Der Historiker und der Richter. Der Genozid an den Armeniern und die Genozidforschung aus...

12
Jakob Tanner: Der Historiker und der Richter. Der Genozid an den Armeniern und die Genozidforschung aus rechtlichen und geschichtswissenschaftlicher Sicht, in: Hans- Lukas Kieser, Elmar Plozza (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa, Zürich 2006, S. 177-196.

Transcript of Der Historiker und der Richter. Der Genozid an den Armeniern und die Genozidforschung aus...

Jakob Tanner: Der Historiker und der Richter. Der Genozid an den Armeniern und die Genozidforschung aus rechtlichen und geschichtswissenschaftlicher Sicht, in: Hans-Lukas Kieser, Elmar Plozza (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa, Zürich 2006, S. 177-196.

177

Der Historiker und der Richter

Der Genozid an den Armeniern und die Genozidforschung ausrechtlicher und geschichtswissenschaftlicher Sicht

Jakob Tanner

Die Genozidforschung hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen. I

DieseEntwicklung lässt sich in die 1980er und 90er Jahre zurückverfolgen; sie hatteauch zur Folge, dass man fortan nicht mehr vom «forgotten genocide»2 an den Ar­meniern sprechen konnte. Noch 1978 wurde in einem von Nicodeme Ruhashyankikovorgelegten Bericht des Wirtschafts- und Sozialrates der UNO die Streichung desVölkermordes an den Armeniern in der Türkei im Ersten Weltkrieg aus der Listeder Völkermorde mit dem Argument begründet, es sei wichtig, «die Einheit derVölkergemeinschaft zu erhalten» und «das Bohren in der Vergangenheit» könne«alte Wunden aufreissen [...], die am Verheilen seien».3 Auch wenn heute solcheund weitere Gründe noch immer angeführt werden, wenn es darum geht, diesenVölkermord zu ignorieren oder zu leugnen, hat sich doch die gegenteilige Erkenntnisweitgehend durchgesetzt.4 «The 1915-16 genocide was a one-sided destruction of alargely defenceless community by the agents of a sovereign state»: so fasst DonaldBloxham in einer neuen Studie den Sachverhalt zusammen.5

Das Problem der historischen Anerkennung dieses Völkermordes, den der osmani­sche Staat in den Jahren 1915/16 verübte, lag während der ersten Hälfte des 20. Jahr­hunderts nicht nur darin, dass die europäische Mächtekonstellation eine rechtlicheVerfolgung dieses Verbrechens schon zu Beginn der 1920er Jahre wirksam unter­drückte und mit der Generalamnestie, die an der Lausanner Konferenz von 1923ausgesprochen wurde, verunmöglichte, sondern ist auch darauf zurückzuführen,dass der Begriff des Genozids zum Zeitpunkt, zu dem die Armenier in der Türkeisystematisch verfolgt, vertrieben und massenhaft ermordet wurden, noch gar nichtexistierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich der 1944 vom VölkerrechtlerRaphael Lemkin aus dem griechischen Wort genos (Rasse, Volk, Stamm) und demlateinischen -cidium (Mord) gebildete Neologismus allerdings rasch durch;6 Ende1948 verabschiedete die UNO-Generalversammlung schliesslich eine Konventionzur Bestrafung und Verhinderung der «verabscheuungswürdigen Geissei» des Ge­nozids.? Dies veränderte auch die Wahrnehmung historischer Ereignisse und dieInterpretation der Vergangenheit. Die Geschichtswissenschaft sieht sich deshalbmit der Aufgabe konfrontiert, die Zuschreibungsverfahren zu analysieren, die im

178Tanner: Der Historiker und der Richter 179

Verlaufe des 20. Jahrhunderts bei der rechtlichen Kodifizierung und Verfolgung vonVölkermorden ins Spiel kamen und die in der Nachkriegszeit den Namen Auschwitz«geradezu zum Synonym für Genozid» machten.8 Zugleich fragt sie nach gemein­samen Definitions- und Bewertungskriterien für Völkermorde; das völkerrechtlicheKonzept hat inzwischen eine vergleichende Genozidforschung angeregt, welche inder Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Armenier im Ersten Weltkrieg einenzentralen Referenzpunkt und ein Paradigma dieses Verbrechenstypus sieht, das aufVölkermorde vor und nach dem Ersten Weltkrieg bezogen wird.9

Der folgende Aufsatz versteht sich nicht als historischer Forschungsbeitrag zumGenozid an den Armeniern während des Ersten WeltkriegeslO und befasst sich auchnicht eingehend mit den vergangenheitspolitischen Debatten in der Türkei und inArmenien. Er zielt vielmehr auf einige allgemeine Probleme, die mit dem Konzeptdes «Völkermordes» verbunden sind. Dabei wird davon ausgegangen, dass die De­finition eines Genozids nicht das Ergebnis der historischen Forschung, sondern einerjuristischen Feststellung ist, was die Frage nach dem Verhältnis zwischen rechtlicherNormensetzung und historischer Interpretation aufwirft. Dies vor allem im Hinblickauf eine «Theorie des Völkermordes», wie sie Micha Brumlik mit guten Gründenfordert. 11 Dabei zeigt sich nicht nur das Problem, welche Massenverbrechen anMenschen unter diese Kategorie fallen und wie Verursachungskonstellationen undkontextuelle Faktoren vergleichend untersucht werden können. Wichtig ist viel­mehr auch, dass die Antinomien reflektiert werden, die in den Begriffen «Volk»und «genos» angelegt sind. Das erste Kapitel des folgenden Beitrages thematisiertSpannungsfelder, die zwischen Geschichtswissenschaft, Erinnerungskulturen undRechtswesen auftreten und die sich in der Definition von Völkermord und in derAnerkennung dieses Verbrechens manifestieren. Anschliessend befasst sich einzweites Kapitel mit der Justiziabilität historischer Befunde und mit der Relevanzrechtlicher Kategorien für die Geschichtsschreibung am Fall des Genozids an denosmanischen Armeniern in den Jahren 1915/16. Dabei zeigt sich anhand einer his­torischen Kontextualisierung der beiden Begriffe genos und Genozid deutlich, dasseine geschichtswissenschaftliche Analyse sich von einer rechtlichen Bewertung we­der distanzieren kann noch soll, dass sie sich aber nicht in einer solchen erschöpfendarf, sondern weiterführende Fragen stellen muss.

I. Spannungsfelder und Widersprüche zwischen Geschichte,Gedächtnis und Gesetz

Seit einigen Jahrzehnten und insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges, d.h.seit dem weltgeschichtlichen Umbruch der Jahre 1989/91, nimmt die Bedeutungvon Erinnerung und Aufarbeitung der Vergangenheit nicht nur auf nationaler Ebene,

sondern auch in einem internationalen Kontext ZU.!2 Dabei geht es um eine Verge­genwärtigung der Kriege und Verbrechen des 20. Jahrhunderts gegen anhaltendeVerdrängung und gegen eine Politik, die «endlich einen Schlussstrich» unter dieseDebatten setzen möchte. Die menschlichen Katastrophen der beiden Weltkriegehaben in den Jahren nach 1945 neuen rechtlichen Konzepten zum Durchbruchverholfen oder alte Rechtsformen auf eine neue Grundlage gestellt. Die Gründungder UNO (1945), der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg (1945-49), dieInternationale Menschenrechtskonvention und die Anti-Genozidkonvention derUNO (1948) sind die wichtigsten Vorgänge, welche die rechtliche Erfassbarkeitdieser Verbrechen ermöglichten sowie die Instrumente für die Verfolgung undBestrafung von Verbrechen bereit stellten.13 Das neue Völkerrecht, das sich mit derUN(11durchsetzte, verlagerte die Präferenz für Kollektive, die im Völkerbund nochvorherrschte, in Richtung Individuen, die nun als völkerrechtliche Subjekte aufge­wertet wurden. Gegenläufig dazu wurden mit der Definition des «Völkermordes»Kollektivkonzepte und Gruppenkategorien verfestigt. Während sich menschenrecht­liche Vertragswerke mit «dem Lebensrecht des Individuums» beschäftigen, befasstsich die Anti-Genozidkonvention «mit dem Lebensrecht von Menschengruppen».14Sie fasst in Artikel II die als Völkermord qualifizierten «Handlungen» zusammen,die in der Absicht begangen werden, «eine nationale, ethnische, rassische oder reli­giöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören»,tSZeitgenössische Beobachter, unter ihnen der VölkerrechtlerArthur E. Kuhn in einem1949 im American Journal 01 International Law veröffentlichten Beitrag, stelltenangesichts der Tatsache, dass sowohl die Erklärung der Menschenrechte wie auchdie Definition des Völkermordes im Dezember 1948 an derselben Sitzung derUNO-Generalversammlung verabschiedet wurden, zwei Probleme fest. 16 Erstensgab es damals und auch in den darauf folgenden Jahrzehnten eine gleich lautendeKritik an beiden Konventionen, die von Staatsvertretern formuliert wurde, die sichgegen die Einmischung in die innerstaatliche Rechtssetzung verwahrten. Als «in­ternationale Staatengemeinschaft» blieb die UNO im normativen und politischenGravitationsfeld von Nationalstaaten, die auf ihrem «Selbstbestimmungsrecht»pochten und die - trotz Unterzeichnung und Ratifizierung der Menschenrechts- undder Anti-Genozidskonvention - keineswegs bereit waren, auf Souveränitätsrechtezu verzichten, die sie als zentral für ihre innere Stabilität und äussere Sicherheitansahen. Noch 1981 schrieb der Rechtssoziologe und Südafrikaexperte Leo Kuperin einer Überblicksdarstellung im Kapitel über den «souveränen Territorialstaat»desillusioniert: «The main thesis of this chapter is that the sovereign territorialstate claims, as an integral part of its sovereignty, the right to commit genocide, orengage in genocidal massacres, against peoples under its rule, and that the UnitedNations, for all practical purposes, defends this right.»!7 Er zitiert Pierre van denBerghe, der feststellt, als eine Organisation von Staaten sei die UNO «pro-state and

