, klar und deutlich,wenn er die Verhältnisse der Zwischenräume der mit den mittleren Abständen errech-neten Größen der orbes bestimmt und hinzufügt: „Dabei ist jedoch zu bedenken, dassdie Verhältnisse der [tatsächlichen] Abstände an jeweils anderen Teilen der Bahnenauch andere sind, vor allem bei Mars und Merkur“, nämlich wegen ihrer großenExzentrizitäten (distantiarum [sc. orbium] proportiones alijs orbitarum partibus alias esse,praesertim in Marte et Mercurio)78.

Mysterium cosmographicum spricht er in der Epitome auch statt orbes von regiones orbicularesMartis et Telluris (KGW VII, 274, 16). In der Tafel der Abstände der Planetensphären(proportio orbium) nach Ptolemaios werden KGW VII, 287 auch jeweils die unterste und dieoberste Begrenzungskugel einer Sphäre benannt: Imum orbis Mercurij [usw.] / summum; 273,41 etwa spricht vom orbis in quo tellus volvitur, 385, 1 von der medium proportionale inter corpusTelluris et orbem in quo centrum Terrae vere, Sol apparenter, circumit.

79 Peter Michael Schenkel: Johannes Kepler, Gesammelte Werke. Register zu Band IV: Har-monice Mundi. Bearbeitet im Auftrag der Kepler-Kommission der Bayerischen Akademieder Wissenschaften. München: Bayerische Akademie der Wissenschaften 1990, S. 36,unter dem Oberbegriff ,orbis theoria‘, aufgefasst als ,Bahn‘, obgleich hier auch die,Sphären‘ des Mysterium cosmographicum untergeordnet sind: „magnitudo sphaerarum non excorporibus regularibus sumpta“. Er bezieht sich auf KGW VI, 300 [, 14 f.]; siehe auchoben Anm. 9.

80 Ptolemaios hatte in den Hypotheses planetarum I (2), 3, Sp. 7a Goldstein, das Verhältnis voninnerem und äußerem Durchmesser der Venus-Sphäre zu 16 : 104 berechnet, was nachEinschaltung von Mond- und Merkur-Sphäre eine Entfernung der inneren Begrenzungs-fläche von 166, der äußeren von 1079 Erdradien ergab.

81 KGW I, 17, 4–10; Kepler [Caspar] (wie Anm. 24), 32; Kepler [Krafft] (wie Anm. 7/b), 22.Da meiner Ausgabe die Seiten-Zählung der kritischen Ausgabe in KGW beigegeben ist,sind die Stellen hier einfach zu finden. Ich gebe deshalb oben jeweils nur die KGW-Stelle

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Hier ist auch das in Anlehnung an Caspar von Peter Michael Schenkel kreiertevermeintlich keplersche Stichwort „orbes ellipses sunt“ einzuordnen; denn im Text derHarmonice mundi steht natürlich nichts von ,elliptischen Kugeln‘ (was das auch immersein soll), an der angegebenen Stelle sagt Kepler vielmehr: Simul demonstratum est a me,Orbitam Planetae esse ellipticam, et Sole, fontem motus, esse in altero focorum hujus Ellipsis.79

3.2. Soliditas orbium / solidi orbesJohannes Keplers Ausgangspunkt war der mittels Parallaxen-Messungen geführteNachweis Brahes, dass der Komet von 1577 seinen Weg offenbar [58] völlig ungehin-dert mitten durch die doch als fest und undurchdringlich geltende ‚Sphäre‘ der Venusnahm. Im geozentrischen System hatte die Sphäre dieses Planeten aufgrund des großenEpizykels, der sie, von der Erde aus gesehen, beiderseits der Sonne um je 45 Grad vonihr weg führen muss, eine recht beträchtliche ‚Dicke‘80, von allen Planeten die größte,bildete also einen riesigen Ätherkörper; und diesen reduzierte Max Caspar in seinenÜbersetzungen zu einer eindimensionalen Linie, der ‚Bahn‘ des Planeten Venus, ohnedann auch Rechenschaft darüber abzulegen, warum der Komet diese ‚Bahn‘ nicht hätteschneiden können sollen, selbst wenn sie auch noch „fest“ hat sein soll, was auchimmer eine „feste Bahn“ sein könnte.

Gleich im ersten Kapitel des Mysterium cosmographicum betont Kepler diesen für ihnwichtigen Umstand, auf den ihn sein Lehrer Michael Mästlin aufmerksam gemachthätte81: „... indem [Brahe] bemerkte, dass der Komet des Jahres [15]77 beständig der von

an und zitiere gegebenenfalls dazu die Übersetzung von Caspar mit einem [C]. – ZuMästlins Zusammenarbeit mit und Einflüssen auf Kepler siehe etwa Gerd Graßhoff:Mästlins Beitrag zu Keplers „Astronomie nova“. In: Betsch / Hamel (wie Anm. 52),72–109.

82 Es bestand seitens des Verlages die Vorgabe, den Text unverändert zu lassen, so dass ichmich in der Bearbeitung der Übersetzung Caspars auf wenige Korrekturen beschränkenmusste.

83 KGW I, 77, 20–24.84 KGW I, 56, 15–22.85 KGW VIII, 62, 39–41.

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Copernicus angegebenen Bewegung der Venus folgte und aufgrund der Annahme seinersupralunaren Entfernung fand, dass er seinen Umlauf genau innerhalb der copernicani-schen Venussphäre [C: kopernikanischen Venusbahn] ausführte“ (... dum Cometam anni 77deprehendit, constantissime ad motum Veneris a Copernico proditum moveri, et capta ex altitudinesuperlunari coniectura, in ipso orbe Venerio Copernicano curriculum suum absolvere) – allein das seischon ein starkes Argument „für die Richtigkeit der Anordnung der copernicanischenSphären [C: kopernikanischen Bahnen]“.

Mehrmals weist Kepler dann darauf hin, dass es die ‚festen‘, ‚gediegenen‘, ‚ausgefüll-ten‘ – solidus hätte man vielleicht am besten mit ‚solide‘ wiedergegeben82 – und un-durchdringlichen orbes (Sphären, als Träger der Bewegungselemente der Planeten) seitdiesen Erkenntnissen in der Astronomie nicht mehr gibt. Noch vorsichtig geschiehtdas im Zusammenhang mit der im Mysterium cosmographicum abgeleiteten neuen ‚Physik‘mit [59] einer lenkenden Gestirnsseele83. An anderer Stelle84 zerstreut er die Bedenken,dass die Mondsphäre [C: Mondbahn] zusammengepresst würde, „wenn sie nicht in derErdsphäre [C: Erdbahn] selber geborgen und eingeschlossen“ wäre; denn es wäretöricht, „diese Körper mit einer Art Stoff auszustatten, der einem anderen Körper denDurchgang verwehrte [...]. In der Tat scheuen sich viele nicht, zu bezweifeln, ob esüberhaupt am Himmel derartig stahlharte Sphären [C: Bahnen] gibt, und fragen sich,ob nicht vielmehr die Sterne durch eine gewisse göttliche Kraft, frei von den Fesselnder Sphären [C: Bahnen], über die himmlischen Gefilde hin und durch den Himmels-äther getragen werden ...“

In der 1621 erschienenen zweiten, annotierten Auflage des Mysterium cosmographicumbetont Kepler in einer Note zum 11. Kapitel85, dass Aristoteles „nach dem damaligenStand der Astronomie in der falschen Vorstellung von festen Sphären (solidorum orbium[C: festen Bahnen])“ gefragt habe: „Warum bewegt sich ein Planet nicht mittels umsomehr Sphären [C: Kreisen], je niedriger er ist?“ Auch hier spricht Caspar von ‚Bahnen‘und ‚Kreisen‘, obgleich er gerade diese konzentrischen orbes (σnαÃραι) und solidi orbesdes Aristoteles anderenorts sogar selbst einmal richtig ‚Sphären‘ und ‚feste Sphären‘genannt hat, als er Kapitel 2 der Astronomia nova übersetzte, in dem Kepler das aristote-

86 J. Kepler: Astronomia nova, Cap. 2; KGW III, 67, 13–40; Kepler [Krafft] (wie Anm. 7/a),87 f., Kepler [Caspar] (wie Anm. 9), 63 f.

87 KGW III, 19, 29.88 KGW III, 68, 12. – Vgl. auch wieder den historischen Abriss in der Introductio, KGW III,

22, 21 f.: „So tritt also [in der Theorie des Ptolemaios] im Epizykel eines jeden Planetendie gesamte Theorie der Sonne vollständig auf, mit all den Besonderheiten ihrer Bewegun-gen und [Partikular-]sphären [C. trotz Plural: Bahn].“; und etwa Nota 2 zum 11. Kapiteldes Mysterium cosmographicum in der Auflage von 1621, KGW VIII, 62, 41: Aristotelesaufgrund der zu seiner Zeit angenommenen „falschen Überzeugung von festen Sphären[C: Bahnen]“ (illa falsa solidorum orbibus). Ähnlich verfuhr Caspar schon im historischen Teildes 14. Kapitels (KGW I, 47–49), etwa 47, 15 (orbium proportiones [C.: Verhältnisse derHimmelsbahnen]) und 48, 10; dazu siehe auch oben Anm. 75.

89 KGW III, 69, 1 ff. Kepler verweist hier auf G. Peurbachs Theoricae novae planetarum.90 KGW III, 68, 28 f. und 69, 1–3.

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lische System der homozentrischen Sphären beschreibt86 – in entsprechendem Zu-sammenhang auch in der Introductio87. Allerdings erfolgt dies auch dort nicht einheitlich.Er ist vielmehr auch dort, wo es gerade um die Festigkeit der kreisbewegten Sphären-körper geht, wieder auf seine den Text verfälschende ‚Bahn‘ zurückgekommen88: „Eswird zwar durch die Annahme der Festigkeit der Sphären [C: von festen Bahnen]durchaus für alle Bewegungen und alle Erscheinungen am Himmel in einer Weisegesorgt, dass der Umsicht von leitenden Bewegern nichts mehr übrig bleibt.“ Peurbachhabe, ähnlich wie Aristoteles, [60] zur Erklärung „eine feste konzentrische Sphäre [C:Bahn] von der Breite [Dicke, also vielmehr: Tiefe] des ganzen Epizykels [... ange-nommen], auf ihr den Epizykel und auf diesem den Planeten ... [das soll heißen: einePlanetensphäre mit ihren orbes particulares gemäß der Theorica89]. Nun hat aber TychoBrahe mit sichersten Gründen die Festigkeit der Sphären [C: Bahnen] zerstört, diebisher jenen bewegenden Seelen (auch wenn sie blind waren) hatte als Stütze dienenkönnen, um den rechten Weg (via) zu finden.“90

In der Astronomia nova setzt Kepler dann als sicher voraus, dass die Festigkeit derSphären oder feste Sphären, die Caspar auch hier wieder stets mit ‚Bahnen‘ übersetzte,von Tycho Brahe widerlegt worden seien; vgl. beispielsweise KGW III, 23, 7 und 12;34, 19 f. („Da es keine festen Sphären [C: Bahnen] gibt, wie Brahe aus den Bahnen[trajectionibus] der Kometen bewies ...“); 34, 19 f. und 32 f.; 37, 14 f. und 24/28; 54, 9;69, 1 f.; 73, 32/34; 75, 4–6; 97, 29; 103, 11 f./13, 24, 39; 237, 7; 238, 30; 255, 2 f.;während Copernicus sie noch benutzt habe; 73, 27–31; 393, 32 (si orbes tuentur solidos);400, 16 f. (negatis orbibus solidis); siehe auch in seinem Lehrbuch Epitome astronomiaeCopernicanae (1618–1621) besonders KGW VII, 295, 9 ff.

91 KGW I, 47, 5–7.92 KGW I, 47, 15.93 Das erklärte auch die Wortwahl im Zusammenhang mit dem Text, der das ‚absurde‘

System homozentrischer Sphären des Aristoteles beschreibt.94 KGW I, 47, 20 ff.95 KGW I, 48, 9–11.

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3.3. crassities / spissitudo orbium

Es sei bekannt, dass die ‚Wege‘ (viae) der Planeten(körper) exzentrisch sind, beginnt das14. Kapitel des Mysterium cosmographicum, weshalb die Physiker – also jene, die die Wegeder Planeten nicht nur mathematisch beschreiben, sondern auch erklären und begrün-den wollen (Verfasser von Theoricae planetarum) – der Meinung seien, „es komme denSphären (orbes [C: Sphären!]) eine so große Dicke (crassities) zu, wie es zur Erklärung derVeränderungen der Bewegungen [mittels orbes partiales der Exzenter, Epizykel usw.]erforderlich ist“91. Während jedoch die Geozentriker diese ‚dicken‘ Planetensphärenlückenlos aneinander schließen ließen, so dass für sie gar nicht das Problem und dieGelegenheit bestanden habe, nach dem (Größen-) Verhältnis der Sphären (orbiumproportiones [C: Himmelsbahnen])92 zu forschen, hätte Copernicus gezeigt, dass heliozen-trisch die Abstände der Sphären ihre ‚Dicke‘ um ein Mehrfaches überschreiten. Wäh-rend Caspar für die Beschreibung der ptolemaiischen (geozentrischen) Theorie [61]häufig, wenn auch nicht immer, die korrekte Übersetzung ‚Sphäre‘ für orbis wählt,schlägt die damit offenbar verbundene pejorative Einstellung93 in dem Augenblick um,in dem Kepler die copernicanische Theorie dagegen setzt94. Jetzt sollen die orbes plötz-lich ‚Bahnen‘ sein, obgleich die ‚Sphären‘ sich nur darin von den ptolemaiischen unter-scheiden sollen, dass zwischen ihnen relativ große Zwischenräume bestehen (wie diebeigegebene Abbildung deutlich zeigt, deren längere Beschreibung Caspar erst derzweiten Auflage zuweist; siehe hierzu jedoch den Verweis Keplers auf die Abbildung95,in der „die Größen der Sphären [C: Bahnen] und der Zwischenräume im richtigen Ver-hältnis dargestellt [sind], so wie sie von Copernicus zahlenmäßig angegeben werden“).Selbst in der Konsequenz des Vergleichs, dass bei Copernicus die orbes sich nicht mehrwie die orbes der Geozentriker einander berührten, sondern ungeheure Ätherräumezwischen ihnen lägen, macht Caspar sie zu ‚Bahnen‘.

Absurd wird diese Übersetzung insbesondere dann, wenn diese ‚Bahnen‘ auch nochausdrücklich die gesamte ‚Dicke‘ (crassities, spissitudo, bei Mästlin: spissitudo, bei Clavius:crassities) einer Planetensphäre erhalten sollen. Kepler spricht dieses für seine Ideenwichtige Problem im folgenden noch mehrmals an; und stets übersetzt Caspar orbis mit‚Bahn‘, obwohl dieser ja nun wirklich nicht den ‚Weg‘ des Planetenkörpers beschreibt:

Das 16. Kapitel ist überschrieben: „Über die stoffliche Beschaffenheit der (Ge-stirns-)Körper und der Sphären [C: Bahnen] (De Luna peculiare monitum, et de materia

96 KGW I, 55, 4 ff.97 Siehe oben Anm. 30.98 KGW I, 54, 1–3 und folgende Tabelle. 1621, in der zweiten Auflage, differenziert Kepler

in Nota 1 zum 16. Kapitel (KGW VIII, 92, 33 f.): Von der Sonne aus betrachtet, „mussman bezüglich der Erdsphäre [C.: Erdbahn] so verfahren, als ob die Mondsphäre (Lunaecoelum) ihre Dicke in keiner Weise vergrößere“.

99 KGW I, 61, 3–5.100 KGW I, 60, 33 f.101 KGW I, 60, 36 f.

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corporum et orbium)“, und beginnt mit den Worten96: „So klein die Mondsphäre [C:Mondbahn] auch ist, so bereitet sie doch keine kleine Schwierigkeit.“ Man müsse näm-lich mit Copernicus das Mondsystem (systema [C: Mondbereich]), also den gesamtenBewegungsapparat der Mondtheorie, „der Dicke der Erdsphäre“ (crassitiei orbis magni [C:Erdbahn]) hinzu rechnen (siehe dazu Abbildung 1), wenn das auch kosmografischeund metaphysische (physikalische) Schwierigkeiten bereite; denn die Erdsphäre [C:Erdbahn] sei nicht so dick (orbem magnum non tam crassum), dass sie den ‚Mondhimmel‘97,das ist die Mondsphäre, mit überdecke, vielmehr werde bisweilen „die ganze Hälfte derMondsphäre [C: Mondbahn] außerhalb oder innerhalb der Erdsphäre [C: Erdbahn]hinausragen“. Eine solche Ausbeulung [C: Knoten] einer Sphäre [C: Bahn] trete amHimmel aber nicht auf. Deshalb setzte Kepler in seiner Tafel der größten [62] undkleinsten Entfernungen der einzelnen Planetensphären [C: Bahnen], also ihrer ‚Dicke‘,in Kapitel 15 je zwei Werte ein, je nachdem ob für die Erdsphäre [C: Bahn] eine‚Dicke‘ mit oder ohne Einschluss der Mondsphäre [C: Mondbahn] zugrundegelegtwurde98. Im 18. Kapitel weist Kepler auf diese Tabelle zurück, die gezeigt habe, „wie-viel es für die Verengung und Erweiterung aller Sphären [C: Sphären!] allein schonausmacht, ob wir das kleine Mondsphärchen [C: Mondkreischen], das um einen win-zigen Betrag über die Dicke der Erdsphäre [C: Erdbahn] hinausragt, mitrechnen odernicht“99. Weil es bei physikalischer Betrachtung nicht um ‚Sphären‘ mit mittlerer Ent-fernung gehe, woraufhin nur diese eine Kugeloberfläche mit der In- und der Umkugelder sie umgebenden regulären Körper zusammenfiele, hätte er sich so intensiv um „dieDicke der Sphären [C: Bahnen] kümmern müssen, welche die exzentrischen Wege derPlaneten (viae [C: Planetenbahnen])“ erfordern100. In Ermangelung besserer Werte habeer vorerst die „Dicke der Sphären [C: Bahnen] von Copernicus als sicher“ übernehmenmüssen (oportuit me orbium spissitudines a Copernico, tanquam certas mutuari)101, wenn dieWerte in den Prutenischen Tafeln, die sich aus dessen Exzentrizitäten ergeben hätten,auch nicht ohne weiteres mit denen übereinstimmten, die er selbst aus den Einschach-telungen der Sphären zwischen die In- und Umkugeln der regulären Körper (deduktiv)gewonnen hätte.

