2009: Der Heilige Kranz und der Heilige Pferdezaum des Kaisers Konstantin und des Bischofs Ambrosius

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FRÜHMITTELALTERLICHE STUDIEN

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FRÜHMITTELALTERLICHE STUDIEN

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F R Ü H M I T T E L A LT E R L I C H E S T U D I E N

Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung

der Universität Münster

in Zusammenarbeit mit

Arnold Angenendt, Volker Honemann, Albrecht Jockenhövel,

Ruth Schmidt-Wiegand, Nikolaus Staubach und Joachim Wollasch

herausgegeben von

GERD ALTHOFF, HAGEN KELLER und CHRISTEL MEIER

42. Band

2008

WALTER DE GRUYTER · BERLIN · NEW YORK

IV

Redaktion:Dr. Franz Neiske

Institut für Frühmittelalterforschungder Universität Münster

Salzstraße 4148143 Münster

ISSN 0071-9706

ISSN ( internet ) 1613-0812

ISBN 978-3-11-019675-7

© Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 BerlinDieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb derengen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dasgilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

Verarbeitung in elektronischen Systemen.Printed in Germany

Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, LemfördeDruck: Mercedes-Druck, Berlin

Buchbinderische Verarbeitung: Stein + Lehmann GmbH, Berlin

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Inhaltsverzeichnis

Michail A. Bojcov, Der Heilige Kranz und der Heilige Pferdezaum des Kai-sers Konstantin und des Bischofs Ambrosius (Taf. I–VII, Abb. 1-25) . 1–69

Ueli Zahnd, Novus David – N��« �����. Zur Frage nach byzantinischenVorläufern eines abendländischen Topos . . . . . . . . . . . . . . . 71–87

Michael Grünbart, Der Kaiser weint. Anmerkungen zur imperialen Insze-nierung von Emotionen in Byzanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89–108

Bernard S. Bachrach – David S. Bachrach, Continuity of written admi-nistration in the Late Carolingian East c. 887–911. The Royal Fisc . . 109–146

Wojtek Jezierski, Paranoia sangallensis. A Micro-Study in the Etiquette ofMonastic Persecution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147–168

Wojciech Fałkowski, Double Meaning in Ritual Communication . . . . . 169–187

Annelies Amberger, Insignienverlust – Insignienbesitz. Krone und Ringals Funeralinsignien im Grab Kaiser Heinrichs IV. und Herodesbilderin Lambach (Taf. VIII–X, Abb. 26-40) . . . . . . . . . . . . . . . . . 189–228

Claudia Garnier, Die Legitimierung von Gewalt durch die hoch- und spät-mittelalterliche Friedensbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229–251

Antonie Wlosok, Rollen Vergils im Mittelalter (Taf. XI–XX, Abb. 41-58) . 253–269

Petra Korte, Christlicher Hades und vergilisches Fegefeuer. Die antike Un-terwelt in der mittelalterlichen Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . 271–306

Kerstin Seidel, Vorzeigen und nachschlagen. Zur Medialität und Materia-lität mittelalterlicher Rechtsbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307–328

Ulrich Töns, <Fundamentum scholarium>. Die Grammatik des JohannesKerckmeister (1486) als Zeugnis des Humanismus in Münster . . . . 329–397

Klaus Schreiner, Von der Geliebten zur himmlischen Schutz- und Sieges-frau. Zur semantischen Umbesetzung einer biblischen Frau in der Ho-henliedauslegung des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Taf. XX–XXII, Abb.59-65) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399–423

Zusammenfassungen der Beiträge in englischer Sprache . . . . . . . . . . 425–429

Orts-, Personen- und Sachregister, bearbeitet von Franz Neiske . . . . . . 431–438

VI Inhaltsverzeichnis

VII

Alphabetisches Verzeichnis der Mitarbeiter dieses Bandes

Dr. Annelies Amberger M. A., Hochschule für Philosophie SJ, Kaulbachstraße 31a,80539 München

Prof. Bernard S. Bachrach, University of Minnesota, Department of History, 1110 Hel-ler Hall, 271 19th Ave. South, Minneapolis, Minnesota 55455

Prof. David S. Bachrach, University of New Hampshire, 132 Horton Social ScienceCenter, 20 Academic Way, Durham, New Hampshire 03824

Prof. Dr. Michail Bojcov, Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters, Historische Fakul-tät der Moskauer Lomonossow-Universität, Lomonossowskij Prospekt 27–4,119992 Moskau

Prof. Dr. Wojciech Fałkowski, Institut of History, Warsaw University, KrakowskiePrzedm. 26/28, 00–325 Warszawa, Poland

PD Dr. Claudia Garnier, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Se-minar, Domplatz 20–22, 48143 Münster

Prof. Dr. Michael Grünbart, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Seminar fürByzantinistik, Scharnhorststr. 110, 48151 Münster

Dr. Wojtek Jezierski, Stockholm University, Department of History, 106 91 Stock-holm, Schweden

Petra Korte, Bohmter Str. 28 A, 49074 Osnabrück

Prof. Dr. Klaus Schreiner, Pläntschweg 73, 81247 München

Dr. Kerstin Seidel, Universität Zürich, Historisches Seminar, Karl Schmid-Strasse 4,CH-8006 Zürich

Dr. Ulrich Töns, Wierling 13, 48163 Münster

Prof. em. Dr. Antonie Wlosok, Johannes Gutenberg-Universität, Seminar für Klassi-sche Philologie (Philosophicum), Jakob-Welder-Weg 18, 55099 Mainz

Lic. theol., Ueli Zahnd, Universität Freiburg, Philosophisches Seminar, Platz der Uni-versität 3, 79085 Freiburg

VI Inhaltsverzeichnis

Der Heilige Kranz 1

MICHAIL A. BOJCOV

Der Heilige Kranz und der Heilige Pferdezaum des Kaisers Konstantinund des Bischofs Ambrosius 1

I. Die Trauerrede, S. 1. – II. Die seltsame Komposition, S. 4. – III. Die Augusta Helena und die Reliquien desEchten Kreuzes, S. 11. – IV. Die Prophezeiung Sacharjas, S. 17. – V. Der erste Kult der Nägel, S. 20. –VI. Der <Pferdezaum Konstantins>, S. 25. – VII. Der Handlungsort, S. 31. – VIII. Der zweite Nagel, S. 34. –IX. Das <Diadem Helenas>, S. 42. – X. Ambrosius und Reliquien, S. 53. – XI. Nach Ambrosius: das <DiademHelenas> und die <Kränze Konstantins>, S. 55. – XII. Nach Ambrosius: der <Pferdezaum Konstantins>, S. 61. –XIII. Ergebnisse, S. 67.

I. DIE TRAUERREDE

Am Sonntag, dem 25. Februar 395 hielt Ambrosius (um 333–397), der Bischofvon Mailand und einer der bekanntesten westlichen Kirchenväter wie auch ein erfah-rener Politiker, die Trauerrede für Kaiser Theodosius, der genau 40 Tage vorher imAlter von ungefähr 48 Jahren unerwartet in Mailand verstorben war 2. Diese Rede <Deobitu Theodosii> wurde keinesfalls im engen Kreis der vertrauten Höflinge gehalten,sondern dem Bischof von Mailand hörten Tausende von Menschen zu. Vom höchstenRang unter ihnen war gewiss der jüngere Sohn Theodosius’ und sein Nachfolger in derwestlichen Hälfte des Reiches, Honorius 3, der damals nicht einmal 11 Jahre alt war.

1 Diese Studie konnte nur dank der Unterstützung und Gastfreundschaft des ( inzwischen leider abge-schafften) Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen (August 2006) und des Netherlands Institute

for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (NIAS) in Wassenaar (Februar 2007) entstehen. Denbeiden Institutionen gegenüber fühlt sich der Verfasser außerordentlich verpflichtet. Aus dem Russi-schen von Michail A. Bojcov und Ludger Hartmann mit Beteiligung von Sylvie Schwarzwälder über-setzt.

2 Zu der Trauerrede Ambrosius’ s. zunächst: Giorgio Bonamente, Potere politico e autorità religiosanel <De obitu Theodosii> di Ambrogio, in: Chiesa e Società dal secolo IV ai nostri giorni. Studi storiciin onore del P. Ilarino da Milano ( Italia Sacra 30) 1, Rom 1979, S. 83–133; Franca Ela Consolino,L’optimus princeps secondo S. Ambrogio. Virtù imperatorie e virtù cristiane nelle orazioni funebri per Va-lentiniano e Teodosio, in: Rivista storica italiana 96, 1984, S. 1025–1045; Dies, Teodosio e il ruolo delprincipe cristiano dal De obitu di Ambrogio alle storie ecclesiastiche, in: Cristianesimo nella storia 15,1994, S. 257–278 (man vergleicht das Bild Theodosius’ in der Rede Ambrosius’ mit seinem Bild in denWerken der Historiker des 5. Jahrhundert ); Francesco Corsaro, Il trono e l’altare. Da Costantino aTeodosio: De obitu Theodosii di Ambrogio, in: Vescovi e pastori in epoca teodosiana. In occasione delXVI centenario della consacrazione episcopale di S. Agostino, 396–1996. XXV Incontro di studiosidell’antichità Cristiana, Roma 1997, 2, S. 601–611; Marta Sordi, La morte di Teodosio e il <De obituTheodosii> di Ambrogio, in: Acta classica Debreceniensia 36, 2000, S. 131–136.

3 […] et nunc quadragesimam celebramus, adsistente sacris altaribus Honorio principe […] – Ambrosius, De obituTheodosii, 3 (künftig wird im Text des Aufsatzes und in Anmerkungen allein die Nummer der entspre-chenden Kapitel angegeben); Fles, Honori, germen augustum, et lacrimis pium testificaris adfectum […] – 54;Fles, etiam, imperator auguste […] – 55. Die falsche Meinung, Arcadius, der ältere Sohn Theodosius’, habeauch der Rede Ambrosius’ beigewohnt, wurde geäußert in: Barbara Baert, A Heritage of Holy Wood.