180Tanner: Der Historiker und der Richter 181

anti-nation».18 Der internationale Wille zur Verhinderung von Völkennorden befandsich also immer auf Kollisionskurs mit staatlichen Selbstbehauptungsstrategien, dieein Einmischungsrecht von aussen ablehnten - es gehört zum paradigmatischenCharakter des Genozides an den Armeniern, dass hier von ausländischen Staatenoffiziell ein Interventionsrecht in die inneren Angelegenheiten eines souveränenStaates reklamiert wurde. Auch wenn sich diese Eingriffsdoktrin ebenso wenig vonimperialistischen Absichten ablösen lässt wie die wenige Jahre darauf folgendeKollusion der Mächte, die das Schweigen und Leugnen der Türkei nun tolerierten,passierte hier doch etwas Neues. Fortan war die internationale Debatte um Geno­zid-Prävention unabdingbar verknüpft mit dem völkerrechtlichen Aushandeln derGrenzen territorialstaatlicher Souveränität. Zweitens wurde auf das aus dem Kontextheraus verständliche Bemühen hingewiesen, zwischen «Völkennord» und «Verbre­chen gegen die Menschlichkeit» zu unterscheiden. Vor allem den Siegennächten desZweiten Weltkrieges ging es darum, den Charakter der Ausrottungsfeldzüge des na­tionalsozialistischen Regimes möglichst klar zu fassen und ihn von Gräueltaten, wiesie in Kriegen generell vorkommen, zu unterscheiden. Arthur E. Kuhn schrieb dazu:«After the elose of the war, the conscience of the world was shaken by confinnation,theretofore deemed incredible, of the enonnous scope of the mass extenninationscarried out on racial, religious and political grounds by theHitler regime. It becamenecessary to give a name to and define this abominable crime and to make it pun­ishable whether committed in peace or war.»19 Nichtsdestotrotz war von Anfang anein Bewusstsein für die Gleichläufigkeit der Menschenrechts- und der Antigenozid­konvention vorhanden. Kuhn betonte, dass sie «many of the same basic questions»behandelten. Der französische Jurist und Friedensnobelpreisträger Rene Cassinbezeichnete die Antigenozidkonvention als «konkrete Anwendung der AllgemeinenErklärung der Menschenrechte», an deren 1948er-Kodifizierung er direkt beteiligtgewesen war.20 Die 2003 veröffentlichte Studie von William A. Schabas beobachteteine beträchtliche Verringerung «der angeblichen Kluft zwischen Verbrechen gegendie Menschlichkeit und Völkennord».21

Parallel zum Prozess einer universellen Verrechtlichung im Zeichen der Menschen­rechte, welche weltweit die Sanktionierung von Verbrechen gegen die Menschheitund von Völkennordenennöglicht, entwickelte sich auch eine Debatte über die Not­wendigkeit einer Erinnerung und Vergegenwärtigung solcher menschlicher Katastro­phen.

22Eine erhöhte Aufmerksamkeit lässt sich in beiden Bereichen konstatieren; die

seit den 1990er Jahren feststellbaren Versuche, die Nonnen der Genozidkonventionweiter zu entwickeln23 fallen zusammen mit einer aktiven, auf Universalisierungabzielenden Erinnerungspolitik. Dies akzentuierte die Widersprüche zwischen Er­innerungskulturen und historischer Wissenschaft. Das Gedächtnis - die mythischeund gelebte Erinnerung' kultureller oder sozialer Gruppen - und die Geschichte- die wissenschaftlich regulierte Erforschung der Vergangenheit - gerieten in ein

antagonistisches Verhältnis. Es zeigte sich weniger denn je Deckungsgleichheit,auch wenn Begriffe wie «Geschichtsbewusstsein» oder «Geschichtsbild» zeigen,dass keine strikte Polarität vorherrscht und durchaus Überschneidungen und Vermi­schungen existieren.24 Dennoch wurde deutlich, dass das emotionale Spannungsfeldzwischen Gedächtnis und Geschichte durch Meinungsverschiedenheiten darüber,wie sich bestimmte Gruppen an die Vergangenheit erinnern und wie Nationen einspezifisches kollektives Gedächtnis pflegen, verstärkt wurde. Das Problem zeigt sichbeispielsweise an den Vergangenheitszurechtlegungen, wie sie deutsche Heimatver­triebenenverbände (mit revisionistischen Forderungen) oder die türkische National­geschichte (mit ihrer Nichtanerkennung des Genozides an den Anneniem) vortrugenoder noch immer vortragen. Es handelt sich hier einerseits um Geltungsansprüchelokal~r «Orte der Wahrheit», an denen persönliche Erfahrungen absolut gesetzt undzu einer spezifisch beschränkten Weltsicht mit Rechtfertigungscharakter aufgebautwerden, und andererseits um die Konstruktion übergreifender nationaler Sinnkol­lektive.25 Während das eine Mal die Sinnproduktion vom Politischen abgelöst undin den Bereich des Individuellen und Privaten verlagert wird, was die Bildung parti­kularer Gruppenidentitäten befördert, die sich in Opposition zur Mehrheitsmeinungprofilieren können, geht es das andere Mal um die Stabilisierung einer hegemonialenDeutung, welche die Kontinuität einer Nationalgeschichte insinuiert und diese gegenirritierende Einsichten und unliebsame Erkenntnisse verteidigt.26 Aus der Sicht derGeschichtswissenschaft werden beide Male zentrale Forschungsergebnisse ausge­blendet oder verdrängt. Die Brisanz dieser Konflikte wird allerdings unterschätzt,wenn man in ihnen nur die instrumentelle Leugnung historischer Sachverhalte oderdie schlichte Nicht-Zur-Kenntnisnahme historischer Forschungsergebnisse sieht.Man kann eine solche Haltung bei so genannten Negationisten, den Holocaust-Leug­nem, durchaus vorfinden; auf abwegige, aggressive und antisemitisch motivierteWeise wird hier eine in vielen Ländern rechtlich inkriminierte Version der Vergan­genheit vortragen und mit einer Propaganda für «Meinungsfreiheit» verbunden.Andere Fälle - so auch die beiden genannten Beispiele - sind deswegen komplexer,weil sich hier die Geschichtsleugnung mit emotional aufgeladenen Erinnerungenund Erfahrungen oder mit der Hochrüstung des eigenen Nationalstolzes verbindet.Die Pose des Recht-Habens erhält so aus der Binnensicht jener, die sie einnehmen,einen legitimen Schein, weil sie in der Gesellschaft Resonanz und offene oderklammheimliche Unterstützung findet.Grundsätzlich ist auch in diesen klaren Fällen, in denen sich Täter und Opfer deutlichauseinander halten lassen, keine Kongruenz zwischen Gedächtnis, Geschichte undGesetz gegeben. Vielmehr zeigen sich unterschiedliche Spannungsmomente. Eskann sich, wie gezeigt, im institutionellen Kontext von Staaten oder in den Erinne­rungsmilieus einzelner Eliten oder sozialer Gruppen ein Gedächtnis herausbilden,das sich auf Kollisionskurs zu den Befunden der Geschichtswissenschaft und zu

182Tanner: Der Historiker und der Richter 183

rechtlichen Bewertungen befindet und das trotzdem mit staatlichen Machtmittelnoder ideologischer Propaganda durchgesetzt wird - bis hin zurAnklage von Intellek_tuellen, die sich der·Geschichtsklitterung widersetzen und die es wagen, die Dingebeim Namen zu nennen. Die rhetorischen Figuren des «Staatsfeindes», des «Nest­beschmutzers», der «Verunglimpfung» oder «Herabsetzung» sind rasch zur Hand,wenn es gilt, einer gedächtnispolitischen Doktrin gegen historische ErkenntnisseNachachtung zu verschaffen. Daraus resultieren so prekäre Bewertungsunterschiedewie der Folgende: In der Türkei wurde der Schriftsteller Orhan Pamuk wegen«öffentlicher Herabsetzung des Türkentums» (Artikel 301 des Strafgesetzbuches)angeklagt - um dann im Januar 2006 wieder entlastet zu werden, aber nicht etwadurch ein faires, rechtsstaatliches Gerichtsverfahren, sondern durch eine pragmati­sche Einmischung politischer Entscheidungsträger, die sich keinen solchen Prozessleisten wollten, in die Justiz. Umgekehrt kommen in der Schweiz jene, welche diein der Türkei weithin geteilte Ansicht, es hätte im Ersten Weltkrieg keinen Genozidan den Armeniern gegeben, vertreten, mit dem Gesetz in Konflikt, denn der 1994eingeführte Strafrechtsartikel261bis stellt das Leugnen von Völkermord unter Strafe.

