Gesellschaftlicher Raum in schriftlosen und frühschriftlichen Epochen - Möglichkeiten des...

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FORSCHUNGSCLUSTER 3 Politische Räume Politische Räume in vormodernen Gesellschaften Gestaltung – Wahrnehmung – Funktion Internationale Tagung des DAI und des DFG-Exzellenzclusters TOPOI vom 18. – 22. November 2009 in Berlin Herausgegeben von Ortwin Dally, Friederike Fless, Rudolf Haensch, Felix Pirson und Susanne Sievers

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FORSCHUNGSCLUSTER 3

Politische Räume

Politische Räume in vormodernen Gesellschaften Gestaltung – Wahrnehmung – Funktion

Internationale Tagung des DAI und des DFG-Exzellenzclusters TOPOIvom 18. – 22. November 2009 in Berlin

Herausgegeben von

Ortwin Dally, Friederike Fless, Rudolf Haensch,Felix Pirson und Susanne Sievers

VIII, 300 Seiten mit 119 Abbildungen

Titelvignette: Weiß zieht und gewinnt – Bondarenko & Gorgiev 1959 / Birgit Nennstiel (TOPOI), Berlin

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Dally, Ortwin / Fless, Friederike / Haensch, Rudolf / Pirson, Felix / Sievers, Susanne (Hrsg.):Politische Räume in vormodernen Gesellschaften ; Gestaltung – Wahrnehmung – Funk tion ; Internationale Tagung des DAI und des DFG-Exzellenzclusters TOPOI vom 18. – 22. November 2009 in Berlin / hrsg. von Ortwin Dally ... .Rahden/Westf.: Leidorf 2012

(Menschen – Kulturen – Traditionen ; ForschungsCluster 3 ; Bd. 6)ISBN 978-3-86757-386-3

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ISBN 978-3-86757-386-3ISSN 2193-5300

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1 Der Firma ARW-Modellbau (Aldenhoven) und ihrem geschäftsfüh-renden Gesellschafter, Herrn Thomas Weber, danke ich für die gute Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des anlässlich der Ausstellung ›Zeit der Helden‹ im Badischen Landesmuseum Karlsruhe 2009 er-stellten Modells von Tiryns und für das Überlassen von Fotografien des Modells. Mein Dank gebührt Frau Dipl.-Arch. M. Kostoula für die

Bearbeitung der Abbildungen für den Druck. Dem Heidelberger Ex-zellenzcluster ›Asia and Europe in a Global Context: Shifting Asym-metries of Cultural Flows‹ danke ich für die Unterstützung meiner Forschungen.

2 Lefebvre 1991, 142 f. 160.

Gesellschaftlicher Raum in schriftlosen und frühschriftlichen Epochen – Möglichkeiten des Nachweises und der Interpretation

Joseph Maran

Zusammenfassung: In dem Beitrag wird argumentiert, dass räumliche Strukturen ur- und frühgeschichtlicher Gesellschaf-ten dann als »politisch« bezeichnet werden können, wenn grundlegende Ordnungs- und Wertvorstellungen eines Ge-meinwesens unter Beteiligung mehrerer gesellschaftlicher Gruppen in ritualisierten Formen sozialer Kommunikation zum Ausdruck gebracht, gestaltet und verändert wurden. Relationale Raumkonzeptionen können dabei helfen, die Vielfalt der Möglichkeiten zu verstehen, in denen Menschen ihre Lebenswelt geformt haben. Voraussetzung hierfür ist, Raumphänomene unter einem anthropologischen Blickwin-kel zu betrachten, d. h. nach Möglichkeiten zu suchen, die Perspektive der ehemaligen Akteure bei der Interpretation ar-

chäologischer Befunde mit einzubeziehen, ohne die sich der große Vorzug archäologischer Quellen, sich auf einen langen Zeitraum und sehr verschiedene kulturelle Kontexte zu be-ziehen, nicht erschließen wird. Anhand von drei Fallbeispie-len wird gezeigt, dass die Form und das Aussehen politischer Räume in der Ur- und Frühgeschichte Europas von der Struk-tur der Sozialordnung ebenso abhängig waren wie von den spezifischen Formen sozialer Kommunikation. Es bedurfte da-bei nicht notwendigerweise einer baulichen Ausgestaltung, um solche Räume entstehen zu lassen, ja es ist sogar wahr-scheinlich, dass außerhalb der umbauten Flächen befindliche, situativ entstehende politische Räume in bestimmten Ab-schnitten der Ur- und Frühgeschichte vorherrschend waren.