2 Michail A. Bojcov

Gerade deswegen muss man als die einflussreichste politische Figur unter den Anwe-senden den Vormund Honorius’ und Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee, dendreißigjährigen Stilicho betrachten, der nun zum de facto-Herrscher über den westlichenTeil des Reiches wurde 4. Die Rede von Ambrosius verfolgten viele Höflinge, Klerikerund Mailänder Bürger, aber auch – und das war besonders wichtig – die Militärs. Jetztstanden Letztere Schulter an Schulter, aber nur kurz zuvor hatten sie noch heftig ge-geneinander gekämpft. Dieses Heer, das Ambrosius zuhörte, bestand aus drei großenTeilen: den Siegern, den Besiegten und den Überläufern. Erstere hatte Theodosiussechs Monate zuvor vom Osten nach Italien mitgebracht, um den <Usurpator> Euge-nius zu stürzen, der sich praktisch den gesamten Westen unterworfen hatte 5. Diezweite Gruppe kämpfte gerade hart für Eugenius in der höchst blutigen Schlacht amFluss Frigidus 6, unterlag aber. Es wurde den Überlebenden gnädig gestattet, ihrenDienst fortzusetzen, jetzt allerdings in der Armee Theodosius’. Die Dritten waren ur-sprünglich an der Seite des Usurpators, wechselten aber im entscheidenden Moment

The Legend of the True Cross in Text and Image (Cultures, Beliefs and Traditions. Medieval and EarlyModern Peoples 22) Leiden – Boston 2004, S. 28, Anm. 71. Die Trauerrede wird hier und weiter nachder folgenden Edition zitiert: Sanctus Ambrosius, Opera. Pars septima, hg. von Otto Faller (CSEL73) Wien 1955, hier S. 372, 400. Vgl. eine weitere Edition: Mary Dolorosa Mannix, Sancti Ambrosiioratio de obitu Theodosii. Text, Translation, Introduction and Commentary, Diss., Washington (D.C. )1925. Die französische Übersetzung <Oraison funèbre de Théodose> mit Einleitung und Kommentarbereitete Yves-Marie Duval († 2007) für die Reihe Sources chrétiennes vor, sie ist aber nicht erschienen.Gedruckt ist aber eine Vorstudie: Yves-Marie Duval, Commenter Ambroise: principes et application(Obit. Theod. 1–8 et 17–19) in: Gérard Nauroy (Hg. ), Lire et éditer aujourd’hui Ambroise de Milan:actes du colloque de l’Université de Metz (20–21 mai 2005) (Recherches en littérature et spiritualité 13)Bern–Berlin–Bruxelles u. a. 2007, S. 125–164. Die deutschen Zitate weiter unten folgen meistens derÜbersetzung: Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand ausgewählte Schriften. Übersetztund eingeleitet von Johann Ev. Niederhuber (Des heiligen Kirchenvaters Ambrosius ausgewählteSchriften 3; Bibliothek der Kirchenväter 1. Reihe, 32) Kempten – München 1917, S. 394–423.

4 Zwar gibt es keinen klaren Hinweis im Text, dass die Rede im Beisein Stilichos gehalten wurde, man wiesaber schon vor Langem auf einige Indizien hin, die dafür sprechen: Jean-Rémy Palanque, Saint Am-broise et l’empire romain, Paris 1933, S. 304. Außerdem erkennt man in den Worten Ambrosius’ die fol-gende wahrscheinliche Andeutung an Stilicho. Theodosius hielt nichts aus seinem Nachlass vor seinenSöhnen geheim (d. h. der Kaiser hatte keine Absicht, etwas aus seinem Vermögen oder Rechten jemandAnderem als Arcadius und Honorius zu hinterlassen): ‚er hatte ihnen alles übergeben‘, was er besaß. Daseinzige, was er vor ihnen verhüllte, war, dass er ‚sie dem anwesenden Verwandten anvertraue‘: […] de filiis

enim nihil habebat novum, quod conderet, quibus totum dederat, nisi ut eos praesenti commendaret parenti – 5. Einer sehrkomplizierten aber wahrscheinlichen Rekonstruktion von Alan Cameron zufolge musste Theodosiusnoch im Oktober angesichts seiner geplanten baldigen Rückkehr nach Konstantinopel die künftige Re-gentschaft Stilichos im Westen des Reiches öffentlich bekannt gemacht haben. Nach dem Tod des Kai-sers kündigte aber Stilicho plötzlich an, Theodosius habe ihm auf dem Sterbebett nicht nur Honorius imWesten, sondern auch den inzwischen schon achtzehnjährigen Arcadius im Osten anvertraut. Die Wortedes Ambrosius bezeugen tatsächlich, dass etwas in den politischen Ansprüchen Stilichos für den Mailän-der Hof völlig überraschend war. Cameron hat durchaus Recht, wenn er diese Stelle bei Ambrosius alsaus Vorsicht undeutlich formuliert bezeichnet. Schwer zu teilen ist dagegen der Zweifel des britischenHistorikers daran, dass Ambrosius hier eben die Regentschaft meinen musste. Selbst wenn Ambrosius sienicht als rechtsgemäß anerkennen wollte (so Cameron), so konnte er doch von ihr zumindest als ein Zielder Bestrebungen Stilichos sprechen. S. dazu: Alan Cameron, Theodosius the Great and the Regency ofStilicho, in: Harvard Studies in Classical Philology 73, 1969, S. 247–280, bes. S. 274–275, 278 f.

5 Ausführlich dazu: Joachim Szidat, Die Usurpation des Eugenius, in: Historia 28, 1979, S. 487–508.6 Jetzt Vipava (Wippach) in Slovenien, die Schlacht fand am 5. und 6. September 394 in der Nähe des

heutigen Ortes Ajdovscina (Haidenschaft ) statt.

Der Heilige Kranz 3

die Front und schenkten dadurch Theodosius den Sieg. In dieser Schlacht fielen diebesten Truppen der westlichen Hälfte des Reiches – ein Verlust, von dem sich das Rö-mische Imperium nie mehr zu erholen im Stande war. Diese äußerlich vereinigte, aberinnerlich alles andere als geschlossene Armee war zu dieser Zeit die stärkste Militär-kraft im ganzen Kaiserreich und von der Laune der Soldaten, an welche sich der Red-ner wendete, konnte vieles im Reich abhängen, vielleicht sogar alles.

Diese Armee bestand zum großen Teil aus Barbaren. Auf der Seite Eugenius’mussten u. a. Franken gekämpft haben, während Theodosius viele Goten mit sichbrachte. Nur siebzehn Jahre zuvor hatten die Goten den Kaiser Valens in der Schlachtvon Adrianopel vernichtend geschlagen, aber infolge der Beschwichtigungspolitik vonTheodosius wurden die Goten wieder in die Gefüge des Römischen Staat bis zu einembestimmten Grad integriert. Auf jeden Fall ist der Beitrag der Goten zum Triumphüber Eugenius nicht zu hoch einzuschätzen, wie auch die Opfer, welche sie für diesenSieg brachten 7. Es geschah übrigens gerade anlässlich der Kampagne gegen Eugenius,dass der Gotenhäuptling Alarich die Gebirgspässe Illyriens kennen lernte – Kennt-nisse, die er knapp sieben Jahre später mit Erfolg ausnutzen konnte, um an der Spitzeseiner kriegerischen Stammesgenossen diesmal gegen den Willen des Kaisers auf dieApennin-Halbinsel zurückzukehren und seinen Vormarsch nach Rom zu beginnen.

Unter den Soldaten Theodosius’ waren ohne Zweifel immer noch zahlreiche Hei-den (vor allem unter den Besiegten), obwohl die meisten bereits Christen waren. Aberauch diese Christen hielten sich an sehr unterschiedliche Ansichten: einige von ihnenerkannten den Kanon der ökumenischen Synode von Nicäa 325 an, viele Andere lehn-ten ihn jedoch völlig ab.

Ambrosius hatte auch als Redner bei traurigen Gelegenheiten viel Erfahrung: au-ßer <De obitu Theodosii> sind weitere drei Trauerreden von ihm überliefert – zwei an-lässlich des Todes seines eigenen Bruders und eine für den jung verstorbenen KaiserValentinian II. Ambrosius kennt die Normen des Genres durchaus und es mangelt beiihm natürlich nicht an Lobpreisungen über den verstorbenen Theodosius. Seine Dar-stellung war aber nicht der Vergangenheit, sondern vielmehr der Zukunft zugewandt,weil ihre Hauptbotschaft in der unbedingten Fortsetzung der theodosianischen Dy-nastie bestand 8. Der Leitgedanke bei Ambrosius lässt sich auf zwei Thesen reduzie-ren 9. Erstens, Theodosius war ein glänzender Kaiser und hatte sich die himmlische Se-ligkeit durchaus verdient. Aber zweitens:

7 Ausführlich dazu: Johannes Straub, Die Wirkung der Niederlage bei Adrianopel auf die Diskussionüber das Germanenproblem in der spätrömischen Literatur, in: Philologus 95, 1943, S. 255–286; Mas-similiano Pavan, La politica Gotica di Teodosio nella publicistica del suo tempo, Rom 1964; Émili-enne Demougeot, Modalités d’établissement des fédérés barbares de Gratien et de Théodose, in: Mé-langes d’Histoire Ancienne offerts à William Seston (Publications de la Sorbonne, série Études 9 ) Paris1974, S. 143–160; Evgenij P. Gluschanin, Die Politik Theodosius’ I. und die Hintergründe des soge-nannten Antigermanismus im oströmischen Reich, in: Historia 38, 1989, S. 224–249; Robert Mal-colm Errington, Theodosius and the Goths, in: Chiron 26, 1996, S. 1–27.

8 S. z. B.: Palanque (wie Anm. 4) S. 293 f.: „Cette idée de la perpétuité de la dynastie nous apparait pré-cisément dominante dans le discours que l’évêque de Milan prononce aux obsèques de Théodose …“.Vgl. auch S. 301 f.; Richard Klein, Die Kaiserbriefe des Ambrosius. Zur Problematik ihrer Veröffent-lichung, in: Athenaeum N.S. 48, 1970, S. 335–371, hier S. 363; Mannix (wie Anm. 3) S. 3 f. und anderemehr.

9 S. z. B.: Otto Faller, Prolegomena, in: Sanctus Ambrosius (wie Anm. 3) S. 116*.

4 Michail A. Bojcov

‚ist er nicht vollständig von uns gegangen. Er hinterließ uns seine Kinder, in denen wir ihn wie-der erkennen, in denen wir ihn erblicken und an ihm festhalten. Ihr Alter braucht uns keine Sorge be-reiten! Die Treue10 des Heeres bildet die Altersreife des Kaisers. Denn dort herrscht das volle Man-nesalter, wo die vollendete Mannestugend herrscht. Sie stehen in Wechselwirkung. So ist umgekehrtdie Glaubenstreue des Kaisers die Kraft des Heeres.‘ 11

Die These von der unverbrüchlichen Treue der Armee zu ihrem jungen Kaiserwiederholte Ambrosius mit immer neuen Worten wieder und wieder, als ob er seineZuhörer hypnotisieren wolle. Dieser Nachdruck verrät uns seine Befürchtung, dass dieTreue dieser erfahrenen und meistens barbarischen Soldaten, welche die blutigeSchlacht am Frigidus erst kurz hinter sich hatten, gegenüber einem zehnjährigen Kna-ben, der völlig anders als ein glückreicher Heerführer aussah, gar nicht so selbstver-ständlich war, wie der Redner das der zuhörenden Menge suggerieren wollte. ‚Tragetan seinen Söhnen die Schuld ab, die ihr dem Vater zu leisten habt! Mehr schuldet ihrihm nach seinem Tode als zu seinen Lebzeiten. Denn wenn schon an den Kindern ge-wöhnlicher Leute die Minderjährigkeitsrechte nicht ohne schweres Verbrechen ver-letzt werden dürfen, wie viel weniger an den Kindern eines Kaisers?‘ 12. Ambrosius be-nutzt auch eine weitere, allen Anwesenden leicht verständliche Parallele aus demZivilrecht: ‚Denn wenn schon der letzte Wille von Privatpersonen und die letztwilligenVerfügungen gewöhnlicher Sterblicher dauernde Gültigkeit haben, wie könnte dieletztwillige Bestimmung eines so großen Kaisers der Rechtsgültigkeit ermangeln?‘ 13

Der Redner erhebt sich also hier nicht in die Höhe der konstitutionellen Spekulatio-nen, sondern bleibt auf dem festen Boden der alltäglichen Praxis. Er muss nicht Phi-losophen oder Theologen, sondern Soldaten und Offiziere davon überzeugen, dass siesich vom jungen Sohn des verstorbenen Kaiser nicht abkehren dürfen.