Diese Anomalie kulturrelativistisch als Ausdruck unterschiedlicher Bewertungskri­terien - nach dem Motto «andere Länder, andere Sitten» - zu interpretieren, oderaber darin eine schlichte Machtfrage zu sehen, wäre völlig unangemessen. Es gehthier vielmehr um ein durchaus transnationales, globales Problem der Durchsetzungvölkerrechtlicher Normen. Dabei steht die Rolle der historischen Wissenschaft unddes Rechts in politisch organisierten, national verfassten Gesellschaften zur Diskus­sion. Es gibt Länder wie die USA, die sich weigern, den historischen Sachverhalt desGenozids an den Armeniern politisch anzuerkennen und andere, die, wie Frankreich,genau dies tun. Und es gibt Länder, die, wie die Schweiz, über ein Anti-Diskrimi­nierungsgesetz verfügen, was dann eine Debatte darüber auslöst, ob die Leugnungdieses Genozids darunter subsumiert werden soll oder nicht.27

In welchem Verhältnis stehen Geschichte und Recht? Kann es eine der «Gerichts­barkeit» nachempfundene staatliche «Geschichtsbarkeit» geben, d.h. lässt sichdie geschichtswissenschaftliche Erkenntnisproduktion der justizförmigen Wahr­heitsvalidierung, wie sie durch Gerichtsprozesse vorgenommen wird, angleichen?Oder gibt es - wie etwa Marc Bloch und Carlo Ginzburg aus unterschiedlichenPerspektiven bemerkt haben - nicht eine grundsätzliche Differenz zwischen Ge­schichte und Gerichten, und zwar in einer Weise, die sich mit dem Postulat, dasRecht habe die «historische Wahrheit» zu schützen, schlecht verträgt? Geschichteund Gerichte kommen ohne Interpretation nicht aus; sie unterscheiden sich darin,.wie diese Interpretationen revidiert werden können und welche Geltungskraft ihnenzukommt. Während ein Richterspruch nur durch eine nachfolgende bzw. höherge­stellte Instanz verändert werden kann - so dass die «letzte Instanz» dann auch diedefinitive Interpretation festlegt - ist die Geschichtsschreibung dauernd im Fluss.

Ihre Interpretationen stellen Interventionen in gesellschaftliche Deutungsprozessedar, sie können Resonanz haben, Kontroversen auslösen - aber auch unter Nicht­beachtung leer laufen. Geschichte fokussiert nicht auf «einen Fall» - wenn sie esmanchmal trotzdem tut, dann um dessen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeitaufzuzeigen, was sie dann dazu veranlassen kann, zu urteilen, aber daran hindert,ein zu vollstreckendes Urteil zu fallen. Geschichte strebt nicht nach jener Form derEindeutigkeit, welche die Grundlage für die Exekution eines Urteils ist. Sie siehtsich immerzu mit der Einsicht konfrontiert, dass es nicht einfach «die Vergangen­heit» gibt, sondern dass die Interpretation der Geschichte von Voreinstellungen, vonStandpunkten und Bewertungen abhängig ist. Es manifestiert sich hier nicht nur diefacettenreiche Bedeutungspotentialität des Vergangenen, sondern der Historiker hatauch"·eine Auswahl aus einem Angebot narrativer Strategien zu treffen, von denenjede ihre je eigenen Bedeutungseffekte produziert. Die Spielräume der Interpreta­tion und die imaginären Wirkungen von Erzählformen lassen so unterschiedlicheVersionen des Vergangenen entstehen, die innerhalb eines wissenschaftlichen Dis­kussionszusammenhangs plausibilisiert, reflektiert, kritisiert und wiederum revidiertwerden können - und müssen.Historische Aufarbeitung geht also nicht in juristischen Verfahren auf und unterschei­det sich deutlich von nationaler und gruppenspezifischer Erinnerungspflege. Die

Geschichtswissenschaft befmdet sich damit in einer doppelten Distanz. Indem siesich als ein methodisch angeleitetes, methodologisch reflektiertes working through(Durcharbeiten) versteht, bewahrt sie die öffentliche Debatte vor dem closing, auf dasein juridisches Verfahren abzielt.28 Zugleich stellt sich die historische Analyse - sofernsie denn genügend öffentlichen Widerhall findet und Konflikte nicht fürchtet - gegenden Wiederholungszwang, gegen die Wiederkehr des Verdrängten, die aus dem re­petitiven acting out (Wiederholen) der Erinnerung resultiert.29 Sie befindet sich alsoin einer doppelten Entfernung einerseits zu einem Gericht, das einen Fall mit einemVerfahren abschliesst, andererseits zur gelebten Erinnerung, die ein Deutungsmusterimaginär und rituell wiederholt. Die wissenschaftliche Analyse interveniert also so­wohl verstetigend wie auch unterbrechend in diese beiden Formen des Umgangs mitder Vergangenheit: Sie verstetigt Auseinandersetzung mit vergangener Geschichteüber die juristische «Vergangenheitsbewältigung» und «Wiedergutmachung» hinaus- zugleich unterbricht sie die Reproduktion des Mythos. Das hat selbstredend keinVerschwinden mythischer Formen zur Folge, denn diese verflüchtigen sich nicht imLichte der Aufldärung. Die wissenschaftliche Kritik wirkt vielmehr katalytisch aufdie Transformation mythischer Weltaneignungen ein. Es lässt sich also eher von einergeschichtswissenschaftlichen «Arbeit am Mythos» sprechen, im Zuge derer dieserverändert und mit neuen Interpretationen der Vergangenheit kompatibel gemacht wird- womit sich indessen das Spannungsfeld zwischen Geschichte und Gedächtnis nichtauflöst, sondern auf anderen Grundlagen immer wieder herstellt.

184 Tanner: Der Historiker und der Richter 185

Diese Plastizität der Interpretation bedeutet nicht, dass die Geschichtswissenschaftein beliebiges Unternehmen wäre. Historische Darstellungen lösen sich nicht in denVerfahren des fiction-writing auf. Dies ist nicht das Resultat einer klaren Unter­scheidbarkeit von Fakten und Fiktionen, von Realem und Imaginärem (wie sie voneinigen Historikern zur Rettung der Disziplin immer wieder eingefordert wird)30,sondern einer Reflexion auf ihre eigenen Widersprüchlichkeiten: nämlich zugleicheine Erzählung zu sein, die aus einem mit unterschiedlichsten Bedeutungen konta­minierten Sprachmaterial geformt ist und als wissenschaftliche Darstellungsformaufzutreten, die einen Wahrheitsstatus für ihre Aussagen beansprucht.31 Dieser

Geltungsanspruch resultiert aus der Fähigkeit, sich nicht in falsche Alternativenhineintreiben zu lassen und Z.B. zu behaupten, wenn die Geschichte unvermeidlichRhetorik sei, könne sie nicht gleichzeitig eine ldare Beweisführung liefern.32 Dem­gegenüber ist festzuhalten, dass jeder Beweis eine rhetorische Form hat und dass dieFrage nach dem Wahrheitsbereich der historischen Rede direkt zusammenhängt mitjener «nach der poetischen Form, in der Geschichte geschrieben werden kann».33Wenn es stimmt, dass Tatsachenfeststellungen und das Erstellen chronologischerOrdnungen sich nur innerhalb eines gesellschaftlichen framing und eines spezifi­schen Zeitkonzepts stabilisieren lassen, so heisst dies nicht, dass sie willkürlich sind.Negationisten unterschiedlichster Provenienz machen vielmehr deutlich, dass sie aufdie Verrückung der Interpretation in genau jenem gesellschaftlichen setting abzielen,in dem die Geschichtswissenschaft mittels Anwendung der historischen Methodeeinen gesicherten Forschungsstand vorweisen kann. Die Auseinandersetzung findetalso auf einem Terrain statt, wo es sehr wohl möglich ist, historische Wahrheitsbe­hauptungen von der Leugnung von Sachverhalten zu unterscheiden.34