Social Space in Pre-Literate and Early Literate Periods – Possibilities of Identification and Interpretation

Abstract: This contribution argues that spatial structures of societies of prehistory and proto-history may be termed »po-litical« when a community’s fundamental concepts of order and value were expressed, formed and modified in ritualized forms of social communication with the involvement of sev-eral social groups. Relational concepts of space can help one understand the multiplicity of ways in which humans have shaped their life world. A precondition for this is considering spatial phenomena from an anthropological point of view, i. e. seeking ways to include past actors’ own perspectives in the interpretation of archaeological assemblages; with-out this, it will not be possible to fully exploit archaeologi-

cal sources’ potential to reveal information about very long time-periods and very different cultural contexts. Discussing three case examples, it is shown that the form and appear-ance of political spaces in Europe’s prehistory and proto-history were dependent on the structure of the social order as much as on the specific forms of social communication. Built structures were not necessarily required for the creation and shaping of such spaces; indeed it is even probable that, in certain phases of prehistory and proto-history, situation-dependent political spaces outside of the built environment were predominant.

Die Feststellung, Architektur würde gesellschaftliche Verhält-nisse abbilden und der Gesellschaft darüber hinaus einen Gestaltungsrahmen für soziales Handeln eröffnen, scheint auf den ersten Blick keiner weiteren Begründung zu bedürfen, zu vertraut ist uns das Leben und das Agieren inmitten der un-terschiedlichen Erscheinungsformen der von vielen Genera-tionen geschaffenen gebauten Umwelt1. Tatsächlich aber ist es meines Erachtens für ein Verstehen der gesellschaftlichen Wirkung architektonischer Räume unerlässlich, sich zum einen mit der Definition von Raum auseinanderzusetzen und zum anderen nach der Beziehung zwischen Raum und sozia-ler Praxis zu fragen. Im Kern geht es dabei um das Verhältnis zwischen Struktur und Handlung. Die Einbeziehung hand-

lungstheoretischer Ansätze in den Sozial- und Kulturwissen-schaften hat in den letzten Jahren die Beurteilung dieses Ver-hältnisses insofern auf eine neue Grundlage gestellt, als der Mensch in gleichem Maß als Ausführender herrschender ge-sellschaftlicher Normen und Werte wie als eigenverantwort-lich an der Gestaltung dieser Vorstellungen Beteiligter erach-tet wird. Für die Auseinandersetzung mit Raumphänomenen zieht dies die Notwendigkeit zu einer dezidiert anthropolo-gischen Perspektive nach sich. Das heißt, Raum kann nicht mehr allein als etwas a priori Bestehendes, d. h. gleichsam als starrer Hintergrund bzw. als Behälter angesehen werden, vor dem und in dem Handlung stattfindet und der kulturenüber-greifend »gelesen« und verstanden werden kann2. Stattdes-

Joseph Maran2

3 Hierzu schon Lefebvre 1991, 80 – 85.4 Löw 2001, 166 – 172.5 Rapoport 1982, 55 – 120. 177 – 195.6 Läpple 1991a, 37 – 39.7 Läpple 1991a; Läpple 1991b; Löw 2001, 152 – 230.

