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Anthropologie des geistigen Seins und Ontologie des Menschen bei Helmuth Plessner und Nicolai...
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Erscheint in: Kristian Köchy/ Francesca Michelini (Hgg.), Zwischen den Kulturen. Plessners „Stufen des
Organischen“ im zeithistorischen Kontext. Freiburg – München 2015. PrePrint (nicht zitierfähig)
Anthropologie des geistigen Seins und Ontologie des Menschen
bei Helmuth Plessner und Nicolai Hartmann
Matthias Wunsch
Die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners weckt seit mehr als zwanzig Jahren
wieder großes Forschungsinteresse. Das zeigt sich an einer stattlichen Anzahl von Arbeiten,
die seine Position systematisch und argumentativ rekonstruieren, sie in Beziehung zum
philosophischen und wissenschaftlichen Kontext ihrer Zeit setzen und für den Diskurs der
Gegenwartsphilosophie fruchtbar machen. In Hinblick auf die Position Nicolai Hartmanns
ergab sich bis vor kurzer Zeit ein ganz anderes Bild. Sie befand sich, obwohl Hartmann zu
Lebzeiten als der im Vergleich zu Plessner bedeutendere Philosoph galt, noch immer in der
Vergessenheit, in die sie etwa ein Jahrzehnt nach seinem Tod im Jahre 1950 versunken war.
Mittlerweile gibt es allerdings eine Reihe von Anzeichen für eine Wiederentdeckung
Hartmanns: Im Anschluss an Hartmann-Konferenzen sind zwei Sammelbände zum gesamten
Spektrum seiner Philosophie publiziert worden (2011 und 2012)1; das Deutsche
Literaturarchiv Marbach hat den Hartmann-Nachlass angekauft (2013) und damit neue
Forschungsmöglichkeiten eröffnet; es ist ein Hartmann-Studienbuch mit den wichtigsten
seiner Aufsätze zur Ontologie und Anthropologie erschienen (2014)2; nach einer Pause von
sechs Jahrzehnten werden wieder Monographien und Aufsätze Hartmanns ins Englische
übersetzt3; entsprechend liegt inzwischen auch die Veröffentlichung einer neuen englischen
Einführung in Hartmanns Gesamtwerk vor (2014)4.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Plessner und Hartmann liegt also bereits durch
die Koinzidenz der Reaktualisierung ihrer Ansätze in der Luft. Sie liegt auch deshalb nahe,
1 R. Poli, R. Scognamiglio, F. Tremblay (Hrsg.), The Philosophy of Nicolai Hartmann. Berlin, New York 2011.
G. Hartung, M. Wunsch, C. Strube (Hrsg.), Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie – Nicolai
Hartmann. Berlin, Boston 2012. 2 N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, hrsg. v. G. Hartung u. M. Wunsch, Berlin,
Boston 2014. 3 N. Hartmann, Possibility and Actuality, mit einer Einl. v. R. Poli, übers. v. S. Adair, A. Scott, Berlin, Boston
2013. N. Hartmann, Aesthetics (angekündigt für September 2014 bei de Gruyter). N. Hartmann, „How Is Critical
Ontology Possible? Toward the Foundation of the General Theory of the Categories, Part One“, übers. v.
K. R. Peterson, in: Axiomathes 22/2012, S. 315-354. – Vordem waren nur die Ethik (Ethics, 3 vols, London
1932) und „Neue Wege der Ontologie“ (New Ways of Ontology, Chicago 1953) übersetzt. 4 P. Cicovacki, The Analysis of Wonder. An Introduction to the Philosophy of Nicolai Hartmann, London 2014.
2
weil die beiden Philosophen selbst seit ihrem Kennenlernen 1924 in einem engen
Arbeitsverhältnis standen. Plessner, der damals Privatdozent an der Universität Köln war,
suchte für die von ihm geplante und dann herausgegebene Zeitschrift Philosophischer
Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft im
Verlag von Friedrich Cohen in Bonn die Unterstützung einer Reihe renommierter
Philosophen und Vertreter anderer Wissenschaften. In diesem Zusammenhang fuhr er im
Oktober 1924 nach Marburg, wo er sowohl Hartmann als auch Heidegger kennenlernte, die er
beide für den Kreis der insgesamt 16 Mitherausgeber der Zeitschrift gewinnen konnte.
Besonders von Hartmann, der ihn zu sich nach Hause eingeladen hatte, erhielt Plessner, wie
er seinem Freund Josef König brieflich mitteilt, „einen gewaltigen Eindruck“: „Die Stille
dieses Menschen, die Versunkenheit in sich, die absolute Lauterkeit zogen mich völlig in
ihren Bann. […] Das Zimmer ist fast dürftig möbliert, enthält nur wenige Bücher und wird
fast völlig beherrscht von einem gewaltigen weißen Fernrohr. […] Wir verstanden uns, wenn
ich nach meinem Gefühl gehen kann, ausgezeichnet. Ich hatte den ganzen Abend das Gefühl,
und das wirkt bis heute ungeschwächt nach, einem antiken Philosophen, vielleicht auch einem
Hegelschen Geiste, gegenüberzusitzen.“5
In demselben Brief berichtet Plessner, dass Hartmann ihm für das allererste Heft des
Philosophischen Anzeigers einen Beitrag, und zwar „die Einleitung zu seiner Ethik“, zugesagt
hat.6 Es kam zwar nicht zu dieser Veröffentlichung; aber Hartmann lieferte dann für das
zweite Heft des ersten Jahrgangs die Abhandlung „Kategoriale Gesetze“7, die für die
Entwicklung seiner Neuen Ontologie maßgeblich werden sollte. Als der Text 1926 erschien,
waren Plessner und Hartmann bereits Kollegen an der Kölner Universität, an die Hartmann
1925 berufen worden war. Eine inhaltlich-methodische Gemeinsamkeit ergab sich dadurch,
dass beide mit ihrer philosophischen Arbeit ein Interesse an den Naturwissenschaften und
insbesondere an der Biologie verbanden. Plessner war seiner wissenschaftlichen Ausbildung
nach bekanntlich Zoologe, bevor er Philosoph wurde. Er konzipierte nun in Köln eine
„philosophische Biologie“, die einen wesentlichen Bestandteil seines Hauptwerks Die Stufen
des Organischen und der Mensch ausmachen sollte. Hartmann war dafür ein kompetenter
Gesprächspartner. Er hatte nicht nur zwei Semester Medizin studiert, in denen er sich
5 Brief Plessners an König vom 11. November 1924, in: Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923-1933,
hrsg. v. H.-U. Lessing u. A. Mutzenbecher, Freiburg, München 1994, S. 57-62, hier S. 58. 6 Ebd., S. 61. 7 N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze. Ein Kapitel zur Grundlegung der allgemeinen Kategorienlehre“, in:
Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft, hrsg. v.
H. Plessner, 1(2)/1926, S. 201-266. Erstmals seit seinem Erscheinen ist der Aufsatz inzwischen wieder publiziert
worden, und zwar in dem in Anmerkung 2 genannten Hartmann-Studienbuch (S. 123-176).
3
Grundlagen der Physiologie und Biologie aneignete8, sondern auch eine Monographie zu
Philosophischen Grundfragen der Biologie veröffentlicht.9 Entsprechend verfolgte er die
Entstehung von Plessners Die Stufen des Organischen mit großem Interesse. In seiner
„Selbstdarstellung“ hat Plessner davon berichtet, dass er Hartmann vor dem Erscheinen des
Buchs „das ganze Manuskript vorlesen“ konnte.10
Die Frage ist, wie sich das enge Arbeitsverhältnis zwischen Plessner und Hartmann in
ihren Texten sachlich niedergeschlagen hat. Welche systematischen Bezüge bestehen
zwischen den philosophischen Ansätzen und Positionen beider Autoren? Diese Frage wird im
Folgenden im Mittelpunkt stehen. Meine These ist erstens, dass sich grundlegende Gedanken
der von Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) konzipierten
Philosophischen Anthropologie von Hartmanns Neuer Ontologie her entwickeln und
unterstützen lassen. Zweitens ist auch umgekehrt Hartmanns Konzeption des Menschen in
Das Problem des geistigen Seins (1933) in wichtigen Grundzügen von Plessners
Philosophischer Anthropologie bestimmt. Beide Autoren stehen in einem produktiven
systematischen Wechselverhältnis. Um das im Einzelnen herauszuarbeiten, werde ich in fünf
Schritten vorgehen. Nach einer Skizze von Plessners Ausgangsüberlegungen zu einer
Philosophischen Anthropologie (1) widme ich mich Hartmanns Konzeption einer allgemeinen
Kategorienlehre, soweit sie bis Ende 1927 vorlag (2). Das ermöglicht es mir, die von
Hartmann stammenden ontologischen Grundlagen von Plessners Die Stufen des Organischen
als solche kenntlich zu machen (3). Im folgenden Schritt kehre ich die Blickrichtung um und
frage nach den von Plessner stammenden anthropologischen Grundlagen von Hartmanns Das
Problem des geistigen Seins (4). Folgt man dieser Perspektive weiter, so lässt sich eine
wichtige systematische Herausforderung markieren, die sich durch Plessners reflexive
Philosophische Anthropologie für die Neue Ontologie Hartmanns ergibt. Um ihr zu begegnen,
ließe sich diese durch jene ergänzen; doch auch Plessners Ansatz könnte in einem anderen
Punkt systematisch von Hartmann profitieren (5). Meines Erachtens steht daher nicht die
Frage „Plessner oder Hartmann?“ zur Diskussion, sondern gilt es, Grundlagen für die
systematische Anknüpfung an Plessner und Hartmann zu schaffen.
1. Helmuth Plessners Ansatz einer Grundlegung der Philosophischen Anthropologie
8 Siehe M. Morgenstern, Nicolai Hartmann zur Einführung, Hamburg 1997, S. 16. 9 N. Hartmann, Philosophische Grundfragen der Biologie, Göttingen 1912. 10 H. Plessner, „Selbstdarstellung“, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard u. E. Ströker,
Bd. 10, Frankfurt a. M. 1985, S. 302-341, hier S. 329.