Von dieser ‚Dicke‘ der Sphären [C: Bahnen] ist dann ausdrücklich auch im 21. Ka-pitel des Mysterium cosmographicum die Rede, in dem es um die mangelnde Überein-

102 KGW I, 73, 6/7.103 KGW VIII, 120, 2 f. 104 KGW I, 70, 18–26.

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stimmung von aus dem Modell erschlossenen und beobachteten Werten der Exzen-trizitäten geht (media orbis spissitudine)102 – was er in der zweiten Auflage korrigierenwird103: die mittlere Entfernung bei Copernicus befindet sich in ipso spatio seu spissitudineorbis [C: „liegen also innerhalb der Dicke der Bahn“]. Kepler spricht hier ausdrücklichvon der ‚Dicke‘ einer Planetensphäre als dem ‚Raum‘ zwischen ihren beiden (kon-zentrischen) Begrenzungskugeln (außen der Inkugel des nach außen folgenden Polyë-ders, innen der Umkugel des innen folgenden Polyëders). Das kann nun aber wirklichnicht als eine Bahn-Linie aufgefasst werden; Caspar lässt denn auch das Wort spatiumhier einfach weg. [63]

4. Johannes Keplers Konzept einer neuen Himmelsphysik

Im Mysterium cosmographicum resultiert diese ‚Dicke‘ der Gesamtsphäre eines Planetenaus der Exzentrizität des Deferenten, eigentlich zuzüglich des zweimaligen Radius desEpizykels, dem bei Copernicus in De revolutionibus die Rolle der Ausgleichsbewegungübertragen worden war. Dessen Berücksichtigung bei der Dicke der Sphären ließ sichaber mit den gewonnenen Daten nicht vereinbaren (Kap. 18). Kepler eliminierte dar-aufhin in Kapitel 22 den (Ausgleichs-)Epizykel und gewann dadurch sogar eine zusätz-liche Bestätigung seines physikalischen Ansatzes. In Kapitel 20 hatte er gezeigt, dass diezentrale Sonne die ,trägen‘ Planetenkörper wegen der Abschwächung ihrer Bewegungs-kraft (anima motrix / movens) langsamer bewegt, wenn sie weiter entfernt sind. Aufgrundder Eliminierung des Epizykels und Wiedereinführung der ptolemaiischen Ausgleichs-bewegung bewegt sie jetzt auch jeden Planeten auf dessen exzentrischem kreisförmigen‚Weg‘ innerhalb seiner Sphäre bei größerer Annäherung (Perihel) schneller, bei größe-rer Entfernung (Aphel) langsamer, entsprechend den Beobachtungsdaten. Die Datenließen ihn sich für diese Alternative entscheiden104: „Entweder sind die bewegendenSeelen [der Planeten] umso schwächer, je weiter sie von der Sonne entfernt sind [einsolcher Wechsel sei jedoch absurd], oder es gibt nur eine bewegende Seele im Mittel-punkt aller Sphären [C: Bahnen] (unam esse motricem animam in orbium omnium centro), näm-lich in der Sonne“. So wie in der Sonne die Quelle des Lichtes, so befinde sich auch dieUrsache der Kreis[förmigkeit] [C: Kreisbahn] an ihrem Ort, das heißt in ihrem Zen-trum, und so seien jetzt Leben, Bewegung und Weltseele (anima mundi) in die eine Son-ne zurückgekehrt.

Eine derartige ungleichförmige Bewegung hätte mittels einer festen Sphäre aber nie-mals erfolgen können. Fiele die ehemalige Festigkeit der Sphären, die eine Mitführungder eingeschlossenen, ebenfalls festen orbes partiales und des Planetenkörpers selbst

105 KGW I, 56, 20–22.106 KGW I, 56, 28–30.107 KGW I, 56, 30–33.108 KGW I, 77, 20–24.109 KGW VIII, 123, 21–25.

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gewährleistet hatte, jedoch weg, so überlegten sich manche105, „ob die Gestirne nichtdurch eine gewisse göttliche Kraft (divina quadan virtute), die den Kurs durch die Ein-sicht in die geometrischen Proportionen lenkt, durch die himmlischen Gefilde und denÄtherraum ohne die Ketten der Sphären (libera istis orbium compedibus) getragen werden“;und er fragt sich106, „durch welchen Hebel, durch welche Ketten, durch welches eherneBand am Himmel wird unsere Erde [...] in ihre Sphäre (orbis) eingefügt?“ [64]

‚Sphäre‘ ist hier also statt der vormaligen Ätherkugelschale als ‚Gesamtsphäre‘vorerst nur der Raum zwischen den beiden durch die In- und Umkugeln der umgeben-den Polyëder gebildeten konzentrischen Begrenzungskugeln, deren Abstand durch dieExzentrizität des copernicanischen Deferenten (schließlich ohne den Epizykel) be-stimmt ist. Innerhalb dieses ‚Raumes‘ werde die von der anima motrix der Sonne vor-wärts getriebene Erde (ein Planet) aber nicht von einem Äther getragen, sondern „vonder Luft, die (gegoren und mit Dämpfen vermischt) von uns Menschen allen, die wirrings die Oberfläche der Erde bewohnen, eingeatmet wird, die wir mit der Hand, mitdem Körper durchdringen, ohne sie wegschieben oder beseitigen zu können; ist siedoch die Trägerin der himmlischen Einflüsse auf die Körper in ihr“ (eo nempe quem om-nes circumcirca in superficie Telluris homines haurimus (fermentarum et commixtum vaporibus) aerem:quem manu, quem corpore penetramus, neque tamen discludimus, aut semovemus, cum sit influxumcoelestium in media corpora vehiculum)107.

Zusammengefasst und ergänzt durch die Ursache für die Tiefenbewegung einesPlaneten, aus der ja neben der Exzentrizität auch die sich daraus ergebende Ungleich-förmigkeit seiner Bewegung folgt, heißt es dann Ende des 22. Kapitels108:

„Es sei die gesamte Welt von einer Seele erfüllt, die mitreißt, was immer sie an Planetenund Kometen erfasst, und zwar mit der Geschwindigkeit, die der Abstand des Ortes vonder Sonne und die diesem entsprechende Stärke ihrer Kraft ergibt. Sodann sei in jedemPlaneten eine besondere Seele, mit deren Hilfe der Planet in seinem Umlauf (ambitus) em-porsteuert. Und lässt man die Sphären weg, so folgt dasselbe (et orbibus remotis eadem se-quentur).“

Kepler scheint mit diesem kurzen Schlusssatz andeuten zu wollen, dass diese neueHimmelsphysik so viel Erklärungspotential besitze, dass man auf die Sphären selbst inder von ihm eingeführten reduzierten Form verzichten, also eine astronomia sine orbibusbetreiben könne, eine Astronomie ohne Sphären, wie sie dann in der Astronomia novaentwickelt werden sollte. In einer Anmerkung zu diesem Passus schreibt er in der an-notierten Neuauflage von 1621 denn auch109: „Hier ist wiederum statt Seele die imma-terielle Spezies der Sonne zu denken, die sich wie das Licht ausbreitet. Dann ist hier

110 Zur Abfolge seiner physikalischen und astronomischen Ideen und zur Chronologie derNiederschrift von Mysterium cosmographicum und Astronomia nova siehe Fritz Krafft: Johan-nes Keplers Beitrag zur Himmelsphysik. In: Internationales Kepler-Symposium Weil

der Stadt 1971. Referate und Diskussionen, hrsg. von Fritz Krafft, Karl Meyer, Bern-

hard Sticker. (arbor scientiarum, Reihe A, Bd. 1) Hildesheim: Gerstenberg 1973, S.

55–139.

111 KGW I, 34, 19 f.112 Kepler [Krafft] (wie Anm. 7/a).113 Johannes Kepler: Tertius interveniens. Das ist / Warnung an etliche Theologos, Medicos

und Philosophos [...], daß sie bey billicher Verwerffung der Sternguckereischen Aber-glauben / nicht das Kindt mit dem Bade außschütten ... Frankfurt am Main: G. Tampach1610, § L (KGW IV, 192, 21 f.).

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mit kurzen Worten der Hauptinhalt meiner Himmelsphysik ausgedrückt – wie sie dieTeile III und IV der Astronomia nova darlegen und Buch IV der Epitome astronomiaeCopernicanae wiederholt.“ [65]

Hiermit wird auch der eigentliche Paradigmawechsel hin zur neuzeitlichen Astro-nomie (nicht zum neuen Weltbild, der Nicolaus Copernicus vorbehalten bleibt)eingeleitet. Aber erst im Laufe der Niederschrift der Astronomia nova ersetzte Kepler dieihm noch bewusste Vorstellungswelt um „sphaera seu orbis coelestis“ durch dieVorstellung einer von körperlichen (im ursprünglichen Sinne ‚mechanischen‘) Ein-wirkungen jeglicher Art völlig freien, nur durch äußere und innere ‚Kräfte‘ der Ge-stirnskörper verursachten Bewegung der Planeten längs eines unveränderlichen Weges,seiner ,Bahn‘.110 Für diese neue Vorstellungswelt führte Johannes Kepler dann auchden besonderen Begriff der orbita, des ‚Orbit‘ moderner Wissenschaft, ein, so dass erdiesen Paradigmawechsel auch terminologisch dokumentierte. Das wird allerdings ausder Übersetzung Caspars nicht ersichtlich, weil er Keplers aus der Tradition übernom-menen Übergangs-Begriffe für ‚Weg‘ (auch als Resultante), ‚Pfad‘, ,Umlauf‘, ,Kreis‘,‚Bahn‘ (via, iter, circuitus, ambitus, semita usw.) und seine Fachtermini orbita und trajectio(Kometenbahn111) sowie jegliche Art von orbis unterschiedslos mit ‚Bahn‘ übersetzte,was ich in meiner Bearbeitung differenzierter wiederzugeben mich bemüht habe.112

Kepler selber übersetzte orbes im Tertius interveniens von 1610 mit: „dicke Himmelsku-geln / in welche die Sterne angehefftet“113.

Kepler greift dazu auf das antike Wort orbita zurück, mit dem in klassischer Zeitspeziell die Wege des Mondes und (seltener) der Sonne am Himmel bezeichnet wur-den, die somit aufgrund der eigentlichen Bedeutung des Wortes (griechisch �ρµατο-τροχία) als Rad- oder Wagenspuren, als Gleise gedeutet wurden. Dabei muss man anantike Wege und Straßen mit ihren tief eingegrabenen Rad- oder Schlittenfahrspurendenken (sehr anschaulich etwa auf Malta), die jeden Wagen in diese Geleise hineinzwingen und damit auch führen: Der Mond (die Sonne) kann also gar keinen anderen‚Weg‘ nehmen. Man vergleiche Sextus Propertius (2. Hälfte 1. Jh. v. Chr.): Elegie II, 20,

114 Das Oxford Latin Dictionary deutet, sicherlich fälschlich, „orbitae (sc. of planets)“; siehe P. G.W. Glare (ed.): Oxford Latin Dictionary. Oxford: Clarendon Press 1982 u. ö., S. 1264.

115 Es scheint auch stets die Kreisförmigkeit dieses Weges mit dem Wort verbunden gewe-sen zu sein; siehe z. B. schon M. Terentius Varro (115–27 v. Chr.): Menippeae, Vers 202:sidera [...] quae volvuntur motu orbito.

116 Johannes Kepler: Mysterium cosmographicum, Cap. I, Nota 18; KGW VIII, 43, 32 f.(orbita Telluris, ut reliquorum Planetarum orbitae), und Cap. XVI, Nota 2; KGW VIII, p. 92,37 (orbita Planetae).

117 KGW III, 23, 12–14.

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21: septima iam plenae deducitur orbita lunae („schon ist [66] der siebte Umlauf des vollenMondes beendet“); Lucius Annaeus Seneca (etwa 55 v. Chr. bis etwa 40 n. Chr.):Naturales quaestiones VII, 10, 2: lunaris illa orbita ceterorumque supra lunam meantium motusirrevocabilis est („jener Umlauf des Mondes und die Bewegung der übrigen jenseits desMondes ziehenden [Gestirne] ist unveränderlich“); im anonymen Gedicht Aetna (Mitte1. Jh. n. Chr.), Vers 231: Solis scire modum et quanto minor orbita lunae est („man muss umdie Größe der Sonne(nbahn) wissen und, um wieviel kleiner die Mondbahn ist“); inMarcus Annaeus Lucanus’ (39–65 n. Chr.) Epos De bello civili IX, Vers 691: premit orbitasolis; und Gaius Plinius Secundus (d. Ä., 23–79 n. Chr.): Naturalis historia II, 79: DieFarben der Planeten verändern sich je nach Annäherung an den ‚Kreis‘ des Umlaufseines anderen Gestirns (alieni meatus circulus), wobei die Sonne sowie die Verbindung(s-linie) ihrer Apsiden und Bahnextreme, nämlich des entferntesten (langsamsten) undnächsten (schnellsten) Teils, sie in tiefste Dunkelheit tauchen (sol atque commissuraeapsidum extremaeque orbitae atram in obscuritatem [sc. tinguit]114). Die Sinnübertragung derein Gefährt lenkenden antiken Straße auf den schon von den Babyloniern so genann-ten ,Weg des Mondes (der Sonne)‘ scheint älter gewesen (was ihr Überdauern in derDichtung erklärte115) und später durch die Übersetzung des terminus technicus der grie-chischen mathematischen Astronomie σnαÃρα mit orbis verdrängt worden zu sein.

Im Mysterium cosmographicum und während der frühen Arbeiten zur Astronomia novafehlen noch Vorstellung und Begriff einer solchen ‚Bahn‘, wenn Kepler sich auchschon vielfältige Gedanken darüber machte, wie denn der uns erscheinende ‚Weg‘ einesPlaneten und sein ,wahrer‘ Weg zustande kämen. Der terminus technicus der Physik derAstronomia nova, ,orbita‘, tritt innerhalb des Mysterium cosmographicum denn auch erst 1621in der bearbeiteten zweiten Auflage in zwei dazu verfassten Noten auf116.

In der Introductio der Astronomia nova heißt es: „Wenn es denn keine festen Sphärengibt, geraten die bewegenden Verstandes- und Seelenkräfte [der Gestirne] in eine rechtmissliche Lage, insofern man von ihnen verlangen muss, auf so viele Dinge Acht zugeben, damit sie den Planeten [67] gleichzeitig jene doppelte Bewegung ausführen las-sen ...“117 , nämlich die von der anima motrix der Sonne verursachte längs eines konzen-trischen Kreises um die Sonne und die von dem Geist der Planeten verursachte, dazusenkrechte Annäherung zur und Entfernung von der Sonne, woraus der Exzenter

118 William Gilbert: De magnete magneticisque corporibus, et de magno magnete tellure,Physiologia nova, pluribus & argumentis, & experimentis demonstrata. London: PetrusShort 1600.

119 So in Keplers erstmaliger Erwähnung in der Apologia Tychonis contra Ursum (entstanden1600/1601), KGW XX 1, 24, 44–47: „Mihi sane nihil falsum Copernicus dixisse videtur:quodque meis pro Copernico defuit argumentis, id admirabili sollertia, experiundique in-dustria supplesse videtur Gilbertus Guilielmus Anglus, in re magnetica.“

120 KGW XV, Brief Nr. 242, 358 ff.; hier die Zeilen 391 f. zu De magnete VI, 6.121 KGW XV, Brief Nr. 325, 57–61 / 65 f.. Vgl. auch unten zu Keplers Brief an M. Mästlin

vom 5. März 1605 (Brief Nr. 335).122 KGW III, 245, 33 ff., 246, 19–39.