8 Rapoport 1982, 87 – 122; Dürr 2005, 183 – 186.9 Maran 2006a, 13.

10 Maran 2006a, 13.11 Hillier – Hanson 1984, 1 – 2.12 Hierzu Schechner 2002, 47 f.

sen muss Raum als im Handeln fortwährend neu entstehend begriffen werden3. Raum und Handlung sind dabei, wie es Martina Löw formuliert hat4, in einer »Dualität von Raum« un-trennbar aufeinander bezogen. Das bedeutet, dass räumliche Strukturen zwar die Richtung und manchmal auch die Form von Handlungsabläufen präkonfigurieren5, aber ihrerseits im Handeln überhaupt erst verwirklicht werden. Dies bringt die Notwendigkeit zu einer Abkehr von der Vorstellung eines dreidimensionalen Behälterraumes6 mit sich, dem Löw und Dieter Läpple ein dynamisches Raumverständnis gegenüber-stellen. Hierbei wird Raum als eine relationale Anordnung so-zialer Güter und Lebewesen begriffen7. Den auf diese Weise hervorgebrachten räumlichen Strukturen sind symbolische Inhalte eingeschrieben, die im Handeln wachgerufen wer-den, deren Bedeutung aber von kulturspezifischem Wissen abhängig ist8. Hierdurch werden Handlungsabläufe in ein Umfeld eingebettet, das seinerseits bereits von bestehenden Weltanschauungen geprägt und darauf angelegt ist, diese in der Zukunft fortzusetzen.

Für das Fach Ur- und Frühgeschichte ergeben sich im Lichte handlungstheoretischer, relationaler Raumkonzep-tionen Konsequenzen, die in mehrerlei Hinsicht eine große Herausforderung darstellen. Auf der einen Seite eröffnet die Auseinandersetzung mit den Quellen der schriftlosen und frühschriftlichen Zeitabschnitte der Menschheit die einzig-artige Möglichkeit, das Wissen um die Art, wie Räume im sozialen Handeln von menschlichen Gemeinschaften her-vorgebracht, genutzt und verändert wurden, um ein wah-res Universum von Erscheinungsformen zu erweitern. Auf diese Weise wird die Moderne mit anderen Entwürfen des Lebens und anderen Formen sozialer Organisation konfron-tiert, wie sie sonst nur die Ethnologie zu beschreiben in der Lage ist.

Auf der anderen Seite geht die Anwendung einer relatio-nalen Raumkonzeption auf die Quellen des Faches Ur- und Frühgeschichte mit spezifischen Schwierigkeiten einher9. Denn wenn Raum und Handlung zusammengehören und sich Bedeutungsinhalte so sehr im Fluss befinden, dass vor-dergründig gleich aussehende Räume ganz unterschiedlich bewertet und mit Leben erfüllt worden sein können, wie soll die Ur- und Frühgeschichte als ein archäologisches Fach, das per se weder Akteure und Handlungsabläufe noch gesell-

schaftliche Wertvorstellungen unmittelbar beobachten bzw. erfassen kann, ihren Quellen einen Sinn abgewinnen?

Ich muss eingestehen, dass ich diesen Widerspruch nicht völlig auflösen kann und empfinde es nur teilweise als Trost, dass altertumswissenschaftliche Disziplinen mit reicher text-licher Überlieferung im Prinzip vor dem gleichen Problem stehen, dass sich das konkrete Zusammenspiel zwischen Raum und Handlung in Gesellschaften nicht unmittelbar er-schließt. In aller Regel schweigen nämlich Texte hierüber, weil der Ablauf von Handlungen als so selbstverständlich erachtet wurde, dass er keiner Beschreibung bedurfte. Aber selbst wenn textliche Angaben zu der Aufstellung von Akteu-ren oder der Durchführung z. B. von Ritualen vorliegen, ergibt sich das methodische Problem, dass die Beschreibungen weit von der eigentlichen Ausführung entrückt sind, weshalb wir nicht sicher sein können, dass es genauso geschah, wie es jeweils angegeben wird. Tatsächlich hat Archäologie sogar das Potenzial, in Bezug auf die Aufklärung von Handlungs-abläufen gelegentlich über Texte hinauszugehen, da mittels archäologischer Funde und Befunde im Idealfall Aspekte der Ausführung ehemaliger Praktiken erfasst werden können. Aber nicht nur deshalb bin ich davon überzeugt, dass es für die Archäologie keine Option sein kann, den Schluss zu zie-hen, die Vorstellung eines »Behälterraumes«, in dem Hand-lungen stattfinden, sei ihrem Untersuchungsgegenstand an-gemessen10. Erstens hat diese Vorstellung die Schwäche, zu statisch zu sein, um Wandel erklären zu können, wogegen relationale Raumkonzepte dem Mensch als agierendem und veränderndem Wesen Platz einräumen. Zweitens setzt die Vorstellung vom Behälterraum Architektur mit ihrer materiel-len Seite gleich, d. h. mit Wänden, Säulen, Türen, Dächer usw., wodurch diese auf ihren Artefaktcharakter verengt wird. Die Besonderheit von Architektur besteht aber gerade darin, dass funktional nicht so sehr die materiell fassbaren Baukörper als vielmehr die hierdurch umschriebenen und gegliederten Räume im Mittelpunkt stehen11, die in gleichem Maße Mög-lichkeiten der Bewegung und der Wahrnehmung eröffneten und einschränkten. Drittens wird nur ein relationaler Raum-begriff dem Sachverhalt gerecht, dass politische Räume nicht notwendigerweise Baukörper und der zwischen ihnen be-findlichen Freiflächen bedurften, sondern außerhalb der um-bauten Umwelt im Handeln situativ entstanden sein können.