II. DIE SELTSAME KOMPOSITION

Nach einhelliger Forschermeinung besteht die Trauerrede Ambrosius’ aus dreiklar voneinander trennbaren Hauptteilen. Im ersten ist der Verfasser hauptsächlich da-mit beschäftigt, die schon oben genannte These mit immer neuen Argumenten zu be-kräftigen: allein die Söhne Theodosius’ seien dazu berechtigt, seine Herrschaft zu ver-erben. Im zweiten Teil werden die vielseitigen Tugenden des verstorbenen Kaisers mitgroßer Eloquenz gelobt, was ohnehin zum Kern jedes Enkomiums dieser Art gehörenmuss 14. Der dritte Teil bringt aber eine Überraschung: Ambrosius weicht völlig von

10 Man kann nicht die Meinung akzeptieren, das Wort fides soll hier im Sinne „rapporto di mutua lealtà fraimperator e soldati“ verstanden werden. – Consolino, Teodosio (wie Anm. 2) S. 260. Gerade in diesemFall erwartet Ambrosius von den Soldaten, dass sie ihre durchaus <einseitige> Treue ihrem Kaiser gegen-über beweisen müssen.

11 Ergo tantus imperator recessit a nobis, sed non totus recessit, reliquit enim nobis liberos suos, in quibus eum debemus agnos-

cere, et in quibus eum et cernimus et tenemus. Nec moveat aetas! Fides militum imperatoris perfecta aetas est; est enim per-

fecta aetas, ubi perfectus est virtus. Reciproca haec, quia et fides imperatoris militum virtus est. – 6. Vgl. auch 36.12 Solvite filiis eius, quod debetis patri. Plus debetis defuncto quam debuistis viventi. Etenim si in liberis privatorum non sine

gravi scelere minorum iura temerantur, quanto magis in filiis imperatoris. – 11.13 […] si enim privatorum ultimae voluntates et deficientum testamenta habent perpetem firmitatem, quomodo potest tanti

principis esse inritum testamentum? – 5.14 Dieser Teil der Rede sieht wie eine Variation auf das Thema des Psalms 114 aus. Der Psalm wird ge-

wöhnlich während des Trauergottesdienstes gesungen, deswegen spielt Ambrosius hier vielleicht auf

Der Heilige Kranz 5

seinem Thema ab und fängt plötzlich ohne jede Begründung an, die lange Geschichtezu erzählen, wie es der Augusta Helena, der frommen Mutter Kaiser Konstantins ge-lang, das Echte Kreuz in Jerusalem aufzufinden, an dem Christus gekreuzigt wordenwar. Dieser unerwartete Exkurs nimmt etwa ein Fünftel der ganzen Rede in Anspruch,was Historiker immer schon für rätselhaft hielten 15. Die Einschiebung der Helena-Ge-schichte wirkt auf Kenner der antiken Rhetorik wie auch des literarischen Nachlassesdes Bischofs von Mailand beinahe abschreckend: ihr Auftreten widerspricht allen Nor-men, nach welchen eine Trauerlobrede zusammengestellt werden musste. Ambrosiusvergisst seinen Protagonisten und spricht über längere Zeit von einer ganz anderenPerson – ein rhetorischer Fehler, der selbst bei einem unerfahrenen Redner schwerzu erklären wäre 16. Lange schon wurde die Meinung geäußert, Ambrosius habe dieKreuzauffindungsgeschichte seinen Zuhörern in der Tat gar nicht vorgetragen, son-dern sie sei von ihm erst nachträglich hinzugefügt worden, als er Monate (vielleicht so-gar etwa eineinhalb Jahr ) später den Text der Trauerrede zur schriftlichen Veröffentli-chung vorbereitet habe 17.

Gerade dieser mysteriöse dritte Teil von <De obitu Theodosii> steht im Zentrumaller nachfolgenden Überlegungen, die allerdings weit über die Textgeschichte hinausreichen werden.

Der Redner nähert sich dem Thema der Helena allmählich: er beschreibt zuerstdie himmlische Glückseligkeit, die Theodosius zweifelsohne jetzt schon in vollem Maße

die Worte an, welche die Anwesenden soeben in der Liturgie gehört hatten. – Yves-Marie Duval, For-mes profanes et formes bibliques dans les oraisons funèbres de Saint Ambroise, in: Manfred Fuhr-mann (Hg. ), Christianisme et formes littéraires de l’antiquité tardive en occident (Entretiens sur l’anti-quité classique 23) Genève 1977, S. 235–301, hier S. 278.

15 Eine solche Teilung s. z. B. in: Bonamente (wie Anm. 2) S. 86, 107, 117. Typisch für die Fachliteratur istdie folgende Bewertung des Exkurses über die Kreuzauffindung: „At this point Ambrose produces oneof the most dazzling passages he ever wrote“. – John Moorhead, Ambrose. Church and Society in theLate Roman World, London – New York 1999, S. 204.

16 Über stilistische Mittel, die Ambrosius vor allem in seinen Reden anwendete, s. zuerst: Franz Ro-zynski, Die Leichenreden des heiligen Ambrosius, insbesondere auf ihr Verhältnis zur antiken Rhetorikund den antiken Trostschriften untersucht. Diss. Breslau, 1910 (das Hauptaugenmerk des Verfassers istder Fortsetzung der antiken rhetorischen Tradition gewidmet); Charles Favez, L’Inspiration chré-tienne dans les Consolations de Saint Ambroise, in: Revue des études latines 8, 1930, S. 82–91 (hier wer-den dagegen vor allem die christlichen Innovationen verfolgt, <De obitu Theodosii> bleibt aber dabeiso gut wie unberücksichtigt ); Giuseppe Mario Carpaneto, Le opere oratorie di S. Ambrogio, in: Di-daskaleion. N.S. 9, 1930, S. 35–156; Mannix, Introduction, in: Mannix (wie Anm. 3) S. 1–45; Duval(wie Anm. 14); Martin Biermann, Die Leichenreden des Ambrosius von Mailand. Rhetorik, Predigt,Politik (Hermes. Einzelschriften 70) Stuttgart 1995; Bénédicte Gerbenne, Modèles bibliques pourun empereur. Le De obitu Theodosii d’Ambroise de Milan, in: Rois et reines de la Bible au miroir des Pères(Cahiers de Biblia patristica 6 ) Strasbourg 1999, S. 161–176.

17 Louis Laurand, L’oraison funèbre de Théodose par saint Ambroise. Discours prononcé et discoursécrit, in: Revue d’histoire ecclésiastique 17, 1921, S. 349–350; Charles Favez, L’episode de l’inventionde la Croix dans l’oration funèbre de Théodose par St. Ambroise, in: Revue des études latines 10, 1932,S. 423–429, besonders S. 424. Diese beiden Autoren sind allerdings nicht darüber einig, in welchemTextabschnitt die tatsächlich vorgetragene Rede zum Ende kommt und die rein literarische Hinzufü-gung beginnt. Außerdem geht Laurand davon aus, dass die Helenapassage ursprünglich einer anderen,uns unbekannt gebliebenen Schrift Ambrosius’ angehört haben muss, wo hingegen Favez denkt, dasssie speziell für die Trauerrede 395 entworfen, allerdings erst kurz vor ihrer Herausgabe niedergeschrie-ben wurde.

6 Michail A. Bojcov

genießen müsse. Theodosius umarme im Jenseits den Kaiser Gratian (375–383) 18,aber auch die Mitglieder seiner eigenen Familie: seine zweite Ehefrau Aelia Flacilla (dieerste Gattin wird hier von Ambrosius ignoriert ) und zwei früh verstorbene Kinder –Gratian und Pulcheria –, die alle zusammen die Gesellschaft ihres Vaters genießenwürden. Darüber hinaus unterhalte er sich mit dem Kaiser Konstantin. Der Verfasserversäumt aber hier die günstige Gelegenheit, den Gründer des Neuen Roms zu ver-herrlichen. Es geschieht eher das Gegenteil: er erwähnt den ersten christlichen Kaisernicht nur sehr formell, sondern auch mit einer gewissen Kühle 19.

Die gesamte Passage über die freudigen Zusammenkünfte Theodosius’ im Him-mel benötigt der Autor in der Tat nur, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer von derPerson des Theodosius über die durchaus intermediäre Figur Konstantin übergangs-los auf die fromme Mutter des Letzteren, die heilige Helena, zu lenken. An diesemPunkt beginnt der Bericht über das Auffinden der wichtigsten Passionsreliquien aufGolgatha.

Die Trauerrede 395 wurde in der Briefsammlung des Ambrosius herausgegeben,welche vom Autor selbst konzipiert und vorbereitet werden konnte, und die vielleichtnoch zu seinen Lebzeiten erschien. Das ursprüngliche Konzept dieser Sammlung wieauch ihre Struktur bleibt allerdings ungesichert. Nach dem Rekonstruktionsversuchvon Otto Faller und Michaela Zelzer 20 musste die Abschiedsrede von 395 eine Art An-

18 Gratian zeichnete den Heerführer Theodosius ursprünglich mit seinem Vertrauen aus und stattete ihnspäter auch mit Purpur aus. Danach war ihr gegenseitiges Verhältnis allerdings nicht so idyllisch, wieAmbrosius es darstellen wollte. Aus seiner Sicht waren aber Gratian und Theodosius zwei gleich <gute>Herrscher, die sich vor allem durch ihre Treue im christlichen Glauben auszeichneten.

19 Ambrosius stand in diesem Punkt allerdings nicht allein: er gibt wohl eine bestimmte Tendenz wieder,die unter den pronicäanischen Christen um 400 an Zuspruch gewann. Man erinnert sich etwa an die am-bivalente Einstellung Sulpicius Severus’ Konstantin gegenüber als dem Kaiser, welcher sich einerseitsbekehren ließ, andererseits aber die Arianer förderte. Helena hat aber dagegen viel Lob bei Sulpiciusverdient – genau wie auch bei Ambrosius.