4
In Die Stufen des Organischen und der Mensch geht es um die Grundlegung der
Philosophischen Anthropologie.11 Für diesen Zweck, so Plessners Ausgangsdiagnose, sind die
bisherigen philosophischen Konzeptionen ungeeignet. Materialistisch-empiristische
Philosophien stellen die natürliche Sphäre und idealistisch-aprioristische Philosophien die
geistige Sphäre des Menschseins in den Vordergrund. Im Rückgriff auf die kategorialen
Elemente und Zusammenhänge der von ihnen begünstigten Sphäre versuchen sie, die Struktur
der jeweils anderen Sphäre zu erfassen. Plessner zufolge gelingt es aber beiden nicht, die
behauptete kategoriale Abhängigkeit einsichtig zu machen: „Beide Theorien operieren nach
demselben Prinzip. Sie setzen eine Sphäre, einmal die physische, das andere Mal die
spirituelle absolut und machen jeweils die andere Sphäre von ihr abhängig, ohne allerdings
imstande zu sein, anzugeben, wie gerade diese Sphäre in Abhängigkeit von der anderen
auftritt.“12 Philosophisch gesehen ist das eine Pattsituation zwischen Positionen entgegen
gesetzter Art, die sich Plessner zufolge nicht zugunsten eines dieser Standpunkte
argumentativ auflösen lässt. Beiden Sphären ist in kategorialer Hinsicht ein Eigenrecht
zuzugestehen. Die Frage nach einer einheitlichen Theorie der verschiedenen Sphären des
Menschseins wird durch diese Einsicht allerdings nicht beantwortet, sondern nur dringender
gemacht.
Einen Anhaltspunkt für den geplanten Aufbau der Philosophischen Anthropologie
gewinnt Plessner an dieser Stelle nicht aus der Philosophie, sondern aus der empirischen
Wissenschaft: Menschen gehen samt ihrer geistigen Fähigkeiten aus der Naturgeschichte
hervor. In diesem Sinne sind sie durch und durch Naturwesen. Plessner nennt dies an zwei
Stellen eine „natürliche, vorproblematische Anschauung“13. Sie mag in der Zeit ihres
Aufkommens einmal als unplausibel oder zumindest problematisch gegolten haben, ist aber
bereits zu Plessners Zeit und heute erst recht ein grundlegender Bestandteil unseres
Selbstverständnisses, dem das Fragen nach dem Menschen Rechnung tragen muss. Plessner
selbst beschreibt sie als eine Position, die „den Menschen aus einer vormenschlichen
Stammesgeschichte der Lebewesen hervorgehen läßt und die Entfaltung seiner geistigen
11 „Grundlegung der philosophischen Anthropologie“ war auch der ursprünglich geplante Untertitel von Die
Stufen des Organischen, den Plessner dann auf Max Schelers Intervention hin für die Publikation in „Einleitung
in die philosophische Anthropologie“ abgeändert hat. Zu den Umständen vgl. H. Plessner, „Selbstdarstellung“,
S. 329. 12 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie
(1928), Berlin, New York 1975, S. 5. 13 Ebd., S. 6, S. 12.
5
Vermögen in der Geschichte zeitlich und räumlich an eine ungeheure biologische
Vergangenheit anschließt“14.
Indem Plessner die empirisch induzierte Auffassung, dass der Mensch in dem
skizzierten Sinn durch und durch ein Naturwesen ist, zum Anhaltspunkt für seine weiteren
Überlegungen macht, grenzt er sich von vornherein von Ansätzen ab, die die philosophische
Untersuchung des Menschen gegenüber den Naturwissenschaften abschotten wollen. Die
Methode dieser Untersuchung kann zwar nicht selbst naturwissenschaftlich sein, muss seines
Erachtens aber „die naturwissenschaftlichen Ergebnisse in ihrer Wahrheit anerkennen“15.
Ebenso wichtig ist ein weiterer Punkt. Die evolutionsbiologische Einsicht, dass der Mensch
durch und durch ein Naturwesen ist, löst die beschriebene kategoriale Pattsituation nicht auf.
Denn der Umstand, dass Menschen „aus einer vormenschlichen Stammesgeschichte der
Lebewesen hervorgehen“, impliziert nicht, dass die geistige Sphäre des Menschen kein
Eigenrecht besitzt. Plessner zieht aus ihm aber eine wichtige Konsequenz für den kategorialen
Ansatz seines Vorhabens: Die philosophische Disziplin, an der in der philosophischen
Untersuchung des Menschen kein Weg vorbei führt, ist die Naturphilosophie. Entsprechend
heißt es in Die Stufen des Organischen programmatisch: „Ohne Philosophie der Natur keine
Philosophie des Menschen.“16. Plessners Projekt nimmt demnach die Gestalt einer den
Naturwissenschaften gegenüber aufgeschlossenen Naturphilosophie an.
Vor dem dargelegten Hintergrund lässt sich nun Plessners Ausgangsfrage erläutern:
„Unter welchen Bedingungen läßt sich der Mensch als Subjekt geistig-geschichtlicher
Wirklichkeit, als sittliche Person von Verantwortungsbewußtsein in eben derselben Richtung
betrachten, die durch seine physische Stammesgeschichte und seine Stellung im Naturganzen
bestimmt ist?“17. Die Frage erfordert eine Präzisierung. Denn es ist auf den ersten Blick nicht
hinreichend klar, worin die gekennzeichnete „Richtung“ besteht. An einer späteren Stelle
formuliert Plessner die Frage erneut, variiert dabei aber die betreffende Kennzeichnung. Er
schreibt dort, es gehe ihm um die Betrachtungsrichtung, die durch die „körperliche Natur und
Stammesgeschichte [des Menschen] festgelegt“18 ist. Von körperlicher Natur ist nicht nur der
Mensch, sondern sind auch alle anderen bekannten Lebensformen; und die physische
Stammesgeschichte des homo sapiens sapiens verläuft über eine lange Reihe von Organismen
anderer Art. Die Betrachtungsrichtung, die eine solche Stammesgeschichte und die Stellung
14 Ebd., S. 6, vgl. S. 12 f. 15 Ebd., S. 70. 16 Ebd., S. 26. 17 Ebd., S. 5. 18 Ebd., S. 12.
6
im Naturganzen, in der sich diese Geschichte niederschlägt, erfordern, verläuft vom
„Früheren“ zum „Späteren“. Diese Ausdrücke sind nach den Erläuterungen des vorigen
Absatzes allerdings nicht naturgeschichtlich, sondern naturphilosophisch zu verstehen. In
einer naturphilosophischen Ordnung des „Früheren“ und des „Späteren“ kommt es vor allem
auf kategoriale Differenzen zwischen unterschiedlichen Naturdingen und näherhin zwischen
Lebewesen an. Es lässt sich aber nur dort auf eine orientierte Weise nach Differenzen fragen,
wo die Hinsicht feststeht, in der verglichen wird. Wie die zuletzt genannten Zitate schon
andeuten, besteht diese Vergleichshinsicht für Plessner in der „körperlichen Natur“ und der
damit verbundenen „Stellung im Naturganzen“.
In Plessners Ausgangsfrage geht es demnach um eine Betrachtung des Menschen „als
Subjekt geistig-geschichtlicher Wirklichkeit“, die auf naturphilosophische Weise und in
Orientierung an der körperlichen Natur in der Richtung vom kategorial Früheren zum
kategorial Späteren durchgeführt wird. Gefragt wird dabei nach den Bedingungen einer
solchen Betrachtung. Die Beantwortung der Frage kann damit beginnen, zwei aufeinander
aufbauende Voraussetzungen der Durchführung der genannten Betrachtung zu markieren.
Erstens wird ein theoretischer Rahmen benötigt, in dem die kategorialen Differenzen
zwischen unterschiedlichen Naturdingen und Lebewesen diskutiert werden können. Damit
stellt sich die Frage nach einer philosophischen Theorie der Ordnung des kategorial Früheren
und Späteren. Zweitens muss diese Theorie in der Weise integrativ sein, dass die Betrachtung
des Menschen als geistig-geschichtliches Subjekt nicht mit ihrer Orientierung an der
körperlichen Natur in Konflikt gerät. In Plessners Formulierung gilt es, „ein[en]
Grundaspekt“ zu identifizieren, der den physischen und den geistigen Aspekt des Menschen
vereint und dessen Wahrung dem oben skizzierten evolutionsbiologischen Anhaltspunkt
Rechnung trägt, dass der Mensch durch und durch Naturwesen ist.19 Plessner konzipiert
diesen Grundaspekt vom Begriff des Lebens her.20
Wer die Annahme vertritt, dass eine Konzeption möglich ist, die den physischen und
den geistigen Aspekt des Menschen im Grundaspekt des Lebens vereint, das Eigenrecht des
geistigen Aspekts dabei aber nicht preisgibt, legt sich auf die Annahme fest, dass ein Wissen
19 Ebd., S. 6, S. 12. 20 Auf eine Weise, die ich hier nicht näher erläutern kann, ist sein Gewährsmann dabei der in der Perspektive von
Georg Misch gelesene Wilhelm Dilthey. Vgl. G. Misch, „Die Idee einer Lebensphilosophie in der Theorie der
Geisteswissenschaften“, in: Ders., Vom Lebens- und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys, Frankfurt a. M. 1947, S.
37-51 (zuerst in: Oesterreichische Rundschau, 20(5)/1924; dann in: Kant-Studien 41/1926). Dilthey entkomme
Plessner zufolge „dem sterilen Antagonismus von bloßer Erkenntnistheorie und freier Lebensdeutung“ und
eröffne „die Ebene des Lebens“ auf eine Weise, die es erlaubt und erfordert, „geistig-geschichtliche Wirklichkeit
und Natur in ein und derselben Erfahrungsrichtung zu erfassen“ (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und
der Mensch, S. 21). Vgl. dazu auch den Beitrag von Gutmann in diesem Band.