11. Der historische Amoklauf des «Genos)) und die Definitiondes «Genozids))

Im Falle der Genozide vereinfachen sich die komplexen Zusammenhänge, diebisher entwickelt wurden. Der Begriff des «Völkermordes» ist eine juristischeKonstruktion. Es handelt sich nicht um eine rechtsförmige Bewältigung historischerForschungsergebnisse, sondern um eine rechtliche Reaktion auf ein Verbrechen.Der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Marcel Alexander Niggli schreibt: «Ob einEreignis als Völkermord zu qualifizieren sei, ist keine primär historische, sonderneine rechtliche Frage.»35 Dies macht auch die Entstehung des Konzepts deutlich. Eswar der (bereits genannte) polnisch-jüdische Anwalt und Völkerrechtler RaphaelLemkin, der schon vor seinerAuswanderung in die USA im Jahre 1939 das Problemder Verfolgung von Gruppen und Minderheiten juristisch zu fassen versuchte undder 1944 in seiner Publikation Axis Rufe in Occupied Europe auf die moralische

Notwendigkeit hinwies, eine Strafverfolgung der nationalsozialistischen Verbrecherdurch die Schaffung entsprechender Normen zu ermöglichen. Nach Kriegsendearbeitete er auf eine rechtlich klare, verfahrensmässig umsetzbare Definition desVölkermordes hin, die sich von der eher vagen Kategorie der «Verbrechen gegen dieMenschlichkeit», die dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zugrunde lag, unter­scheiden sollte.36 Der Neologismus Genozid bezog sich dabei auf einen doppeltenTatbestand: auf den actus reus - den objektiven Tatbestand einer Massentötung vonMenschen - und die mens rea - den subjektiven Tatbestand, der im Nachweis einesWillens einer herrschenden Macht oder einer Staatsführung zur Vernichtung einernationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe besteht.Die These, dass Geschichte und Gerichte unterschiedlichen Modi der Wahrheitspro­duktibn und Geltungsansprüchen verpflichtet sind, meint also nicht, dass Geschichtenicht justiziabel sein soll. Was den Genozid an den Armeniern betrifft, so ist dieGeschichtswissenschaft in einer spezifischen Weise gefordert. Sie hat nämlich- nach dem Motto Da mihi facta, dabo tibi ius - die Eruierung des Tatbestandeszu gewährleisten. Dies gilt grundsätzlich auch für die Völkermorde der jüngstenGegenwart. Doch in diesen Fällen wird das fact jinding nicht primär durch Histo­riker, sondern durch Untersuchungskommissionen geleistet, welche die Methodedes Augenscheins mit jener des investigativen Journalismus verbinden. Das ist imFalle des Genozids an den Armeniern anders. Die zeitgenössischen Untersuchun­gen und Gerichtsverfahren, die sich mit der Frage befassten, was 1915/16 mit denosmanischen Armeniern geschah, wurden nach Kriegsende mit dem Erstarken dertürkischen Nationalbewegung rasch wieder eingestellt; Mustafa Kemal gestand zwarzu Beginn der 20er Jahre - je nach Opportunität - den Völkermord als «Schandtatder Vergangenheit» ein, relativierte diese Aussage jedoch wieder durch den Hin­weis auf ein angebliches Selbstverschulden der Armenier oder durch Verweis aufdie Kriegssituation. Die «Friedenskonferenz» von Lausanne setzte· 1922/23 einenSchlussstrich unter die in der Türkei angelaufenen Gerichtsverfahren, die zur Verur­teilung und Hinrichtung einiger Verantwortlicher geführt hatten.37 Ende März 1923wurde eine Generalamnestie erlassen, womit auch «die rechtliche Verfolgung derVerbrecher des Völkermordes endgültig beendet» wurde.38 Franz Werfels RomanDie vierzig Tage des Musa Dagh hielt zwar die Erinnerung an das katastrophaleEreignis wach - die Nationalsozialisten verboten das Buch allerdings kurz darauf.39

Es war dieser Zustand des Schweigens, der Verdrängung und der Unterdrückung vonErinnerungen, der es möglich machte, dass Hitler am Vorabend des Einmarsches inPolen in Antizipation der bevorstehenden Massenverbrechen erklären konnte: «Werredet heute noch von der Vernichtung der Armenier?»40 Unter diesen Bedingungenmusste die Geschichtswissenschaft zuerst einmal eine Darstellung der Vorgängeliefern. Seit einiger Zeit ist - von den Tatsachenfeststellungen her - klar, dass in denJahren 1915/16 1,5 Millionen Armenier durch den osmanischen Staat mit Absicht

186Tanner: Der Historiker und der Richter 187

und System verfolgt und dass ein grosser Teil von ihnen massakriert wurde; der his­torische Befund über das Ausrnass der Morde ist nicht einheitlich; die Schätzungender Zahl der ermordeten Armenier bewegen sich zwischen 600'000 und 1,5 Millio­nen. Das osmanische Innenministerium nannte im Mai 1919 die Zahl von 800'000durch direkte Gewaltakte oder die Folgen der Deportationen zu Tode Gekommenen;diese Angabe wird von massgeblichen Forschern als Mindestzahl akzeptiert; dabeiwird gezeigt, wie systematisch die Lösung der sogenannten «armenischen Frage»von der jungtürkischen Elite an die Hand genommen wurde.41 An der Bezeichnung«Völkermord» gibt es deshalb heute nichts zu rütteln.Die historische Interpretation dieser Ereignisse erfordert allerdings eine Metakri­tik völkerrechtlicher Normen und Prozeduren und sie setzt auch die historischeKontextualisierung der Sprache der Geschichtswissenschaft und des Völkerrechtsvoraus. Aus einer solchen Perspektive wird zunächst deutlich, wie stark sich die«Migrationsbedingungen» für Konzepte verändert haben, wie sehr deren Zirkulationzwischen verschiedenen Sphären erschwert wurde. Im ausgehenden 20. Jahrhundertzeigte sich in verschiedenen Krisen- und Kriegsgebieten - in Ex-Jugoslawien ebensowie in Ruanda - eine Ethnisierung von Konflikten und eine Politik «ethnischer Säu­berungen», die von Herrschaftsträgern und/oder Kriegsparteien praktiziert wird.42

Darauf reagieren die Wissenschaftsdisziplinen unterschiedlich. In der Geschichts­schreibung wurde die Kritik an Identitätskonstruktionen, die sich am genas (imSinne von Stamm oder Rasse) kristallisieren, als zunehmend wichtig empfunden;Gruppen, die ihre Zusammengehörigkeit über Blutlinien oder in Rassekategorienausweisen und die sich über biologische Vererbung definieren, sind - angesichts derzahllosen Verbrechen, die im Namen solcher naturalisierter Schicksals-Identitätendurchgeführt wurden und werden - in den Status eines eminenten Problems gelangt,ebenso wie der «Mikronationalismus», den sie postulieren. Zur Konstruktion natio­naler, ethnischer und rassischer Kollektive sowie speziell zur «Nationalitätenfrage»und zum «Volksgruppenrecht» in Deutschland sind in letzter Zeit zahlreiche histo­rische Studien entstanden, welche den ideologischen Amoklauf dieser Kategorienherausarbeiten.43 Um nur auf zwei einzugehen: Sabine Bamberger-Stemmann44

zeigt am Beispiel des Europäischen Nationalitätenkongresses, der zwischen 1925und 1938 wirkte, wie ein Zusammenschluss, der anfänglich für Friedenspolitik undVölkerverständigung warb und die Wahrung der Rechte nationaler Minoritäten alsein Instrument dafür betrachtete, ab 1927, als das Auswärtige Amt die Finanzie­rung übernahm, zu einer Agentur der deutschen Aussenpolitik wurde. Im «DrittenReich» sah sich der Kongress vollends zu einer Speerspitze deutscher Machtaspi­rationen umfunktioniert. NS-Funktionäre, welche wichtige Posten übernommenhatten, trieben nun die Ethnisierung politischer Auseinandersetzung voran undmachten aus dem Kongress ein wichtiges Vehikel der nationalistischen Kriegspo­litik. Linke Kritiker des Nationalitätenkongresses hatten schon in den 20er Jahren