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entstehe, der gemäß der neuen Physik notwendig ungleichförmig durchlaufen wird.Erforderlich war also, die Bewegungen der Planeten auf Kräfte von Körpern zurück-zuführen, die keiner geistigen oder seelischen Fähigkeit oder gar Willkür ausgesetztwaren, sondern physikalischer Notwendigkeit folgten. Bald bot sich ihm dafür derMagnetismus in Form der 1600 veröffentlichten, experimentell gestützten dualistischenTheorie William Gilberts an118. Gilberts Erkenntnisse schienen ihm schon Anfang 1601die im Mysterium cosmographicum abgeleitete zentrale Bewegungskraft der Sonne zu be-stätigen, die nur den neuen Erkenntnissen anzupassen wäre119: „woran es meinenArgumenten pro Copernicus noch fehlte, das scheint mit bewunderungswürdigemGeschick und experimentellem Fleiß der Engländer William Gilbert im Bereich desMagnetismus nachgeliefert zu haben“. Anfang 1603 schrieb er an Herwart von Hohen-burg120: „Ich glaube mit denselben Prinzipien alle Bewegungen der Planeten gänzlichbeschreiben zu können“ (Plane iisdem ego principijs omnes planetarum motus demonstrarj posseputo). Aber erst während der Bearbeitung der Kapitel 33 bis 39 des physikalischenTeiles der Astronomia nova kam er diesem Ziel gegen Ende des Jahres 1604 näher undkonnte dann am 10. Februar 1605 über das bis dahin fertiggestellte, dem Kaiserüberreichte vorläufige Manuskript Herwart schreiben121, Ziel seiner physikalischen Un-tersuchungen sei es, „sagen zu können, die Himmelsmaschine ist nicht so etwas wie eingöttliches Lebewesen (divinum animal), sondern wie eine [...] (Gewichts-)Uhr, so dass inihr fast jede Bewegungsveränderung (pene omnis motuum varietas) von einer einzigen, ganzeinfachen körperlichen magnetischen Kraft herrührt, wie bei der Uhr sämtliche Bewe-gungen von einem ganz einfachen Gewicht.“ Er unterwerfe diese physikalische Vor-stellung (ratio physica) auch den Zahlen und der Geometrie und könne schon jetzt zei-gen, auf welche Weise die [68] Planeten auch ohne Äthersphären ihre Bewegungenauszuführen vermögen (Tycho negavit orbes: ego jam doceo, quomodo moveantur planetae sineorbibus).

Diese vis una simplicissima magnetica corporalis war allerdings etwas voreilig avisiert. ImText des 34. Kapitels hieß es so auch zunächst zurückhaltend122, dass man sich hin-sichtlich seiner Vorstellungen vom Sonnenkörper und dessen die Planeten bewegenden

123 Eine zusammenfassende Darstellung der verschiedenartigen species immateriatae gibt Kepler imTertius interveniens von 1610, § 26 (KGW IV, 169–171).

124 Siehe J. Kepler: Astronomia nova, cap. 16–21.125 Siehe dazu Krafft (wie Anm. 110), S. 124–126.126 Der Anerkennung seiner Himmelsphysik (und damit auch der daraus begründeten ersten

beiden Planetengesetze) wäre es wahrscheinlich zuträglicher gewesen, wenn er einer An-regung gefolgt wäre, die er gegenüber Herwart von Hohenburg nach Abschluss derAstronomia nova im April 1607 äußern sollte, dass er nämlich die bewegende Kraft statt

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species immateriata123 „nur weiterhin von der Analogie leiten lassen und das Beispiel desMagneten näher betrachten solle“. Der Magnet war ihm vorerst auch nur wie dasebenfalls als Analogie herangezogene Licht ein „Beipiel“ (exemplum), um die zum Kör-per der Sonne gehörige, die Planeten mitreißende species immateriata (sc. magnetica) zuveranschaulichen und deren Wirkweise zu verdeutlichen. Vom analogen Magneten sag-te Kepler dann, dass nur wenig fehle, ihn die Sache selbst (res ipsa) nennen zu können– um abzuschließen: „doch was rede ich von einem bloßen Beispiel, hat der großeEngländer Gilbert doch aufgewiesen, dass die Erde tatsächlich ein großer Magnet ist(cum ipsa tellus [...] demonstrante magnus quidam est magnes)“.

Die anfänglich euphorisch als totale Isomorphie von Himmelskörper und Magnetempfundene ‚Gleichheit‘ – Kepler wies lediglich die von Gilbert noch der Seele einesGestirns zugewiesene Magnetkraft dessen Körper zu – betraf allerdings nur die Mit-führbewegung längs kreisförmiger Magnetfibern (entsprechend der gilbertschen ‚Richt-kraft‘), die als Teile des rotierenden Körpers der Sonne ebenfalls um diesen kreisen.Daraus resultierten allerdings lediglich konzentrisch um die Sonne gleichförmig krei-sende Bewegungen der Planeten. Um die vor allem für die ungleichförmige Bahnge-schwindigkeit auf dem ehemaligen Deferenten erforderlichen Abweichungen erklärenzu können, griff Kepler auf Gilberts zweite, anziehende Magnetkraft zurück, für die ergeradlinige radiale Fibern konstruierte, längs denen ein Planetenkörper sich zur Sonnehinzog oder von ihr abstieß, je nachdem welchen seiner entgegengesetzten Pole er aufseinem Weg um die Sonne aufgrund der Schrägstellung seiner Rotationsachse ihr zu-wandte. – Diese Bewegung entspräche der auf dem Durchmesser des ursprünglichen(copernicanischen) Epizykels, den Kepler noch lange Zeit als hinreichende „stellver-tretende Hypothese“ zur Berechnung der Örter in Länge benutzt hatte, obgleich er ihmjegliche physikalische Realität absprach124. – Später, in der Epitome, wies er auch diesevor allem als Ursache für die Tiefenbewegung und die aus dieser folgende ungleichför-mige Bewegung erforderliche Fähig[69]keit ebenfalls dem Sonnenkörper zu, indem erdessen gesamte Oberfläche zu einem gleichartigen Pol machte und den anderen, ent-gegengesetzten Pol nach außen unwirksam im Zentrum lokalisierte.125 Eigentlich er-reichte Kepler erst mit diesem Konstrukt sein Ziel, sämtliche Bewegungen der machinamundi auf „nur eine einzige, sehr einfache körperliche Kraft“ zurückzuführen – verließdamit aber auch die Vergleichbarkeit mit irdischem Magnetismus.126

magnetisch besser ,himmlisch‘ hätte nennen sollen (Kepler an Herwart von Hohenburg,April 1607, KGW XV, Brief Nr. 424, Zeilen 162: [virtutem Solis magneticam] debui caelestemdicere). Zu Einzelheiten siehe jetzt Fritz Krafft: Vom Segen und Fluch einer Analogie –Johannes Keplers kosmischer Magnetismus. In: Klaus Hentschel (Hrsg.): Analogien inNaturwissenschaften und Medizin. (Acta Historica Leopoldina, Nr. 56) Halle an derSaale: Leopoldina / Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2010, S. 171–193,

127 KGW III, 24, 16 / 27 / 38; siehe vor allem auch 25, 8 im Zusammenhang der zusätzlichzum Inhalt der Astronomia nova aus Anlass der Introductio entwickelten Schweretheoriezum Zusammentreffen von Mond und Erde, die gegen einander ,schwer‘ sind, wenn sienicht in ihren ,Bahnen‘ verharrten (quelibet in suo circuitu).

128 KGW III, 35, 3 f. / 5.129 Aus diesem Grunde wird auch in der Skizze von Kap. 9 ein verdeutlichendes orbita einge-

fügt (KGW III, 39, 24): „... wenn der eine der Bögen nicht bis zum sichtbaren Ort (locumvisum), sondern bis zum wahren Ort [auf] der Bahn reicht (sed in locum verum orbitae)“. Hiergeht es um das Reduzieren der ekliptischen Örter auf den tatsächlich vom Mars durch-laufenen Weg; und das wird auch schon in den Kapiteln 9 bis 21 (Teil II) selbst ent-sprechend terminologisch abgeklärt (KGW III, 114–187), obgleich Kepler hier noch vonder Kreisförmigkeit dieses ,wahren Weges‘ ausgeht – so auch die Überschrift von Kap.9 (114, 2: De reductione loci ecliptici ad circulum Martis).

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Kepler rang dann allerdings noch bis 1605/6 um die wahre Form (figura) des tat-sächlichen ,Weges‘, auf den die erschlossenen magnetischen ,Kräfte‘ einen Planetenunmittelbar und notwendig führten.

5. Wandel und Präzisierung der Terminologie in der Astronomia nova

5.1. Präliminarien (Introductio und Inhaltsangaben der Kapitel)

Diesen gesuchten Weg nannte Kepler iter (etwa: ,Reiseroute‘), weniger häufig via. Selbstin der erst zum Abschluss des Manuskriptes verfassten Introductio enthält sich Keplernoch des neuen Begriffs orbita und spricht ganz unspezifisch vom circuitus / circumire ein-zelner Planeten127 und von via und iter als dem aus den geometrischen Elementen undBeobachtungsdaten ermittelten, dem aus mehreren Bewegungen resultierenden odererscheinenden ,Weg‘, selbst nachdem dieser oval oder gar elliptisch geworden war: IterPlanetae in Coelo non esse circulum, sed viam Ovalem, perfecte Ellipticam. [...] iter tale ...128 [70]

So auch noch entsprechend dem Erkenntnisstand, über den referiert wird, in dender Introductio folgenden kurzen Inhaltsskizzen der einzelnen Kapitel bis einschließlichKapitel 42. Um die innerhalb der Abfolge des Textes der Astronomia nova später mitge-teilten Ergebnisse nicht in Frage zu stellen129, betont Kepler aber auch in diesenInhaltsskizzen immer wieder, dass er ursprünglich und noch lange stets vorausgesetzthabe, dass der (exzentrische) ,Weg‘ (via, iter, circuitus und ambitus [C: Bahn]; schließlichorbita) der Erde (eines Planeten) ein „perfekter Kreis“ sei: cap. 16 (im Anschluss anältere Theorien „werde ohne Berücksichtigung physikalischer Ursachen [causae physicae]

130 Siehe auch schon J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 01.10.1602; Brief Nr. 226, Zei-len 665 f.: composita via Martis circa Solem plane ut prius manebit ovalis.

131 Kepler an Herwart von Hohenburg, 10.02.1605; KGW XV, 145–147, Brief Nr. 325,52–54.

132 Brief Nr. 325 (wie Anm. 131), 55: Capita sunt jam 51. Das bedeutet allerdings nicht, dassdas überreichte Manuskript bereits die Kapitel 1 bis 51 enthielt – so Seck (wie Anm. 65),

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vorausgesetzt, dass der Weg des Planeten ein Kreis sei“ [ponitur, iter Planetae esse circu-lum]), cap. 23 (circulus [der Sonne / Erde], qui perfectus praesupponitur esse), cap. 28 (mandenke daran, dass in allen vorangegangenen Kapiteln des 3. Teiles vorausgesetzt werde,viam Terrae perfectum circulum), cap. 30 (circuitus sideris ovalem efficit), cap. 39 (KGW III, 45,8–11: Hier würden zwei Vorstellungen diskutiert: 1. Planetae ambitum ordinari in perfectocirculo; 2. Dieser Weg [iter, C: Bahn] werde von einem Geit geregelt; wie könne dieserbewirken, dass aus dem Weg [iter, C: Bahn] eines Planeten ein Kreis wird; 15: der Pla-net bewahre auf seinem gesamten Umlauf um die Sonne [in omni suo circuitu circa Solem]den gleichen Abstand; 23: trotz der Zusammensetzung aus Exzenter und Epizykel wer-de vorausgesetzt, dass der Weg des Planeten ein vollkommener Kreis werde: quod excomposito itinere Planetae fieri debeat perfectus circulus; 27: ad perfecte circularem ambitum ordinare;43: de itinere Planetae perfecte circulari), cap. 41 (Posito, iter Planetae perfectum esse circulum.).

Und dann erfolgt in Teil IV der terminologische Übergang, wie ihn auch der Textselbst dokumentieren wird: Es geht nicht mehr um den aus mehreren Bewegungengeometrisch kombinierten ,Weg‘ eines Planeten, sondern um den durch mehrere (näm-lich zwei) Ursachen (,Kräfte‘) bewirkten, tatsächlichen einen Weg eines Planeten, seine,Bahn‘: cap. 43 (KGW III, 46, 40 f.: Ponito, orbitam Planetae ordinari in circulo perfecto).Daraus folgt dann das Verlassen der Kreisförmigkeit dieses ,Orbit‘: cap. 44 (47, 8 f./16: demonstratum, orbitam Planetae non esse circulum, sed Ovalem figuram / Orbita igitur PlanetaeOvalis est); cap. 45 (orbitam seu iter [...] evadere [71]in figuram Ovalem 130), cap. 47 (lineam iti-neris Planetae perfecte esse Ellipticam), cap. 48 / 50 (48, 21: portio viae Ovalis / 28: via ovalis;49, 4 / 35: die verschiedenen Berechnungsarten führen auf Kreis oder Oval für den iterPlanetae, die Wahrheit müsse deshalb in der Mitte liegen), cap. 58 / 59 (52, 35: orbitaePlanetae, 38: illa orbita, 43: buccosa orbita, 45: orbita Elliptica; 53, 6: orbitam igitur Planetae esseEllipticam).

5.2. Astronomiae novae Pars I (Kap. 1–6)

Ein erstes, noch unvollständiges Manuskript swe Astronomia nova hatte Kepler dem Kaisermit der Bitte um Übernahme der Druckkosten Weihnachten 1604 überreicht (Commenta-ria de motibus Martius [...], Natalitijs tradidj Caesarj, sed non plane descripta et capita quaedam desuntadhuc, quae paulatim pertexo.)131. Einige Kapitel hätten seiner Zeit noch gefehlt. Aber er ar-beitete natürlich weiter an der Niederschrift, und am 10. Februar 1605 waren es bereitsinsgesamt 51 Kapitel gewesen.132 – Enthalten war damals also sicherlich der Text bis zum

Sp. 643, nach Caspar im Nachbericht KGW III, 435. Kepler hatte schon sechs Wochenweiter gearbeitet, zudem können später auch Kapitel eingeschoben worden sein. Am 4.Dezember 1606 erinnerte er den Kaiser daran (Brief Nr. 402, 3 f.), „das Dero jch vorzwayen Jahrn ein astronomisches Werckh, genant Commentaria de motibus stellaeMartis Allerunderthänigst praesentiret“, mit der Bitte, es „in offenen Truckh zubringen“,worauf noch keine Antwort erfolgt sei. Sechs Jahre in Diensten des Kaisers habe er da-ran gearbeitet, was einen Druckkostenzuschuss durchaus rechtfertige.

133 Siehe dazu unten S. 83.134 Am 18.12.1604 schrieb er D. Fabricius (Brief Nr. 308, 67–75): Kepleriana ovalitas nimium

curtat, ergo nulla plane ovalitas ponatur. Die Berechnungen führten zu Werten zwischenKreis- und Ovalform, folglich: Veritas est in medio, propior tamen ovalitati meae. [...] omninoquasi via Martis esset perfecta Ellipsis. Aber dazu hätte er nichts ermitteln können.

135 Vgl. dazu Anm. 145.

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späteren Kapitel 40 (mit Ausnahme des letzten Drittels des 40. Kapitels133), wahr-scheinlich auch die Kapitel 41 bis 50, in denen Kepler nach Berechnung der AbständeSonne/Mars die Kreisförmigkeit seines Exzenters (der späteren ,Bahn‘) zugunsten derOvalform aufgeben musste.134 Es fehlten aber in jedem Falle noch die Kapitel, die zumrichtigen Abstandsgesetz und schließlich zur Ellipsenbahn führten (Kap. 51–59), dieKepler erst nach Ostern 1605 entdeckte. Aber auch die Ausführungen zur Breitenbe-wegung beziehungsweise Neigung der [72] Marsbahnebene (Pars IV, Kap. 61–70)könnten – von der Terminologie her – durchaus noch der Fassung von Ende 1604angehört haben.135

Abb. 4: Die aus den Bewegungselementen geozentrischer Theorien resultierenden Schlei-fenbewegungen des Planeten Mars um die Erde A innerhalb seiner Sphäre [C: Bahn]

(aus J. Kepler: Astronomia nova [1609], Kap. 1, KGW III, 64)

136 KGW III, 61, 22–29137 KGW III, 64, 5–7.138 KGW III, 64, 10 f.139 KGW III, 64, 47–52. – Noch am 07.04.1607 fragt Kepler bei M. Mästlin an, ob er einen

guten Holzschneider für Abbildungen kenne, und im August schickt er die inzwischenin Prag geschnittenen Holzstöcke seinem Drucker nach Frankfurt; siehe Seck (wie Anm.65), Sp. 634 f. Damit wäre wohl der späteste Zeitpunkt für diese Zusätze gegeben.

140 KGW III, 65, 38 f.

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Im 1. Kapitel der Astronomia nova schreibt Kepler136, dass die täglichen Wege (itineradiurna) von Sonne, Mond und Sternen dem Beobachter weitestgehend gleich Kreisenerschienen (aequiparari quamproxime circulis ad sensum). Wenn man allerdings den geozen-trischen Theorien von Ptolemaios oder Tycho Brahe folge und die Sonne bewege, „sowären diese ,Kreisläufe‘ durch den Ätherraum, die sich ja aus mehreren Bewegungenzusammensetzen,“ bei den drei oberen Planeten, also auch beim Mars, in Wirklich-keit Schleifen137 (Planetarum circuitus per spacium aetherium, si[73]cut sunt compositi ex pluri-bus motibus, esse revera spirales), wobei hier zwei Ungleichheiten zu einer zusammenflössen– Keplers beigegebene Figur (Abb. 4) beschreibt den aus den Bewegungen von Exzen-ter und Epizykeln resultierenden Weg des Mars von 1580 bis 1596, wie die umfangrei-che Legende besagt: delineatio motuum stellae Martis, quos per auram aetheriam ille decurrit.138

Wovon im Kapitel selbst nicht gesprochen wird, führt die Legende dann weiter aus:Nicolaus Copernicus dagegen setze die Sonne unbeweglich in das Zentrum und nehmediese Schleifen (als bloße Effekte der jährlichen Erdbewegung) von den einzelnenPlaneten weg und führe diese so einzeln für sich in eine jeweils „ganz einfache [alsoohne jegliche Erweiterung] nahezu kreisförmige Bahn“, die stets „ein und dieselbebleibt“ (Planetas singulos in singulas nudissimas orbitas quamproxime ciculares inducens. Quamunam et eandem orbitam Mars [...] percurrit)139. Mit diesem Schlusssatz wird das Ender-gebnis des IV. Teils vorweggenommen; er kann also auch noch nicht zu Beginn derNiederschrift abgefasst, sondern muss erst später hinzugesetzt worden sein.