Politischer und sozialer Raum

Wie sind aber »politische Räume« ur- und frühgeschichtlicher Gesellschaften zu definieren? Klar ist, dass der Begriff »politi-scher Raum« seines heuristischen Potenzials beraubt würde, wenn er unterschiedslos auf alle Arten von Raum konstituie-rendem Handeln ausgedehnt würde. Ich möchte deshalb in leichter Abwandlung der in der Zielsetzung des Forschungs-clusters »Politische Räume« des Deutschen Archäologischen Instituts genannten Definition als »politisch« solche Räume bezeichnen, in denen unter Beteiligung mehrerer gesellschaft-licher Gruppen grundlegende Ordnungs- und Wertvorstel-

lungen eines Gemeinwesens in ritualisierten Formen sozialer Kommunikation zum Ausdruck gebracht, gestaltet und verän-dert werden. Aus dieser Definition ist zu ersehen, dass mir eine Trennung zwischen sakralen und politischen Räumen jeden-falls für die Ur- und Frühgeschichte wegen der engen Verflech-tung religiöser Überzeugungen mit politischen Ordnungsvor-stellungen nicht möglich zu sein scheint, und ich bezweifle ferner, dass es für spätere Abschnitte der Antike sinnvoll ist12.

Klar ist aber auch, dass wir mit der genannten Definition, die nur gesellschaftlich genutzte Räume als »politisch« rele-

Gesellschaftlicher Raum in schriftlosen und frühschriftlichen Epochen – Möglichkeiten des Nachweises und der Interpretation 3

13 Service 1962; Fried 1967; Johnson – Earle 1987.14 Bourdieu 1987, 171 – 261; Bourdieu 1998, 15 – 23.15 Bourdieu 1998, 13 – 15. 27.16 Schütz – Luckmann 1979, 25; ferner Habermas 1995, 198 f.17 Giddens 1984, 1 – 37.18 Zur Definition des ›angeeigneten physischen Raumes‹: Bourdieu

1991, 27 – 29.19 Bourdieu 1991, 32.

20 Bourdieu 1991, 27 – 28.21 Hillier – Hanson 1984, 26 – 29; Bourdieu 1991, 28 – 34; Johnson 2006;

Maran 2006a, 12.22 Giddens 1984, 64 – 68; Fischer-Lichte 2004, 58 – 126.23 Zu nennen sind hierbei auf Sinneswahrnehmungen abzielende, so

genannte phänomenologische Ansätze (vgl. Tilley 1994; Tilley 2004), die ›Space Syntax Analysis‹ (vgl. Hillier – Hanson 1984) oder die ›Visi-bility Graph Analysis‹ (vgl. Turner – Doxa – O’Sullivan – Penn 2001).