darauf hingewiesen, dass sich das Volksgruppenkonzept für eine imperialistischeInstrumentalisierung eignet. Samuel Salzborn45 weist in einer Untersuchung überdie «Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts» nach, wie obsessiv man sichnach dem Ersten Weltkrieg mit partikularen Entitäten, mit ethnisch-rassischen Klas­sifikationen und darauf basierenden politischen Ordnungen befasste und wie starkdiese kollektivistischen Kategorien den Einzelnen auf Gruppenloyalität zu behaftenversuchten und ihn in das entsprechende Identitätsstereotyp hineinzwängten. Damitwurde der Schutz des Individuums vor der «Gewalt der anderen» abhängig vonseinen Kollektivzugehörigkeiten. Diese Logik der Zuschreibung und Zuordnungstärkte nicht nur Reinheitsvorstellung - d.h. die phantasmagorischen Bilder einerhomogenen Gemeinschaft, einer von Fremdkörper gesäuberten Ethnie oder «reinenRass~» -, sondern leistete einer Segregation nach ethnisch-völkischen, sprachlichenund «rassischen» Kriterien Vorschub und begründete damit eine neue «Ordnung derUngleichheit» - Salzborn übernimmt diese Bezeichnung von Stefan Breuer. Resultatwar eine Zurückstufung und Unterminierung der Menschenrechte. Dass das NS-Re­gime den homo ethnicus auf allen Ebenen ideologisch aufrüstete, ein anti-egalitäresMenschenbild und ein völkisches Gemeinschaftsideal propagierte und - vor allem«im Osten» - eine auf «Umvolkung» im grossen Stil ausgerichtete «Volkstumsfor­schung» vorantrieb, passt in dieses Bild. Die Identifizierung mit nationalen, ethni­schen, religiösen und rassischen Gruppen war in diesem Kontext verbunden mit derIdentifikation von Feinden und Bedrohungsängsten. Staaten nutzen diese kollektivenBefindlichkeiten, indem sie sowohl auf die Selbstermächtigung des Eigenen wiedie Abwertung und Erniedrigung des Anderen hinarbeiteten. Die Einteilung vonLandesgeographien in fest gefügte Gruppen förderte unter diesen Umständen einFeindbilddenken und legte die Grundlagen für genau jenes genozidale Handeln,welchem mit der UNO-Konvention von 1948 schliesslich - post festum - Einhaltgeboten werden sollte. Damit erhält die Entstehung der Konvention zur Bestrafungund Verfolgung von Genoziden einen Zeitindex; sie entstand in einer historischenKonstellation, in der das Denken in Kategorien des Nationalen, Ethnischen und Ras­sischen Hochkonjunktur hatte und in der mit dem «Dritten Reich» ein aggressives,rassistisches Regime sich seine Welt mit Gewalt nach eigenem Bilde zu gestaltenversuchte, mit der arischen Rasse als dem Inbegriffdes Lebensrechts und mit Feind­und Fremdgruppen, die schonungslos ausgerottet wurden.Das Problem bestand nicht im Selbstverständnis dieser verfolgten Gruppen und«Minderheiten» (wie sie auch genannt wurden), sondern in der Definitionsmachtstaatlicher Machtträger, welche durch «Rassenforschung», antisemitische Propa­ganda und eine durchgehende völkische Ideologie genau jene Gruppen,konstruier­ten und ausgrenzten, die anschliessend auch verfolgt und vernichtet wurden. Diegenozidale Dynamik verläuft von der politisch erzwungenen Gruppeninklusionüber die daran anschliessende Exklusion aus der «Nation» bis hin zur Annihilation

188 Tanner: Der Historiker und der Richter 189

der Gruppe der als feindlich klassifizierten Menschen. In einzelnen Fällen lief derdritte Schritt nicht über die Vernichtung von Menschen, sondern über ihre adminis­trativ forcierte, auch mit staatlichen Zwangsmitteln operierende Assimilation - dieAnti-Genozidkonvention 1948 sollte diese Form in Artikel II(e) als «gewaltsameÜberführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe» bezeichnen.46 Es wirdaus dieser Perspektive deutlich, dass die Prävention von Genoziden zu kurz greiftund auf tragische Weise zu spät kommt, wenn sie sich auf den Einsatz für die Rechtevon Gruppen beschränkt, die genau entlang dieser Diskriminierungs- und Verfol­gungskriterien wahrgenommen werden. Wenn die Grundlagen für das Verbrechendurch Regimes gelegt werden, welche eine solche Form von Ethnisierung zum Zieleder Herrschaftssicherung vorantreiben und die, nachdem diese Marginalisierungverwirklicht ist, mit genozidalen Praktiken eine «nationale Homogenisierung» odereine rassistische Purifizierungspolitik durchsetzen, dann muss sich die Aufmerk­samkeit auf diese Praktiken der Täter richten. Dies hat allerdings Verschiebungen inder Problemstellung zur Folge. Man wird dann im Versuch der 1919 von der PariserFriedenskonferenz zur Bestrafung von Kriegsverbrechern eingesetzten Kommission,die Verfolgung ethnischer Minderheiten oder Gruppen mit dem Begriff «Entnationa­lisierung» zu fassen, nicht mehr eine unbestrittene Wortwahl sehen, weil - wie dieerwähnten Studien zeigen - das Problem primär in der vorgängigen Ethnisierungdes Staats- und Nationenbildungsprozesses besteht.47 Heute kritisieren Autoren wieAmartya K. Sen, der eine politische Philosophie auf der Grundlage eines Konzeptsder praktischen Rationalität formuliert, mit menschenrechtlicher Verve die Ethni­sierung und Homogenisierung des Wir-Bewusstseins als «Miniaturisierung» desMenschen, als seine Reduktion auf eine einzige dominante Identität im Zeichen

eines genos, die kulturelle Vielfalt statisch denkt und sie gegen Irritationen undVeränderungsimpulse abschotten möchte.48

«Kulturelle Freiheit» besteht vor allem in der Freiheit, zwischen verschiedenenIdentitätsangeboten zu wählen, sie gleichzeitig präsent zu halten, und sich so inseiner Selbstbeschreibung und Fremdzuschreibung immer neu zu positionieren.Dies kann selbstverständlich auch als freche Zumutung, als Flexibilisierungs- undFitneSS-Imperativ mit gesellschaftlichem Nivellierungseffekt wahrgenommen undkritisiert werden. Aus einer radikalen Perspektive führen solche Prozesse zurVernichtung von Sub- und Populärkulturen. Rationalisierungs- und Kulturkritikerder Nachkriegszeit haben deshalb auch versucht, den Begriff «Völkermord» fürdie Beschreibung des soziokulturellen Wandels in Anschlag zu bringen. In seinen«Freibeuterschriften» schreibt z.B. Pier Paolo Pasolini unter dem Titel «Völker-

, mord», er «glaube nämlich, dass in der heutigen italienischen Gesellschaft alteWerte zerstört und durch neue ersetzt werden, wodurch - ohne Blutbäder und ohneMassenerschiessungen - weite Schichten unserer Gesellschaft eliminiert werden».Es sei eine «kulturelle Kolonisierung» im Gange, die «weite Schichten, die bisher

gleichsam ausserhalb der Geschichte gelebt haben» (er spricht von «wenigstens zweiDritteln der italienischen Bevölkerung») einem von der herrschenden bürgerlichenKlasse hinterhältig betriebenen Völkermord aussetze.49 Eine solche konsum- undkulturkritisch gewendete Metaphorisierung des Begriffs wurde im Zuge derAufwer­tung der Anti-Genozid-Konvention unhaltbar und auch unplausibel. Was meint dasWort Genozid, wenn damit gleichzeitig die Ermordung von Hunderttausenden, jaMillionen von Menschen im Zuge der Vernichtung ethnisch oder national definier­ter Gruppen und die Veränderung der Lebensweise durch die Konsumgesellschaftbezeichnet werden sollen?Aus historisch-philosophischer Sicht ist der Begriff Genozid in vielerlei Hinsichtproblematisch geworden. Er verweist auf eine spezifische Form eines Massenver­brectiens, das in der Zuschreibung von ethnischen und rassischen Merkmalen durchherrschende Gruppen besteht und damitAusdruck einer erfolgreichen Durchsetzungeiner genos-Konzeption der Gesellschaft ist. Die Kategorie, die das Verbrechen be­nennt, enthält damit auch dessen Ermöglichungsbedingung. Von dieser Irritation istin rechtsgeschichtlichen Abhandlungen einiges, in der juristischen Verwendung desBegriffs aber kaum etwas zu spüren.50 Auf dieser Ebene zeigt sich eine gegenläufigeReaktion. William A. Schabas stellt in seiner umfassenden Studie fest: «Im letztenJahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde die Konvention nach über vierzigjährigerMarginalisierung zu einem zwingenden juristischen Werkzeug zur Verfolgung vonindividuellen Straftätern [...].»51 So wurde die Genoziddefinition der 1948er-Kon­vention unverändert iudas Mitte 2000 in Kraft getretene Römische Statut des Inter­nationalen Strafgerichtshofes übernommen.52 In dem Masse, in dem sich Vertreibun­gen in Kriegen und im Zuge «ethnischer Säuberungen» häuften, in dem Masse, in

dem die Ethnisierung sozialer und politischer Konflikte vorangetrieben wurde, kamauch dem völkerrechtlichen BegriffGenozid eine zunehmende Wichtigkeit zu. Wenndie Häufung von Völkermorden die Anti-Genozidkonvention relevant macht, drücktsich darin die Selbstreferentialität von Recht aus: Ein Genozid ist ein Genozid.Um diese Rückkoppelung zwischen Rechtsnorm und Tatbestandsidentifikation zustabilisiseren, müssen allerdings operationalisierbare Definitionen geschaffen wer­den, die Zuschreibungs- und Klassifikationsprobleme reduzieren. Dieses Bemühenzeigte sich schon im Vorfeld der Kodifizierung der 48er-Konvention, wo es heftigeAuseinandersetzungen darüber gab, ob neben nationalen, ethnischen, religiösen undrassischen Gruppen auch kulturelle, politische, oder einfach «andere» Gruppen mitgemeint sein sollten. Dass das Attribut «kulturell» mit guten Gründen nicht in dieDefinition integriert wurde, mag der Umgang, den Pasolini damit vorschlägt, gezeigthaben. Auch weitere Überlegungen stärkten inzwischen die Präferenz für ein klaresund rechtlich umsetzbares Konzept.Dies gilt auch für die Genozidforschung, die an der Schnittstelle zwischen Rechtska­tegorie und historischer Untersuchung angesiedelt ist. Die beiden Genozidforscher