Das gilt auch für den Schlusssatz des gesamten Kapitels, der in die folgenden Aus-führungen überleitet, in denen entgegen dem vorletzten Absatz, in dem Kepler schondarauf hinweist, dass er bereits im Mysterium cosmographicum das Zentrum der Plane-tensphären von der mittleren (so noch Copernicus) auf die wahre Sonne übertragenhabe (was im Einzelnen in den Teilen IV und V bewiesen werde), erst einmal wiederin die vorkeplersche Zeit zurückversetzt und aufzeigt, dass man mit der tatsächlich er-scheinenden, wahren Sonne statt der mittleren als Zentrum eine völlig andere Planeten-bahn erhalte (omnino aliam Planetae orbitam in aethere statuat)140 – egal, welchem der dreiSysteme man auch folge, weshalb er letztere zuerst einmal vorstellen müsse.

Beide Sätze, die innerhalb des gedruckten Textes der Astronomia nova die ersten Be-lege für den Begriff orbita enthalten, sind sicherlich als Verbindungsstücke bei der Zu-sammenstellung des älteren Materials später hinzugefügt worden, und zwar nach der

141 KGW XIV, 263 ff., Brief Nr. 226 vom 01.10.1602, Zeilen 665 f. Der erste Teil desBriefes stammt vom 18.07.1602, die Ovalform scheint demnach in der Zwischenzeit er-kannt worden zu sein. Siehe dann auch besonders Brief Nr. 262 vom 04.07.1603, eben-falls an D. Fabricius, unten in Anm. 145.

142 Brief Nr. 226 (KGW XIV, 263–280), Zeilen 587 / 594 f. (auch 599: figura ovalis) / 602 f./ 627 / 631 f. – Hier nimmt Kepler auch das Newtonsche „hypotheses non fingo“ vor-weg (Zeile 669–671): Considera, an gradum fecerim ad astronomiam physicam sine hypothesibus, sci-licet fictitiis, constituendam.

143 Siehe auch Brief Nr. 262 vom 04.07.1603, Zeilen 851 f.: Possumus tamen inter inire rationemcalculi distributa Ellipoide orbita [,Linie‘ oder ,Kreis‘ auf dem Ellipsoid] in partes 360 aequales.

144 In der Epitome astronomiae Copernicanae (KGW VII, 394, 6 f.) definiert Kepler orbita imterminologischen Sekundärgebrauch als „den Großkreis, auf dem die Verlängerung derBahnebene die Fixsternsphäre schneidet“ (circulus ille maximus quo planum Orbitae con-tinuatum secat sphaeram fixarum), das ist also die Projektion der Bahnebe[75]ne auf die Fix-

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Fertigstellung der Teile III und IV (Kap. 22–40 / 41–60), auf die in ihnen ja auch ver-wiesen wird, also noch nicht in der Fassung von Weihnachten 1604.

Aus der Zeit der Niederschrift der ersten Kapitel scheint allerdings auch [74] derfrüheste Beleg für das Wort orbita, der mir in Keplers Schriften begegnete, zu stammen.Auf die Ovalform des ehemaligen exzentrischen Deferenten-Kreises, der späteren,Bahn‘, war Kepler nämlich bereits im Sommer des Jahres 1602 geführt worden, als ernoch mit einem Epizykel auf dem Deferenten gearbeitet und Stück für Stück die Ab-weichung von einem exzentrischen Kreis berechnet hatte. Auch dieses Oval als mög-licher ,Weg‘ der Planeten war für ihn damals noch aus mehreren Bewegungen zu-sammengesetzt. So schreibt er am 1. Oktober 1602 David Fabricius: „der zusammen-gesetzte Weg des Mars um die Sonne wird ganz wie vorher ein Oval bleiben“ (compositavia Martis circa Solem plane ut prius manebit ovalis)141. Terminologisch stehen diese Worteam Ende der Argumentationskette zum Martis circuitus circa Solem142: so entstehe dieOvalform (hoc modo fit illa [...] figura ovalis) / huc vides difficultatem computandi loci Eccentriciex hypothesi vera et physica / proportio orbis terrae ad orbem Martis / Via planetae pro sese incirculo magno [= terrae] est / „der Planet würde auf einem kleinen Kreis [dem Epizykel]rechtwinklig zu jenem imaginären mittleren Kreis [auf der keplerschen exzentrischenDeferentensphäre] bewegt werden“ (Moveatur planeta in circello, ad illam imaginariam or-bitam mediam erecto ad angulos rectos), wodurch aus letzterem ein Oval werde.

Dieser zu jener Zeit als Träger des Epizykels dienende, also nicht vom Planeten selbstin mittlerer Zeit durchlaufene, folglich imaginäre Kreis auf dem in mittlerer Geschwin-digkeit rotierenden imaginären Deferenten-orbis ist allerdings nicht das, was später vonKepler als orbita, als ,wahrer, tatsächlicher, durch zwei Ursachen bewirkter Weg‘ bezeich-net werden sollte. orbita war ursprünglich vielmehr ein (Groß-)Kreis auf einer Kugel (ab-geleitet von orbis/ Kugel) oder auch einem Ellipsoid143 und damit einer der vielen, wennauch von Kepler selten benutzten Begriffe für eine bestimmte (imaginäre) Linie auf einer(imaginären) Kugel144, die ja keineswegs der [75] (imaginäre) ,Weg‘ eines Planeten gemäß

stensphäre. Zum Primärgebrauch im Sinne von ,tatsächlicher Bahn‘ siehe unten S. 92 f.145 Siehe gleichsam als Zeugnis für die Terminologie zur Zeit der Abfassung der frühen Kapi-

tel der Astronomia nova Keplers Brief an D. Fabricius vom 02.12.1602, Brief Nr. 239, Zeilen95 und 98 (via Liunae), 163 (sphaerae Saturni, Jovis et Martis), 172 (Sol in illo imaginario sphaeraesitu et motu esset habiturus), 194 (in arcubus viae suae aequalibus), 201 (distributio tanquam itineris inmetas) – hier nimmt er allerdings das Wort imaginarius wieder auf und erklärt, was er imRahmen seiner physikalischen Überlegungen darunter verstehe (Zeilen 157–186), nämlichalles, was auf die mittleren Werte (z. B. Ort der Sonne) statt auf die wahren bezogen wird.Fabricius schrieb ihm daraufhin am 8. Dezember (Brief Nr. 240, 57–60): At iuxta tua ratio-cinia via Martis est ovalis, est non circularis [...], sed via earum sit tortuosa, vel ad ovalem quodammodoformam inclinet. – Auch Keplers Brief an Fabricius vom 04.07.1603, in dem er das Entstehender Ovalhypothese beschreibt (Brief Nr. 262, dort Zeilen 29–152), bezeugt noch die ur-sprüngliche Terminologie. Siehe die Zeilen 40 (circa centrum Eccentrici itineris), 48 (Scientia Geo-metricae Generationis viae Ovalis), 50 (si figura esset perfecta Ellipsis, jam Archimedes et Apolloniussatisfecisset), 91 f. (Unde discitur, Martis motum esse figuram Ovalem, quod rursum Physicis rationibusapprime consentaneum est) – große Schwierigkeiten bereite die Flächenberechnung beim Oval–, 158 f. (Ovalem ego figuram primum ex observationibus demonstravi, postea naturali speculatione robo-ravi, sic ut ex duobus aequalissimis principiis unum tertium inaequale prodiret.), 163 (cum haec tortuosavia latitudinis sequatur es mea hypothesi longitudinis).

146 KGW III, 110/111, 10.147 KGW III, 78, 39: composita hypothesis.148 Neben den oben zitierten Stellen KGW III, 70, 7, 13 und 40; 71, 9; 72, 18, 24, 25, 27, 33,

34, 35; 74, 16; 75, 12 und 20; 77, 34 (ipsissimum iter); 78, 14 (eadem veritas manet compositiitineris Planetae), 24, 31 und 37 (idem iter Planetae); 79, 12, 14, 16, 20 und 22 (ipsissimum iter);80, 22 (certum est, uno et eodem tempore Planetam in coelo unum et idem iter conficere), 25 und 36(verum iter); 81, 14 (verum iter), 24, 27, 29, 31, 33 und 35; 82, 17; 84, 11 und 41 f.; 86, 9 (iterPlanetae invariatum). In Kapitel 6 finden sich keine Belege für iter / via / orbita.

149 KGW III, 70, 21 (eccentricitas viae); 72, 11 (manente igitur via sideris eadem), 17; 74, 12, 19; 75,14, 28; 89, 1–3. – Daneben cursus planetarum (97, 3), circuitio (88, 41), circuitus (79, 41; 80,3) und ambitus (110,3).

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den älteren geometrischen Theorien zu sein braucht. In Keplers folgendem Brief vom 2.Dezember 1602, in dem auch die Ovalhypothese breiten Raum einnimmt, kommt dieserBegriff denn auch schon nicht mehr vor145; und bereits der Titel des 8. Kapitels derAstronomia nova nennt diese orbita media im Sinne der üblichen Terminologie Keplers die„Linie der mittleren Sonnenbewegung“ (linea medii motus Solis146).

Da Pars I der Astronomia nova die älteren Theorien im Vergleich beschreibt, ist darinauch nur von den aus mehreren Bewegungen zusammengesetzten147, aus ihnen geome-trisch resultierenden ,Wegen‘ die Rede. die dafür vorwiegend verwendeten Wörtersind: iter148 und (weniger) via,149 und zwar selbst dann, wenn der geometrisch resultie-rende, zusammengesetzte Weg noch, anders als in der Legende zur Abbildung im ers-ten Kapitel, als [76] der tatsächliche (verum, verissimum iter oder ipsissimum iter) deklariertwird: Die verissima Planetarum itinera per auram aetheriam seien in allen drei Hypothesen

150 KGW III, 71, 2.151 KGW III, 78, 14.152 KGW III, 80, 19.153 Siehe die Stellen in Anm. 145.154 KGW III, 79, 1.155 KGW III, 78, 31 und 37.156 Kap. V und VI gehören zusammen; in beiden wird auch nach unten verwiesen. Siehe

KGW III, 78, 7 beziehungsweise 90, 30.157 KGW III, 335, 23.158 KGW III, 80, 34 und 40.

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(Ptolemaios, Tycho Brahe und Copernicus) gleich150 / hoc itaque pacto ad unguem eademveritas manet compositi itineris Planetarii151 / das Wort ,Excenter‘ werde er, um Verwechs-lungen zu vermeiden, nicht für den copernicanischen Exzenter benutzen, weil dieservon dem tatsächlichen Weg abweiche (differt enim ab ipsissimo itinere Planetae), sondernnur zur Bezeichnung dieses tatsächlichen Planetenweges (in designando ipsissimo itinerePlanetae); quaeritur, an unum et idem verum in coelo iter Planetae 152.

Statt verissimum /verum / ipsissimum iter / iter ipse153 benutzt Kepler in Kapitel 5 (KGWIII, 77–87) dreimal auch den späteren Begriff orbita: Man könne unmöglich die Un-gleichheit gleichermaßen aus der mittleren und aus der wahren Opposition ableiten,wenn man nicht gleichzeitig die orbita aus ihrer Lage mit verschöbe (nisi simul orbitaPlanetae siti suo emoveatur), heißt es an der ersten Stelle154, nachdem unmittelbar zuvor155

von eben dieser ,Bahn‘ als idem iter Planetae und iter ipsum Planetae gesprochen wordenwar. Eingeleitet wird der Satz mit den Worten: „Daraus also wird weiter unten (infra)gefolgert, dass ...“; und das verweist auf Kapitel 52, wo denn auch steht, dass endlichdas behandelt werden könne, worauf oben in den Kapiteln VI156, XXVI und XXXIIIvertröstet worden sei157. In diesem Kapitel, das frühestens aus dem Anfang des Jahres1605 stammt, wird die ,wahre Planetenbahn‘ (um die wahre Sonne und mit der wahrenExzentrizität) aber schon als orbita bezeichnet. Der Schlusssatz des betreffenden Absat-zes des 5. Kapitels ist also zumindest diesbezüglich ein späterer Zusatz – und das solltedann auch für die anderen beiden, eng bei einander stehenden Stellen gelten: Ipse tamenPlaneta verißime non potest nisi uno in loce suae orbitae tardissimus esse / si Planeta in omnibusorbitae partibus aequalis celeritatis esset 158. Zwischen diesen beiden Sätzen fragt Keplerdaraufhin, ob ein und derselbe Planetenweg am Himmel (unum et idem verum in coelo iterPlanetae) die zwei unterschiedlichen Erscheinungsbilder bewirken könne. [77]

5.3. Astronomiae novae Pars II (Kap. 7–21)

Zu Beginn des 2. Teiles der Astronomia nova schreibt Kepler in Kapitel 7, dass er vonseiner mühevollen vierjährigen Arbeit (ex hoc quadriennali labore) im Folgenden nur dasfür das Verständnis seines eigenen methodischen Vorgehens Nötige bringen werde.

159 Gar ,mittlerer Bewegungen‘ (nach den Alten); siehe KGW III, 110, 28; 112, 1; 113, 10, 19, 26.160 Siehe cap. IX, KGW III, 116, 37; cap. XIII, 133, 17/18 und 21; ebenso 137, 18, 21; 141,

30 und cap. XX, 179, 28 und 30 (in plano orbitae), aber auch schon in Kap. 9, KGW III,117, 11; siehe auch 135, 22; 139, 23 und 34 (linea in orbita).

161 KGW III, 114, 18 f.162 Zur Bedeutung dieses Begriffs orbita siehe oben Anm. 144 und unten Abschnitt 6.163 So schon im Titel von cap. IX, KGW III, 114, 2/3: De reductione loci ecliptici ad circulum

Martis; siehe auch 114, 23, 25, 26, 33. Siehe entsprechend auch 110, 14/15 im Kolum-nentext der Tabelle brahescher Werte: Longitudines observatae respectu circuli Martis.

164 So in cap. 8, KGW III, 112, 29 (nisi Sol tantum a nodo discessisset quantum Planeta in suaorbita), 34 ([loca] ad orbitam Martis reducta); 113, 3; cap. 9, 114, 3 (reductio ad eclipticam velorbitam Planetae), 27 f. (Et cum sit is circulus latitudinis ad eclipticam rectus, ergo si non per polosorbitae Planetariae transit, erit ad orbitam obliquus.), 29 [78] (major arcus est inter locum Planetaein sua orbita et nodum propriorem quam inter locum ejus eclipticum et eundem nodum.), sowie in derersten Marginalie (Locus eclipticus Planetae, qui? Ei opponitur locus orbitae seu locus ratione orbitaeconsideratur.); 115, 2 (ut ex illo fiat locus orbitae ex hoc locus eclipticus), 15 (locus orbitae); 116, 6 (siorbita Planetae [C richtig: Bahnebene] sub AC esset), 7, 10/11 (longitudo censenda in ipsa genui-na Planetae orbita vel ei superstante AD; certe, nisi oppositus Solis cadar in arcum ad ipsam orbitamrectum per l0ocum Planetae ductum ...), 25 (bis); 117, 11 (ratio reducendi ad orbitam); cap. XI,KGW III, 120, 6 f. (opus esse ut arcus in ecliptica numeratus reducatur ad orbitam Planetae. Atorbita Planetae prius est investiganda ...); cap. XV, 144, 11, 38; 145, 22; 146, 9 und 19; 147, 39;150, 8; siehe auch arcus orbitae ebendort 142, 32 und 143, 28, loca orbitae 142, 20 und 143,

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Vier Jahre zurück lagen die Anfänge dieser Arbeit am Ende des Jahres 1604; also istdieser Satz für das dem Kaiser überreichte vorläufige Manuskript formuliert und späternicht geändert worden. Pars II repräsentiert demnach zur Bestimmung der tatsäch-lichen Marsörter unter Benutzung unveränderten älteren Materials den Erkenntnis-stand zu dieser Zeit; und damals waren Begriff und Vorstellung vom tatsächlichen,,wahren Weg‘ des Mars (eines Planeten) schon soweit gefestigt, dass dafür als terminustechnicus das Wort orbita hätte eingesetzt werden können – wenn dessen Form (figura)auch noch ungewiss gewesen war.

Zwar scheint im zweiten Teil, der die erste Ungleichheit des Exzenters als Resultan-te verschiedener Bewegungen159 für sich betrachtet, denn auch das Wort orbita zuüberwiegen. Allerdings wird es hier vorwiegend im Zusammenhang mit der Reduktionder Ekliptikörter von Brahe zu den entsprechenden Örtern auf dem ,wahren Weg‘ desExzenters benutzt. Das erfolgt aber über die imaginäre Projektion der ,Bahnebene‘ aufdie Fixsternsphäre, an der dann auch deren Schiefe zur Ekliptikebene abgelesenwerden kann (inclinatio planorum eclipticae et orbitae Martis160). Das Verfahren, das hiervorgestellt und praktiziert wird, tut so, „als ob der Weg des Mars sich gleich derEkliptik an der Fixsternsphäre befände und jene tatsächlich schnitte (ac si iter Martisaeque in orbe Fixarum esset ac ecliptica illamque vere secaret)“161; und dieser imaginäre Groß-kreis an der Fixsternsphäre heißt auch bei Kepler schon früher162 neben circulus163

ebenfalls orbita164, [78] wie dann auch der auf die Fixsternsphäre projizierte ,Weg‘ des

6, sowie linea in orbita 139, 23 und 34. 165 Siehe cap. IX, KGW III, 114, 18, 24 und 36 (versamur non in ecliptica sed in ipso Planetae

itinere quod est ad eclipticam inclinatum); 117, 6 (totum iter); daneben auch via 117, 7 und cap.XII, 130, 31.