7
vom Leben möglich ist, das sich grundsätzlich nicht durch die Naturwissenschaften und
insbesondere die Biologie erschöpfen lässt. Plessner sieht dies deutlich und stellt der
naturwissenschaftlichen Biologie daher eine „philosophische Biologie“ an die Seite:21 „Den
Menschen trägt die lebendige Natur, ihr bleibt er bei aller Vergeistigung verfallen, aus ihr
zieht er die Kräfte und Stoffe für jegliche Sublimierung. Deshalb drängt von selbst die
Forderung nach einer philosophischen Anthropologie auf die Forderung nach einer
philosophischen Biologie“.22 Die philosophische Biologie ist die von Plessner konzipierte
philosophische Theorie der Ordnung des kategorial Früheren und Späteren, in der das Leben
als der Grundaspekt fungiert, unter dem geistig-geschichtliche Subjektivität ihren Ort im
Ganzen der körperlichen Natur gewinnt und der den physischen und den geistigen Aspekt des
Menschen vereint.
2. Nicolai Hartmann und die Konzeption der allgemeinen Kategorienlehre
Als Plessner Die Stufen des Organischen und der Mensch publizierte, galt Nicolai Hartmann
bereits als einer der wichtigsten Philosophen in Deutschland. Neben den Büchern Platos
Logik des Seins (1909), Philosophische Grundfragen der Biologie (1912), dem ersten Band
der zweibändigen Philosophie des deutschen Idealismus (1923) sowie einer Reihe von
Aufsätzen waren bereits die Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921, 21925) und
die Ethik (1926) erschienen.23 Hartmann war von 1920 an Professor in Marburg, trat dort
1922 die Nachfolge von Paul Natorp an und wechselte 1925 nach Köln, wo auch Scheler als
Professor und Plessner als Privatdozent lehrten. Diese „Kölner Konstellation“ bildete den
Nährboden, auf dem sich der Denkansatz der Philosophischen Anthropologie entwickelte,24
der 1927 bzw. 1928 in unterschiedlicher Ausprägung in Max Schelers „Die Sonderstellung
des Menschen“25 und eben in Plessners Die Stufen des Organischen Gestalt gewann.
21 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. III, S. 66. 22 Ebd., S. 76. 23 Siehe die Hartmann-Bibliographie von Theodor Ballauff in: H. Heimsoeth, R. Heiß (Hrsg.), Nicolai
Hartmann. Der Denker und sein Werk, Göttingen 1952, S. 286-312. 24 Vgl. J. Fischer, „Neue Ontologie und Philosophische Anthropologie. Die Kölner Konstellation zwischen
Scheler, Hartmann und Plessner“, in: G. Hartung, M. Wunsch, C. Strube (Hrsg.), Von der Systemphilosophie zur
systematischen Philosophie, S. 131-151. 25 M. Scheler, „Die Sonderstellung des Menschen“, in: Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensgestaltung. 8.
Buch: Mensch und Erde, hrsg. v. Graf Hermann Keyserling. Darmstadt 1927, S. 161-254. Später als
Separatveröffentlichung: M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos [1928], heute in: ders., Späte
Schriften (= Gesammelte Werke, Bd. 9), hrsg. v. Manfred Frings. Bonn 21995, S. 7-71. – Auf die systematische
Bedeutung von Hartmann für Schelers anthropologischen Ansatz bin ich ausführlich eingegangen in M. Wunsch,
„Zur Standardkritik an Max Schelers Anthropologie und ihren Grenzen. Ein Plädoyer für Nicolai Hartmanns
8
Worin Hartmanns Beitrag zur Entwicklung der Denkrichtung der modernen
philosophischen Anthropologie genau besteht, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Das
hängt damit zusammen, dass der wichtigste Einfluss Hartmanns vom Kernbereich seines
eigenen Ansatzes einer „Neuen Ontologie“ her erläutert werden muss, dies aber insofern ein
Anachronismus zu sein scheint, als Hartmann die vier Bände seiner Ontologie erst in seiner
1931 beginnenden Berliner Zeit publiziert. Als der erste Band Zur Grundlegung der
Ontologie (1935) erscheint,26 war Scheler bereits seit sieben Jahren tot und Plessner zur
Emigration gezwungen worden. Für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Hartmann und
der Philosophischen Anthropologie ist daher entscheidend, dass die Entstehungszeit der
Neuen Ontologie in die Zeit der Kölner Dreierkonstellation und noch etwas weiter
zurückreicht.
Einen „vorläufigen Begriff der Ontologie“ hatte Hartmann bereits in der ersten Auflage
der Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921) formuliert. Die „kritisch-analytische
Ontologie“, die er dort in Aussicht stellt, hat zwei Aufgaben. In negativer Hinsicht soll sie die
alte Ontologie zurückweisen, die vor allem darin fehlgehe, logische Strukturen fraglos auf die
Seinssphäre zu übertragen.27 In positiver Hinsicht sucht Hartmann einen „Mittelweg“
zwischen den Extremen eines naiven Realismus und den spekulativen Positionen des
Idealismus. Er ruft damit die Zwei-Klippen-Metaphorik Kants auf, die ja auch im Hintergrund
von Plessners Ausgangsdiagnose steht. Während seine Ontologie gegen den naiven Realismus
die „Adäquatheitsthese“ preisgibt, dass sich Erkenntnisbild und Seiendes decken, geht sie
gegen die spekulativen Standpunkte von der schon für den Alltagsverstand charakteristischen
„Realitätsthese“ aus.28 Die Option für die Realitätsthese ist noch keine Parteinahme für die
philosophische Theorie des Realismus, sondern gehört zur „Ausgangsstellung diesseits von
Idealismus und Realismus“.29 Der Ontologie geht es um das Seiende als Seiendes und dieses
Kategorienlehre“. XXII. Deutscher Kongress für Philosophie, 11.-15.09.2011, München 2011. Online im
Internet: URL: http://epub.ub.uni-muenchen.de/12502/ (Stand: 15.01.2014) 26 Neben Zur Grundlegung der Ontologie (1935) bilden Möglichkeit und Wirklichkeit (1938), Der Aufbau der
realen Welt (1940) und Philosophie der Natur (1950) die vierbändige Ontologie Hartmanns. 27 N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Erste Auflage: Berlin, Leipzig 1921, S. 144 f. Für
die 1925 erschienene zweite Auflage (und die folgenden Auflagen) des Buchs hat Hartmann die Grundlinie
seiner Kritik an der alten Ontologie weiter gezogen. Er wirft dieser vor, eine „zweifache Identitätsthese“ zu
vertreten: Die erste setzt die Seinsform der Dinge bzw. die reale Seinsform einerseits und die logische Form,
allgemeiner gesagt, die ideale Seinsform andererseits gleich und die zweite Identitätsthese knüpft das Reich der
idealen Seinsform an das Reich des reinen Denkens. N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis,
Zweite, ergänzte Auflage: Berlin, Leipzig 1925, S. 182 ff.; Vierte Auflage: Berlin 1949, S. 188 ff. 28 N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Erste Auflage, S. 146; Vierte Auflage: Berlin
1949, S. 188. 29 N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Erste Auflage, S. 147; Vierte Auflage, S. 194.
„Diesseits von Idealismus und Realismus“ ist zugleich der Titel eines bekannten Aufsatzes von Hartmann aus
dem Jahr 1924; inzwischen in: N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, S. 19-66.
9
ist „offenbar nicht Seiendes als gesetztes, gemeintes, vorgestelltes“, „nicht Seiendes als
subjektbezogenes, nicht als Gegenstand“, sondern Seiendes „als etwas, was auch ohne
Gegenstehen und unabhängig von ihm ist, was es ist.“30 Die Realitätsthese gehört also zu dem
Phänomen selbst, das es in der Ontologie aufzuklären gilt.
Hartmann hat sein Vorhaben, die alte Ontologie zurückzuweisen und einen Mittelweg
zwischen extremen Positionen zu finden, in zwei Aufsätzen konkretisiert, die als
Schlüsseltexte für die Entwicklung seiner eigenen Position gelten müssen. Bei diesen
Aufsätzen handelt es sich um „Wie ist kritische Ontologie überhaupt möglich?“ (1924) und
„Kategoriale Gesetze“ (1926).31 Beide tragen mit „Ein Kapitel zur Grundlegung der
allgemeinen Kategorienlehre“ denselben Untertitel. Ihre Grundgedanken hat Hartmann später
in den „Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre“ integriert, den er 1940 unter dem Titel
„Der Aufbau der realen Welt“ als dritten Band seiner Ontologie veröffentlicht hat. Hartmanns
philosophisches Programm besteht in der umfassenden Neukonzeption der Ontologie im
Rahmen einer an der ganzen Breite der Erfahrung orientierten Kategorialanalyse. Dabei beruft
er sich auf die alltägliche, die wissenschaftliche und die philosophische Erfahrung. Letztere
zeigt uns, was „in dem geschichtlichen Gange menschlicher Denkarbeit als eine lange Reihe
von Versuchen, Fehlschlägen und Selbstkorrekturen verzeichnet ist.“32 Wir benötigen sie vor
allem deshalb, weil der Etablierung der neuen Ontologie die Kritik der alten vorausgehen
muss. Hartmann widmet sich dieser Kritik im Hauptteil seines Aufsatzes „Wie ist kritische
Ontologie überhaupt möglich?“, in dem er in systematischer Weise die typischen Fehler der
traditionellen Kategorienforschung aufdecken möchte.33
In „Kategoriale Gesetze“ dagegen entwirft Hartmann die Grundzüge seiner eigenen,
neuen Ontologie. Hier geht es ihm um „die Herausarbeitung der elementaren Gesetze, die das
Kategorienreich überhaupt beherrschen“.34 Diese Gesetze bilden die Struktur der von ihm
konzipierten Schichtenontologie. Hartmann unterscheidet mit dem Anorganischen, dem
Organischen, dem Seelischen und dem Geistigen vier Schichten des realen Seins. Dabei
handelt es sich nicht um Schichten von Dingen, sondern um Kategorienschichten. Wenn
30 N. Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin 1965, S. 39, S. 49. 31 Die beiden Aufsätze sind kürzlich in einem Studienbuch zu Nicolai Hartmann publiziert worden („Kategoriale
Gesetze“ übrigens das erste Mal seit seinem Erscheinen). N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie und
Anthropologie, S. 71-116 u. S. 123-176. 32 Vgl. dazu N. Hartmann, „Neue Wege der Ontologie“, in: Ders. (Hrsg.), Systematische Philosophie, Stuttgart,
Berlin 1942, S. 199-311, hier S. 214. 33 Zur Konzeption von Hartmanns „Wie ist kritische Ontologie überhaupt möglich?“ siehe die einführende
Kommentierung des Aufsatzes durch G. Hartung und M. Wunsch in N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie
und Anthropologie, S. 67-70, und K. R. Peterson, „An Introduction to Hartmann’s Critical Ontology“, in:
Axiomathes, 22/2012, S. 291-314. 34 N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 124 f. Anm. 1.