190 Tanner: Der Historiker und der Richter 191

Stig Förster und Gerhard Hirschfeld bringen ihr Unbehagen darüber zum Ausdruck,dass in diesem Bereich mittlerweile «mit einem ganzen Kaleidoskop von Begriffenhantiert wird» und erachten «die immer neuen Begriffsschöpfungen» zu Recht als«nur begrenzt hilfreich».53 Es zeigt sich hier, dass es nicht sinnvoll sein kann, eingenuin rechtliches Konzept historisch umformulieren zu wollen. Wichtig ist dem­gegenüber die Frage, welche aktuell dokumentierten und historisch nachgewiesenenMassenmorde unter die juridische Kategorie eines Genozids fallen; so kritisiertDiane Marie Amann den «zu engen» Ansatz, den William A. Schabas vorschlägt undfordert einen «flexibleren Ansatz», der es ermöglicht, den Begriff auf Verbrechenanzuwenden, die in der Definition von 1948 keinen Platz fänden.54 Diese Kämpfeum eine - zunächst rechtliche - Anerkennung spielen sich in einer globalen Konstel­lation ab, die durch eine schroffe Diskrepanz zwischen den Erwartungen von Op­fergruppen und den realpolitischen strafrechtlichen Möglichkeiten zur Verfolgungund Bestrafung verbrecherischer Handlungen charakterisiert ist. 1993 entstand zwarmit der Schaffung des UN-Kriegsverbrechertribunals ein neues Instrument, um demVölkerrecht internationale Nachachtung zu verschaffen; die Prävention von Völker­morden bleibt allerdings deswegen schwierig, weil die UNO-Anti-Genozidkonven­tion als internationales rechtliches Regelwerk zum vornherein auf die Mitwirkungvon Staaten angewiesen war, um eine Machtbasis für ihre faktische Durchsetzungzu erhalten - und es ist ja gerade die Komplizenschaft zwischen Staatsorganen undVölkermorden, die evidentermassen dazu führt, dass erstere kein Interesse haben, ander Bestrafung letzterer mitzuwirken. Somit stösst das Recht bei seiner Umsetzungrasch an Grenzen, es sei denn, die internationale Staatengesellschaft verfüge überpolizeiliche Machtmittel und funktionierende Gerichte.Über die Funktion einer historischen Situierung und Kritik des genos-Konzepts hi­naus kommen der Geschichtswissenschaft zwei weitere Aufgaben zu. Erstens stelltsich die Frage, welche Bedeutung, welches Gewicht den Genoziden im «kurzen20. Jahrhundert» und in der Phase nach dem Kalten Krieg zukommt. Die für einenVölkermord paradigmatische Massenermordung der osmanischen Armenier im Ers­ten Weltkrieg steht am Anfang dieser Entwicklung. Die Beurteilung der säkularenEntwicklung und die Diagnosen der Gegenwart weichen allerdings stark voneinan­der ab. Während die einen die Ansicht vertreten, die im 20. Jahrhundert einsetzendeBarbarisierung habe sich nach 1989/91 nochmals in präzedenzloser Weise verschärft,weisen andere darauf hin, dass sich Massenmorde aus religiösen, ethnischen oderpolitischen Gründen vor allem im Verlaufe der 90er Jahre deutlich zurückgebildethätten.55 Die Geschichtswissenschaft hat also auch zu untersuchen, aus welchen

.Gründen so unterschiedliche Trendbeschreibungen auftreten. Ein Erklärungselementsind die Erzählmuster, in welche die historische Interpretation von Völkermordeneingefügt wird. Während die eine Deutung einer Modernisierungstheorie folgt,die eine zwar von katastrophalen Rückschlägen unterbrochene, insgesamt jedoch

erfolgreiche Verrechtlichung und Rationalisierung sozialer Beziehungen auf natio­naler und internationaler Ebene konstatiert, weist ein alternativer Deutungsansatzauf die illusionäre Erwartungsstruktur dieses modemen Zukunftsglaubens hin unddiagnostiziert für das ausgehende 20. und beginnende 21. Jahrhundert einen mas­siven Einbruch partikularer Identitäten sowie eine Bedeutungszunahme religiöserBindekräfte und ethnischer und nationaler Loyalitäten. Aus modernisierungstheore­tischer Perspektive liegt die Annahme nahe, Genozide könnten sich - eine rationaleKooperation von Staaten, welche sich einem modemen Verständnis von Bürokratieund Bürgerrechten verschrieben haben, vorausgesetzt - auf die Dauer wirksameindämmen lassen. Eine kulturanalytische Sichtweise vermag diesen Optimismusnicht zu teilen; sie weist auf die anhaltenden Gruppenkonflikte und auf die Tendenzhin, tiie krassen sozialen Ungleichheiten, die sich durch das Scheitern von Staatenund die Öffnung von Märkten noch akzentuieren, in religiösen, ethnischen und ras­sischen Kategorien auszudrücken und damit eine Erfahrung zu stärken, die einanderfeindlich gegenüberstehende Identitäten stärkt. So klar es ist, dass diese Zusam­menhänge ihre spezifische Kontingenz aufweisen und mit einem deterministischenKausalmodell nicht erklärt werden können, so deutlich wird hier auch einsichtig,dass die Prozesse der Globalisierung nicht mit der unilinearen Ausbreitung eines

fortschrittsgetrimmten Zivilisationsmodells im Zeichen von Markt und Demokratieverwechselt werden dürfen.Zweitens gilt es, auf der Grundlage einer klaren Definition, den Zusammenhangvon Krieg und Genozid eingehender zu analysieren. Der Genozid an den Armeniernlässt sich ohne den Kontext· des Ersten Weltkrieges, des Imperialismus und einesweltweit aufgerüsteten Nationalismus nicht verstehen - zugleich diente der Hinweis,das katastrophale Ereignis habe sich unter den Zwangsbedingungen und im natio­nalistisch aufgeladenen Klima eines Krieges abgespielt, immer wieder als Entlas­tungsargument, erleichterte es doch die Relativierung des Völkermordes durch seineEinreihung in eine ganze Kette von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sichalle Kriegsparteien, wenn auch in unterschiedlichem Ausrnass, zuschulden kommenliessen. Martin Shaw weist allerdings in seiner Studie War & Genocide auf densystematisch engen Zusammenhang dieser Formen massenhaften Tötens und Ster­bens hin; die These lautet, dass es die normativen Entgrenzungen, die kumulativenRadikalisierungen sind, die durch Kriege ausgelöst werden, welche die Bedingungenschaffen für Völkermorde.56 Die der 48er-Konvention zugrunde liegende Annahme,«Krieg» und «Genozid» liessen sich unterscheiden, was sich aus dem Willen derAlliierten ergab, ihre Formen einer Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung vomMassenmord an bestimmten Gruppen zu unterscheiden, wird dadurch relativiert;es zeigt sich, dass Genozid als eine Form der Kriegsführung zu betrachten ist. Jenestaatlich organisierten Gewaltkräfte, die als militärische Einheiten Kriege führen,sind in aller Regel auch die Exekutoren eines Völkermordes an verfolgten Gruppen

192 Tanner: Der Historiker und der Richter 193

innerhalb des Landes oder in besetzten Gebieten ausserhalb des Staatsgebietes. Diesuntermauert auch die Vermutung, dass Genozide noch stärker als bisher über ihremenschenrechtliche Basis verstanden werden sollten; wenn die alliierten Länder1915 in einer Erklärung die Massaker der osmanischen Regierung als «Verbrechengegen die Menschlichkeit» bezeichneten, lagen sie vielleicht richtiger, als man dies

in der Formationsphase der Anti-Genozidkonvention mit der damals vorherrschen­den allgemeinen Betonung rassischer und ethnischer Gruppen glaubte sehen zumüssen. Das Insistieren auf der menschenrechtlichen Grundlage der Konventionzur Bestrafung von Völkermorden könnte auch vom morbiden Wettbewerb um den«Spitzenplatz» in der Pyramide der Massenverbrechen wegführen; in der These, derVölkermord sei das «Verbrechen der Verbrechen» kann sich auch eine anachronis­tische, von Ethnien, Völkern und womöglich auch noch immer «Rassen» verstellte