20 In Laufe seiner Arbeit an der ersten akademischen Edition der Briefe Ambrosius’ entwickelte Otto Fal-ler die Theorie, nach welcher Ambrosius kurz vor seinem Tod seine Briefsammlung in zehn Büchernveröffentlichte. Aufgebaut war dieses Werk nach dem Vorbild der Briefe Plinius’ des Jüngeren(61/62–113/115). Genau wie bei Plinius soll Ambrosius diejenigen seiner epistolae, welche verschiedenepolitischen Angelegenheiten betrafen, im abschließenden zehnten Buch gesammelt haben, wobei dievorangehenden neun dem Leser das Bild Ambrosius’ als Privatperson (aber auch als Kirchenvorsteher )vermitteln sollten. Nach dem Tod Fallers setzte Michaela Zelzer seine Arbeit auf Grundlage derselbenPrämissen fort, was schließlich zur Veröffentlichung der Ausgabe geführt hat, die heute als Standardgilt: Sancti Ambrosii Opera. Pars X. Epistulae et acta, hg. von Otto Faller und Michaela Zelzer(CSEL 82) 4 Bde., Wien 1968–1996. Die Begründung und weitere Entwicklung dieses Editionskon-zepts s. jetzt zuerst in den Einleitungen von Zelzer zu den Bänden 2 und 3, wie auch in der Reihe ihrereinzelnen Studien: Michaela Zelzer, Die Briefbücher des hl. Ambrosius und die Briefe extra collectio-

nem, in: Anzeiger der philologisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien 112,1975, S. 7–23; Dies., Zu Aufbau und Absicht des zehnten Buches des Ambrosius’, in: Herbert Ban-nert (Hg. ), Latinität und Alte Kirche. Festschrift für Rudolf Hanslik zum 70. Geburtstag (Wiener Stu-dien, Beiheft 8 ) Wien 1977, S. 351–362; Dies., Probleme der Texterstellung im zehnten Briefbuch desheiligen Ambrosius und in den Briefen extra collectionem, in: Anzeiger der philologisch-historischenKlasse der Akademie der Wissenschaften in Wien 115, 1978, S. 415–439; Dies., Linien der Traditions-und Editionsgeschichte der ambrosianer Briefe am Beispiel des zehnten Briefbuches und der Epistulae

extra collectionem, in: Anzeiger der philologisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften inWien 117, 1980, S. 207–230; Dies., Mittelalterliche <Editionen> der Korrespondenz des Ambrosius alsSchlüssel zur Überlieferung der Briefbücher, in: Wiener Studien 96 (N.F. 17) 1983, S. 160–180; Dies.,

Der Heilige Kranz 7

hang zum abschließenden zehnten ( <politischen> ) Briefbuch dargestellt haben. ZumVerständnis des Charakters der gesamten Briefsammlung erscheint die Frage vonwesentlicher Relevanz, ob der Helena-Exkurs von Anfang an in der Trauerrede vorge-sehen war oder erst später hinzugefügt wurde. Die möglichen alternativen Antwor-ten stellen Ambrosius als Autor und zugleich Herausgeber jeweils in einem völligunterschiedlichen Licht dar. Sollte der Bischof seine Rede tatsächlich ohne Hemmun-gen nachträglich um ein Paar Textseiten bereichert haben, ist zwangsläufig davon aus-zugehen, dass er auch andere seiner Schriften radikal überarbeitet haben könnte, be-vor er sie herausgeben ließ. Vielleicht erfand er sogar einige (oder mehrere? ) seinerBriefe, ganz zu schweigen von den Namen seiner Adressaten. Das würde den histo-rischen Wert der Briefsammlung Ambrosius’ natürlich keinesfalls mindern, aber dieFragestellungen wesentlich ändern, mit denen Historiker sich an diese dann weitge-hend fiktionalen Texte wenden dürften. Sollte aber die Helena-Legende noch in derursprünglichen <mündlichen> Redefassung vorgekommen sein, brächte man den Brie-fen Ambrosius’ in dem Sinne mehr Vertrauen entgegen, dass sie vielleicht die genuineReaktion des Autors auf bestimmte Momente seines Lebens wie auch kirchliche undpolitische Ereignisse seiner Zeit vermitteln können.

Die Hypothese, die Kreuzauffindungsgeschichte sei eine spätere Ergänzung ge-wesen, rettet Ambrosius als Redner, aber nicht als Schriftsteller. Zu welchem Zweckhatte Ambrosius diese lange seltsame Abweichung überhaupt benötigt, auch wenn sienur in der späteren überarbeiteten Fassung seiner Rede vorkäme? Die Vorbereitungeines Textes zur Herausgabe besteht doch gerade in der Verbesserung seiner rhetori-schen Qualität und der Beseitigung etwaiger stilistischer und sonstiger Mängel, abernicht im Hinzufügen neuerer. Die Anhänger dieser Hypothese setzen hier bei Ambro-sius üblicherweise didaktische Intentionen voraus: er wollte den jungen Honorius amBeispiel der frommen Augusta belehren 21 und zugleich den Anlass nutzen, um allge-meine Ansichten von der Natur der christlichen Herrschaft zum Ausdruck zu bringen.Unbeantwortet bleibt aber zugleich, welches außerordentlich relevante Vorbild in denAugen Ambrosius’ die Figur Helenas – und zwar sie allein – für Honorius darstellen

Ambrosius von Mailand und das Erbe der klassischen Tradition, in: Wiener Studien 100, 1987,S. 201–226, besonders S. 215–226. Sein Einverständnis mit der Theorie von Faller und Zelzer äußerteauch Richard Klein: seiner Meinung nach gab gerade der Tod Theodosius’ Ambrosius den Anlass, seineBriefsammlung, oder zumindest ihr zehntes ( <politisches> ) Buch, veröffentlichen zu lassen: Klein (wieAnm. 8) S. 364 f. Man hat allerdings auch gegen Faller und Zelzer für eine völlig andere Rekonstruktionder ursprünglichen Struktur der Briefsammlung Ambrosius’ argumentiert: Jean-Pierre Mazières, Unprincipe d’organisation pour le recueil des Lettres d’Ambroise de Milan, in: Yves-Marie Duval (Hg. ),Ambroise de Milan. XVIe Centenaire de son élection épiscopale, Paris 1974, S. 199–218; Ders., Les Let-tres d’Ambroise de Milan à Irenaeus, in: Pallas 26, 1979, S. 103–114. Einige schwerwiegende Einwändegegen die Annahme, dass Plinius als Muster für Ambrosius dienen konnte, sind auch formuliert in:Hervé Savon, Saint Ambroise a-t-il imité le recueil de lettres de Pline le Jeune?, in: Revue des ÉtudesAugustiniennes 41, 1995, S. 3–17. Daraus entsteht auch der Zweifel Savons, dass Ambrosius seinerBriefsammlung überhaupt eine bestimmte Gestalt geben konnte, was u. a. bedeuten würde, dass er seineTexte kaum wesentlich redigierte. Vgl. auch Savons Besprechung der Edition von Faller und Zelzer:Ders., La première édition critique de la correspondance officielle d’Ambroise de Milan, in: Revue desÉtudes Augustiniennes 32, 1986, S. 249–254. Man wartet jetzt auf die Ergebnisse des internationalenKolloquiums <La correspondance d>Ambroise de Milan’ in Saint-Etienne und Lyon, geplant für Novem-ber 2009.

21 S. hier z. B.: Otto Faller, Prolegomena (wie Anm. 9) S. 116* f.

8 Michail A. Bojcov

konnte, dass ein so erfahrener Schriftsteller sich so weit vom Kanon der Trauerredenentfernen konnte und die Komposition seines Textes dadurch hoffnungslos verderbenmusste.

Eine m. E. recht seltsame Vermutung äußerte dazu seinerzeit Franz Rozynski: derBischof habe damit beabsichtigt, die alte römische Tradition mutatis mutandis fortset-zend, die glorreichen Vorfahren des Verstorbenen aufzuzählen 22. Zu allgemein klingtdie Idee von Charles Favez (die auch bei anderen Historikern mit verschiedenen Va-riationen vertreten wird): Ambrosius wollte seinen Lesern an das Kreuz der Erlösungund die Gefahr der Autokratie erinnern, um die Herrscher dazu zu bewegen, den Wegdes Glaubens weiter voranzuschreiten 23. Auf den christlichen Charakter der kaiserli-chen Macht und die Pflicht Honorius hinzuweisen, den neuen Glauben voll und ganzzu unterstützen, wäre ohne Weiteres mit Hilfe von zur Situation viel besser passendenBeispiele möglich gewesen, etwa durch Bezug auf die vorbildlichen Taten des verstor-benen Theodosius’.

Kaum überzeugender wirken aber auch die Erklärungen jener Forscher, die für dieZugehörigkeit des Helena-Teils zur ersten Redefassung plädieren. So demonstriert etwaWolf Steidle die enge innere Kohärenz zwischen allen drei Teilen der Rede dann sehrgut, wenn er bestimmte formale Eigenschaften (Anzahl der Zeilen in einzelnen Text-abschnitten) analysiert. Seine Überlegungen zu der möglichen inhaltlichen Korrelationzwischen der Geschichte der Kreuzauffindung einerseits und den übrigen Textteilenandererseits klingen zwar an und für sich plausibel, beantworten aber auch nicht dieFrage, warum es für Ambrosius unentbehrlich war, die Idee der erblichen Übertragungdes christlichen Glaubens von einem Herrscher zum anderen (hereditas fidei ) wie auchder Etablierung des Christlichen Reiches als Folge dieser Übertragung24 mit Hilfe einesso fern liegenden, aber mit vielen Einzelheiten nacherzählten Sujets auszulegen.Ebenso künstlich erscheint m. E. auch ein ähnlicher Vorschlag von Giorgio Bonamente,in der Helena-Geschichte eine „Allegorie des gekrönten christlichen Herrschers –princeps Christianus“ – zu sehen25. Waren die Zuhörer-Soldaten tatsächlich im Stande,eine solche Allegorie richtig wahrzunehmen, wenn der Redner ihnen (d. h. zugleichauch uns) den Inhalt nicht in allen Einzelheiten erklärte? Konnten sie die angeblicheBestrebung Ambrosius’ richtig einschätzen, dem Thronfolger eine zusätzliche Legiti-mation zu verleihen, die sich auf seine Treue der katholischen Orthodoxie gegenüberstützen musste, wie Franca Ela Consolino vermutet26? Hätten sie verstehen können,dass es um die göttliche „Erlösung des Reiches und der Kaiser“ ging, wie Marta Sordi

22 Rozynski (wie Anm. 16) S. 106 f.23 Favez, L’episode (wie Anm. 17) S. 425–428.24 Wolf Steidle, Die Leichenrede des Ambrosius für Kaiser Theodosius und die Helena-Legende, in:

Vigiliae Christianae 32, 1978, S. 94–112. Einverständnis mit Steidle wird geäußert auch in: Jan WillemDrijvers, Helena Augusta. The Mother of Constantine the Great and the Legend of Her Finding of theTrue Cross (Brill’s Studies in Intellectual History 27) Leiden – New York – Kopenhagen – Köln 1992S. 111.

25 Bonamente (wie Anm. 2) S. 87. Die Idee von der hereditas fidei wird von diesem Historiker auch starkbetont.

26 Consolino, L’optimus princeps (wie Anm. 2) S. 1040. Die Verfasserin entwickelt ihre Theorie in einemAufsatz, der mir unzugänglich blieb: Dies., Il significato dell’inventio crucis nel De obitu Theodosii, in:Annali della Facoltà di Lettere e Filosofia dell’Università di Siena 5, 1984, S. 161–180.