10
Hartmann erklärt, dass Kategorien „Prinzipien aller und jeder Art“ sind, weist er darauf hin,
dass es neben den genuinen Kategorien der Schichten des realen Seins, d. h. den
Realkategorien, auch Idealkategorien, Erkenntniskategorien und axiologische Kategorien
gibt.35 Den Realkategorien als Prinzipien des realen Seins korreliert das durch sie
determinierte Konkrete; es muss in methodischer Hinsicht als Ausgangspunkt des
erfahrungsgestützten analytischen Verfahrens der Identifizierung der Kategorien gelten.36 Die
kategorialen Gesetze bilden die Struktur des Schichtenbaus der Realkategorien. Sie ordnen
sich zu vier Gruppen und betreffen erstens den Status und die Geltungsweise der Kategorien
(Geltungsgesetze), zweitens die holistisch konzipierten Binnenverhältnisse innerhalb der
Kategorienschichten (Kohärenzgesetze), drittens die strukturellen Aspekte der vertikalen
Ordnung der Kategorienschichten (Schichtungsgesetze) und viertens die Bedingungs- und
Abhängigkeitsverhältnisse dieser vertikalen Schichtenordnung (Abhängigkeitsgesetze).37
3. Ontologische Grundlagen von Die Stufen des Organischen und der Mensch
3.1 Die Auflösung der kategorialen Pattsituation und die Kategorie des Lebendigen
Meine These ist, dass der von Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch
konzipierte Ansatz, den ich im ersten Abschnitt meiner Ausführungen dargestellt habe, seine
ontologischen Grundlagen in der von Hartmann seit den frühen 1920er Jahren entwickelten
Position hat, die ich im zweiten Abschnitt skizziert habe.
Plessner ist von der Diagnose einer kategorialen Pattsituation zwischen materialistisch-
empiristischen und idealistisch-aprioristischen Philosophiekonzeptionen ausgegangen. Seines
Erachtens lässt sich diese Situation nicht zugunsten einer der Konzeptionen argumentativ
auflösen. Im Grunde genommen bedarf daher die von ihm beabsichtigte Grundlegung der
Anthropologie einer philosophischen Neuausrichtung. An dieser Stelle kommt Hartmann ins
Spiel. Er hat die genannte Diagnose selbst schon zuvor aufgebracht und auch Abhilfe für das
aus ihr resultierende systematische Problem vorgeschlagen. In „Wie ist kritische Ontologie
überhaupt möglich?“ stellt er als einen typischen Fehler der alten Ontologie den „Fehler der
Heterogenität“ heraus. Der Fehler wird von solchen Theorien begangen, die „die Prinzipien
einer bestimmten Gruppe von Erscheinungen verallgemeinern und über ihren natürlichen
35 N. Hartmann, „Wie ist kritische Ontologie überhaupt möglich?“, S. 78. 36 N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 130. 37 Vgl. dazu G. Hartung, M. Wunsch, „Einleitung zu ‚Kategoriale Gesetze‘“, in: N. Hartmann, Studien zur Neuen
Ontologie und Anthropologie, S. 119-121; siehe bei Hartmann selbst, „Kategoriale Gesetze“, S. 135 ff.
11
Geltungsbereich hinaus ausdehnen.“38 Als Korrektur fordert Hartmann einen ontologischen
Neuansatz, der den Weg einer „an der Eigentümlichkeit der Phänomene selbst orientierten
Kategorialanalyse“ nimmt und dadurch die illegitime kategoriale Grenzüberschreitung
vermeidet.39
Mit dem Aufsatz „Kategoriale Gesetze“ gibt er diesem Neuansatz die Gestalt einer
Schichtenontologie. Deren Struktur wird durch die genannten Gesetzestypen gebildet –
Geltungsgesetze, Kohärenzgesetze, Schichtungsgesetze und Abhängigkeitsgesetze –, die
jeweils wiederum aus vier kategorialen Gesetzen bestehen. In Hinblick auf den Fehler der
Heterogenität ist das zur Gruppe der Geltungsgesetze gehörende „Gesetz der
Schichtenzugehörigkeit“ einschlägig: „Jede Kategorienschicht ist zunächst und unmittelbar
determinierend nur für die ihr zugehörige Schicht des Konkretums; außerhalb ihrer kann ihre
Geltung, wenn überhaupt, so nur modifiziert bestehen.“40 Hartmanns Idee ist, dass Kategorien
ursprünglich zu genau einer Kategorienschicht gehören und entsprechend auch nur für
bestimmte Züge des Konkretums gelten. Wo also ursprünglich niedere Kategorien als
Kategorien höheren Seins gelten, wie beim Biologismus oder Psychologismus, oder wo
ursprünglich höhere Kategorien als Kategorien niederen Seins gelten, wie beim
Teleologismus oder Anthropomorphismus, da liegt ein Verstoß gegen das Gesetz der
Schichtenzugehörigkeit vor.41
Das für die Entwicklung einer philosophischen Biologie vordringlichste Problem ist die
adäquate Erfassung der Grundkategorie des Lebendigen. Viele Versuche, dieses Problem zu
lösen, können als exemplarische Beispiele für den Fehler der Heterogenität gelten. In seiner
Erläuterung des Gesetzes der Schichtenzugehörigkeit schreibt Hartmann entsprechend: „Wer
z. B. organisches Sein und Lebendigkeit aus mechanischen Kräften und
Kausalzusammenhängen erklären will, verstößt gegen dieses Gesetz. Er überträgt Kategorien
der leblosen Natur auf das Eigentümliche eines ganz anders gearteten Seins, und zwar eines
weit höheren.“42 An späterer Stelle fügt Hartmann hinzu: „Die mechanistische Deutung der
Lebenserscheinungen ist ebenso verkehrt wie die psychovitalistische und die teleologische.
Beide führen das organische Sein auf Kategorien zurück, die nicht ihm als solchem
eigentümlich sind und deswegen seine Eigenart vergewaltigen“.43 Plessner greift diese
Überlegungen in seiner Diskussion des Streits um den Begriff der Lebendigkeit zwischen dem
38 N. Hartmann, „Wie ist kritische Ontologie überhaupt möglich?“, S. 86. 39 Ebd., S. 87. 40 N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 136. 41 Ebd., S. 137 f. 42 Ebd., S. 137. 43 Ebd., S. 168 f.
12
modernen Mechanismus Wolfgang Köhlers und dem Neovitalismus Hans Drieschs auf.44
Während Köhler glaubt, die Ganzheitlichkeit des Lebendigen auf Gestalthaftigkeit reduzieren
zu können, bestreitet Driesch, dass dies möglich sei, und bestimmt lebendige Ganzheitlichkeit
mit Hilfe des Begriffs der Entelechie als ein irreduzibles Phänomen.
Plessner verhält sich folgendermaßen zu dem Streit. Er gesteht beiden Theorien eine
gewisse Berechtigung zu und prüft zwei Wege, ihren Konflikt aufzulösen. Der erste Weg
besteht darin, zwei verschiedene Beurteilungsstandpunkte einzuführen: „Vom Standpunkt
empirischer Naturwissenschaft müßte Köhler Recht, Driesch Unrecht behalten. Vom
Standpunkt der Anschauung, welcher bekanntlich mit dem der empirischen Feststellung nicht
voll zur Deckung zu bringen ist, behielte dagegen Driesch Recht und Köhler Unrecht.“45
Dieser Überlegung zufolge soll der Konflikt durch Relativierung der beiden Positionen auf
verschiedene Standpunkte aufgelöst werden. Meines Erachtens ist diese Strategie nicht
erfolgreich. Denn wenn man es mit zwei konfligierenden Aussagen A und B zu tun hat und
wissen will, welche von beiden wahr ist, dann hilft es nicht weiter, zu wissen, dass A aus der
Perspektive P und B aus der verschiedenartigen Perspektive Q gilt. Wir müssen zusätzlich
wissen, welche der beiden Perspektiven die richtige ist. Plessner meint nun aber, dass keine
der beiden Perspektiven – weder der Standpunkt der Naturwissenschaft noch der Standpunkt
der Anschauung – verzichtbar ist; er meint, dass beide richtig sind. Doch wenn dies der Fall
ist, besteht der Konflikt zwischen dem, was aus den verschiedenen Perspektiven behauptet
wird, fort.
Die vorgeschlagene Lösung durch Relativierung der Positionen auf verschiedene
Standpunkte ist demnach eine Scheinlösung. „[M]it einer solchen Schlichtung des Streits“, so
auch Plessner selbst, hätte man „seinen Gegenstand völlig verfehlt“; die Differenz zwischen
Köhler und Driesch betrifft nicht die Frage der richtigen Auffassungsweise des Lebendigen,
sondern das Lebendige selbst. Plessner sieht, dass es sich um einen ontologischen Streit
handelt. Dies eröffnet ihm aber vor dem Hartmann’schen Hintergrund einen anderen Weg,
den Konflikt aufzulösen: Dass „Köhler nur im Rahmen exakter Feststellbarkeit, Driesch aber
im Rahmen der vollen, methodisch nicht restringierten Anschauung Recht hat“, besagt seines
Erachtens „eine Trennung im Gegenstande“ zwischen verschiedenen „Schichten“, eine
Trennung von „verschiedenen ontischen Ebenen“ des Gegenstandes.46 Plessner übernimmt
44 Vgl. dazu K. Köchy, „Organismen und Maschinen. Das historische Fallbeispiel der Debatte von Plessner,
Driesch und Köhler“, in: G. Toepfer, F. Michelini (Hrsg.), Organismen, Freiburg, München 2014 (im Druck), 25
Seiten. 45 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 105. 46 Ebd., S. 106, S. 109.
13
damit den Gedanken Hartmanns, dass reale Dinge geschichtet sind. Das erlaubt es ihm,
Köhler und Driesch in bestimmten Grenzen zuzustimmen, ihre unterschiedlichen
Perspektiven zu respektieren und ihren Streit zu schlichten.