166 Siehe auch oben Abschnitt 5.1. zu den von Kepler dem Werk vorangestellten Inhalts-skizzen der Kapitel, in denen zu den Kapiteln des 2. Teiles das Wort orbita nicht verwen-det wird.

167 KGW III, 176, 9.168 Siehe KGW III, 178, 10 f.: sola igitur haec octo minuta viam praeiverunt ad totam Astronomiam

reformandam.169 KGW III, 182, 25 f. / 29 f.170 Das folgende 21. Kapitel enthält einen methodischen Ausklang bezüglich der Möglich-

keit, aus einer falschen Hypothese etwas Richtiges zu folgern; die dazu herangezogeneAstronomie arbeitet noch ausschließlich mit den Begriffen iter (KGW III, 183, 9), via(184, 1 f.: qualiscunque circulus aut via alia tortuosa scribatur; 185, 22: Planetae viam retinere circu-larem) und, meist im Rahmen geometrischer Konstruktionen, circulus (184, 1, 4, 6 bis, 9,16, 21, 24, 31, 33, 35, 39; 186, 6, 20).

171 KGW III, 191, 2, 29; 193, 4.

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Planeten selber mit iter und via bezeichnet wird165.

Die zusätzliche Berücksichtigung der zweiten Ungleichheit (gemäß dem copernica-nischen Ausgleichs-Epizykel), die dann Pars III behandeln wird, hatte damals auchnoch das Oval ergeben. Hier geht Kepler vorerst vom ,perfekten Kreis‘ aus166. Erst im19. Kapitel stellt er sich die Frage, ob er bisher richtig vorausgesetzt habe, dass diePlanetenbahn ein perfekter Kreis sei (orbitam, qua Planeta transiret, esse perfectum circu-lum)167; es wäre also erforderlich, die wahre Form der Himmelsbewegungen aufzuspü-ren (genuinam formam motuum coelestium) – um die berühmte Abweichung von achtBogenminuten aufzuklären, die allein den Weg zur Erneuerung der gesamten Astrono-mie gewiesen hätten168. Denn die bislang gültige „Voraussetzung der Kreisförmigkeitder Planetenbahn“ (de circulari orbita sideris) werde im 44. Kapitel zerstört (infra cap.XLIV destruetur, nempe orbitam sideris non esse perfectum circulum, sed ovalem)169, heißt es zumAbschluss des eigentlich letzten Kapitels von Pars II.170 Bei dieser Passage mit demneuen Begriff orbita handelt es sich also wieder um einen späteren Zusatz, frühestensnach Fertigstellung des 44. Kapitels. [79]

5.4. Astronomiae novae Pars III (Kap. 22–40)

Der dritte Teil behandelt die zweite Ungleichheit nach den Theorien von Ptolemaios,Copernicus und Tycho Brahe, also nach der Epizykeltheorie beziehungsweise derErdbewegung (orbis annuus Copernici seu epicyclus Ptolemaei 171). Bei der geometrischenBetrachtung der Vorläufertheorien bedient Kepler sich hierbei neben dem allgemeinen

172 Siehe etwa KGW III, 229, 30: quod qualitatem attinet figurae, quam Planeta describit.173 orbis beispielsweise KGW III, 193, 32, 34, 35; 196, 4; 200, 38; 215, 14, 15; 229, 1; 232, 8,

25; 244, 32–36, 41; 245, 1; 252, 22, 24, 32, 33. – Siehe auch sphaera beispielsweise 251, 16.Vgl. auch Anm. 213.

174 Neben den in Anm. 172 genannten Stellen etwa KGW III, 192, 3, 4, 7; 193, 1; 196, 4;204, 14 siehe auch 192, 24 (orbis terrenus), 196, 28 und 220, 8 (orbis terrae);

175 circuitus beispielsweise KGW III, 193, 23, 24, 25, 26, 30/31; 194, 13; 196, 8, 14/15; 199,6; 201, 15, 18; 205, 29 (circuitus terrae), 31; 213, 25 (bis); 226, 30; 229, 5; 246, 30 und 254,17 / 18 (Lunae circuitus).

176 circulus beispielsweise KGW III, 193, 20; 198, 20 f., 202, 6; 203, 8 (circumferentia); 207, 4,6 (circumferentia); 212, 10 (ipse Sol in suo circulo); 214, 21 (centrum circuli Martis); 215, 3; 219,2; 233, 3, 11; 234, 4 (circulus aequans), 18 (circulus aequantis); 239, 9, 10, 16; 251, 16 (sub-ordinantur respondentibus suis circulis in sphaera Planetae); 254, 26 (circuli, qui in theoriis Planeta-rum pro diversa authorum intentione vel eccentricus vel concentricus appellatur); 259, 10, 21.

177 iter beispielsweise KGW III, 234, 22 (arcus itineris); 251, 18 (puncta singula itineris Planetae).178 via beispielsweise KGW III, 204, 14 (orbis annuus, et sic etiam via terrae circa Solem, vel Solis circa

Terram); 218, 4 (via terrae); 229, 5, 15 (plane ovalis pro circulari via); 242, 21 f.179 via eccentrica beispielsweise KGW III, 196, 10.180 ambitus beispielsweise KGW III, 205, 41; 239, 10 / 11, 16.181 KGW III, 197, 27–30.

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Überbegriff figura172 in der Regel der älteren Begriffe orbis173 (orbis annuus)174, circuitus175

und circulus176 sowie gelegentlich auch iter177, via178 (via eccentrica 179) und ambitus180, bei-spielsweise in Kap. 22: KGW III, 191, 13 (tota ratio itineris aliter instituenda); 192, 7 (cir-cuitum centri systematis Planetarii vel circuitum terrae), 12 (circumire in eccentrici circumferentia), 19(linea medii motus Solis nach Tycho); 193, 5 (linea medii motus Solis nach Ptolemaios); undin Kap. 23, KGW III, 196, 19 (via Solis vel Terrae).

Nach und nach tritt aber auch der neue Begriff orbita an deren Stelle – vor allem,wenn die Betrachtung innerhalb der älteren Systeme von Ptolemaios, Copernicus undBrahe mit Keplers eigenen Vorstellungen zu einer Zeit nach der Niederschrift kon-frontiert wird. Das geschieht allerdings nur innerhalb von späteren Zusätzen nachWeihnachten 1604:

In Kap. 23 wird die Exzentrizität „des Weges der Sonne beziehungsweise, nachCopernicus, der Erde“ (eccentricitas viae Solis vel Terrae Copernico) [80] aus zwei Beobach-tungen und dem ,wahren‘ Sonnenaphel bestimmt, was auf die Distanz des konstruier-ten Punktes, „den wir damals für das Zentrum hielten (putabamus)“, vom „wahrenZentrum der Bahn (a vero centro orbitae)“181 nach Keplers späteren Vorstellungen führt,deren Größe dann in ein Verhältnis zur Länge des „Halbmessers dieser Bahn“ (fadiusejus orbitae) gesetzt wird. Hier wird also das Ergebnis zur Zeit der Niederschrift desKapitels an der späteren neuen, in dem Begriff orbita zusammengefassten Vorstellunggemessen, wobei er unter Bezug auf Kap. 44 ausdrücklich betont, dass bei der Abfas-sung des Kapitels 23 noch die Kreisförmigkeit der Sonnen- oder Erd-Bahn vor-

182 KGW III, 198, 5–7.183 KGW III, 203, 31.184 KGW III, 213, 5–7.185 KGW III, 228, 15–18.186 KGW III, 200, 25 f. Hier spricht Kepler für das ptolemaiische System auch noch von der

Solis sphaera (Zeile 28) und vom orbis Solis (Zeile 38).187 KGW III, 218, 4–9, einschließlich einer kleinen Tabelle der dann abweichenden Werte.188 KGW III, 229, 3–6 / 15 f.

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ausgesetzt worden war (supposui [...] orbitam Solis [vel terrae] quam corpore peragrat, ordinariin circulo 182) – was sich durch die Perfektform des Verbs eindeutig als späterer Zusatzerweist. Dasselbe gilt für die Bestimmung des Apogäums (beziehungsweise Aphels)und der Exzentrizität nach den drei vorliegenden Systemen in Kap. 25, die bei Coper-nicus für den circuitus terrae zu dem Ergebnis führt, „dass die Erde sich in ihrer Bahnungleichförmig ergießt (hoc est terram in sua orbita inaequaliter incidere)“183. Auch in Kap. 26wird ein vorhergehende geometrische Ausführungen aufnehmender Absatz einge-schoben: Selbst Ptolemaios hätte sich durch die Überlegung überzeugen lassen, dassdie von Tycho gefundene Exzentrizität der Bewegung der Sonne zu halbieren sei,sodass das Zentrum der Sonnenbahn (Solis orbitae centrum) im Teilungspunkt läge.184 AmEnde des 29. Kapitels wird später ein Absatz hinzugefügt185: Alles, was in diesemKapitel über die Abstände Sonne–Erde gesagt worden sei (sunt dicta), werde auch fürden Mars gelten, vorausgesetzt, die Bahnen der Planeten wären perfekte Kreise (Plane-tarum orbitas esse circulos perfectos). Seitdem sich das als falsch erwiesen habe, sei eineandere Berechnungsart zu empfehlen.

In Kap. 24 betont er dagegen noch auf der älteren Diskussionsebene, dass der beiCopernicus um den Ausgleichspunkt beschriebene Kreis (circulus) nicht der Weg der Erde(iter terrae) sei; es sei vielmehr ein anderer Kreis, auf dem die Erde herumgeführt werde(alius quispam circulus, in quo terra versatur)186. Und weil Kepler sich der Abweichung vomperfekten Kreis, den er ja in diesem Teil der Niederschrift noch voraussetzt, schonbewusst ist, kann er auch ohne den späteren Begriff und die damit zusam[81]menhän-genden Vorstellungen im 27. Kapitel schon einmal im Vorgriff auf Erkenntnisse, überdie im Text erst später berichtet wird, abweichende Werte anführen187: „Man muss aberwissen, dass, wenn wir setzen, dass der Weg der Erde nicht ganz kreisförmig, sondern anden Seiten enger ist (si ponamus viam terrae non esse pülanum circulum, sed angustiorem ad la-tera)“, die Werte etwas kleiner sind – ohne sich dabei schon der neuen Terminologie zubedienen. Die fehlt denn auch noch in den einleitenden Worten zum 30. Kapitel, das dieTafel der Erdentfernungen enthält, die schon die Ovalhypothese berücksichtigt, ohnedass sie im Text bereits abgehandelt worden wäre. Hier wird statt dessen noch der allge-meinere Begriff via verwendet188: Verum est, quod hoc pacto [...] affingitur circuitui terrae (velSolis) circa α via non plane circularis, sed ovalis ... / Quo pacto plane ovalis pro circulari via substituitur.

189 Überschrift von Kap. 32, KGW III, 233, 11. Caspar übersetzt hier wieder „auf seinerBahn“, aber es handelt sich ja nur um eine der Kräfte, aus deren Wirken sich die Bahnergeben soll.

190 KGW III, 238, 12 / 26 f.191 ,animalis‘ bedeutet ,seelisch‘, nicht, wie immer wieder übersetzt wird: ,tierisch‘. 192 Siehe etwa KGW III, 246, 13–18. Zur innerhalb der Magnettheorien entstandenen Vor-

stellung von einer ,Kraftkugel‘ siehe Fritz Krafft: Sphaera activitatis – orbis virtutis. Das Ent-stehen der Vorstellung von Zentralkräften. Sudhoffs Archiv 54 (1970), 113–140.

193 KGW III, 242, 19 f. – Die Sonne ist nur nicht translatorisch beweglich (deshalb intrans-portabilis); denn sie soll ja im Weltzentrum unverrückt rotieren.

194 KGW III, 242, 21 f.195 Siehe oben zu Anm. 160 und unten den Anfang von Abschnitt 6..196 KGW III, 242, 24–26.197 KGW III, 251, 14. Hier übersetzte Caspar orbita auch schon mit ,Bahnebene‘.

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Ab Kapitel 32 bezieht Kepler dann nach der geometrischen eine physikalischeBetrachtungsweise ein und untersucht im Anschluss an sein Mysterium cosmographicumdie „Kraft, die den Planeten in einen Kreis bewegt” (virtus, quae planetam movet in circu-lum)189, und findet die Quelle dieser ,Bewegungskraft‘ (fons virtutis motricis) in der Sonne:virtus in Sole residens, quae Planetas omnes movet 190. Die vorläufige vis / virtus animalis191 derSonne wird dann im 34. Kapitel als ,magnetische Kraft‘ aufgefasst, die zum unbewegli-chen Sonnenkörper gehört, sodass ihr orbis virtutis192 auch dessen Rotation mit ausführtund so die Planetenkörper kreisförmig um ihn herum führt (in gyrum movet circa Soliscorpus intransportabile 193), indem sie beziehungsweise ihre kreisförmigen magnetischenFibern „denselben Weg (viam ire) gehen, den sie alle anderen Planeten fortreißt (ut virtuseandem viam eat, quam alios Planetas omnes abripit)“194.

Die beiden Stellen, an denen in diesen Kapiteln das Wort orbita auftritt, beziehensich auf die an die Fixsternsphäre projizierte Bahn(ebene) eines Planeten, und die hatteKepler schon im Zusammenhang mit der [82] Reduktion brahescher Längendaten vonder Ekliptikebene auf die dazu schiefe Bahnebene an der Fixsternsphäre mit einem äl-teren Begriff als orbita bezeichnet195: Zu Beginn des 34. Kapitels wird ganz unspezifischvon der Neigung der ,Bahnebene‘ der/eines Planeten gesprochen, die sich nach Mei-nung der alten Ägypter über die Pole der Welt hinaus verschoben hätte, sodass derenKurs in zur ursprünglichen entgegengesetzter Richtung verlaufe (fore ut Planetarum aliquiorbitis paulatim ultra polos mundi deflexis viam postea eant caeteris et moderno ipsorum cursui con-trariam)196; im 36. Kapitel heißt es im selben Sinne, dass die Magnetfibern des Sonnen-körpers in der Richtung des Tierkreises angeordnet seien, wenn auch der eine größteKreis des Sonnenkörpers unter der Ekliptik und somit fast unter der orbita des Planetenliege (subest zodiaco sive eclipticae, et quam proxime orbitae Planetae)197.

Nachdem die Planetenbewegung in Länge (auf dem Exzenter) auf die Einwirkungeiner Bewegungskraft der Sonne zurückgeführt worden war, der dann geometrisch die

198 LGW III, 254, 12–15 (Titel des Kapitels)..199 KGW III, 256, 5–9. Daneben treten einleitend weiterhin die allgemeineren Begriffe auf:

iter circulare (256, 15), ambitus (256, 16), circulus (256, 17).200 KGW III, 24–27.201 KGW III, 257, 9 f.

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epizyklische Bewegung eines Planeten überlagert wurde (noch in Keplers stellver-tretender Hypothese praktiziert), wird ab Kapitel 38 auch dieser Bewegungsanteil,physikalisch‘ erklärt. Es stellt vorerst fest, „dass die Planeten außer der gemeinsamenBewegungskraft der Sonne noch mit einer eigenen eingepflanzten Kraft (vis insita)ausgestattet sind, somit die zusammengesetzten Bewegungen jedes einzelnen aus zweiUrsachen (motus componus ex duabus causis) entstehen“.198

Das 39. Kapitel setzt dann erstmals für diese aus dem Zusammenwirken zweier Ur-sachen entstehende Bewegung den neuen Begriff orbita ein, und zwar schon in derÜberschrift: „Wie und durch welche Mittel müssen die den Planeten eingepflanztenKräfte bewegen, damit sie eine kreisförmige Planetenbahn (circularis Planetae orbita), wieallgemein geglaubt wird, durch den Ätherraum bewirken“199. Nach der geometrischenHerleitung sei es nun die Aufgabe zu klären, durch welche Gesetze (leges) eine Plane-tenbahn darzustellen sei (ad quamlibet orbitam Planetae repraesentandam quibus legibus opusest). Ausgangspunkt ist die Annahme, die Planetenbahn sei ein Kreis, wie man bishergeglaubt (und Kepler vorausgesetzt) hat, und zwar von der Sonne, der Quelle derKraft, her ein exzentrischer (Esto [83] ut Planetae orbita sit circulus, ut hactenus creditum,isque a Sole fonte virtutis eccentricus)200.

Die folgenden Ausführungen des Kapitels, die verschiedene Möglichkeiten dergeometrischen Erzeugung des Erscheinungsbildes der zweiten Ungleichkeit durch-spielen und sich dazu des Begriffs orbita wieder enthalten, scheinen dann bis auf denüberleitenden Einleitungssatz aus älterem Material zu stammen. Zuerst wird nämlichmit der dann verworfenen Möglichkeit gerechnet, „dass der Planet mittels seiner ein-gepflanzten Kraft einen perfekten Epizykel durchlaufe und gleichzeitig seine Bahn einperfekter Kreis ist“ (Planetam ire perfectum epicyclum vi insita, simul orbitam ejus esse perfectumcirculum)201. Im Verlaufe der Betrachtung der verschiedenen Möglichkeiten, die geome-trisch aus dem Epizykel entstehende Längenbewegung durch eine vom Planeten selberverursachte Bewegung längs des Epizykeldurchmessers zur Sonne hin und von ihr wegzu erzeugen, verbleibt allerdings die ja auch nicht auf die tatsächliche Bahn bezogeneArgumentation dann terminologisch in der älteren Phase:

Siehe KGW III, 258, 23: wenn denn der Planetenverstand Mittel hätte, einenperfekt kreisförmigen Weg (effectum perfecti circularis itineris) zu erzeugen / (30) um einenimaginären Punkt könne ein Körper keinen perfekten Kreis beschreiben (iter perfectecirculare) / (39) Kap. 44 werde zeigen, dass die Beobachtungen einen perfekten Kreis(perfectus circulus) nicht zulassen / entsprechend auch 259, 18 (via) und 31 (iter), 260, 8

202 KGW III, 263, 10 / 13 / 269, 30.203 KGW III, 269, 31 f.204 KGW III, 268, 7 und erste Marginalie.205 KGW III, 272, 17–20.