Der Heilige Kranz 9

glauben will 27? War es für Ambrosius tatsächlich so vordringlich, „den jungen Herr-schern [Arcadius und Honorius – M.B. ] die Notwendigkeit zu verdeutlichen, die glei-chen Regeln zu befolgen, die auch ihr augusteischer Vater bewahrte“, wie es die Mei-nung Francesco Corsaros ist28? Mehr verspricht die Erklärung Martin Biermanns:dieser Forscher ist zwar über die Länge der Helena-Passage verblüfft, erblickt in ihr aberdie ausführliche Auslegung eines Verses aus dem Buch des Propheten Sacharja, die Am-brosius am Anfang des entsprechenden Textabschnitts anführt29. Daraus entsteht abersofort die Frage, worin die dringende Notwendigkeit für den Redner bestand, diese Bi-belstelle so ausführlich auszulegen? Oder wenn eine einzige Zeile Sacharjas mehrereSeiten nachfolgender Erklärungen benötigte, die weit weg vom Hauptthema der Redeführten, warum konnte Ambrosius nicht völlig ohne diesen Vers auskommen?

Es wurde u. a. die Meinung geäußert, die Verherrlichung Helenas durch Ambro-sius, ja ihr Vergleich mit Maria sollte bestimmten hochrangigen Hofdamen schmei-cheln 30. Dann aber welchen? Die Annahme, die Mutter Theodosius’ könne die Trau-erfeierlichkeiten in Mailand miterlebt haben 31, bietet keine Anhaltspunkte. Von dieserDame ist so gut wie nichts bekannt und über ihren eventuellen Einfluss am Hof nochweniger. Wahrscheinlich wurde sie zusammen mit ihrem Ehemann noch 375 oder 376hingerichtet 32. Die erste Ehefrau von Theodosius, Augusta Aelia Flacilla, verstarb386 33, während die zweite – Galla – im Mai 394 ums Leben kam, die Tochter des Theo-dosius, Galla Placidia, war 395 nur etwa fünf Jahre alt. Die einzige Angehörige der Fa-milie Theodosius’, die hier in Frage kommen könnte, war seine Nichte Serena, dieEhefrau Stilichos. Ein Vergleich mit Helena hätte ihr wohl in der Tat schmeicheln kön-nen, nur hätte das Öffentlichmachen eines solchen Vergleichs tragische Folgen für Se-rena selbst haben können. Darin konnte jeder eine klare Andeutung auf möglichePläne Stilichos erkennen, seinen und Serenas Sohn auf den Kaiserthron zu erheben.Das war ernst zu nehmen: gerade ein solcher Verdacht kostete alle Drei – Stilichoselbst, Serena, wie auch ihrem Sohn Eucherius – dreizehn Jahre später das Leben.

Im Gegensatz zu vielen Forschern scheint mir der Helena-Exkurs praktisch dieKulmination der ganzen Rede Ambrosius’ zu sein, die natürlich auch von Anfang anim Text vorhanden sein musste. Dass Ambrosius ihn für den abschließenden Teil auf-

27 Marta Sordi, Dall’elmo di Costantino alla corona ferrea, in: Giorgio Bonamente – Franca Fusco(Hgg. ), Costantino il Grande. Dall’antichità all’umanesimo 2, Macerata 1993, S. 883–892, hier S. 887.

28 Corsaro (wie Anm. 2) S. 611. Auch die folgende Erklärung wirkt nicht mehr überzeugend: „The de-ceased is invested with the praiseworthy characteristics of figures from the Bible or from historical talesand the mourners are comforted with similar exemplary reflections. This must also have been the pur-pose of the Helena passage“. Baert (wie Anm. 3) S. 25.

29 Biermann (wie Anm. 16) S. 188.30 Drijvers (wie Anm. 24) S. 123 f.31 Baert (wie Anm. 3) S. 29.32 Ausführlich dazu: Alexander Demandt, Der Tod des älteren Theodosius, in: Historia 18, 1969,

S. 599–626.33 Es scheint, dass moderne Historiker öfter Parallelen zwischen Augusta Helena und Augusta Aelia Fla-

cilla erkennen als die Zeitgenossen Theodosius’. Auf jeden Fall lässt sich in der Trauerrede JohannesChrysostomos’ für Aelia Flacilla keine Andeutung auf ihre angebliche Ähnlichkeit mit der Mutter Kon-stantins erkennen. Warum sollten solche Andeutungen dann plötzlich in der Rede Ambrosius’ auftau-chen? Über die Ehefrauen des Theodosius s. vor allem: Kenneth G. Holum, Theodosian Empresses.Women and Imperial Dominion in Late Antiquity, Berkeley – Los Angeles – London 1982, S. 21–47.

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sparte, war auch alles andere als ein rhetorischer Fehler, der dem geschickten Predigerplötzlich unterlaufen sein sollte; im Gegenteil: gerade dadurch brachte er nochmalsseine herausragende Redekunst zum Ausdruck. Aber um das richtig begreifen zu kön-nen, muss der Blickwinkel völlig geändert werden, unter dem man bisher die Trauer-rede des Mailändischen Bischofs betrachtet hat. Es gilt, sich sowohl von rein philolo-gischen, didaktischen als auch von spekulativ-philosophischen Ansätzen zu lösen unddie Rede Ambrosius’ als publizistischen Text par excellence zu betrachten, in welchemdie ganze rhetorische Ausschmückung wie auch theologische Überlegungen oder di-daktische Motive nicht für sich existieren, sondern der politischen Zielsetzung unter-geordnet sind; sie sind nur als Mittel zu verstehen, den Zuhörern die höchst akutepolitische Botschaft mit maximaler Effizienz zu suggerieren. Um das erkennen zukönnen, muss man allerdings auf die Helena-Episode näher eingehen und sie in ver-schiedene Kontexte setzen.

Zuerst fällt auf, dass der Redner von der Erwerbung des H o l z e s des EchtenKreuzes zwar mit aller Ehrfurcht, aber allgemein ohne Einzelheiten berichtet – vonpolitischen Kommentaren ganz zu schweigen. Sein Ton ändert sich aber, sobald er zueinem anderen Fund Helenas übergeht, und zwar zu den Nägeln:

‚Sie suchte die Nägel, mit denen der Herr ans Kreuz geheftet wurde, und fand sie. Aus demeinen hieß sie einen Pferdezaum ( frenum ) machen, den anderen ließ sie auf ein Diadem auflegen ( in-

texuit ): den einen bestimmte sie [dadurch] zur Verzierung, den anderen zur Verehrung. Maria wardheimgesucht zur Erlösung der Eva, Helena ward heimgesucht zur Erlösung der Kaiser, sie sandte alsoihrem Sohn Konstantin das Diadem, mit Edelsteinen ( gemmis ) geschmückt, aber noch kostbarer alsdiese war das Juwel der göttlichen Erlösung, das im Eisen des Kreuzes enthalten war ( ferro innexa cru-

cis ). Auch den Zaum sandte sie ihm. Beides nahm Konstantin in Gebrauch und vererbte den Glaubenauf die folgenden Kaiser. Den Anfang bei den gläubigen Kaisern bildete also das Heiligtum über demZaume. Von daher rührte der Glaube, welcher die Verfolgung beendete, an deren Stelle die Gottes-verehrung trat.‘ 34

Ambrosius entwickelt dieses Thema im nächstfolgenden Absatz weiter:

‚Weise handelte Helena, als sie das Kreuz auf das Haupt der Könige legte, damit das Kreuz Christian den Königen verehrt werde35. Nicht der Ungehörigkeit sei [diese Tat], sondern der Frömmigkeit zu-zuschreiben, weil sie wegen der heiligen Erlösung geschah. Gut ist deshalb dieser Nagel des RömischenReiches, der den ganzen Erdkreis regiert und die Stirn der Kaiser kleidet, so dass sie jetzt Verkündigersind, die einst Verfolger zu sein pflegten. Zu Recht ruht der Nagel auf dem Haupte, damit dort, wo derVerstand ( sensus) ist, auch dort der Schutz (praesidium) sei. Auf dem Haupte die Krone, in den Händender Zügel. Die Krone vom Kreuz, damit der Glaube leuchte; desgleichen der Zügel vom Kreuz, damitdie Herrschaft mit gerechter Mäßigkeit und nicht mit ungerechtem Eigenwille regiere. Mögen die Fürs-ten Christi von der Freigiebigkeit [Gottes] erwerben, dass vom römischen Kaiser in NachahmungChristi das Wort gelte: Du hast eine Krone aus Edelstein auf sein Haupt gesetzt [Ps 21: 4]‘36.

34 Quaesivit clavos, quibus crucifixus est dominus, et invenit. De uno clavo frenum fieri praecepit, de altero diadema inte-

xuit; unum ad decorum, alterum ad devotionem vertit. Visitata est Maria, ut Evam liberaret, visitata est Helena, ut re-

dimentur imperatores. Misit itaque filio suo Constantino diadema gemmis insignitum, quas pretiosior ferro innexa crucis

redemptionis divinae gemma conecteret, misit et frenum. Utroque usus est Constantinus et fidem transmisit ad posteros

reges. Principium itaque credentium imperatorum sanctum est, quod super frenum: ex illo fides, ut persecutio cessaret,

devotio succederet. Ó 47. Eine solche Anwendung der Präposition de statt ex zum Material, aus welchemetwas hergestellt wurde, war zwar nicht ganz korrekt, aber möglich. – S. dazu den linguistischen Kom-mentar in: Mannix (wie Anm. 3) S. 137.