Dass Gegenstände tatsächlich verschiedene Schichten haben, bedarf allerdings einer
eigenen Begründung. Es gilt, für jede behauptete Schicht eine Gruppe von ihr zugehörigen
und irreduziblen Kategorien auszuweisen. Plessner widmet sich dieser Aufgabe in Bezug auf
die Vitalkategorien. Seine philosophische Biologie wird daher zu einer „Lehre von den
Wesensgesetzen oder Kategorien des Lebens“.47 Ihre Hauptaufgabe besteht dann
entsprechend in der „systematischen Begründung“ bzw. der „Deduktion“ solcher
Vitalkategorien.48 Da es mir um die Klärung der ontologischen Grundlagen von Plessners
Konzeption geht, kann ich auf seine Ausarbeitung und Durchführung der Deduktionsaufgabe
hier nicht eingehen.49 Für mein Vorhaben ist jedoch ein grundsätzlicher Einwand gegen den
schichtenontologischen Ansatz von großer Bedeutung. Er besagt, dass mit der Auffassung,
reale Dinge seien geschichtet, der Gedanke der Einheit dieser Dinge preisgegeben wird.
Plessner setzt sich selbst nicht mit dem Einwand auseinander. Daher liegt es nahe zu
prüfen, ob es in Hartmanns Ontologie Ressourcen gibt, ihm zu begegnen. Sie finden sich dort
in der Tat, und zwar vor allem in den Schichtungsgesetzen, die, wie bereits erwähnt,
strukturelle Aspekte der vertikalen Ordnung der Kategorienschichten behandeln. Dass
überhaupt eine strukturelle Verschiedenheit der Schichten besteht, liegt daran, dass die höhere
kategoriale Struktur jeweils eine „neu hinzutretende Einheit aus einem Guß“ ist und die
höheren Kategorien „ein spezifisches Novum“ zeigen (Gesetz des Novums).50 Die
Schichtenverschiedenheit steht allerdings einer engen Schichtenbindung nicht entgegen. Im
Gegenteil, das Gesetz des Novums basiert geradezu auf einem solchen Zusammenhang, weil
die höhere Kategorie zwar nicht in niederen Elementen oder deren Summe aufgeht, aber
strukturell aus ihnen zusammengesetzt ist. Die Schichtenbindung selbst wird durch das Gesetz
der Wiederkehr und das Gesetz der Abwandlung geregelt, die besagen, dass jede Kategorie
einer niederen Schicht auf den höheren Schichten wieder auftaucht und bei dieser Wiederkehr
von der höheren Struktur beeinflusst und abgewandelt wird.51 Hartmann zufolge sorgen diese
47 Ebd., S. 76, vgl. S. 65 f. 48 Ebd., S. 66, S. 122. 49 Die bislang umfassendste Rekonstruktion von Plessners Deduktion der Vitalkategorien liefert O. Mitscherlich,
Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie, Berlin 2007. 50 N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 153, S. 150. 51 Hartmann hat die strikte Formulierung des Gesetzes der Wiederkehr, dass alle niederen Kategorien
wiederkehren, später zugunsten der Fassung abgeschwächt, dass einige Kategorien jeder niederen Schicht
wiederkehren. Er meint jedoch, das genüge, „um eine außerordentlich straffe und eindeutige Verbundenheit der
14
beiden Gesetze für eine durchgehende Verbindung der Schichten.52 Seine Schichtenontologie
ist also bereits strukturell so angelegt, dass die Einheit mehrschichtiger realer Dinge nicht
gefährdet wird. Davon kann auch Plessners Ansatz profitieren.
3.2 Zur Ausgangsfrage von Die Stufen des Organischen und ihrer Bearbeitung
Dass Hartmanns Schichtenlehre als ontologische Grundlage von Plessners Ansatz gelten
kann, zeigt sich auch in Bezug auf dessen Ausgangsfrage. Wie im ersten Abschnitt erörtert,
fragt Plessner, unter welchen Bedingungen eine Betrachtung des Menschen als Subjekt
geistig-geschichtlicher Wirklichkeit erfolgen kann, die auf naturphilosophische Weise und in
Orientierung an der körperlichen Natur in der Richtung vom kategorial Früheren zum
kategorial Späteren durchgeführt wird. Meines Erachtens sind die fraglichen Bedingungen
ontologischer Art und lassen sich mit Hilfe von Hartmanns Schichtenlehre artikulieren. Seine
Schichtenontologie kann als philosophische Theorie der Ordnung des kategorial Früheren und
Späteren gelten. „Früher“ sind dabei die Kategorien der niederen Schichten und „später“ die
der höheren Schichten, und zwar jeweils in einer doppelten Hinsicht. Die niederen Kategorien
sind erstens schichtungsgesetzlich „früher“, weil sie es sind, die auf den höheren Schichten
abgewandelt wiederkehren, während umgekehrt die höheren Kategorien nicht auf niederen
Schichten, sondern ebenfalls nur auf noch höheren Schichten wiederkehren. Zweitens sind die
niederen Kategorien aber auch abhängigkeitsgesetzlich in einem nicht umkehrbaren Sinn
„früher“. Verantwortlich dafür ist das von Hartmann als „kategoriales Grundgesetz“ oder
„Gesetz der Stärke“ bezeichnete erste Abhängigkeitsgesetz. Es besagt, dass jede höhere
Kategorie „immer eine Reihe niederer schon voraus[setzt], aber ihrerseits in diesen nicht
vorausgesetzt“ ist, „also allemal die bedingtere, abhängigere und in diesem Sinn schwächere“
ist.53 Die wichtigste Konsequenz des Gesetzes ist, dass die von den Kategorien der höheren
Seinsschichten im Aufbau der realen Welt zu ergeben“. Vgl. dazu N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 150,
mit N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 437. 52 Die durchgehende Verbindung der Schichten wird durch gewisse Fundamentalkategorien noch verstärkt, deren
Ursprung nicht auf irgendeiner Schicht des realen Seins liegt, die aber selbst eine Kategorienschicht, und zwar
die der Seinsgegensätze ausmachen. In Hartmanns ausgeführter Lehre der Fundamentalkategorien machen die
Seinsgegensätze neben den Modalkategorien und den kategorialen Gesetzen eine von drei Gruppen aus. Siehe
N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, S. 184-188. Zu diesen Seinsgegensätzen zählt Hartmann „Einheit und
Mannigfaltigkeit, Polarität und Dimension, Kontinuum und Diskretum, Prinzip und Konkretum, Sein und
Nichtsein“; sie kehren an allen Kategorien der Reihe der Realschichten wieder, sodass sie den gesamten
Schichtenbau der realen Welt strahlenartig durchlaufen und über die abgewandelte Wiederkehr von
Realkategorien hinaus weiter verzahnen. N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 133, S. 153 f. 53 Vgl. N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 161.
15
Schicht ausgehende Determination grundsätzlich nicht gegen die der niederen Kategorien
gehen kann.54
Der theoretische Rahmen der Schichtenontologie erlaubt es, das Leben mit Plessner als
einen „Grundaspekt“ zu bestimmen, mit dem sich der physische und der geistige Aspekt des
Menschen vereinen lassen und der der evolutionsbiologischen Einsicht gerecht wird, dass
Menschen durch und durch Naturwesen sind. Denn das Leben ist eine Grundkategorie, die
ursprünglich auf der Schicht des organischen Seins einsetzt, aber auf der des seelischen Seins
und dann des geistigen Seins abgewandelt und in neuer Konstellation wiederkehrt. Dabei
kann es dem Gesetz der Stärke zufolge nicht zu einer kategorialen Rückbestimmung derart
kommen, dass höhere Kategorien kategoriale Strukturen niederer Schichten bestimmen.55 Das
bedeutet jedoch umgekehrt nicht, dass kein Raum für die Selbständigkeit des geistigen
Aspekts des menschlichen Lebens bliebe. Hartmann spezifiziert die Selbständigkeit der
höheren Kategorien durch zwei Abhängigkeitsgesetze, die das Gesetz der Stärke
ausbalancieren. Die höheren Kategorien sind zwar von den in sie eingehenden niederen
Kategorien existenzabhängig, aber erstens sind diese für sie nur Materie, das heißt die
Bildung der höheren Kategorien ist nur durch die Bestimmtheit und Eigenart dieser Materie
beschränkt (Gesetz der Materie), und zweitens sind die höheren Kategorien gegenüber den in
sie eingehenden niederen Kategorien eine „neuartige, inhaltlich überlegene Formung“ (Gesetz
der Freiheit).56 Die Kategorien, die zur geistigen Schicht des Menschen gehören, sind auf
diese Weise selbständig und das heißt, es handelt sich um eine „Selbständigkeit in der
Abhängigkeit“.57
Plessner bezeichnet die sich vom organischen über das seelische bis zum geistigen Sein
durchziehende Grundkategorie des Lebens als „Positionalität“. Dem liegt eine Diskussion der
Erscheinungsweise belebter im Unterschied zu unbelebten Dingen zugrunde. Plessners
54 Ebd., S. 164. 55 Als Beispiel für den Versuch einer solchen kategorialen Rückbestimmung kann etwa ein Konstruktivismus
gelten, der behauptet, dass wir als kulturelle, soziale oder geistige Wesen die Grundstruktur der Natur allererst
festlegen. 56 Vgl. N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 162. 57 Hartmann selbst hat in einem späteren Text die Formulierung „Selbständigkeit in der Abhängigkeit“
verwendet. N. Hartmann, „Neue Wege der Ontologie“, S. 231, vgl. S. 271. Seine dortigen Äußerungen lassen
sich als Kommentar zu Plessners Die Stufen des Organischen lesen: „Die neue Anthropologie […] hat Raum für
die Autonomie des geistigen Lebens, weiß aber mit ihr die organische Seinsschicht zu vereinigen. Das ist nur
möglich, wenn man bestimmte ontologische Anschauungen zugrunde legt.“ (Ebd., S. 231) Dieser letzte Satz
lässt sich als eine implizite Kritik an Arnold Gehlen lesen, der die Schichtenontologie in seinem 1940
erschienenem Buch Der Mensch abgelehnt hatte; was Hartmann nicht davon abgehalten hat Gehlens Buch in
einem Rezensionsaufsatz sehr positiv zu besprechen. Zu den Hintergründen und Belegen siehe G. Hartung,
M. Wunsch, „Grundzüge und Aktualität von Nicolai Hartmanns Neuer Ontologie und Anthropologie“, in:
N. Hartmann, Studien zur Neuen Ontologie und Anthropologie, S. 6 f. In dem Band findet sich auch der
erwähnte Rezensionsaufsatz Hartmanns, Ebd., S. 315-332.