WeItsicht ausdrücken, welche die internationale Staatengemeinschaft besser hinter

sich lässt, wenn sie dem Ziel, Genozide zu vermeiden, näher kommen will.Diese Ausführungen zeigen, dass die Geschichtswissenschaft darauf angewiesen ist,die rechtlichen Grundlagen der Völkermord-Definition zu kennen und die Geneseder Anti-Genozid-Konvention von 1948 sowie ihre Weiterentwicklung zu analysie­ren. Dabei ist Recht als ein Wirkungsfaktor sui generis, als ein selbstreferentiellesSystem von Setzungen und nicht als juridisches Derivativ politischer oder ökono­mischer Interessen zu betrachten. Erst eine solche Konzeption macht es dann wie­derum möglich, die Interessengeleitetheit rechtlicher Definitionen und richterlicherEntscheidungsfindung angemessen nachzuvollziehen. Das Insistieren auf der Dif­ferenz zwischen Geschichte und Gerichten wird so nicht mehr verwechselt mit der- falschen - These, historische Sachverhalte seien nicht justiziabel und juristischeKategorien seien für die Geschichtsschreibung irrelevant. Die Untersuchung derGeschichte der Völkermorde ist zu wichtig, als dass sie durch solche unproduktivenEntgegensetzungen behindert werden sollte. Selbstverständlich sollte und kann sichdie Geschichtswissenschaftdafür verwenden, dass auch die internationale Anerken­nung des Völkermordes an den Armeniern verstärkt wird, was auch bedeutet, dassdie Türkei nicht mehr - wie dies bei früheren Kampagnen für das «Kulturvolk derArmenier» häufig der Fall war - als eine Art inferiore Antithese zum christlichenAbendland dargestellt, sondern als ein Land behandelt wird, das internationalesRecht grundsätzlich ebenso zu respektieren hat wie andere Länder auch. Dennochist der Historiker kein Richter. Die Geschichtswissenschaft hat immer wieder auf derrelativen Autonomie ihrer wissenschaftlichen Verfahren und auf der Eigenständig­

keit ihrer gesellschaftlichen Geltungsansprüche, die mit ihren Forschungsresultaten,verbunden sind, zu beharren. Sie kann zudem die Erinnerung an die Opfer besserrespektieren, wenn sie mehr und anderes zu den Verursachungskomplexen, dem

Verlauf und zur schwierigen Bestrafung von Völkermorden zu sagen hat, als dieseine rechtliche Kategorien unhinterfragt verwendende historische Viktomologie zu

leisten vermag. Genozide lassen sich nur erklären, wenn die Logik der Täter durch­schaut wird. Es stellt sich also die Aufgabe, eine empathische Opferperspektivemit einer Analyse der Vorstellungswelt, Praktiken und Strategien jener staatlichenAkteure zu verbinden, welche als Täter oder Komplizen genozidaler Handlungenfassbar sind. Eine kritische Geschichtsschreibung kann des weitem versuchen, den

zentralen Gedanken der Prävention von Genoziden zu konkretisieren. William A.Schabas hält zum Schluss seiner Studie fest, es wäre, wenn eine Wahl getroffenwerden müsste, besser «Staaten zum Engagement für eine - notfalls gewaltsame- Intervention zur Verhütung von Völkermord zu verpflichten, als die Definitionvon Völkermord zu erweitern».57 Die Geschichtswissenschaft möchte den Horizontihrer Reflexion und Analyse nicht auf diese völkerrechtliche Alternative eingrenzen,

soncfern sie hat zu untersuchen, auf welche Weise der imaginäre Spuk des genosjene verhexenden Ideologien kreiert und die staatlich organisierten Gewaltpotentiale

freizusetzen vermag, die in einem Typ von Massenverbrechen verwirklicht wurdenund werden, für deren völkerrechtliche Sanktionierung der Begriff «Genozid» unddie Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes geschaffen

wurden.

Anmerkungen

Einen Überblick über neuere Forschungsliteratur bietet Micha Brumlik: Zu einer Theorie des Völ­kermords. Sammelrezension von 18 Publikationen zum Thema Genozid/orschung, in: Fritz-Bauer­Institut, Newsletter Nr. 26, Herbst 2004 (www.fritz-bauer-institut.de/rezensionen/nI26/brumlik.

htm).2 Leo Kuper: Genocide. Its Political Use in the Twentieth Century. Harmondsworth 1981, S. 105.3 William A. Schabas: Genozid im Völkerrecht. Hamburg 2003, S. 603 ff., Zitat S. 604.4 Wichtig für diese Anerkennung war: Benjamin Whitaker: Revised and updated report on the ques­

tion 0/ the prevention and punishment 0/ the crime 0/ genocide. United Nations Economic andSocial Council Commission on Human Rights, Sub-Commission on Prevention of Discriminationand Protection ofMinorities, Thirty-eight Session (Agenda Item 4), 8-9, U.N. Doc. E/CN.4/Sub.2/

1985/6 (1985).5 Donald Bloxham: The Great Game 0/Genocide. Imperialism, Nationalism, and the Destruction

o/the OttomanArmenians. Oxford 2005, S. 99.6 Raphael Lemkin: Axis Rule in Occupied Europe. Laws o/Occupation, Analysis 0/ Government,

Proposals /01' Redress. Washington 1944; zur Karriere des Begriffs siehe: Schabas: Genozid im

Völkerrecht (wie Anm. 3), S. 30.7 Für den Wortlaut des Textes siehe: «Dnited Nations Convention on Genocide, Approved by the

General Assembly on December 3,1948», in: International Organization, February 1949, Vol. 3,No. 1, S. 206-209; Zitat S. 207. Der vollständige Text mit einer Liste aller Länder, die die Kon­vention ratifizierten, sowie den von einigen Ländern angebrachten Vorbehalten findet sich auf derWebsite des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (www.unhchr.ch/htmllmenu3/b/p~enoci.htm). Eine deutsche Übersetzung der Konvention findet sich in: Schabas: Genozid im Völkerrecht

(wie Anm. 3), S. 720-724.8 Stig Förster, Gerhard Hirschfeld (Hg.): Genozid in der modernen Geschichte. Münster 1999

(Jahrbuch für historische Friedensforschung, Jg. 7), S. 5.

194 Tanner: Der Historiker und der Richter 195

9 Hans-Lukas Kieser, Dominik J. Schaller (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die ShoahlThe Armenian Genocide and the Shoah. Zürich 2002.

10 Vgl. dazu u.a. B10xham: Great Game (wie Anm. 5); Hans-Lukas Kieser: Der verpasste Friede.Mission, Ethnie undStaat in den Ostprovinzen der Türkei 1839-1938. Zürich 2000; TanerAk~am:Armenien und der Völkermord. Die lstanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung.Hamburg 1996.

11 Brumlik: Theorie des Völkermords (wie Anm.1).12 Elazar Barkan: The GuUt ofNations. Restitution and Negotiating Historicallnjustices. Baltimore,

MD 2001.13 Die sog. «Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords» trat im Januar 1951 in

Kraft und zählt mittlerweile ca. 130 staatliche Vertragsparteien. Vgl. Schabas: Genozid im Völ­kerrecht (wie Anm. 3), S. 16. Zur Entstehung der Konvention ebd., Kapitel 2, S. 75 ff.

14 Ebd., S. 21.15 Zit. n. Schabas: Genozid im Völkerrecht (wie Anm. 3), S. 721. Lemkin plädierte für die Aufnahme

eines «kulturellen Völkermords» in den Katalog der inkriminierten Tatbestände; dies wurde voneiner Mehrheit als ungebührliche Ausweitung zurückgewiesen. Vgl. Schabas, S. 78.

16 Arthur W. Kuhn: The Genocide Convention and State Right, in: The American Journal oflnter­national Law, July 1949, Vol. 43, S. 498-501.

17 Kuper: Genocide (wieAnm. 2), S. 161; der Autor fügt klärend an: «To be sure, no state explicitlyclaims the right to commit genocide - this would not be morally acceptable even in internationalcircles - but the right is exercise under other more acceptable rubrices, notably the duty to maintainlaw and order, or the seemingly sacred mission to preserve the territorial integrity of the state.»

18 Ebd.19 Kuhn: Genocide Convention (wie Anm. 16), S. 500.20 Schabas: Genozid im Völkerrecht (wie Anm. 3), S. 20.21 Ebd., S. 28.22 Zur Vergangenheitsverdrängung in der Nachkriegszeit vgl. neuerdings: Tony Judt: Postwar. A

History ofEurope since 1945. New York 2005.23 Eine Auflistung dieser Ansätze findet sich bei Schabas: Genozid im Völkerrecht (wie Anm. 3),

S.112.24 Pierre Nora (Hg.): Les Lieux de memoire. Bd. 1-3. Paris 1984-1992; Pierre Nora: Zwischen Ge­

schichte und Gedächtnis. Berlin 1990; Saul Friedländer: Memory, History, and the Exterminationofthe Jews ofEurope. Bloomington 1993; Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozi­alen Bedingungen. FrankfurtlM. 1985; Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart1967.