vant ansieht, lediglich einen Teil der Dynamik erfassen, die innergesellschaftlich politisch wirksam ist. Nicht zur Sprache kommen wird in diesem Beitrag die Makroebene der Terri-torien von Gruppen, und es fehlt auch die Mikroebene der Haushalte, die, und dies wird oft verkannt, gleichfalls politisch relevant ist. Um diesen Gesichtspunkt zu verstehen, muss kurz darüber reflektiert werden, wie die soziale Ordnung der Gruppen zu modellieren ist, mit denen wir es zu tun haben. In der Sozialarchäologie gibt es eine starke Tradition, auf-bauend auf Modellen des Neoevolutionismus gestufte So-zialtypologien zu verwenden13, die bei der Benennung der einzelnen Typen auf die Existenz oder nicht-Existenz einer Führungsebene fokussiert werden und damit den Anschein erwecken, das Ordnungsprinzip eines Gemeinwesens ließe sich anhand der obersten Ebene hinreichend charakterisie-ren. Dementsprechend erwachsen aus solchen Modellen Benennungen wie »Häuptlingstum«, »Big Man-Gesellschaft« oder »Königtum«. Vieles spricht meines Erachtens dafür, dass die Anwendung eines relationalen Raummodells mit einer relationalen Konzeption der Sozialordnung einherge-hen muss. Im Unterschied zu den genannten neoevolutio-nistischen Konzeptionalisierungen des Sozialen versuchen relationale Modelle der Sozialordnung, die Gesellschaft als Ganzes ins Blickfeld zu rücken, da die Position von Personen und Gruppen aufeinander bezogen ist und die Machtverhält-nisse innerhalb einer Gesellschaft sich im Fluss befinden. Ein solches Modell ist der »soziale Raum« nach Pierre Bourdieu14, ein virtuelles Kräftefeld, das sich aus der Gesamtheit der re-lational angeordneten Positionen einer Gesellschaft zusam-mensetzt. Anders als bei sozialtypologischen Modellen, die mit Bezeichnungen wie »Häuptlingstum« darauf abzielen, menschliche Sozialordnungen unabhängig von Zeit und Raum zu generalisieren, ist eine relationale Sozialordnung als Momentaufnahme einzigartig und muss deshalb für jede Gesellschaft und jeden Zeitabschnitt getrennt erarbeitet wer-den15. Die Positionen in Bourdieus sozialem Raum richten sich nämlich nach hochgradig zeit- und kulturspezifischen Kriterien. Zum einen nach der Ausstattung von Menschen und Gruppen mit den jeweils vorherrschenden materiellen und immateriellen Ressourcen, Bourdieu spricht von Kapital-sorten, etwa ökonomischer, kultureller oder symbolischer Art, und zum anderen nach dem Habitus, der sich vereinfacht als ein durch die Sozialisierung erworbenes soziales Navigations-system bezeichnen lässt, durch das ein Mensch in der Welt die für seine Stellung im sozialen Raum adäquaten Einstel-lungen einnehmen und Entscheidungen treffen kann.

Das Modell des sozialen Raumes ist zwar vordergründig abstrakt, doch hat es sehr unmittelbare Konsequenzen für die Lebenswelt des Menschen, unter der mit Alfred Schütz und Thomas Luckmann all diejenigen Aspekte von Kultur, Gesellschaft und Natur verstanden werden sollen, die sozia-le Akteure als fraglos gegeben erachten und zur Grundlage ihres Agierens nehmen16. Im Handeln und in Diskursen wer-