16
Hypothese ist, dass diejenigen Dinge als lebendig gelten, die uns als in einem dynamischen
Verhältnis von wechselseitig aufeinander bezogenem Innen und Außen stehend erscheinen,
das durch eine ebenfalls erscheinende und dem Ding selbst angehörende Grenze vermittelt
wird, die als Ansatz- und Umschlagspunkt für die Richtungen von Innen nach Außen und von
Außen nach Innen fungiert. Der positionale Charakter eines Dinges ist entsprechend
derjenige, der „es einerseits über es hinaus setzt (streng genommen: außerhalb seiner setzt),
andererseits in es hineinsetzt (in ihm setzt)“.58 Plessner begreift Positionalität als den sich
durch alles Leben bis hin zum menschlichen ziehenden naturphilosophischen Grundzug. Da
er seine gesamte Untersuchung an der körperlichen Natur und damit an Dingen orientiert,
nimmt seine Anknüpfung an Hartmanns Ontologie eine spezifische Form an. Er formuliert
seine Grundlegung der Anthropologie weniger in Begriffen von Kategorienschichten als
vielmehr in der Terminologie von Entitätenstufen. Das zeigt sich schon daran, dass im Titel
seines Buchs von „Stufen des Organischen“ die Rede ist.
Den sachlichen Zusammenhang zwischen Schichten und Stufen macht eine einfache
Überlegung verständlich. Die Kategorienschichten sind die strukturelle Grundlage von
Seinsschichten, die sich in realen Entitäten in einer Weise überlagern, die eine Stufenordnung
dieser Entitäten begründet59: Je mehr Schichten sich in einer Entität überlagern, desto höher
die ontologische Stufe der Entität. Auf diese Weise korrespondiert der Schichtenfolge
„anorganisches, organisches, seelisches und geistiges Sein“ die Stufenordnung „materieller
Körper, Lebewesen, Lebewesen mit Bewusstsein, geistiges Lebewesen“. In Pflanzen etwa
überlagern sich die Schichten des anorganischen und organischen Seins, in Menschen alle
vier Schichten des realen Seins. Pflanzen gehören daher zur Stufe der Lebewesen, Menschen
aber darüber hinaus zu der der geistigen Lebewesen oder Personen.60 Was Plessner in Die
Stufen des Organischen entwickelt, ist eine Theorie der Positionalitätsstufen. Das spiegelt
sich in der Kapitelstruktur des Buchs wider. Nach der Einführung (Kap. 1), der
Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus (Kap. 2)61 und der Formulierung der „These“
(Kap. 3) startet die Stufenlehre ausgehend von dem Unterschied zwischen unbelebten und
58 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 128 f. 59 Vgl. N. Hartmann, „Kategoriale Gesetze“, S. 132. 60 Im Rahmen einer Stufenontologie des Realen gehören alle realen Dinge zu Stufen. Selbstverständlich bilden
aber nicht alle Entitäten einer bestimmten Art eine eigene Stufe. Pflanzen sind dafür ein gutes Beispiel. Die
ontologische Stufenbildung sollte nicht gegen das Wohlgeformtheitskriterium verstoßen, dass jede Entität der
Stufe k+1 auch eine Entität der Stufe k ist. Es gibt also keine Stufe der Pflanze, weil nicht auch alle
höherstufigen Entitäten Pflanzen sind. 61 Dass Plessner auch in seiner Auseinandersetzung mit dem „Cartesianischen Alternativprinzip“ an Hartmann
anknüpft, zeigt S. Pietrowicz, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen
Denkens, Freiburg, München 1992, S. 52 f., S. 56-58, S. 61-64.
17
belebten Körpern sowie dem Positionalitätsbegriff (Kap. 4): Zur ersten Positionalitätsstufe
gehören alle Lebewesen, unabhängig davon, ob sie offen oder geschlossen organisiert sind
(Kap. 5); die „Positionalität der geschlossenen Form“ bildet die zweite Stufe und ist den
Tieren (inklusive den Menschen) vorbehalten (Kap. 6); die dritte Stufe ist die der
„exzentrischen Positionalität“, das heißt die der Menschen bzw. der Personen (Kap. 7).62
Plessners Betrachtung des Menschen als Subjekt geistig-geschichtlicher Wirklichkeit
unter den Bedingungen der Schichten- oder, genauer gesagt, der Stufenontologie kulminiert
im Konzept der exzentrischen Positionalität. Die Kategorie der exzentrischen Positionalität
ergibt sich in dieser Hinsicht als Resultat des naturphilosophischen Aufstiegs einer
Stufenfolge, die in Orientierung an der körperlichen Natur vom kategorial Früheren zum
kategorial Späteren, also den Seinsbestimmungen der positionierten Dinge überhaupt zu
denen der exzentrischen positionierten Dinge verläuft. Die ersteren kehren zunächst bei den
Dingen, die durch die Positionalität der geschlossenen Form gekennzeichnet sind,
abgewandelt wieder und bilden die Materie für neuartige kategoriale Formungen, wobei sie
allerdings die stärkeren bleiben. Im Übergang von der zweiten Positionalitätsstufe zur Stufe
der exzentrischen Positionalität setzt sich das fort: „Ist das Leben des Tiers zentrisch, so ist
das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr
heraus, exzentrisch“.63 „Exzentrische Positionalität“ erfasst den Menschen demnach in einem
naturphilosophischen Horizont als ein geistiges Wesen, das entsprechend der Hartmann’schen
Formel von der „Selbständigkeit in der Abhängigkeit“ lebensgebunden ist.
4. Anthropologische Grundlagen von Das Problem des geistigen Seins
Hartmann ist von Plessners Die Stufen des Organischen beeindruckt gewesen. In seinem 1933
erschienenen Das Problem des geistigen Seins knüpft er in einem Abschnitt über das geistige
Individuum affirmativ an dessen Konzeption der exzentrischen Positionalität an. Diese
ermöglicht es Hartmann, den personalen Geist, der bei ihm eine Grundkategorie des geistigen
Seins ist, in die vertikale Ordnung seiner Ontologie zu integrieren. Im Zentrum steht dabei die
Kategorie des Bewusstseins, das auf der Schicht des seelischen Seins als ein Novum einsetzt.
Es ist nicht auf das es tragende organische Sein reduzierbar, bleibt aber „in die
62 Vgl. dazu M. Wunsch, „Stufenontologien der menschlichen Person“, in: I. Römer, M. Wunsch (Hrsg.),
Person: Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven, ethica, Bd. 26, Münster 2013, S.
237-256, hier S. 242 f. – Auf die inhaltliche Bedeutung der „exzentrischen Positionalität“ gehe ich im folgenden
Abschnitt näher ein. 63 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 291 f.
18
Vitalfunktionen“ und „den Dienst des Organischen“ eingespannt.64 Diese für die Tiere
charakteristische Kategorie des Bewusstseins bildet die ontologische Basis für eine neue
Bewusstseinskategorie auf der Schicht des geistigen Seins, das geistige Bewusstsein, wie es
für Menschen kennzeichnend ist. Hartmann konzipiert die kategoriale Differenz zwischen
dem geistlosen und dem geistigen Bewusstsein in explizitem Rekurs auf Plessners
Stufenunterschied zwischen der Positionalität der geschlossenen Form und der exzentrischen
Positionalität. Er konzentriert sich dabei auf das jeweilige Weltverhältnis: Während die Welt
für den Träger des geistlosen Bewusstseins auf ihn zentriert und daher einfach nur „Umwelt“
ist, gibt sich der Träger des geistigen Bewusstseins eine „von ihr aus gesehen“ exzentrische
Stellung. Dass die Welt ihr „Zentrum außer ihm hat“, bedeutet, dass er sich auf sie (statt
umgekehrt sie auf sich) ausrichtet und sie für ihn in vielem besteht, „das in keiner Weise ihm
gilt“.65 Mit dem geistigen Bewusstsein kommt also eine Distanz zu den Sachen inklusive des
eigenen Körperleibs und zur eigenen zentrischen Perspektive ins Spiel, die ein neuartiges
Weltverhältnis begründet.
Das geistige Bewusstsein ist das Bewusstsein von Personen. Für Hartmanns Konzeption
der Personalität ist es von großer Bedeutung, dass er das Personsein primär durch relationale
Grundzüge bestimmt sieht.66 So betont er von Beginn an, dass die Welt, mit der das geistige
Bewusstsein in Beziehung steht, in erster Linie die Welt ist, „in der es als ein Mitlebendes
steht“. Das primäre Pendant zur „Umwelt“ des geistlosen Bewusstseins ist daher die
„Mitwelt“ des geistigen.67 Die am Begriff der Mitwelt orientierte Akzentuierung des
neuartigen Weltverhältnisses hat eine Reihe von wichtigen anthropologischen Konsequenzen:
Erstens wird die Welt als eine gemeinsame geistige Sphäre begriffen. In ihr stehen die
Personen zusammen, aber sie selbst ist nicht durch Personalität und deren Kategorien
bestimmt. Hartmann führt, um ihre Struktur zu fassen, den Begriff des objektiven Geistes als
die neben dem personalen Geist zweite Grundkategorie des geistigen Seins ein.68 Zweitens
64 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie
und der Geisteswissenschaften, 2. Aufl., Berlin 1949, S. 16, S. 108 f. 65 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 110 f. Dass die exzentrische Stellung des Menschen hier so
konzipiert ist, dass die Welt ihr „Zentrum außer ihm hat“, ist meines Erachtens in Abgrenzung zu Scheler zu
lesen, der ‚Weltexzentrizität‘ umgekehrt so versteht, dass der Mensch sein Zentrum „außerhalb und jenseits der
Welt“ hat. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 69, S. 38. 66 Zu Hartmanns relationalem Denken der Person siehe ausführlich seine Bestimmungen in dem Kapitel
„Personalität als Realkategorie“, in: N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 130-143, und die
diesbezügliche Zusammenfassung, S. 175. 67 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 110 f. Vgl. insbesondere S. 111: „Aus der ‚Umwelt‘, die ein
bloßes Feld der Triebe ist, wird eine ‚Mitwelt‘, mit der der Mensch lebt.“ 68 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 126. Zu Hartmanns Konzeption des objektiven Geistes in
ihrem historischen und systematischen Zusammenhang siehe A. Da Re, „Objective Spirit and Personal Spirit in
Hartmann’s Philosophy“, in: Axiomathes 12/2001, S. 317-326. – Insgesamt unterscheidet Hartmann drei
19
erschöpft sich das Weltverhältnis des Menschen, wenn Welt primär Mitwelt ist, nicht im
„Für-ihn-Sein der Welt“, sondern als ebenso grundlegend muss sein „eigenes Für-die-Welt-
Sein“ gelten, also das, was er vom Horizont der anderen her ist und sein soll.69 Drittens wird,
indem das Welt- in erster Linie als ein Mitweltverhältnis gefasst wird, das für die traditionelle
Konzeption des menschlichen Weltverhältnisses kennzeichnende Primat des Theoretischen
aufgegeben. Denn wenn die Grundbeziehung nicht die zu den Objekten der Außenwelt,
sondern die zu anderen Menschen der Mitwelt ist, dann ist sie nicht primär die eines
erkennenden Subjekts, sondern die „der handelnden und Behandlung erfahrenden Person“.