35 D.h. jedes Mal, wenn der Kaiser verehrt wird, wird dadurch auch <automatisch> das heilige Kreuz verehrt.36 Sapienter Helena, quae crucem in capite regum locavit, ut Christi crux in regibus adoretur. Non insolentia ista, sed pietas

est, cum defertur sacrae redemptioni. Bonus itaque Romani clavus imperii, qui totum regit orbem ac vestit principum fron-

Der Heilige Kranz 11

III. DIE AUGUSTA HELENA UND DIE RELIQUIEN DES ECHTEN KREUZES

An dieser Stelle ist es sinnvoll, kurz einige notwendige Erläuterungen zur Entste-hung der Kreuzauffindungslegende anzuführen, zumal dieses Problem dank der Be-mühungen mehrerer Historikergenerationen zumindest in einigen seiner Aspekte ge-klärt ist – soweit es überhaupt möglich erscheint. Die Reise der bereits bejahrten 37

Kaiserin nach Palästina Ende 324 oder im Frühjahr 325 38, Sommer 325 39, in der zwei-ten Hälfte 325 (nach Juli ) oder gar 326 40, Herbst 326 oder im Frühjahr 327 41 wird un-ter allen zeitgenössischen Autoren nur von Eusebius von Cäsarea erwähnt 42. Er stili-siert dieses Unternehmen der Augusta ausschließlich als fromme Wallfahrt, obwohl dieberechtigte Annahme auf der Hand liegt, dass ihre Gründe in erster Linie politischerNatur gewesen sein mussten 43. Die Auffindung der Passionsreliquien erwähnt Euse-bius allerdings mit keinem einzigen Wort. Mehr noch: der Bischof von Cäsarea zogüberhaupt nicht in Erwägung, dass auch jemand Anderes als Helena das Echte Kreuzaufzufinden vermochte – das Kreuz als materielle Reliquie existiert für ihn gar nicht.Dieses Schweigen ist noch erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, dass ein andererBischof, Kyrill von Jerusalem 44, nur etwa zehn Jahre nach Eusebius in seinen <Kate-chesen> (die 348–350 am Grab Christi vorgelesen wurden) sich unzweideutig in demSinne äußerte, dass das Echte Kreuz in der Grabkirche aufbewahrt wurde, wobei seinePartikel sich schon in der ganzen Welt in Umlauf befanden 45. Außerdem behauptete

tem, ut sint praedicatores, qui persecutores esse consueverant. Recte in capite clavus, ut ubi sensus est, ibi praesidium. In

vertice corona, in manibus habena: corona de cruce, ut fìdes luceat, habena quoque de cruce, ut potestas regat sitque iusta

moderatio, non iniusta praeceptio. Habeant hoc etiam principes Christi sibi liberalitate concessum, ut ad imitationem do-

mini dicatur de imperatore Romano: Posuisti in capite eius coronam de lapide pretioso. Ó 48.37 Sie verstarb im Alter von etwa 80 Jahren wahrscheinlich Ende 328 oder Anfang 329. Zur Biographie

Helenas s. zuerst neben dem Buch von Drijvers (wie Anm. 24) den Artikel: Richard Klein, Art. <He-lena II (Kaiserin)>, in: Reallexikon für Antike und Christentum 14, 1988, Sp. 355–375, wie auch dasBuch: Hans A. Pohlsander, Helena – Empress and Saint, Chicago 1995.

38 Stephan Borgehammar, How the Holy Cross was Found. From Event to Medieval Legend (Biblio-theca theologiae practicae. Kyrkovetenskapliga studier 47) Stockholm 1991, S. 140.

39 Michael Hesemann, Die Jesus-Tafel: die Entdeckung der Kreuz-Inschrift, Freiburg im Breisgau 1999,S. 202.

40 Heinz Heinen, Helena, Konstantin und die Überlieferung der Kreuzesauffindung im 4. Jahrhundert,in: Erich Aretz – Michael Embach – Martin Persch – Franz Ronig (Hgg. ), Der Heilige Rock zuTrier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 1995, S. 83–117, hier S. 111.

41 Edward David Hunt, Holy Land Pilgrimage in the Later Roman Empire AD 312–460, Oxford 1984,S. 35; Drijvers, Helena Augusta (wie Anm. 24) S. 59; Patrick Laurence, Helena, mère de Constantin.Metamorphoses d’une image, in: Augustinianum 42, 2002, S. 75–96, hier S. 83.

42 Eusebius, Vita Constantini, III, 42–47.43 Stefan Heid, Der Ursprung der Helenalegende im Pilgerbetrieb Jerusalems, in: Jahrbuch für Antike

und Christentum 32, 1989, S. 41–71, hier S. 54 f.; Drijvers, Helena Augusta (wie Anm. 24) S. 63–72 undsehr ähnlich: Laurence (wie Anm. 41) S. 84–86.

44 Zu ihm s. zuletzt die Studie von Jan Willem Drijvers, Cyril of Jerusalem: Bishop and City, Leiden2004.

45 Cyrillus Hierosolymitanus, Catecheses IV, 10; X, 19; XIII, 14. S. den Text in der neuen Edition:Cyrille de Jérusalem, Catéchèses mystagogiques, hg. von Auguste Piédagnel (SC 126bis ) Paris1988. Der Pilgerin Egeria zufolge blieb bereits in den 80er Jahren des 4. Jahrhundert nur ein verhält-nismäßig kleines Fragment des Kreuzes in Jerusalem: der zelebrierende Bischof konnte es an beidenEnden mit seinen Händen halten. Vgl. Peregrinatio Aetheriae, 37. Den Text s. Itinera Hierosolymitanasaeculi IIII–VIII, hg. von Paulus Geyer (CSEL 39) Wien 1898, S. 87 f.

12 Michail A. Bojcov

er in seinem Brief aus dem Jahre 351 oder 353 (vorausgesetzt natürlich es geht hiernicht um eine spätere Interpolation 46 ), dass diese Reliquie noch in der Zeit KaiserKonstantins gefunden worden war, wobei dies die erste direkte Verbindung zwischendem Fund und Konstantin (bzw. seiner Familie oder anderen Personen aus seiner Um-gebung) in der Überlieferung ist. Allerdings erwähnt Kyrill die Rolle Helenas dabeigar nicht – beredtes Schweigen angesichts der Tatsache, dass er dem Kaiser Constan-tius II., also dem Enkel Helenas schrieb 47. Die (wohl vom Süden Galliens stammende)Pilgerin Egeria besuchte Jerusalem zwischen 381 und 384 48 und berichtete ausführlichüber die Liturgie, in welcher den Gläubigen die Kreuzreliquie feierlich demonstriertwurde; auch sie erwähnt aber das angebliche Verdienst Helenas bei deren Auffindungmit keinem Wort. Als Johannes Chrysostomos sich in einer Homilie 390 an die Entde-ckung der drei Golgatha-Kreuze erinnerte, sagte auch er nichts von Helena 49.

Aus dem Vergleich der erwähnten Stellen wie auch weiterer Angaben (hauptsäch-lich der frühesten überlieferten Pilgerberichte ), ergeben sich für verschiedene Grup-pen von Historikern zwei sich gegenseitig ausschließende Vermutungen. Der erstenzufolge entstand der Kult des Echten Kreuzes zwar tatsächlich in Jerusalem, aber erstzwischen 333 (als der sog. Anonymus Burdigalensis in seiner Beschreibung der Grabkir-che keine Kreuzreliquien erwähnte) und ca. 348 (als Kyrill seine <Katechesen> konzi-pierte 50 ). Die zweite Meinung geht von der Freilegung des Golgatha-Kreuzes noch inden 20er oder spätestens in der ersten Hälfte der 30er Jahren des 4. Jahrhunderts aus,wobei gerade dieser Fund (und nicht die Entdeckung des Heiligen Grabes) der eigent-liche Anlass für die Errichtung der konstantinischen Basilika in Jerusalem war 51. Imletzten Fall muss man nolens volens annehmen, dass Eusebius die Entdeckung des Hei-ligen Kreuzes bewusst verschwieg – sei es etwa aus kirchenpolitischen 52 oder theolo-gischen 53 Gründen. Er wollte dann offensichtlich die Aufmerksamkeit seiner Leserweg vom Kreuz – dem materiellen Symbol der Passion – völlig auf das Heilige Grab –

46 Analyse der Meinungen zu dieser Frage mit dem Schlussergebnis zugunsten der Authentizität des Tex-tes s. in: Heid (wie Anm. 43) S. 56.

47 Kritische Edition: Ernest Bihain, L’épître de Cyrille de Jérusalem à Constance sur la vision de la vraiecroix: Tradition manuscrite et édition critique, in: Byzantion 53, 1973, S. 264–296.

48 Über Egeria s. zuerst: John Wilkinson, Egeria’s Travels to the Holy Land: Newly Translated with Sup-porting Documents and Notes, Jerusalem 1981.

49 Migne PG 59, Sp. 461.50 Heid (wie Anm. 43) S. 41 ff. Andere Folgen aus derselben Prämisse werden gezogen in: Marta Sordi,

La tradizione dell’inventio crucis in Ambrogio e in Rufino, in: Rivista di storia della Chiesa in Italia 44,1990, S. 1–9, hier S. 7. Vgl. auch: Dies., Dall’elmo di Costantino (wie Anm. 27) S. 886. Sordi datiert dieLegende über die Auffindung der Kreuzreliquien auf die Zeit zwischen 351 und 395. Für sie ist dieseGeschichte auf das Engste mit der Dynastie Konstantins verbunden und soll am Hofe Constantius II.entstanden sein. Die Annahmen Sordis scheinen allein schon deswegen bedenklich zu sein, weil derKern der Legende auf jeden Fall Jerusalemer Abstammung gewesen sein musste. Das Beste, was derKaiserhof hier bewirken konnte, war, die Verbreitung des schon gestalteten Sujets nach Möglichkeit zufördern.

51 Diese Forschungsrichtung wurde von der Studie Hunt (wie Anm. 41) eröffnet.52 Ze’ev Rubin, The Church of Holy Sepulchre and the Conflict between the Sees of Caesarea and Jeru-

salem, in: Lee I. Levine (Hg. ), The Jerusalem Cathedra, 2, Jerusalem – Detroit 1982, S. 79–105, hierS. 87–93.

53 Peter W. L. Walker, Holy City, Holy Places? Christian Attitudes to Jerusalem and the Holy Land inthe Fourth Century, Oxford 1990, S. 126–130, 275–281; Borgehammar (wie Anm. 38) S. 116–119.

Der Heilige Kranz 13

dem materiellen Symbol der Auferstehung – lenken 54. Wenn aber Eusebius anderer-seits selbst von der Auffindung des Kreuzes wusste und nichts dazu sagen wollte, be-deutet das noch nicht, dass es Helena war, die diese Reliquie ans Licht brachte. DasKreuz konnte ja schon einige Jahre vor ihrer Ankunft in Palästina entdeckt wordensein 55. Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen (was Stephan Borgehammartatsächlich tut ) und das Schweigen des Eusebius in dem Sinne interpretieren, dass diealte Legende völlig Recht habe: Es war also Helena, die das Kreuz fand 56.

Auf die Argumente gegen die Theorie des frühen Auftauchens der Kreuzreliquiewie auch weitere Einzelheiten dieser recht speziellen Diskussion einzugehen, ergibthier keinen Sinn 57: die ( selbst durchaus fiktive ) Legende an sich verdient in unseremFall bei Weitem mehr Interesse als eine mögliche Rekonstruktion der <echten> histori-schen Ereignisse.

Relevant in dieser Hinsicht ist allein, dass keine Indizien für die Verbreitung derHelenalegende vor der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts greifbar sind, und dass sieso gut wie sicher aus Jerusalem stammen muss 58. Die früheste bekannte schriftlicheFixierung der Legende findet sich wohl bei Gelasius von Cäsarea, der um 390 seine<Kirchengeschichte> zusammenstellte. Letztere ist zwar leider nicht überliefert, wurdeaber von Historikern des 5. Jahrhunderts so aktiv benutzt, dass erhebliche Teile des ur-sprünglichen Textes bis zu einem gewissen Grad nachempfunden werden können 59.In seinem Bericht über die Kreuzauffindung erzählt Gelasius eine recht gut gestalteteGeschichte, die über eine beträchtliche Zeit hindurch in der mündlichen Traditionschon existiert haben muss, bevor sie eine so weit entwickelte Form angenommen ha-

54 Diese Argumentation wurde entwickelt in den Studien: Rubin (wie Anm. 52); Harold A. Drake,Eusebius on the True Cross, in: Journal of Ecclesiastical History 36, 1985, S. 1–22 und – auf Grundlagedieser beiden Studien – in: Drijvers, Helena Augusta (wie Anm. 24) S. 83–88. Die Meinung über dieEntdeckung des Kreuzes in den 20er Jahren wird auch in Laurence (wie Anm. 41) S. 92, vertreten; beiihm findet man allerdings auch sonst so gut wie keine Abweichungen von der Position Drijvers.