25 Vgl. dazu Wendy Brown: States of lnjury. Power and Freedom in Late Modernity. Princeton1995.

26 Das Wort «Geschichte» ist hochgradig homonym, bezeichnet es doch die Vergangenheit selbst,retrospektive Erzählungen über die Vergangenheit sowie deren wissenschaftliche Analyse, die sichindessen von erzählenden Verfahren nicht ablösen kann. Vgl. Jacques Ranciere: Im Namen derGeschichte. Versuch einer Poetik des Wissens. FrankfurtlM. 1994.

27 Es ist wichtig zu·sehen, dass diese Debatte sich nicht auf den historischen Sachverhalt bezieht.Auch einige Historiker, die unmissverständlich festhalten, dass es sich um einen Genozid gehandelthat, stellen sich gegen die Forderung, es sei die Leugnung dieses Sachverhalts als Straftatbestandzu ahnden:Es kollidieren hier zwei Sichtweisen. Während bestimmte Vertreter der Meinungsfrei­heit davon ausgehen, dass sich die historische Wahrheit als solche nur insoweit durchzusetzenvermag, wie sie auf rechtliche Sanktionierung verzichtet, insistieren andere darauf, dass das Rechtvon Opfern auf Anerkennung der an ihnen verübten Verbrechen vorrangig ist. In der Schweizherrscht bezüglich der rechtlichen Sanktionierung von Holocaust-Leugnern eine weitgehendeÜbereinstimmung - dies deshalb, weil die Negationisten direkt antisemitische Tendenzen fördernund damit der Verfolgung einer religiös-kulturellen Gruppe zudienen. Auch im Falle derArmeniergibt es klare Zusammenhänge zwischen Leugnung und (implizitem) Rassismus. Wenn man jedoch

_ so das ernst zu nehmende Argument der Gegner einer generellen Bestrafung der Leugnung vonVölkermord - jede Infragestellung der Genozid-Interpretation rechtlich belangt, so wird die öf­fentliche, auf Meinungsfreiheit basierende Diskussion unterminiert. Die Geschichtswissenschafttritt ihren Geltungsanspruch an die Justiz ab. Zudem könnten verschiedenste andere Gruppenhistorische Interpretationen im Namen eines Antidiskriminierungsgesetzes einklagen, so dass balddie Richter darüber zu befinden hätten, was eine Ethnie, eine Nation, eine «Rasse», eine Religion

sei und wie deren Rechte angemessen zu definieren seien.28 Closing heisst nicht, dass rechtliche Normen stabil sind; sie verändern sich ebenso wie historische

Interpretationsmuster.29 Zu dieser Unterscheidung vgl. Sigmund Freud: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, in: Ders.:

Gesammelte Werke. Band X. FrankfurtlM. 1914, S. 126-136.30 Lawrence Stone: History and Postmodernism, in: Past and Present, Nr. 131, May 1991; Richard

J. Evans: In Defense ofHistory. New York 1999; siehe auch: Jakob Tanner: Klio trifft Hermes.Interpretationsprobleme in der Geschichtswissenschaft, in: Ingolf U. Dalferth, Philipp Stoellger(Hg.): Interpretation in den Wissenschaften. Würzburg 2005, S. 41-58.

31 Randere: Im Namen der Geschichte (wie Anm. 26).32 Diese unbedarfte Gegenüberstellung von Rhetorik und Beweis wird einleuchtend kritisiert VOll

Carlo Ginzburg: Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis. Berlin 2001.33 Randere: Im Namen der Geschichte (wie Anm. 26), S. 148.34 Saul Friedländer (Hg.): Probing the Limits ofRepresentation. Nazism and the 'Final Solution',

Cambridge, Mass. 1992.35 Marce1Alexander Niggli: «Die Vergangenheit muss sich dem Gesetz stellen», in: NZZ am Sonntag,

16. Oktober 2005, S. 23.36 Brumlik: Theorie des Völkermords (wie Anm. 1).37 Ak~am: Armenien (wie Anm. 10), S. 104 ff.38 Ebd., S. 118 ff.39 Ebd., S. 9.40 Zur Diskussion undWahrscheinlichkeit dieserAussage vgl. Schabas: Genozid im Völkerrecht (wie

Anm. 3). S. 14, Anm. 2.41 Ak~am: Armenien (wie Anm. 10) S. 76; Kuper: Genocide (wie Anm. 2), S. 105.42 Vgl. die in Aufsätzen dargestellten Beispiele in: FörsterlHirschfeld (Hg.): Genozid (wie Anm.

8).43 Einen Überblick gibt: Jakob Tanner: Nation, Kommunikation und Gedächtnis. Die Produktivkraft

des Imaginären und die Aktualität Ernest Renans, in: Ulrike Jureit (Hg.): Politische Kollektive. DieKonstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften. Münster 200 I, S. 46-67.

44 Sabine Bamberger-Stemmann: Der Europäische Nationalitätenkongress 1925 bis 1938. NationaleMinderheiten zwischen Lobbyistentum und Grossmacf!tinteressen. Marburg 2000.

45 Samuel Salzborn: Ethnisierung der Politik. Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in

Europa.FrankfurtlM. 2005.46 Zit. nach Schabas: Genozid im Völkerrecht (wie Anm. 3), S. 721.47 Ebd., S. 34 f. und 47. Merkwürdig ist auch die Analyse, die Leo Kuper unternimmt, wenn er zum

Genozid an den Armeniern schreibt: «The first step in the genocidal process was the emasculationof the Armenian population.» (Kuper: Genocide (wie Anm. 2], S. 108) Darunter versteht er diesystematische Entwaffnung der männlichen Bevölkerung, was unter gegebenen Bedingungendurchaus einer Hilflosmachung gleichkam. Heute ist - unter andern Bedingungen - die Entwaff­nung ethnischer Gruppen ein möglicher erster Schritt zur Verhinderung von Genoziden.

48 Amartya K. Sen: Identity and Violence. The Illusion ofDestiny. New York 2006; vgl. auch das stär­ker aufdie Unabdingbarkeit kultureller Differenzen eingehende, jedoch ebenfalls gegen ethnischeoder rassische Identitäten argumentierende Buch von Kwame Anthony Appiah: Cosmopolitanism.

Ethics in a World ofStrangers. New York 2006.49 Pier Paol0 Pasolini: Völkermord, in: Ders.: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des

Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin 1978, S. 39-43; Pasolini stellt einen Bezug zum

196

Völkermord der Nationalsozialisten her: «Wenn ich sehe, wie die jungen Leute uralte volkstüm­liche Werte verlieren und neue annehmen, die ihnen der Kapitalismus diktiert, und wie sie dabeizunehmend Gefahr laufen, einer Art Unmenschlichkeit, einer erschreckenden SpracWosigkeitund brutalen Kritiklosigkeit zum Opfer zu fallen, passiv und zugleich rebellisch zu werden, sokommen mir die SS-Männer in den Sinn, die genau so waren - und plötzlich habe ich das GefüW,als ob sich der Schatten des Hakenkreuzes über unsere Städte senkte. Eine apokalyptische Vision,zweifellos.» (S. 43)

50 Autoren wie William A. Schabas thematisieren ausführlich das Problem einer «anachronistischenSprache» im Völkerrecht; die Definition «rassischer Gruppen», die 1948 offenbar noch möglichwar, erscheint heute als «eine Redeweise, die [...] eher seltsam und vielleicht sogar anstössigerscheint». Vgl. Schabas: Genozid im Völkerrecht (wie Anm. 3), S. 152; siehe auch S. 162 ff.

51 Ebd., S. 701.52 Ebd., S. 18.53 Förster/Hirschfeld (Hg.): Genozid (wie Anm. 8), Einleitung, S. 8.54 Diane Marie Amann: «Genocide in International Law. The Crimes of Crimes», in: The American

Journal 0/International Law, 2001, Vol. 95, No. 3, S. 739-741.55 Für die These einer Radikalisierung vgl. Kerstin von Lingens Rezension der Studie von Schabas,

die einleitend den französischen Anwalt Jacques Verges mit der Aussage zitiert, wir lebten in der«vielleicht schlimmsten Epoche der Geschichte», die durch die «grösstmögliche Barbarei» gekenn­zeichnet sei. (Vgl. H-Soz-u-Kult-Rezension vom 23. April 2004, einsehbar unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-053). Demgegenüber hält der Bericht «menscWicheSicherheit» aus dem Jahre 2005 fest, bewaffnete Konflikte, Völkermord und Menschenrechtsver­letzungen würden sich rückläufig entwickeln, was aufdas Ende des Kalten Krieges zurückzuführensei. (Vgl. z. B. den Bericht in der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. Okt. 2005, S. 9).

56 Martin Shaw: War and Genocide. Organised Killing in Modern Society. OxfordlCambridge 2003.Frühere Überblickswerke über den Völkermord setzten die Akzente meist anders. So schreibt LeoKupee «This study deals mainly with domestic genocides in the twentieth century. By domesticgenocides, I mean those internal to a society, not a direct consequence of war." In: Kuper: Genocide(wie Anm. 2), S. 9.

57 Schabas: Genozid im Völkerrecht (wie Anm. 3), S. 709.