Das gilt Hartmann zufolge für das gesamte Mensch-Welt-Verhältnis. Das bedeutet, dass
gegenüber dem in der philosophischen Tradition betonten „ich denke“ der Aspekt des
Handelns und damit das „ich arbeite“, „ich will etwas“, „ich finde mich zurecht in gegebenen
Umständen“ etc. in den Vordergrund rückt.70
Dass die Mitwelt von anthropologisch grundlegender Bedeutung ist, sah Hartmann
überzeugend in Die Stufen des Organischen und der Mensch begründet. Plessner
unterscheidet dort Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt, wobei auch für ihn die Welt primär
Mitwelt und das menschliche Weltverhältnis in erster Linie ein Mitweltverhältnis ist.
Entsprechend bringt er die Mitwelt in eine enge Beziehung zur exzentrischen Positionalität:
Sie sei „die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfasste Form der eigenen
Position.“71 Ausgangspunkt dieser Bestimmung ist jedoch nicht eine für sich bestehende
exzentrische Positionsform, die von einem schon entsprechend positionierten Wesen dann in
einem zweiten Schritt (etwa einer Art Übertragung) als die Sphäre anderer Menschen erfasst
wird. Vielmehr meint Plessner: „Die Existenz der Mitwelt ist die Bedingung der Möglichkeit,
daß ein Lebewesen sich in seiner Stellung erfassen kann“.72 Mitweltlichkeit ist demnach eine
Vorbedingung für exzentrische Positionalität und das Selbstverständnis als exzentrisch-
positioniertes Wesen.73 Entsprechend sind all unsere Selbst- und Weltbezüge grundsätzlich
mitweltimprägniert. Das „exzentrisch geformte Lebewesen“, so Plessner, ist nicht bloß
Grundkategorien des geistigen Seins: den personalen, den objektiven und den objektivierten Geist; siehe seine
einführende Übersicht in Das Problem des geistigen Seins, S. 71-73. 69 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 126. 70 Ebd., S. 127. 71 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 302. 72 Ebd., S. 302 f. 73 Bei N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, liest sich das so: „Im Verhältnis der Personen erst ist das
‚Ich‘ das, was es eigentlich ist. Es ist die innere Form des Wissens der Person um sich – im Wissen um die
anderen Personen.“ (Ebd., S. 127) „Das Charakteristische des geistigen Lebens ist gerade dieses, daß die
Einzelindividuen gar nicht für sich bestehen, ein reales isoliertes Dasein außerhalb der gemeinsamen geistigen
Lebenssphäre also gar nicht haben.“ (Ebd., S. 69)
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äußerlich, sondern „durch seine Lebensform […] in ein Mitweltverhältnis zu sich (und zu
allem was ist) gesetzt“.74
Doch so wie sich die Mitwelt der Person nicht kategorial nachordnen lässt, kann auch
umgekehrt die Person der Mitwelt nicht kategorial nachgeordnet werden. Die Mitwelt ist eine
Welt der Personen. Sie ist ihrer Möglichkeit nach ebenso an deren Existenz gebunden, wie
ihre Existenz selbst Bedingung der Möglichkeit der Personalität ist. Person und Mitwelt
lassen sich also nicht mehr in eine ontologische Stufen- oder Schichtenordnung bringen. Sie
bilden zusammen die „Welt des Geistes“ (Plessner) bzw. das „geistige Sein“ (Hartmann). In
Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch wird der Gedanke so formuliert: „Die
Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird. Zwischen
mir und mir, mir und ihm liegt die Sphäre dieser Welt des Geistes“; so „beruht der geistige
Charakter der Person in der Wir-form des eigenen Ichs, in dem durchaus einheitlichen
Umgriffensein und Umgreifen der eigenen Lebensexistenz nach dem Modus der
Exzentrizität.“75 Hartmann nimmt diesen Zusammenhang fünf Jahre später in Das Problem
des geistigen Seins auf und formuliert ihn für eine ganze Reihe von Inhaltsgebieten des
„objektiven Geistes“ im Einzelnen aus: Sprache, Wissenschaft, geltende Moral, herrschender
Geschmack und Lebensstil, Religion, Technik und bestehende politische Tendenz.
Zusammenfassend erklärt er, dass in seinem Überblick dieser Gebiete ein Grundzug, der das
Verhältnis zwischen personalem und objektivem Geist betrifft, immer wieder hervortrat:
„Dieses Verhältnis erwies sich als ein gegenseitiges Tragen und Getragensein – nämlich
einerseits als ein Übernehmen des Individuums, sein Hineinwachsen in den objektiven Geist,
das zugleich sein inhaltliches Heranwachsen an ihn ist, zugleich aber andererseits als ein
Leben des objektiven Geistes in den Individuen, das ihr Verhältnis zur gemeinsamen Welt
und mittelbar diese selbst gestaltet.“76
Indem deutlich wird, dass eine wechselseitige und dynamische Beziehung zwischen der
Mitwelt und dem objektiven Geist einerseits und der menschlichen Person andererseits
besteht, deutet sich an, dass letztere nicht nur in einer vertikalen, sondern auch in einer
horizontalen ontologischen Ordnung steht. Diese horizontale Ordnung ergibt sich aus dem
Umstand, dass die Mitwelt bzw. der objektive Geist selbst ein dynamisches Gebilde, also
kulturell sowie geschichtlich variabel ist. Neben der Dimension des Tier-Mensch-Vergleichs
eröffnet sich damit eine Vergleichsdimension, in der Menschen verschiedener Soziokulturen
74 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 305 f. 75 Ebd., S. 303. 76 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 257; vgl. etwa S. 220, S. 233 und schon S. 200.
21
und Epochen zueinander stehen. Die naturphilosophische Konzeption „von unten“ der
menschlichen Person wird also durch eine geist- und geschichtsphilosophische Konzeption
„von der Seite“ ergänzt. Die menschliche Personalität ist demnach einer vertikal-horizontalen
Doppelstruktur unterworfen. Diese Struktur ist in systematischer Hinsicht maßgeblich für
Untersuchungen zur Personalität und zugleich eröffnet sie kritische Korrekturmöglichkeiten
gegenüber solchen Ansätzen, die eindimensional entweder nur die naturphilosophische oder
nur die geschichtsphilosophische Linie verfolgen.
5. Der „fremde Stern“ des geistigen Lebens und das Medium der Exzentrizität
Während Hartmann sich in seiner Diskussion des geistigen Individuums und des Unterschieds
zwischen geistlosem und geistigem Bewusstsein explizit auf Plessners Theorie der
Positionalitätsstufen beruft77, erwähnt Plessner Hartmann in Die Stufen des Organischen ganz
selten ausdrücklich78. In der unmittelbar folgenden Zeit hat sich Plessner allerdings bei zwei
Gelegenheiten direkt mit Hartmanns Position auseinandergesetzt. Die erste ergab sich
anlässlich einer Tagung der Kant-Gesellschaft Ende Mai 1931 in Halle an der Saale.
Hartmann hielt dort seinen Vortrag „Zum Problem der Realitätsgegebenheit“, dem eine
ausführliche Diskussion folgte, an der auch Plessner teilnahm.79 Im gegenwärtigen
Zusammenhang möchte ich nur Plessners dabei artikulierte Einschätzung hervorheben, dass
Hartmann eine „anthropologische[] Wendung“ herbeigeführt habe, indem er die
Erkenntnisproblematik vom Begriff eines weltlosen und abstrakten Subjekts auf den Begriff
der konkreten Person „mit Haut und Haaren“ umgestellt und deren „Einbettung“ in die
„Seinsbeziehungen von Person zu Person und Welt sichtbar“ gemacht habe.80 Die zweite
Gelegenheit, die Plessner ergriffen hat, um zu Hartmanns Ansatz Stellung zu beziehen, war
die Publikation von Das Problem des geistigen Seins. Er hat Hartmanns Buch noch im
Erscheinungsjahr 1933 für die Kantstudien besprochen.81
77 Ebd., S. 110. 78 Eine Ausnahme ist H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 332 Anm. 1. 79 Hartmanns Vortrag, die (23 Beiträge umfassende) Diskussion und das Schlusswort des Referenten sind
kürzlich wiederveröffentlicht worden: N. Hartmann, „Zum Problem der Realitätsgegebenheit“, in: Ders., Studien
zur Neuen Ontologie und Anthropologie, S. 181-264. 80 Plessners Diskussionsbeitrag findet sich in N. Hartmann, „Zum Problem der Realitätsgegebenheit“, S. 220-
222. 81 Später wäre es ohnehin wohl nicht mehr möglich gewesen. H. Plessner, „Geistiges Sein. Über ein Buch
Nicolai Hartmanns“, in: Kantstudien 38/1933, S. 406-423. Ich zitiere den Text hier nach Plessners Schriften zur
Philosophie (= Gesammelte Schriften, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard u. E. Ströker, Bd. 9), Frankfurt a. M. 1985,
S. 73-95.
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Obwohl Plessners Rezension weitgehend positiv ausfällt, formuliert er gegen Ende des
Textes zwei Kritikpunkte. Der erste besteht darin, dass Hartmann sich zu wenig in
methodologischen Fragen engagiere und insbesondere das Verhältnis zwischen Theorie und
Beschreibung in seiner Ontologie des geistigen Seins nicht klar genug werde.82 Plessner ist
zwar mit Hartmann darin einig, dass Theorien deshalb ungenügend sein können, weil sie den
Phänomenen nicht gerecht werden oder von vorgefassten Standpunkten aus konstruiert
werden, meint aber, Hartmann postuliere zu Unrecht eine „philosophisch neutrale Zone“ bzw.