55 Drijvers, Helena Augusta (wie Anm. 24) S. 89, 93, 183.56 Rubin (wie Anm. 52); Borgehammar (wie Anm. 38) S. 126–142. Vorsichtige Zustimmung zur Mei-

nung Borgehammars wird auch geäußert in: Heinen (wie Anm. 40) S. 112–114. Das Schweigen Euse-bius’ wird bei Borgehammer immer reicher an Informationen. Der Bischof von Cäsarea berichtetenichts über den Besuch Helenas auf Golgatha, obwohl er beschrieb, wie sie Bethlehem und den Ölbergbesichtigt hatte. Dies kann nur bedeuten – schlussfolgert daraus Borgehammar – dass Eusebius miss-fiel, womit sich Augusta auf Golgatha beschäftigte. Und womit konnte sie sich da beschäftigen? Nur mitder Suche nach dem Heiligen Kreuz! (S. 125 f., 129).

57 S. z. B. die Rezension des Buches von Borgehammar von Kenneth G. Holum, in: Speculum 69, 1994,S. 425 f., oder Rudolf Leeb, Konstantin und Christus: Die Verchristlichung der imperialen Repräsen-tation unter Konstantin dem Großen als Spiegel seiner Kirchenpolitik und seines Selbstverständnissesals christlicher Kaiser, Berlin – New York 1992, S. 91.

58 Drijvers, Helena Augusta (wie Anm. 24) S. 142; zu denselben Ergebnissen kommt man unabhängig in:Heid (wie Anm. 43) S. 44 ff. Ebd. s. auch den detaillierten Überblick verschiedener Standpunkte in denDiskussionen über die Helenalegende, wie auch umfangreiche bibliographische Hinweise. Der Thesevon der verhältnismäßig späten Entstehung der Helenalegende widerspricht natürlich Borgehammar,weil er ihren Kern für glaubwürdig hält.

59 Die Bedeutung des Werkes von Gelasius wurde demonstriert in: Friedhelm Winkelmann, Untersu-chungen zur Kirchengeschichte des Gelasius von Kaisareia (Sitzungsberichte der deutschen Akademieder Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst 65/3) Berlin 1963; Ders., Cha-rakter und Bedeutung der Kirchengeschichte des Gelasius von Kaisareia, in: Byzantinische Forschun-gen 1, 1966, S. 346–385.

14 Michail A. Bojcov

ben konnte 60. Die Version Gelasius’ nahm Einfluss – direkt oder indirekt – auf Auto-ren der <Kirchengeschichten> des 5. Jahrhunderts 61: Rufinus 62 (402/403), Sozome-nos 63 (zwischen 439 und 450), Sokrates Scholastikos 64 (438–443), Theodoret vonKyrrhos 65 (kurz nach 444) und Gelasius von Kyzikos 66 (kurz nach 475). Aber nichtauf Ambrosius von Mailand.

Es war gerade Ambrosius, der als erster im lateinischen Westen die Legende vomFund Helenas nacherzählte. Mehr noch: seine Version erscheint überhaupt die frü-heste unter den überlieferten, denn das Werk Gelasius’ ist, wie bereits erwähnt, verlo-ren 67. Erst kurz nach Ambrosius, im Jahre 402 oder 403, aber völlig unabhängig vonihm, überlieferte Rufinus die Helenalegende auf Latein, in einer Fassung, die er wohlvon Gelasius übernahm. Im Jahre 403 machten zwei weitere Autoren etwas Ähnliches:Paulinus von Nola erzählt die Geschichte in seinem Brief an Sulpicius Severus 68, wo-bei Sulpicius gleich danach diesen Bericht in seiner <Historia sacra> ( II, 33–34) wie-derholte. Bei großer Vielfalt einzelner Motive erkennt man in all diesen Texten ohneWeiteres verschiedene Variationen ein und derselben Ausgangsversion, und zwar der-jenigen, die auch die griechischen Autoren der <Kirchengeschichten> anregte. Daher

60 Drijvers, Helena Augusta (wie Anm. 24) S. 99; Heid (wie Anm. 43) S. 63. Ein Rekonstruktionsversuchdieser Stelle bei Gelasius s. in: Borgehammar (wie Anm. 38) S. 53–55. Meine Einwände dagegen fol-gen weiter unten.

61 Drijvers, Helena Augusta (wie Anm. 24) S. 99. Allgemeine Angaben zu den hier zitierten oder erwähn-ten Historikern der 4.–5. Jahrhundert s. z. B. in den folgenden neueren Studien: Glenn F. Chesnut,The First Christian Histories: Eusebius, Socrates, Sozomen, Theodoret and Evagrius (Théologie histo-rique 46) Paris 1977; Hartmut Leppin, Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. Das christlicheKaisertum bei den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus und Theodoret, Göttingen 1996; Petervan Deun, The Church Historians after Eusebius, in: Gabriele Marasco (Hg. ), Greek and RomanHistoriography in Late Antiquity. Fourth to Sixth Century A.D., Leiden – Boston 2003, S. 151–176;Hartmut Leppin, The Church Historians ( I ): Socrates, Sozomenus, and Theodoretus, in: ebd.,S. 219–255; Peter van Nuffelen, Un héritage de paix et de piété. Étude sur les Histoires ecclésiasti-ques de Socrate et Sozomène, Leuven u. a. 2005.

62 Rufinus, Historia ecclesiastica I (X), 7 f. Zitiert hier und weiter nach: Migne PL 21. Diese Stelle s.Sp. 475–477. Die alte Meinung, dass nicht Rufinus dem Gelasius folgte, sondern umgekehrt, ist zur Zeitzurückgewiesen.

63 Sozomenos, Historia ecclesiastica II, 1. Hier und weiter folgen alle Zitate der Edition: Sozomenos,Historia ecclesiastica – Kirchengeschichte, hg. von Günther Christian Hansen, Teilbd. 1 (FontesChristiani 73, 1 ) Turnhout 2004. Hier S. 194–201.

64 Socrates, Historia ecclesiastica I, 17. Text nach der Edition: Migne PG 67, Sp. 29–842, hierSp. 117–121.

65 Theodoret, Historia ecclesiastica I, 18. Edition: Theodoret, Kirchengeschichte, hg. von Léon Par-mentier und Felix Scheidweiler, Berlin 1954. Zum Autor s. die neue Studie: Istvan PásztoriKupán, Theodoret of Cyrus, London 2006.

66 Gelasius Cyzicenus, Historia ecclesiastica, hg. von Gerhard Loeschke und Margret Heinemann(Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte 28) Leipzig 1918, S. 146. DasWerk Gelasius’ von Kyzikos bleibt weiter unberücksichtigt, weil er in seiner Schilderung der Kreuzauf-findungsgeschichte fast wörtlich der Erzählung von Theodoret folgt.

67 Die Trauerrede von Ambrosius gab sogar Anlass zur Vermutung, dass die Legende nicht aus dem Ostenkam, sondern westlichen Ursprungs war: Marie Pardyová-Vodová, L’impératrice Hélène et l’inven-tion de la Sainte Croix, in: Sborník prací filozofické fakulty brnenské univerzity. Rada archeologicko-klasická 44/25, 1980, S. 235–240.

68 Migne PL 61, Sp. 328. S. dazu auch: Carmelo Curti, L’„inventio crucis“ nell’epistola 31 di Paolino diNola, in: Orpheus 17, 1996, S. 337–347.

Der Heilige Kranz 15

darf man alle oben genannten Schriftsteller – unabhängig davon, ob sie ihre Werke aufGriechisch oder Latein verfassten, ob sie zum Text von Gelasius direkten Zugriff hat-ten oder von ihm nichts wussten – für Vertreter einer identischen Tradition halten, dieoffenbar in Jerusalem entstand und ebenda auch weiter gepflegt wurde 69. Die Geburteiner solchen Tradition war gewiss auf das Engste mit dem starken Einsetzen vonWallfahrten zu heiligen Stätten verbunden und vielleicht auch gerade dadurch verur-sacht. Mit großer Wahrscheinlichkeit konnte die Legende aus jenen Erläuterungen undKommentaren erwachsen, welche Kleriker der Grabkirche den Pilgern in Nachbar-schaft zur Kreuzreliquie vermittelten 70. Alle oben genannten Schriftsteller erschei-nen als Träger ein und derselben mehr oder weniger einheitlichen und genuin <Jeru-salemer Tradition>, ihnen steht ein Einziger entgegen, der meiner Meinung nach füreine ganz andere Linie in der Entwicklung des Helenasujets steht. Ambrosius von Mai-land. Meine Behauptung widerspricht der vorherrschenden Meinung insoweit, dass diemeisten Historiker den Unterschied zwischen zwei Traditionen bisher überhaupt nichtbemerkten: für sie gehören Ambrosius wie auch Rufinus und Paulinus – wie etwa beiMarta Sordi – zu „una tradizione comune“ mit dem einzigen Vorbehalt, dass Rufinusdie frühere (mögliche Entstehungszeit zwischen 351 und 395) und kürzere Varianteder Legende nacherzählte („ … e di cui Rufino ci conserva forse la versione origina-ria“) 71 – während Ambrosius sich einer späteren und erweiterten Fassung bediente 72.

Mittlerweile erscheinen die Unterschiede zwischen den <Jerusalemer> Autorenund Ambrosius bei näherer Betrachtung als vielfältig. Alle Träger der <Jerusalemer Tra-dition> widmeten ihre Aufmerksamkeit vor allem dem H o l z des Kreuzes, wobei sieden Nägeln zwar auch eine ehrenhafte, aber doch sekundäre Rolle zuwiesen. DieseEinstellung ist schon allein daraus verständlich, dass in Jerusalem gerade das StückHolz als die allerwichtigste Passionsreliquie überhaupt verehrt wurde. Paulinus vonNola vergisst vollständig, die Nägel zu erwähnen – aus einem nahe liegenden Grund:zusammen mit seinem Brief schickte er seinem Korrespondenten und Freund – Sulpi-cius Severus – eine Partikel des Kreuzholzes: eine recht großzügige Gabe, die aller-dings einer speziellen Erklärung bedurfte, weil Sulpicius von der Existenz einer sol-chen Reliquie bis dahin nichts gehört hatte. Natürlich spricht auch Sulpicius Severus inseinem Werk die Nägel nicht mehr an, war er doch völlig auf jene Informationen an-gewiesen, die ihm Paulinus mitgeteilt hatte.