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(iter), 14 (iter perfecte circulare) / (261, 8 f.) alle Planeten beschreiben Großkreise (describuntomnes Planetae maximos circulos) / (262, 9) wenn jemand nun annehme, der Weg einesPlaneten sei ein perfekter Kreis (iter esse perfectum circulum) / (31 f.) man sieht also, dassdie Annahme eines perfekten exzentrischen Kreises als Weg des Planeten (opinio deperfecto circulo eccentrico itineris Planetarii) viele physikalische Ungereimtheiten nach sichzöge.

Das setzt sich auch im 40 Kapitel fort, das ein aus der physikalischen Hypothesefolgendes, noch unvollkommenes, aber für die Theorie der Sonne beziehungsweiseErde ausreichendes Verfahren zur Bestimmung der Exzentergleichungen mittels desdas Aufsummieren der Radien (Radiensatz) ersetzenden Flächensatzes darlegt, nochunter der Annahme (die er hier als seinen ersten Irrtum bezeichnet), viam Planetae per-fectum esse circulum / via Planetae perfectus eccentricus (sc. circulus) / viam Solis vel terrae esse per-fectum eccentricum (sc. circulum)202 – was dann aber in den Kapiteln 44 und 53 widerlegtwerde203. Auch dieses Kapitel beruht folglich auf [84] älterem Material, das Keplerwohl wegen der jahrelangen, zeitraubenden Mühen, die er daran gesetzt hatte, auf-nahm.

Lediglich die beiden Schlussabsätze mit den Vorwärtsverweisen können erst späterbei einer Durchsicht nach Weihnachten 1604 ergänzt worden sein. Erst nach Ostern1605 kann sogar der Absatz p. 268, Zeilen 3 bis 11 eingefügt worden sein, in demKepler mit Hinweisen auf die Ergebnisse der Kapitel 44 und 59 zum wiederholtenMale (Ut igitur repetam quae jam sunt dicta) betont, dass er hier neben anderem noch vonder falschen Annahme ausgegangen sei, orbitam Planetae esse perfectum circulum204, was inKapitel 44 widerlegt worden sei. In einer Marginalie dazu heißt es nämlich auch:„Nimmt man eine elliptische Planetenbahn an, so ist diese Methode keineswegs feh-lerhaft; man beachte sie also (Posita elliptica orbita Planbetae nihil peccat haec methodus. Notaergo illam.).“

Weil aber allein in diesen beiden eindeutig späteren Zusätzen der Begriff orbitaverwendet wird, ist es sehr wahrscheinlich, dass auch die einleitende, den neueren Er-kenntnissen angepasste Passage des 39. Kapitels, wo der neue Begriff orbita eingeführtwird, eine zur selben Zeit vorgenommene Ergänzung darstellt.

5.5. Astronomiae novae Pars IV (Kap. 41–60)

Der vierte Teil soll dann am Beispiel des Mars darlegen, wie viel von der ersten Un-gleichheit des Exzenters auf die im dritten Teil behandelte zweite Ungleichheit fällt205.

206 KGW III, 275, 17.207 KGW III, 275, 19.208 Zu via siehe KGW III, 273, 14; 275, 19.209 Zu iter siehe KGW III, 281, 22.210 Zu circuitus siehe KGW III, 273, 8 (in toto circuitu).211 Zu ambitus siehe KGW III, 273, 12.212 Zu circulus siehe KGW III, 273, 15; 274, 17; 275, 19.213 Zu proportio orbium siehe KGW III, 273, 2 f.; 274, 40; 275, 15; zu orbis annuus 273, 13.214 Das Fehlen anderer, weniger spezifischer Termini macht dann auch deutlich, dass der

Begriff orbis auch hier das Gesamtgebilde des (geometrischen) Konstrukts meint (282,32): seitdem die tatsächliche Gestalt der orbes (conformatio orbium) gefunden ist, müssensich daraus auch die Exzentergleichungen ergeben, die bislang mittels der stellvertre-tenden Hypothese gewonnen wurden. Im folgenden Kapitel steht dafür dann wiederproportio orbium (285, 20, 28).

215 KGW III, 282, 21 /37 / 284, 5 / 8.216 Der oben zu Anm. 204 genannte Absatz kann ja erst später, nach Entdeckung der Ellip-

senförmigkeit eingefügt worden sein.

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Auch hier fehlt in den Kapiteln 41 und 42 noch der neue Begriff orbita. Ersteres re-sümiert die vorher dargelegten vergeblichen Versuche, die Apsiden, Exzentrizitätenund Verhältnisse zwischen den Planeten-Sphären (proportio orbium) aus jeweils drei Be-obachtungen außerhalb der Opposition zur Sonne zu bestimmen. Das erfolgte ja nochunter der falschen Voraussetzung (cum falsa conditione) der Gültigkeit des Kreisgesetzes(ad legem circuli 206). Für die Konstruktion eines Kreises hätten aber drei Punkte genügenmüssen, so dass Kepler Bedenken an der Richtigkeit der (exzentrischen) Kreisbahngekommen wären (unde nobis suspicio orta, viam Planetae non esse circulum)207. Das 42. Kapi-tel führt deshalb dasselbe mit Hilfe jeweils mehrerer Beobachtungen aus und führt zuwesentlichen Verbesserungen hinsichtlich der Örter des Aphels und Perihels, der mitt-leren [85] Bewegung und des ,Sphärenverhältnisses‘. Die verwendeten Wörter für dieja noch nicht korrekte ,Bahn‘ sind hier via208, iter209, circuitus210, ambitus211, circulus212 undorbis213.

Ab Kapitel 43 wird dann die Fehlerhaftigkeit der Exzentergleichungen der im 16.Kapitel eingeführten stellvertretenden Hypothese (Epizykel) aufgrund der Annahmeeiner perfekten Kreisform des Planetenwegs physikalisch als unvermeidlich dargestellt.Zur Vermeidung müsse die von physikalischen Ursachen bewirkte, korrekte Bahnformermittelt werden – und dazu verwendet Kepler dann auch sogleich den spezifischenBegriff orbita, und zwar selbst schon im 43. Kapitel, das vorerst nur die Annahme derKreisförmigkeit als Grund für den Fehler behandelt und dazu die geometrische Resul-tante214 der älteren Theorien heranzieht und vorgreifend schon orbita nennt215: positaorbita planetae perfecte circulari / gemäß den Darlegungen des 40. Kapitels (in dem der Be-griff orbita noch fehlte!216) gelte vorerst, dass die Bahn des Planeten ein Kreis sei (sitorbita planetae... circulus) / der Doppelepizykel bei Copernicus und Tycho machte die

217 KGW III, 285, 14 f. / 286, 30 / 33 / 287, 3 / 25 / 35.. 218 via auch 286, 4: Si ergo quod cap. XLI positum usurpatumque fuit, Planetae via est circulus.219 KGW III, 288, 2.220 Keine Ausnahme bilden die Bezugnahmen auf die aus Kap. 39 wiederholte Abbildung,

KGW III, 288, 34 f.: (Planetam), ut perfectum circulum describat; 289, 16: Planeta D non manebitin eo circulo, quam ex C coeperat describere. – Caspar spricht in der Übersetzung von semita(289, 36) wiederum fälschlich von einer „epizyklischen Bahn“, was das auch immer zu-sätzlich zur gleichzeitig durchlaufenen kreisförmigen „Bahn“ (Exzenter) sein soll. Ge-meint ist der zusätzliche (Neben-)weg (so die Grundbedeutung) des Epizykels, den dieKraft des Planetenkörpers ihn herumführe, während er von der Sonne um diese herum-geführt werde.

221 KGW III, 288, 5 / 15 / 17 / 21 / 290, 6 f.222 KGW III, 47, 29 f. Das geht bei Caspar verloren, wenn er übersetzt: „... dass die durch

das Zusammenwirken beider Ursachen entstehende Bahn eine ovale Form hat“.

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Planetenbahn oval (qui orbitam Planetae facit ovalem), während Kepler vom perfektenKreis des Ptolemaios ausgehe / die copernicanische Bahn (Copernicana orbita) wäre ge-genüber Keplers Berechnungen zur falschen Seite hin ausgewölbt.

Kapitel 44 verkündet dann als Ergebnis217: Der Weg (via218) des Planeten durch denÄtherraum ist kein Kreis (wie er zwei Jahre lang angenommen hätte) / vielmehr näheresich der Planet von der kreisförmigen Bahn (a circuli orbita) weg auf beiden Seiten demZentrum / also sei die Planetenbahn (orbita Planetae) kein Kreis, sondern sie gehe aufbeiden Seiten [86] allmählich nach innen, um im Perigäum wieder zum Kreisumfangzurückzukehren, welche Form ihres Weges man oval nenne (cujusmodi figuram itineris ova-lem appellitant) / der Planet begrenzt die Fläche (die gemäß dem Flächensatz die Zeitenmisst) folglich nicht kreisförmig, sondern mit einer unregelmäßigen Bahn (planum orbitairregulari circumscriptum) / ein zweiter Beweis dafür, dass die Planetenbahn tatsächlich vondem eingeführten Kreis abweicht (orbitam Planetae verissime a circulo instituto deflectere) /auch damit sei bewiesen, orbitam Planetae non esse circulum sed figurae ovalis.

Kapitel 45 liefert dann die natürlichen Ursachen (causae naturales) für diese Abwei-chung vom Kreis219, den Inhalt von Kapitel 39 darin ersetzend. Wieder fast ausschließ-lich220 ver-wendete Kepler dabei den neuen Begriff orbita221; und dass er diesen imZusammenhang der Kapitel 43–45 eingeführt hatte, geht schon aus den später hinterder Introductio eingefügten Inhaltsskizzen der Kapitel hervor. Dort heißt es nämlichzum Abschluss des 45. Kapitels zur Erläuterung des neuen Begriffs222: „Hier wird alsogezeigt, dass die Bahn, das ist der durch das Zusammenwirken beider Ursachenentstehende Weg, auf eine ovale Form hinausläuft (Hic igitur demonstratur, Orbitam seu iterex utraque causa conformatum evadere in furguram Ovalem).“

Brahes Beobachtungen hätten ihn gelehrt, schreibt Kepler in Kap. 45, dass einePlanetenbahn nicht exakt kreisförmig sei (orbitam Planetae non esse circularem exacte) /während er in Kap. 39 noch nach der Ursache für eine perfekt kreisförmige Bahn

223 Siehe cap. L, KGW III, 316, 40 (Erit igitur orbita perfectus circulus, quod cap. XLIV estrefutatum); 318, 13 (et DC orbita erit perfectus circulus); 320, 35; cap. LI, 324, 21 (punctaorbitae Telluris); 326, 9 (distantia puncti in orbita Martis a Sole); 335, 5 (puncta orbitae); cap.LII, 337, 6 (Demonstratum est supra cap. XLIV, orbitam Planetae non esse circulum sed ovalem);cap. LV, 344, 32 (hic distantiae quas hypothesis illa efficit, quae ovalem Planetae orbitam efficit);cap. LVII, 359, 11 (orbitae vero Planetarum non sunt circulares perfecte). – Im Falle von p. 327,25 f. (pro linea in plano eclipticae efficiatur linea in plano orbitae Martis) handelt es sich wiederum den älteren orbita-Begriff bei der Reduktion der Ekliptikörtern auf die Bahnebene;siehe oben zu Anm. 161.

224 Siehe cap. LIV, KGW III, 342, 18 (si utaris hypothesi perfecti circuli), 32 (si perfecto circuloutereris)

225 Siehe etwa cap. L, KGW III, 317, 23: quorum hic perfectuim circulum, ille ovalem [...] describit.226 Zu iter siehe neben den oben und in Anm. 235 zitierten Stellen als geometrisches Konstrukt

auch cap. XLVI, KGW III, 292, 26; cap. XLVIII, 303, 29; 308, 15; 314, 11 (iter Planetae ovaleesse); cap. L, 315, 21; cap. LI, 335, 12; cap. LVI, 346, 22 (negato circulari Planetae itinere); cap.LVII, 359, 14/15 (posterius est ipso itinere / prius esset ipso itinere); siehe auch zu Kap. 58.

227 via in cap. XLVI, KGW III, 295, 23; cap. XLVIII, 306, 30 (via ovalis); 308, 13, 17, 24 und33 (via ovalis); 309, 27 und 28 (via ovalis); cap. XLIX, 310, 18, 23, 24, 28 (hier auch einfachlongitudo [totius] ovalis); 311, 1 (ovalis composita via), 3 (ovalis composita), 13 (via ovalis composita),14 (ovalis via); 312, 1 f. und 3 f. (arcum viae ovalis ad totam ovalem); cap. L: 314, 22 (arcus viaeovalis); 319, 18 (arcus viae Ovalis); 320, 11 (arcus ovalis viae); cap. LV, 344, 32 (hypothesis quaeovalem Planetae orbitam efficit), 33 (ergo patet, viam Planetae neque circulum esse, neque tantum acirculo ingredi ad latera, quantum ovalis illa [...] capite XLVI descripta); cap. LVII, 348, 4 f. (quodvia Planetae in aura aetheria non sit circulus, sed figurae ovalis) – siehe auch unten zu Kap. 58.

228 ambitus in cap. XLIX, KGW III, 312, 3 und 13.229 circuitus in cap. LI, KGW III, 323, 2 (totum eccentrici circuitum); cap. LVII, 363, 5 (mutabitur

circuitus amplitudo).230 orbis in cap. LIII, KGW III, 338, 27, 29 (orbis Terrae); 342, 7 (proportio orbium); cap. LIV,

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gesucht habe (cur ex orbita Planetae perfectus fieret circulus) / werde aus den Beobachtungenklar, dass die Planetenbahn (orbita Planetae) gar nicht perfekt kreisförmig ist / mit mehrSorgfalt hätte sich bereits in Kap. 39 eine den Beobachtungen entsprechende Planeten-bahn ergeben müssen (observatis consentaneam Planetae orbitam effectum iri); jetzt bedürfees der Kapitel 45 bis 50, um die dort mangelnde Sorgfalt wieder gut zu machen; damalshabe er sich noch kein [87] anderes Mittel denken können, durch das die Planetenbahnoval werde (Planetae orbita redderetur ovalis).

Die hier genannten und die ihnen folgenden Kapitel gehen dann im wesentlichenwieder geometrisch vor und enthalten sich dazu weitestgehend des neuen Bahn-Be-griffs (ohne ihn allerdings gänzlich zu ignorieren, wenn es um Vergleiche mit späterenErgebnissen oder Korrekturen geht223), sprechen vielmehr von der und über die Kons-truktion des Planeten-Weges zwischen perfektem Kreis224 und Oval225 und prüfen frü-here Ergebnisse an neueren Erkenntnissen. Dazu bedient Kepler sich weitestgehendwieder der traditionellen Begriffe iter,226 via,227 ambitus,228 circuitus229 und sogar orbis (Ter-rae)230. Kap. 46 etwa untersucht, wie die hier zur Umschreibung des ungewohnten

342, 21 und 22 (proportio orbium [C: Bahnhalbmesser]); 343, 19 (proportio orbium); cap. LV,344, 16 und 25 (proportio orbium).

231 KGW III, 290, 19.232 KGW III, 290, 21–23.233 KGW III, 291, 1.

234 KGW III, 291, 14 f.235 KGW III, 292, 16 (siehe auch 293, 23: in vero itinere Planetae; 295, 4: vera Planetae linea);

ohne den Zusatz auch arcus itineris Planetarii (292, 21, 32; 293, 17, 24) neben arcus circumfe-rentiae ovalis (308, 21).