„ein noch nicht theoriebedingtes Vorfeld“, von dem her er glaube, die Phänomene rein
aufnehmen und ‚standpunktliches‘ Denken kritisieren zu können.83 Dass der Einwand gegen
ein solches Postulat in der Sache berechtigt ist, dürfte wissenschaftstheoretisch unstrittig sein.
Und es dürfte schwer fallen zu zeigen, dass er an Hartmann vorbeigeht. – Der zweite
Kritikpunkt hängt eng mit dem ersten zusammen, reicht aber noch weiter. Er liest sich
gewissermaßen als Reminiszenz an Plessners briefliche Erwähnung des „gewaltigen weißen
Fernrohrs“ in Hartmanns Studierzimmer84 und besagt, Hartmann sehe „das geistig-
geschichtliche Leben wie auf einem fremden Stern sich abspielen“.85 Was Plessner hier
moniert ist, dass Hartmann eine falsche Distanz zum geistigen Leben aufbaut. Das muss zwar
nicht unmittelbar zu falschen Resultaten führen, birgt aber die Gefahr einer mangelhaften
Reflexion des eigenen geistig-geschichtlichen Ortes.
Für Plessner ist gerade dieser Anspruch, das heißt die Gewinnung einer reflexiven
Philosophischen Anthropologie, zentral. In seinem Diskussionsbeitrag zu Hartmanns
erwähntem Vortrag „Zum Problem der Realitätsgegebenheit“ hatte er nicht nur die
Umstellung vom Begriff des abstrakten Subjekts auf den der konkreten Person begrüßt,
sondern auch von dieser als „Ausgangs- und Blickpunkt der philosophischen Fragestellung“
gesprochen.86 Die konkrete Person ist aber die in einer konkreten Mitwelt situierte; und eine
in dieser Weise historisch und kulturell verortete Person müsste für Plessner also auch
Ausgangs- und Blickpunkt derjenigen Fragestellung sein, die er selbst in Die Stufen des
Organischen und der Mensch verfolgt. Tatsächlich versucht er die philosophischen
Konsequenzen aus genau dieser reflexiven philosophischen Grundhaltung in seiner Arbeit zu
ziehen. Dies wird deutlich, wenn er die menschliche Personalität der im vorigen Abschnitt
82 „Beschreibung“ und „Theorie“ entsprechen dem ersten und dritten Konzept von Hartmanns methodischem
Dreischritt „Phänomenologie – Aporetik – Theorie“. Siehe dazu G. Hartung, M. Wunsch, „Grundzüge und
Aktualität von Nicolai Hartmanns Neuer Ontologie und Anthropologie“, S. 3 f. 83 H. Plessner, „Geistiges Sein“, S. 92. 84 Siehe oben, Anmerkung 5. 85 H. Plessner, „Geistiges Sein“, S. 93. 86 Siehe Plessners Bemerkung in N. Hartmann, „Zum Problem der Realitätsgegebenheit“, S. 222.
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herausgestellten vertikal-horizontalen, naturphilosophisch-geistphilosophischen
Doppelstruktur nicht nur äußerlich unterworfen sieht, sondern diese Doppelstruktur
umgekehrt aus dem „Grundaspekt der Lebenserfahrung“ gewinnt, „den der Mensch in seiner
Existenz zu sich und zur Welt einnimmt: naturgewachsen und frei, gewachsen und gemacht,
ursprünglich und künstlich zugleich“. Die genannte Doppelstruktur wird also nicht im
gewissermaßen astronomischen Blick auf das personale Leben identifiziert, sondern
reflektiert nur die Struktur von uns exzentrisch-positionierten Wesen selbst. Auf diese Weise
erhält der im Personsein erfahrene „Existenzkonflikt […] eine Bedeutung auch für die
philosophische Methode: er weist an der Janushaftigkeit dieses Lebewesens die
Notwendigkeit einer Erkenntnis auf, die den Doppelaspekt seines Daseins – nicht etwa
aufhebt oder vermittelt, sondern aus einer Grundposition begreift.“87
Diese Grundposition ist für Plessner, wie gesagt, die naturphilosophische des Lebens
(Positionalität), deren Entwicklung im Verlauf von Die Stufen des Organischen es ihm dann
erlaubt, den genannten Existenzkonflikt mittels des Konzepts der exzentrischen Positionalität
begrifflich einzuholen. Aber Exzentrizität ist vor dem Hintergrund von Plessners reflexiver
philosophischer Grundhaltung nicht mehr nur das Ergebnis eines Stufengangs zum Menschen,
sondern liegt, wenn dieses Ergebnis korrekt ist, dem naturphilosophischen Aufsteigen schon
zugrunde. Auf diese Weise kulminiert die Philosophie des Menschen im Begriff der
exzentrischen Positionalität, aber die „Situation der Exzentrizität“ ist – wie Plessner in aller
Deutlichkeit schon im Vorwort von Die Stufen des Organischen betont – zugleich „Boden
und Medium der Philosophie“.88 Der damit hervorgehobene Aspekt von Plessners Konzeption
der Exzentrizität ist in seiner systematischen Bedeutung kaum zu überschätzen. Da Hartmann
ihn bei seinem Rückgriff auf die Exzentrizitätskonzeption in Das Problem des geistigen
Seins, wie Plessner meint, nicht mit einbezieht bzw. den Ort des eigenen Denkens in zu
großer Distanz vom betrachteten geistig-geschichtlichen Leben ansiedelt, bescheinigt dieser
ihm ein Reflexivitäts-Defizit. Dies muss als eine ernsthafte Herausforderung für Hartmanns
Philosophieansatz gelten. Um sich ihr zu stellen, könnte meines Erachtens auf Plessners
Konzeption zurückgegriffen werden.
Selbstverständlich sieht sich nicht nur eine Neue Ontologie des Menschen bisher
ungelösten Aufgaben gegenüber. Auch eine Philosophische Anthropologie des geistigen Seins
steht vor Herausforderungen. Sie müsste etwa das genaue kategoriale Verhältnis zwischen
„objektivem Geist“, „Mitwelt“ und „Gesellschaft“ klären. Zudem sollte sie verdeutlichen, wie
87 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 32. 88 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. VI.
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die Welt des Geistes in die reale Welt insgesamt eingebettet ist. Da das geistige Sein
geschichtlich ist, wäre außerdem in methodologischer Hinsicht zu erörtern, wie sich die damit
ins Spiel kommende geist- bzw. geschichtsphilosophische Dimension zum ursprünglich
naturphilosophischen Ansatz verhält. Inhaltlich ist damit das Problem verbunden, wie es zu
verstehen ist, dass der Mensch durch und durch sowohl Natur- als auch Geschichtswesen ist.
Dazu, wie sich diese Herausforderungen bewältigen lassen, finden sich in Die Stufen des
Organischen und der Mensch bereits Anhaltspunkte, die Plessner teilweise auch in seinem
zweiten anthropologischen Hauptwerk – Macht und menschliche Natur (1931)89 –
weiterentwickelt. Bei der Lösung dieser Aufgaben kann meines Erachtens darüber hinaus aber
auch Hartmanns Neue Ontologie eine wichtige unterstützende Rolle spielen.
Das gilt auch für eine weitere Herausforderung, vor der eine Philosophische
Anthropologie des geistigen Seins steht und auf die ich abschließend aufmerksam machen
möchte. Sie besteht darin, eine befriedigende Konzeption der Materialität des Geistigen zu
entwickeln. Dabei lassen sich heuristisch eine naturphilosophische und eine
geistphilosophische Problemdimension unterscheiden. In der ersten ginge es um die Frage,
wie lebendige Dinge als Träger des Geistigen zu denken sind, und in der zweiten Dimension
stellt sich die Frage, wie leblose Dinge mit geistigem Gehalt (Gebrauchsgegenstände,
Werkzeuge, technische Geräte, Kunstwerke etc.) zu konzipieren sind. Die Philosophische
Anthropologie des geistigen Seins muss also neben einer Biophilosophie des Menschen auch
eine Philosophie der Objektivationen des menschlichen Geistes umfassen. Plessner hat sich in
Die Stufen des Organischen vor allem dem ersten Punkt gewidmet. Seine Überlegungen
ließen sich auch hier gut von Hartmann her ergänzen, der hinsichtlich des zweiten Punkts in
Das Problem des geistigen Seins unter dem Titel „Der objektivierte Geist“ eine ausführliche
Philosophie der geistigen Produkte vorgelegt hat.90
89 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht.
In: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard u. E. Ströker, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1981, S.
135-234. 90 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 406 ff. Da Hartmann, mehr als Plessner, alle Grundformen
des geistigen Seins im Blick hat – in seiner Terminologie: den personalen, den objektiven und den objektivierten
Geist –, steht ihm auch eine dritte Aufgabe deutlicher vor Augen, die sich einer Philosophischen Anthropologie
des geistigen Seins stellt, und zwar das Problem der Einheit und Ganzheit des Geistigen. – In der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts ist es in der philosophisch-anthropologischen Tradition vielleicht am ehesten Michael
Landmann, dessen „Kulturanthropologie“ als eine Weiterentwicklung dieser Problematik gelten kann. Siehe
M. Landmann, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdarstellung in Geschichte und Gegenwart
(1955). 5. Aufl., Berlin, New York 1982; M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur.
Geschichts- und Sozialanthropologie. München, Basel 1961.