Ganz im Gegenteil waren aber gerade die Nägel in der Trauerrede Ambrosius’von allergrößter Bedeutung. Die ganze <Jerusalemer Tradition> schrieb den umgewan-delten Nägeln des Kreuzes die Funktion von Amuletten in Gefechten zu. Ambrosius

69 Drijvers, Helena Augusta (wie Anm. 24). Diese These bleibt bestehen, unabhängig davon, ob DrijversRecht hat wenn er vermutet, Paulinus habe die Legende dank Melania der Älteren kennen gelernt, wel-che ein Stück des Kreuzholzes aus Jerusalem mitgebracht haben sollte. Vgl.: Drijvers, Helena Augusta(wie Anm. 24) S. 122.

70 Borgehammar (wie Anm. 38) S. 79 f.71 Sordi, La tradizione (wie Anm. 50) S. 4, 6. (Sordi berücksichtigt das Werk Gelasius von Caesarea über-

haupt nicht ); Borgehammar (wie Anm. 38) S. 63–66; Han Drijvers – Jan Drijvers (wie Anm. 82)S. 13, 26 f. Eine ähnliche, wenn auch etwas widersprüchlich formulierte Meinung s. in: Baert (wieAnm. 3) S. 34 f.: „Ambrose, Rufinus (via Gelasius ) and Paulinus of Nola all share a common core …Thus Ambrose deviates from a core shared by the other sources“.

72 Dies., Dall’elmo di Costantino (wie Anm. 27) S. 884, 886 f.

16 Michail A. Bojcov

war mit dieser Interpretation zwar auch vertraut, aber mit ihr allein keinesfalls zufrie-den 73. In seinen Augen stand den Golgatha-Nägeln eine immense historische undpolitische Bedeutung zu: diese Nägel halten nach ihm – ohne jede Übertreibung – dasgesamte christliche Reich zusammen 74. Die Bekehrung Konstantins und die Christia-nisierung des Römischen Reiches waren durch die Erwerbung dieser Reliquien direktverursacht worden. Allerdings zeigt sich Ambrosius dem Holz des Kreuzes gegenüberbeinahe gleichgültig: er vergisst sogar zu sagen, was für alle <Jerusalemer> Autoren vonerstrangiger Relevanz blieb: Helena sandte ihrem kaiserlichen Sohn neben den Nägelnauch ein großes Stück des Kreuzholzes. Für Ambrosius hatte dieses Geschenk offen-sichtlich überhaupt keine Bedeutung.

Die ganze <Jerusalemer Tradition> betont die aktive Rolle Konstantins: er erhieltzwar die Nägel von Helena, entschied aber dann durchaus souverän, was aus ihnenhergestellt werden sollte. Allein Ambrosius verweigert Konstantin jegliche <Urheber-rechte>: das Einzige, was der Kaiser tat, war nur, rein passiv die Geschenke seiner from-men Mutter zu empfangen. Er diente dabei in der Tat bloß als Verbindungsglied zwi-schen Helena und den künftigen christlichen Kaisern, auch Theodosius und Honorius.

Es gibt auch einige weitere auffallende Differenzen 75, entscheidend sind aber inmeinen Augen nur die folgenden zwei. Die erste verrät uns einiges über die <alterna-tive> Tradition, welcher Ambrosius zugeordnet werden könnte, die zweite aber lässtsich vielleicht als Andeutung darauf verstehen, wie er als Autor selbst mit dem narra-tiven Stoff umging, der in seine Hände geriet.

1. In der Darlegung Ambrosius’ ist einer eschatologischen Prophezeiung ausdem alttestamentlichen Buch Sacharjas ein wichtiger Platz zugewiesen, wohingegen siein der <Jerusalemer Tradition> nur am Rande und ausnahmsweise auftaucht.

2. Alle <Jerusalemer Autoren> stimmen ohne jede Ausnahme darin überein, dassHelena (bzw. Konstantin selber ) aus einem Nagel (bzw. aus ‚einem Teil‘ der Nägel )einen H e l m herstellen ließ; an dieser Stelle spricht aber nur Ambrosius nicht vomHelm, sondern von einem D i a d e m .

73 […] quo inter proelia quoque tutus adsisteret et periculum non timeret. – 41.74 Jan Willem Drijvers glaubt, Ambrosius schenkte den Nägeln wegen der Prophezeiung Sacharjas so viel

Aufmerksamkeit, von welcher weiter unten die Rede ist. – Drijvers, Helena Augusta (wie Anm. 24)S. 112.

75 So brauchten alle Vertreter der <Jerusalemer Tradition>, beginnend mit Gelasius, unbedingt ein Wunderin Form einer Heilung oder Auferstehung, damit das Echte Kreuz von den Kreuzen der beiden Räuberunterschieden werden konnte. Ambrosius äußerte sich dagegen durchaus nüchtern: Helena erkanntedas richtige Kreuz dank der Tafel ( titulus ) mit Inschrift, die Pontius Pilatus daran befestigen ließ. Es fälltauf, dass der Syrer aus Antiochia, Johannes Chrysostomos, sich genau an dieselbe <nüchterne> Versionin einer seiner Homilien (um 389) hielt. Gottes Vorsehung bestünde darin, dass Pilatus befahl, die Ta-fel am Kreuz anzubringen: Dank ihr gelang es, das Echte Kreuz zu identifizieren ( Johannes erwähntHelena in diesem Zusammenhang allerdings gar nicht ) Migne PG 59, Sp. 461. Bei Ambrosius findetman eine ähnliche These. ‚[Nicht umsonst ] hatte Pilatus den Juden [auf ihr Ersuchen] erwidert: „Wasich geschrieben habe, bleibt geschrieben“. Das heißt, nicht, das habe ich geschrieben, was euch gefallenwürde, sondern das, was die Nachwelt erkennt – beinahe sagend: Helena sollte etwas zu lesen findenals Anhaltspunkt, um das Kreuz des Herrn daraus zu erkennen‘. – Hoc est, quod petentibus Iudaeis respondit

Pilatus: Quod scripsi, scripsi, id est: non ea scripsi, quae vobis placerent, sed quae aetas futura cognosceret, non vobis

scripsi, sed posteritati; propemodum dicens: Habeat Helena, quod legat, unde crucem domini recognoscat. (45). Könntediejenige Variante der Legende, die Ambrosius in Mailand erreichte, vielleicht aus Syrien stammen?

Der Heilige Kranz 17

IV. DIE PROPHEZEIUNG SACHARJAS

Bei seinen Schilderungen der himmlischen Zusammenkünfte Theodosius’ (40)erwähnte Ambrosius, dass in der Zeit Konstantins die Prophezeiung des Propheten Sa-charjas zur Erfüllung kam: ‚Zu der Zeit wird auf den Schellen der Rosse stehen: Heiligdem Herren‘. (Sach 14, 20)76. So liest sich dieser Vers in der lutherischen Übersetzung.Die Texte von Septuaginta, Vulgata und der frühen lateinischen Bibelübersetzung, de-rer sich Ambrosius bediente77, erlauben aber eine andere Lesart: ‚Zu der Zeit wird dasdem Allmächtigen Gott [gewidmete] Heiligtum über dem Zaumzeug des Pferdes[sein]‘. Der Charakter ‚der Zeit‘, von welcher Ambrosius mit den Worten Sacharjas re-det, erklärt sich aus dem Kontext: ‚Und es werden alle Töpfe in Jerusalem und Judadem Herrn Zebaoth heilig sein, so dass alle, die da opfern wollen, kommen werden undsie nehmen und darin kochen werden‘. Es geht hier um den Tag des Jüngsten Gerichts,den vollständigen Triumph des wahren Glaubens – und es ist gerade dieser Sieg, denAmbrosius offenbar hier meint. Allerdings präsentieren die vorangestellten Verse dasBild der letzten Zeiten und der Weltkatastrophe kaum weniger beeindruckend als dieApokalypse – der in der Regierungszeit Konstantins begonnene Triumph des Christen-tums muss also im eschatologischen Kontext verstanden werden.

In der Erfüllung dieser Prophezeiung besteht also in den Augen Ambrosius’ derHauptsinn der mindestens aus unserer Sicht etwas seltsam wirkenden EntscheidungHelenas, einen der Kreuznägel in einen Pferdezaum verwandeln zu lassen. Mit dieserInterpretation bleibt Ambrosius allerdings nicht ganz allein. Sozomenos, der sich bis-her als konsequenter Vertreter der <Jerusalemer Tradition> erwies, erlaubt sich hierplötzlich ein Motiv, das ihr fremd war. Er schreibt: ‚Aus diesen [Nägeln] – so wird esberichtet, – habe der Kaiser sich einen Helm fertigen lassen und auch einen Pferde-zaum gemäß der Prophezeiung von Sacharja …‘ 78. Die Entstehung der beiden heiligenGegenstände wird hier also nicht <pragmatisch> (Schutz in Kriegsgefechten), wie beiden <Jerusalemern>, sondern <eschatologisch> gerechtfertigt. Eine ähnliche, wenn auchgemilderte Meinung bietet auch Theodoret von Kyrrhos an 79. Üblicherweise stimmt ermit Sozomenos in den Fällen weitgehend überein, wo beide Historiker gemeinsam ei-ner verlorenen Schrift (die aber hier nicht das Werk Gelasius’ gewesen sein kann) folg-ten. Hier dürfte er aber in Zweifel geraten sein und ergänzte die offenbar streng <escha-

76 Cui licet baptismatis gratia in ultimis constituto omnia peccata dimiserit, tamen quod primus imperatorum credidit et post

se heredidatem fìdei principibus dereliquit, magni meriti locum repperit. Cuius temporibus conpletum est propheticum il-

lud: In illo die erit, quod super frenum equi, sanctum domino onnipotenti. (40).77 Ambrosius benutzte neben einigen frühen lateinischen Bibelübersetzungen und der Septuaginta auch

drei weitere griechische Fassungen der Heiligen Schrift. Moorhead (wie Anm. 15) S. 78 f. In diesemFall bediente er sich allerdings einer lateinischen Textversion, die der Lesart der Septuaginta treu folgt,denn die alternativen griechischen Übersetzungen schlugen andere Interpretationen dieser dunklenStelle vor, was Hieronymus später in seinem Kommentar zum Buch Sacharja erwähnte ( s. weiter unten).

78 […] �� ������ � ¹����� �µ� �� ��� ��� ��φ������ ��������� ��λ ��� �µ����� �� ���� �κ� Z������� ���φ������ […] ( II, 1, 9 ). Deutsche Übersetzung von Hansen (wieAnm. 63).

79 O��� �κ ��� �� ���« π !"��� !�#��� �µ ��#��!����, �$� !� %��� �� !� �&« �µ �� -� �µ� ������� �����«, �'« ��� �� �µ« ��φ��'« ���!�#��!���, θ�� �� �$� ����!��� $��-������� ����· �� � �)$ ��� ����� $��! +� ��� �)$, ��λ $φ��� �� !�����!��� �)$ �� ��,��λ ���� )» ���φ����)� ����« �� � #�,�. �.���#�� /�� Z������« ² ���φ"��« ��.�· „��λ0�� �µ ��λ ��� ��� ��� Ϊ/ �� �)$ ����)� ����������� “. Theodoret I, 18.