236 KGW III, 295, 23 f.237 KGW III, 296, 19.238 KGW III, 297, 6 ff.239 Siehe die Auszüge oben in Anm. 145.240 J. Kepler an M. Mästlin, 05.03.1605, Brief Nr. 335, Zeilen 54–164; siehe 60–64 (Hypothesis

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Begriffs orbita noch so genannte „Linie der Planetenbe[88]wegung“ mit den Vorstel-lungen des vorangehenden Kapitels beschrieben werden könne (describi possit linea motusplanetae)231, das ja die physikalische Ursache nannte, durch die ein Planet von der kreis-förmigen Bahn abweicht (a circulari orbita aberret), ohne dass die bisherige geometrischeKonstruktion des Weges (delineatio Geometrica itineris) dies hergegeben hätte232 / es schei-ne sich aber ein geeigneter Weg zu einer geometrischen Beschreibung des Planetenwe-ges (Geometrica descriptio itineris Planetarii) zu öffnen233, und aus der Beweisführung folgeuno verbo: Planetae iter esset δhλ circulus234. Und so spricht Kepler in diesem Zusammen-hang geometrischer Beschreibung, wiederum den neuen Begriff umschreibend, sogardavon, dass der Planet in gleichen Zeiten ungleiche Bögen seines „tatsächlichen We-ges“ zurücklege (inaequales arcus describit genuini sui itineris)235. Weiter unten schließt er,dass, wie auch immer die „Linie, die den Planetenkörper enthält“ konstruiert werde,stets folge, dass dieser Weg im wahren Sinne des Wortes ,oval‘ sei, nicht elliptisch (viamvere esse ovalem.non ellipticam).236

Die für die Anwendung des Flächensatzes zur Bestimmung der Länge erforderlicheQuadratur des Ovals (planum certe circumscriptum itinere Planetae237) macht allerdings trotzstark verbesserter Abstandsberechnungen unüberbrückbare Schwierigkeiten, die sichbis Kapitel 48 hinziehen und auch in späteren Kapiteln immer wieder angesprochenwerden, so dass es Kepler in Kapitel 47 entfährt, wäre es doch eine Ellipse, dannkönnte er sich dazu der Erkenntnisse eines Archimedes (und Apollonius) bedienen238

– mit sehr ähnlichen Formulierungen ging Kepler hierauf schon in seinem Brief anDavid Fabricius vom 4. Juli 1603 ein239, in dem er ausführlich seine Ovalhypothesedarlegt. Das könnte dafür sprechen, dass beide Niederschriften etwa zur selben ZeitMitte 1603 erfolgten. Noch auf dem Weg zur Ellipse befand sich Kepler dagegen An-fang März 1605, wie aus der Zustandsschilderung nach der Abfassung von Kapitel 51an Michael Mästlin hervorgeht, die sich auch schon des Begriffs orbita bedient.240 [89]

Martis verissima haec est [...]. Deprehendo certissime ordinarj Eccentricum circa verum coprus Solis, noncirca punctum medij locj Solis Copernicanum. Id ex observationibus plurimis probo Cap. 51.), 67 f.(Distantiae a Sole non ut in circulo perfecto, sed ut in Ovali ...), 75 f. (... tanto spacio Orbita planetaedeficit circa longitudines medias a circularj), 156–159 (Deinde ponitur quod est falsum, scilicet Or-bitam esse circulum, quae verissime est Ovalis. [...] Nam primo ob hoc ipsum quia Ovalis est Orbitahujus quidem formae ...).

241 KGW III, 344, 30 bis 345, 1 (siehe Text in Anm. 223).242 KGW III, 364, 20.243 KGW III, 367, 2 f.

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Im 55. Kapitel kann Kepler dann aber feststellen, „dass die Abstände, welche dieHypothese ergibt, die eine ovale Planetenbahn (ovalem Planetae orbitam) bewirkt, kürzer sind“als die aus Beobachtungen berechneten, während die nach dem Kreisgesetz (ex lege circuli)ermittelten länger sind; also, fährt er fort,241 „ist klar, dass der Weg eines Planeten (via Pla-netae) weder ein Kreis ist, noch vom Kreis an den Seiten soweit nach innen abweicht, wiejenes Oval [...], sondern einen Weg in der Mitte dazwischen (media via) einschlägt“. Kap. 57sucht dann nach der physikalischen Erklärung des Zustandekommens des ,Mittel-Weges‘,der dann im 58. Kapitel aufgrund neuerer Berechnungen eine „pausbackige“ Form erhält,im 59. schließlich die Ellipsenform.

Begrifflich geht Kepler bei der Schilderung differenzierend vor, da er sich ja bereitsbei der Niederschrift, wie schon die Überschrift von Kapitel 58 besagt, der ursprüng-lichen Fehlerhaftigkeit des Vorgehens und damit des ersten Ergebnisses bewusst war,das eben noch nicht die orbita erfasste: So ist im Titel des 58. Kapitels auch noch vomiter Planetae buccosum die Rede,242 im Titel des 59. dagegen schon von der Ellipse als orbi-ta Martis:243 „Nachweis, dass die Bahn des Mars [...] eine vollkommene Ellipse wird (De-monstratio, quod orbita Martis [...] fiat perfecta ellipsis)“. Die Argumentationskette läuft schonim 58. Kapitel auf diesen Begriff hinaus: (KGW III, 366, 1–4) Circulus cap. XLIII. peccatexcessu, ellipsis capitis XLV. peccat defectu. Et sunt excessus ille et hic defectus aequales. Intercirculum vero et ellipsin nihil mediat nisi ellipsis alia. Ergo ellipsis est Planetae iter. / (6) si iterPlanetae esset ellipsis / (7) quia si hoc fit, iter Planetae buccosum efficitur / (14) et similia efficiuntiter planetae buccosum / (22) Patet igitur, viam buccosam esse; non igitur ellipsin / (33) potius itervellet ellipticam viam / (35) non possit esse via ad ellipsin / (36–38) „[Im folgenden Kapitel]wird dann auch der Beweis geführt, dass für den Planeten keine andere Bahnfigur übrigbleibt (nullam Planetae relinquit figuram Orbitae) als eine vollkommene Ellipse ...“

Dennoch wird in den beiden folgenden Kapiteln natürlich dieser Begriff noch nichtschlagartig ausschließlich benutzt; vor allem das 59. Kapitel mit der rein geometrischenBetrachtung der Ellipse überhaupt sowie ihrer [90] geometrischen Erzeugung aus denBahnelementen hält sich darin noch ganz zurück; siehe KGW III, 371, 24 (... sit mensuragenuina summae linearum, quibus distant arcus elliptici itineris Planetarii a centro Solis.); 372, 4 f.(videtur necesse esse, ut aequales orbitae ellipticae arcus sumantur), 14 (Esto enim, ut ipsum Planetaeiter ABC dividitur in arcus aequales.).

244 KGW III, 376, 8 f.245 KGW III, 376, 13–16.246 KGW III, 377, 7 / 379, Marginalie zu IV.247 Siehe Caspar im Nachbericht KGW III, 436.248 KGW III, 385, 3–6.249 Zu via siehe KGW III, 390, 31 (species immateriata Solis, per viam rectam CBAD incedente);

396, 6 (gemina via).250 Zu iter siehe neben Anm. 248 KGW III, 390, 24; 404, 18 (Solare vel Terrestre iter).251 Zu ambitus siehe KGW III, 389, 19 f. (tenemus achronychias latitudines per om[91]nem circuli

ambitum), 27 (teneri sibi ipsi parallelos in omni ambitu), 33 (per omnem ambitum); 390, 8 (aequi-distare per omnem ambitum).

252 Zu circulus und circuitus siehe KGW III, 390, 11 (tangebat circulum circuitionis per CNAOimaginatum); 392, 12 (declinationes omnium circuitus punctorum), 26 (in Luna brevitate circuitio-num); 407, Marginalie (circuitus telluris circa Solem).

253 Zu orbis siehe neben Anm. 248 KGW III, 401, 12, 20, 22 (Erde, Sonne, Mars); 406, 19

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Das entscheidende 60. Kapitel, das dann das Verfahren aufzeigt,244 wie „aus unsererphysikalischen, das heißt richtigen und wahren Hypothese (genuina et verissima hypothesi[das ist die Ellipsenbahn]) beide Teile der Gleichung und die richtigen Abstände zu be-rechnen sind“, beginnt mit den Worten: „da in den Kapiteln 56, 58 und 59 angenom-men wird, dass ein Planet sich auf dem Durchmesser [des Epizykels] der Sonne nähertund sich von ihr entfernt und so die elliptische Bahn erzeugt (et per hoc facere orbitamellipticam) und der Planet an einzelnen Punkten seiner Bahn (singulis punctis orbitae) solange verweilt wie ... “.245 Das im vorangegangenen Kapitel erwähnte Verfahren derFlächenberechnung mit Ellipsenbögen (arcus ellipseos) wird dann geometrisch behandelt,und dabei heißt es:246 Anomalia eccentrici est iter Planetae ab apogaeo / si orbita Planetae essetcirculus.

5.6. Astronomiae novae Pars V (cap. LXI–LXX)

Im fünften Teil, der die Breitenbewegung der Planeten behandelt, ist nur selten vonderen ,Weg‘ oder ,Bahn‘ die Rede. Die Terminologie würde sogar erlauben, die Nieder-schrift statt in das Jahr 1606247 schon in das Manuskript von Ende 1604 und in die Nähevon Pars II zu setzen, dessen Kapitel 11 bis 14 hier gemäß dem einleitenden Absatz mitneueren Erkenntnissen über die proportio orbium Martis et Terrae, deren Exzentrizitäten unddie Form der Planetenwege (figura itinerum) inhaltlich präzisiert werden sollen,248 obwohlletztere nicht angesprochen wird.

Auch hier ist Keplers Terminologie bezüglich der imaginären Himmelskreise undder scheinbaren Wege längs diesen an der Fixsternsphäre in seinen geometrischen Be-weisführungen nicht einheitlich. Er verwendet wie in Pars II weiterhin die Wörtervia,249 iter,250 ambitus,251 circulus und [91] circuitus252 sowie in historischem Zusammenhangauch orbis253. Weniger vielfältig ist allerdings die Bezeichnung für jenen durch die Pro-

(caeteri orbes centrum mundi ambeunt; Lunae orbis solus est extra centrum); 407 Marginalie (orbismagnus, orbis Solis); 433, 22. In cap. LXX (p. 420 und 422) geht es wiederum um die pro-portio orbium. Bei der Anzahl der Sphären unter Einschluss der äußeren subsumiert Keplerdie Planeten-orbes auch unter die sphaerae (KGW III, 410, 18–21).

254 Zur Bezeichnung circulus siehe KGW III, 391, 9 (punctum circuli Martij).255 KGW III, 386, 26.256 Zu diesem circulus maximus (magnus) siehe neben der folgenden Anm. KGW III, 390, 39

f. (secat sphaeram Fixarum in forma circuli magni); 391, 34 (hoc pacto ex orbita Planetae circulusmagnus efficitur, et Nodi in loca ex Sole opposita rediguntur); 403, 37; 404, 15 f.; 406, 7 (si eclipticavera praecipuus esset circulus mundi) – zu anderen ,Großkreisen‘: 405, 16 (Quod si omniumPlanetarum aphelia ordinarentur in uno circulo maximo an der Fixsternsphäre); 406, 17 (ad aliumaliquid circulum maximum).

257 Vgl. Keplers Definition hier in cap. LXVIII, KGW III, 403, 24 f.: (Ecliptica est) circulus insphaera Fixarum maximus, sub quo Sol nobis ex Terra perpetuo apparet, quemque is annuatimpercurrere videtur. – Die Ekliptik nennt Kepler in diesem Zusammenhang auch mit demantiken Begriff ,Königsweg‘, via regia, iter regium oder circulus regius (sc. Solis); siehe etwaKGW III, 390, 15 (ob declinationem nonnullam ab itinere regio), 21 (ab itinere ipso regio, hoc est acircumferentia illius plani CBAD); 393, 10 und 11 (via regia); 404, 5, 18, 24 und 405, 31(circulus regius).

258 Siehe oben Anm. 144 und S. 76 f., vor allem Astronomia nova, cap. LXIII, KGW III, 390,3 ff., aber auch in der Epitome KGW VII, 381, 4–34.

259 Cap. LXIII, KGW III, 391, 4-8 / cap. LXIV, 315, 8 f. / cap. LXVII, 402, 20 f. / 400, 25 f. /cap. LXVIII, 407, 16 / 33 und 35 / 406, 29–36.

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jektion auf die Fixsternsphäre an ihr entstehenden, die Bahnebene widerspiegelndenGroßkreis; diesen nennt er neben circulus254 vor allem eben mit dem früheren Begrifforbita.

Das Verfahren der Breitenbestimmung als declinatio orbitae ab ecliptica,255 als Messungder Abweichung der als Großkreis256 an die Fixsternsphäre projizierten ,Bahn(ebene)‘eines Planeten von dem Großkreis der Ekliptik(ebene),257 ist bereits oben dargelegtworden.258 Hier geht Kepler aber mit größerer Sorgfalt vor: Zu einer entsprechendenKonstruktionszeichnung heißt es im Kapitel 63, das Keplers Physik der Breitenbewe-gung enthält:259 „Da es also eine Ebene (planum) ist, was von der orbita des Mars [an derFixsternsphäre; C: Marsbahn] umschlossen wird, so wird die Neigung zur Ekliptik-ebene regulär sein. Wenn man nämlich um den gemeinsamen Mittelpunkt A, der Son-ne, das heißt an ein und derselben zur Sonne konzentrischen Fixsternsphäre [92] zweigleiche Kreise beschreibt, den einen CD in der Ebene der Ekliptik, den anderen FE inder Ebene der orbita des Mars, so ...“ / „Wenn es denn wahr ist, dass die orbita desMars in einer perfekten Ebene angeordnet ist, welche die Ekliptikebene genau imZentrum der Sonne schneidet, so ...“ / „Und so ist das, was unter der orbita des Marsumfasst wird, eine Ebene (Et sic, quod sub Martis orbita comprehenditur, esse unum planum).“/ Diese orbita-Ebene schneidet als ganze die Ebene der Ekliptik; und die Verbindungs-linie zwischen den Schnittpunkten auf der Fixsternsphäre ist der gemeinsame Durch-

260 Cap. LXV, KGW III, 396, 36.

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messer (diametrum sectionis planorum eclipticae et Martis). / Zu diesen von imaginärenKreisen auf der Fixsternsphäre umschlossenen imaginären Ebenen gehört auch jeweilsein imaginärer Pol (so vor Copernicus für die Erde: Ergo prope lineam AE fuerit poluscirculi, sub quo orbita circuitusque Telluris ordnabatur olim; jetzt für den Mars: Martiae orbitaepolus). / „Nimmt man also an, dass die orbita des Mars konstant geneigt ist zu irgend-einem stets unter denselben Fixsternen bleibenden Kreis (wie LOIM), so folgt, dassdieselbe orbita des Mars in verschiedenen Jahrhunderten eine andere Neigung zur Ek-liptikebene erhält [...]. Das folgt jedoch nur, wenn wir annehmen, dass die Knoten desMars und die Knoten der Erde, das sind die Schnittpunkte, welche diese orbitae mitjenem unsichtbaren Kreis erzeugen, nicht stets mit denselben Abständen von einanderam Himmel herumgeführt werden, sondern die einen schneller sind als die anderen.“

Die einzige Stelle, an der im fünften Teil der neuere, spezifisch keplersche Begrifforbita Anwendung findet, lautet:260 „die Bahnen der Planeten sind keine perfektenKreise (orbitae Planetarum non sunt perfecti circuli)“, sondern Ovale oder Ellipsen. Dieperfekte Kreisförmigkeit und Konzentrizität sind aber gerade Grundvoraussetzungender von dem älteren Begriff erfassten Großkreise auf (imaginären) Kugeln, die sich aufder zur Weltmitte (bei Kepler: zur Sonne) konzentrischen Fixsternsphäre durch dieProjektion der von der tatsächlichen Bahn eines Planeten umschlossenen Ebene alsimaginäre Hilfskreise ergeben, völlig unabhängig davon, wie die tatsächliche Bahn inder Tiefe längs dieser Ebene gestaltet ist – kreisförmig, oval, pausbackig oder elliptisch,konzentrisch, was sie für Kepler nie war, oder exzentrisch. Ebenso ist ja auch die Ek-liptik als Projektion des (geozentrisch scheinbaren) exzentrischen Weges der Sonnebeziehungsweise der von ihm umschlossenen Ebene auf die Fixsternsphäre ein imagi-närer konzentrischer Großkreis. Er liefert die imaginären, gesetzten Koordinaten fürdie Betrachtung und Lokalisierung von Bewegungen am (also vor dem) Fixsternhim-mel von einem bestimmten Punkt aus, aber nur in Län[93]ge und Breite, jeweils alsBruchteile von Vollkreisen (Bögen, Graden). Auf die Größe, den Durchmesser der alsBezugsebene dienenden Fixsternsphäre kommt es deshalb auch gar nicht an. Ptolemai-os hatte sie zu 20000 und Tycho Brahe zu 14000 Erddurchmesser berechnet; undschon Copernicus hatte sie als Vorbild aller Heliozentriker wegen der (noch) fehlendenParallaxe als immensus, unermesslich, bezeichnet. Die Planetensphären hatten für ihnaber wegen der auftretenden Parallaxe schon ganz bestimmte Ausmaße erhalten, dieKepler vorerst übernahm.

261 KGW VII, 382, 6 f.262 J. Kepler: Epitome astronomiae Copernicanae, Usitata forma Quaestionum & Respon-

sionum conscriptae, Libri V. VI. VII. Quibus Doctrina Theorica (post principia libro IV.praemissa) comprehenditur. Frankfurt am Main: G. Tampach 1621; hier KGW VII, 394,3–8.

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6. Der neue orbita-Begriff setzt sich durch: Keplers ‚Lehrbuch der coper-nicanischen Astronomie‘

Kepler eliminierte jedoch die noch von Copernicus benutzten festen, wiederum auspartiellen Sphären bestehenden Sphären als Halt und Träger der Planeten(bewegungen),aus denen der am Himmel erscheinende Weg eines Planeten resultieren sollte. An derenStelle setzte er auf die Planeten einwirkende bewegende Kräfte, die allein sie in ganz be-stimmte ,Bahnen‘ mit ganz bestimmten Ausmaßen lenkten; und hierfür sowie für seinAusgangsmodell des Mysterium cosmographicum spielte die dritte, die Tiefen-Dimension,welche die Astronomie bis dahin kaum interessiert hatte, erstmals eine wesentliche Rolle.Die damit zusammenhängenden Abstandsmessungen und -berechnungen bestimmtenden langen Weg zum entscheidenden Paradigmawechsel der Astronomie, an dessenEnde Kepler dafür dem Begriff orbita einen spezifisch keplerschen Sinn gab, der denParadigmawechsel auch terminologisch charakterisierte.

Kepler nannte im Rahmen der Terminologie-Erläuterungen des zweiten Teiles vomfünften Buch der Epitome astronomiae Copernicanae das Wort orbita einen alten Begriff fürden Exzenter(kreis): Appellatur veteri voce Eccentricus subaudi, Circulus, wenn auch (seine)orbitae elliptisch seien und quasi zwei Zentren hätten, die man physikalisch Focus nenneund einen von denen die Sonne selbst als das Weltzentrum einnehme.261 Er unterschiedjedoch deutlich zwischen den beiden von ihm verwendeten orbita-Begriffen, dem über-nommenen älteren, zwar gleichnamigen, aber Anderes bezeichnenden, den er im zwei-ten und fünften Teil seiner Astronomia nova verwendete, und seinen spezifischen für diedurch kosmische Kräfte erzeugte exzentrisch-elliptische und ungleichförmig durchlau-fene Bahn eines Planeten. In seinem Lehrbuch ,Abriss der copernicanischen (heliozen-trischen) Astronomie‘, das eigentlich ,Abriss der keplerschen Astronomie‘ [94] heißenmüsste, werden im Rahmen der Doctrina theorica der Bücher V bis VII beide orbita-Be-griffe neben einander definiert.

Anlass ist die Verwendung des älteren Begriffs im Rahmen der Behandlung derBreitenbewegung eines Planeten, während er den jüngeren, spezifisch keplerschenbereits in der gesamten Epitome, vor allem aber im fünften Buch und hier im ersten Teilausschließlich, benutzt hatte:262

„Was wird unter dem Begriff Orbita verstanden (Quid intelligitur sub nomine Orbitae)?

Im eigentlichen Sinne ja doch jene Linie, welche der Planet tatsächlich um die Sonnebeschreibt, und zwar mit dem Zentrum seines Körpers (Proprie quidem illa linea, quamplaneta vere circa Solem describit, centro sui corporis). [...]

263 KGW VII, 394, 11–16.264 J. Kepler: Epitomes Astronomiae Copernicanae [...] Libetr Quartus, Doctrinae Theoricae

Primus: Quo Physica Coelestis, Hoc Est, omnium in coelo magnitudinum, motuum, pro-portionumque, causae vel Naturales vel Archetypicae explicantur ... Linz: JohannesPlancus 1620; hier KGW VII, 290 ff.: Pars II De motu corporum mundanorum.

265 KGW VII, 295, 28.

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Sekundär versteht man darunter aber auch jenen Großkreis, mit dem die [bis zur Fix-sternsphäre] fortgesetzte Ebene der Bahn (quo planum Orbitae [in ersterem Sinne] continua-tum) die Fixsternsphäre schneidet.“

– und diesen Begriff benutzt dann der folgende Abschnitt (De deflexione planetarum abecliptica), in dem es von diesem durch die Projektion der Bahnebene an die Fixstern-sphäre entstandenen imaginären Großkreis ausdrücklich heißt:263 „Da jene Ebenenaber von den (tatsächlichen) Bahnen der Planeten umschrieben werden (circumscribunturOrbitis planetarum) und man sich die Linien der Bewegung der Planeten in Ebenen be-schrieben vorgestellt hat, hat man sich in der Praxis die Freiheit genommen, dieseBegriffe (hae voces [nämlich circulus, linea motus, planum, orbita usw.]) zur Abkürzung derSprechweise einfach auf die Planeten selbst zu übertragen.“

In der Epitome behandelt das 4. Buch die Physica Coelestis, im 2. Teil „Die Bewegungder Weltkörper“,264 die Kepler dann nach der Aufgabe fester Sphären (orbes solidi) aufden Planetenkörpern eingepflanzte natürliche Fähigkeiten (potentiae naturales, insitae cor-poribus ipsis Planetarum) zurückführt, weil es absurd sei, eine Intelligenz für eine be-stimmte, von der Kreisform abweichende Gestalt (figura) der Bahn (orbita) verant-wortlich [95] zu machen265 – und benutzt wie selbstverständlich schon bei dieser erstenGelegenheit dafür seinen in der Astronomia nova eingeführten Begriff: (KGW VII, 295,29) Planretae orbita non est perfectus circulus / (31 f.) Ex adverso figura Elliptica itineris planeta-rij, legesque motuum, quibus talis efficitur figura passen eher zur Natur einer Waage oder zueiner natürlichen Notwendigkeit / (37 f.) der Kreis hätte zwar jeweils ein bestimmtesZentrum, die Ellipse aber, von welcher Form die Planetenbahnen seien, zwei (qua figurasunt planetarum orbitae) / (42) quia orbita planetae est a Sole corpore eccentrica / (47) centraorbitarum / (296, 5) planeta orbitam suam ordinet circa hoc centrum / (8 f.) an planeta iret incirculo [...], qua via reduceret, si orbitam ipsam per se non videret? / (10) quomodo vero mens intel-liget orbitam / (12) sed de reali itinere planetae / (14) Quod si mentem motricem collocaveris extracentrum orbitae / (17) de retinendo planeta in sua orbita, deque ejus orbitae inventione / (19) circaquod ordinanda est orbita planetae.

Die nächste Gelegenheit, von einer ,Bahn‘, welcher Form auch immer, zu sprechen,bot die Betrachtung der Ursachen für die unterschiedlichen Zeitperioden (p. 306–308).Die Anführung sämtlicher einschlägiger Stellen im Folgenden bezeugt auch hier, dassder Begriff orbita weit überwiegt: (307, 7) Iam vero itinera circularia planetarum sunt inproportione intervallorum simpla / (45 f.) Saturn in uno anno per tantum spacium provehereturorbis sui, quanta est longitudo totius orbitae terrae, et sic in decem annis conficeret suam propriam

266 KGW VII, 359, 7 f.

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orbitam. Sodann die Bewegung der Planeten um die Sonne einschließlich der jährlichenBewegung der Erde und der monatlichen des Mondes: (p. 309–326; hier 309, 11) Solemesse in medio circuitionum planetariarum, probatur ... / (20 f.) Venus und Merkur pergeanteandem viam sub fixis, Solem circumeundo / (310, 13 und 14) Iovis orbitam circa Solem ordinatumesse; et distantiam Solis a centro orbitae Iovialis esse certam et fixam quodammodo. / (310–314) beider Betrachtung der Theorien seiner Vorgänger bedient Kepler sich dann deren Be-griffs orbis, (311, 10 f.) bei Annahme einer jährlichen Bewegung der Sonne würdenplanetae omnes quinque nunc stare, nunc viam contrariam ire, nunc celerrimi, viam directam pergerevideantur (hier ist also nicht speziell von ihren Bahnen die Rede) / (22) uniuscujusqueprimarij planetae orbitam ab ecliptica secari locis ex centro Solis / (314, 27 f.) Credibilius, orbitamsextam Telluris describi motu reali ipsius Telluris, sicut et reliquae quinque orbitae totidem motibusdescribuntur. / (33–36) quod motus Solis apparens habet dies 365 [...]. circuitum in quo consumun-tur isti dies 365, loco etiam medium inter circuitus Martis et Veneris circa Solem, et sic non Solis essehunc circui[96]tum circa Tellurem (quippe circa quam primariorum nullus orbitam suam ordinatamhabet, ut concedit Braheus) sed Telluris quiescentem Solem ... / (315, 19 f.) At si tellus movetur incirculum: a Sole et ipsa movetur / (320, 16 / 31 f.) Quia praeter proprium circuitum Lunae circaTelluris globum [...] movetur etiam totum coelum Lunae communi motu cum centro telluris circaSolem [...]. sicuti toto suo coelo circa Solem, sic etiam corpore circa terram sub Zodiaco cogatur ince-dere, seu orbitam suam circa terram, Zodiaco subordinare. / (321, 32 f.) permeat inquam Lunaeorbitam totam in uno mense tricies / (41) propter eccentricitatem orbitae / (323, 8) orbita ipsaLunae / (12) viam Lunae ipsam.

Der dritte Teil des vierten Buches behandelt die „Ungleichförmigkeit der tatsäch-lichen und wahren Bewegung der Planeten und [vor allem] ihre Ursachen“ (p. 327–355), physicam coelestem seu Principia Doctrinae Theoricae de motibus planetarum,266 recht all-gemein, so dass selten auf die ,Bahnform‘ (orbita) eines Planeten eingegangen wird:(328, 1 f. und 12 f.) Die Alten waren der Meinung, die Bewegung der Planeten seienfigurae simplicissimae, scilicet circularis exactissime [...]. At nondum concessum est, etiam in uniuscu-jusque circuitus partibus diversis motum revera esse aequalem; relinqui planetae circuitum talem [...],inaequalis sit planetae celeritas ... / (20 f.) Denique testatur et de hoc Astronomia, subtilitate decentitractata, planetarum itinera seu circuitiones singulas, non ordinari praecise in perfectum circulum, sedfieri ellipticas. / (329, 16) dependet etiam illa regularitas circuitionum... / (330, 6) (necesse est,)figuram itineris fieri ellipticam. / (30 f.) motum scilicet esse in seipsum reflexum, cuiusmodi est nontantum circularis, sed etiam ellipticus / (331, 9 f.) relinqui in reali et verissimo motu planetae, figu-ram circuitus ellipticam / (20 f.) Concedunt ipsi veteres itinera planetis eccentrica, quae multo majorvidetur deformitas, quam via elliptica. / Über die Ursachren der Ungleichheit in Länge undHöhe: (331, 34 f.) Prima causa est, quia iter planetae non aequali intervallo undique circa Solemcircumductum est. / (334, 14) simulque emoveatur loco suo, et in circulum circa Solem transportetur[...], und zwar toto circuitu / (337, 33) totius ambitus circularis / (43) globus praetervectus hunc

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orbitae suae locum / (338, 6) circa quadrantem circuitus alterum / (17) aequales sunt inter sesemisses circuitus / (339, 13) in oppositum semissem circuitus /(15 f.) Cum igitur praeveniatcirculatio planetae circa Solem: fiet, ut quamvis fibrae in uno Quadrante circuitus nonnihil inclinentur./ (340, 14) Si ergo in hoc opere attractionis planetae versus Solem consumitur plus quadrante orbitae... / (340, 22 und 23 f.) translationis centri orbitae [...], de eo quod est plus semisse orbi[97]tae adfixas expensae, restabit non plus semisse orbitae Ellipticae / (343, 30 f. und 33 f.) nec supra refu-tata substructione solidorum orbium, quibus ceu curribus justam invehantur orbitam [...], sed formatioaliqua ipsorum corporum planetariorum sola sufficit ad detorquendas et retorquendas ad Eclipticam,eorum orbitas. / (347, 31) tangerent orbitam / (353, 8 f.) ut prius Luna veniat ad latera media cir-cuitus sui / (354, 4) fibra latitudinis orbitam tangente / (10) ipsa orbita Lunae.

Das fünfte Buch, dessen erster Teil laut Titel von den „exzentrischen Kreisen oderden Planetentheorien handelt“ (362–381), öffnet dann wieder das Feld für den spezi-fisch keplerschen Begriff orbita und beginnt sogleich mit der Feststellung (362, 10–14),dass man „den unnützen Apparat der fiktiven Kreise und Kugeln“ gar nicht brauche,dass es vielmehr um die „wahren Formen“ (verae figurae) gehe, welche die Wege (itinera)der Planeten einnehmen – und die habe der Astronom „aus Beobachtungen“ zu be-stimmen. Nach dem allgemeinen Begriff iter (itinera) in der einleitenden Feststellungwird von hier ab in dem gesamten Teil ausschließlich der neue, spezifisch keplerscheBegriff orbita verwendet. Kepler besiegelt damit gleichsam den Paradigmawechsel:

(362, 16) stabilita figura Orbitae / (25 f.) Liber Quintus ex his principibus physicis [des 4. Bu-ches] formabit Orbitarum planetariarum, earumque figurarum potestates explicabit. / (363, 1) Qualisigitur formatur figura orbitae planetariae ex principiis quarti libri physicis? / unter falschen Voraus-setzungen totum iter [eines Planeten] exactissime in planum Eclipticae ordinaret, ebenso aberauch der Sonnenkörper und (11) orbitae planetariae centrum; / außerdem (11 f.) Ipsa figuraorbitae circulus esset absolutissimus. / (16) Da Kepler aber jedem Planetenkörper zwei unter-schiedliche Magnetfibern zuteile, planeta describat Orbitam ad Eclipticam obliquam. / (18)planum comprehensum orbita planetae / (27–30) describit orbitam circa Solem [...] , non perfectus cir-culus [...] sed figurae ellipticae / (32) planeta neque eiusdem celeritatis esse potest in omnibus orbitaepartibus, sed ... / auch in Kombination beider orbita-Begriffe: (364, 14–17) Sufficit, ut duaslineas rectas ex centro Solis educamus, alteram per sectiones orbitae planetae cum ecliptica, reliquam percentrum orbitae planetae proprium, utramque utrinque usque sub fixas, et illius motum sub ecliptica inantecedentia signa, huius sub circulo, qui in sphaera fixarum superstat orbitae ... / Was bleibt davonals figura itineris planetae?: (24–27) Remanet orbita perfecte elliptica plano mero regularissimo adeclipticae planum constantibus angulis inclinato, a quo Eclipticae plano haec orbita seccatur linea percentrum corporis Solis [...]. In hac orbita planeta vehitur ... / (33) ea quae a reali implexione etconnexione plurium Orbitarum sunt ablata / (365, 11) qui toto aliquo arcu Orbitae / (13) oririfiguram orbitae [98] ellepticam / (18) aequabilitas plani orbitae / (21) applicatio huius orbitae eclip-ticae eiusque plani ad orbem magnum / (33) distantia arcus orbitae a Sole / (366, 8) diutius moreturin aequalibus Orbitae particulis / (10) una quaelibet particularum aequalium orbitae / (367, 36) pro-motio planetae in longum suae orbitae / (369, 20 f.) angulus iste in arcum orbitae potest converti / (24

267 Der Text wird fortgesetzt mit den Worten: miscentur igitur ad eam efformandam duo motus ele-menta [...], alterum est circumlatione circa Solem virtute Solis una, reliquum librationis versus Solem virtuteSolis alia distincta a priori. Hier wird mit circumlatio das Herumführen durch die Kraft derSonne bezeichnet, nicht irgendein ,Weg‘. Es ist also keine terminologische Ausnahme im1. Teil des fünften Buches der Epitome. So auch KGW VII, 378, 10/11.

268 KGW VII, 327, 35.269 KGW VII, 362, 10–14.

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f.) conversio anguli dicti in Orbitam / (26 f.) cum planeta est in Aphelio, hoc est, in principio Orbitae/ (33) quadrans orbitae / (38) a mediis arcubus orbitae / (370, 7) Dato igitur arcu orbitae / (13)Ea habetur ex eiusdem arcus de orbita confecti / (16) arcus de orbita ab Apside incipientis / (371, 8)Orbita planetae Elliptica / (372, 1 – 375, 20) De figura orbitae, nämlich die Ellipsenbahn /(375, 21 f.) morae planetae in quolibet arcu orbitae / (376, 5) Ellipsis tangens circulum in P.R. [...]repraesentans orbitam planetae / (13) semisse Orbitae ab Apside P ad apsidem R / (15 f.) in pro-portione per hanc sectionem orbitae planetae partes mediae fiunt maiores partibus circa apsidas / (26)sectio orbitae ellipticae / (377, 33) quia orbita planetae est eccentrica267 / (44) sectio illa orbitae in par-tes inaequales / (378, 14) eadem demonstrabuntur de aliis particulis orbitae / (379–381, 3) behan-delt die Gleichwertigkeit der Kreis- und Ellipsenfläche zur Berechnung der Verweildauerin Bogenstücken / (380, 16) in arcu suae orbitae.

Kepler weiß sich am Ziel seiner astronomia sine orbibus: Zu Beginn des dritten Teils desvierten Buches seiner Epitome, das die Ursachen der Ungleichförmigkeiten der Plane-tenbewegungen behandelt, hatte er noch als Aufgabe der Astronomie bezeichnet, diewahre Bewegung eines Planeten oder (vielmehr) seiner orbes zu erkunden (de ipso veroPlanetae vel orbium motu).268 Das wurde zu Beginn des fünften Buches präzisiert, wenn erfragte, ob die Astronomie nach Aufgabe der festen Sphären zukünftig ohne die imagi-nären Kreise und Kugeln (circulorum et orbium imaginatio) auskommen könne, undantwortete:269 „Sie kann des unnützen Apparats der fiktiven Kreise und Kugeln (Sphä-ren) leicht entbehren, aber ohne die Vorstellung der wahren Formen, in welche dieWege der Planeten sich fügen, fehlte ihr so viel, dass wir uns damit der Astronomieselbst beraubten“ (Fictorum illa circulorum et orbium inutili suppellectili carere facile potest: atverarum figurarum, in quas ordinantur itinera planetarum, imaginatione [99] tantum abest, utprivemus Astronomiam). Vorrangige Aufgabe des wahren Astronomen (veri astronomi) seies ja, aus Beobachtungsdaten aufzuzeigen, „welche Formen die Bahnen der Planeteneinnehmen“ (quas figuras obtineant Orbitae planetariae).

Damit dürfte auch klar geworden sein, dass man Kepler widerspräche und ihm gro-ßes Unrecht antäte, wenn man diese fiktiven Hilfskreise und -kugeln (circuli und orbes) inÜbersetzung und Deutung auf dieselbe Ebene transferierte wie seine wahren Bahnen(orbitae) – an die aber frühere Astronomen überhaupt noch nicht gedacht hatten.