den die Parameter dieser Lebenswelt mit den zugehörigen gesellschaftlichen Werten und Überzeugungen immer wie-der von Neuem vergegenwärtigt, bestätigt und verändert, wodurch Wandel eintritt, der von den hieran Beteiligten al-lerdings zumeist erst im Rückblick als solcher erkannt wird17. Die Lebenswelt bildet damit zwar in der Wahrnehmung der sie als gegeben voraussetzenden Menschen ein festes Be-zugssystem, das jedoch de facto höchst dynamisch ist. Über den Habitus findet der soziale Raum seine Widerspieglung in der Lebenswelt in einer bestimmten Verteilung von Akteuren und Gütern im angeeigneten physischen Raum18, weshalb Bourdieu auch prägnant festgestellt hat, »… es ist der Habi-tus, der das Habitat macht«19. Eben deshalb zählt Bourdieu architektonische Räume zu den wichtigsten und zugleich subtilsten Komponenten der Symbolik der Macht, denn die stummen Gebote dieser Räume würden sich unmittelbar an den Körper richten, ohne von den Akteuren als solches wahr-genommen zu werden20. Die Trägheit der für den sozialen Raum ausschlaggebenden Strukturen resultiert unter ande-rem daraus, dass sie in den bewohnten Raum eingelagert sind und nur mit großer Mühe verändert werden können. Genau hierin liegt die politische Dimension von Architektur, denn durch das Bauen werden Systeme räumlicher Bezie-hungen geschaffen, die die für eine Gesellschaft kennzeich-nenden Vorstellungen über das Verhältnis sozialer Gruppen, z. B. zwischen Mann und Frau, Alt und Jung, Arm und Reich, visualisieren und die einen Rahmen dafür schaffen, die je-weils als gültig erachteten Werte und Normen im alltäglichen Handeln im häuslichen Umfeld wie im öffentlichen Raum anzuwenden, ohne dass hierüber reflektiert wird21. Indem es auf diese Weise dazu beiträgt, gesellschaftliche Ordnungs-vorstellungen zu visualisieren und zu perpetuieren, und sie damit als selbstverständlich erscheinen zu lassen, ist auch das Private sehr politisch!

Wenn im Folgenden dennoch die angeführte engere De-finition von »Politischem Raum« zugrunde gelegt wird, so hat dies durchaus seine Berechtigung, denn zweifellos fasst man hiermit Räume, denen durch die Ko-Präsenz22 von Mit-gliedern verschiedener sozialer Gruppen eine für die jewei-lige Gesellschaft übergeordnete Bedeutung zugekommen sein muss. Eine Gesellschaft ohne derartige politische Räume kann ich mir nicht vorstellen, denn sie wäre nicht imstande, sich als Gemeinwesen zu konstituieren und zu erfahren. Zu fragen ist eher, welche Gestalt Räume dieser Art in ur- und frühgeschichtlichen Kontexten annahmen, und welche Möglichkeiten es gibt, sie nachzuweisen und mit bestimm-ten Handlungsabläufen in Verbindung zu bringen. Das Fach Ur- und Frühgeschichte kann die Handlung der ehemaligen Menschen nicht direkt beobachten, wohl aber stehen Me-thoden zur Verfügung, mit denen das Potenzial erforscht werden kann, das sich aus räumlichen Konstellationen für Bewegung und für Sinneseindrücke ergibt23. Hierauf aufbau-end lassen sich Hypothesen entwickeln, wie das im Raum

Joseph Maran4

24 Hierzu zusammenfassend Thaler 2009.25 Müller 1930, 193 – 196; Wright 1994; Wright 2006; Küpper 1996,

111 – 118; Maran 2006b; Thaler 2006; Thaler 2009.26 Maran 2006b 82 f.; Taf. 13.27 Müller 1930, 177. 216.28 Wright 1987, 174 – 183; Wright 2006, 60; Taf. 10,2; Maran 2006b, 82 f.;

Taf. 12.

29 Maran 2006b.30 Maran.31 Hierzu ausführlicher Maran.32 Malone – Stoddart – Trump 1988.33 Zur architektonischen Terminologie der maltesischen Tempelanla-

gen vgl. von Freeden 1993, 52 – 198.

angelegte Potenzial im Handeln mobilisiert und verwirklicht worden sein könnte. Die Chance, dass dies gelingt, ist, ver-einfacht gesprochen, dann am größten, wenn die jeweiligen Räume durch bauliche Maßnahmen für bestimmte Formen ritualisierten Handelns gleichsam maßgeschneidert wurden.

Wichtige Einblicke können darüber hinaus durch die Analyse aufeinander folgender Bauzustände gewonnen werden, da hierdurch die Intention der für die Baumaßnahmen Verant-wortlichen klarer hervortreten kann.

Mykenische Paläste

Das erste Fallbeispiel sind mykenische Paläste Südgriechen-lands, die auch dank eines im Rahmen des Forschungsclus-ters »Politische Räume« verwirklichten Projektes als beson-ders intensiv raumsoziologisch erforscht gelten können. Mittels verschiedener methodischer Herangehensweisen24 lässt sich zeigen, dass Paläste wie die im 13. Jahrhundert v. Chr. erbauten von Pylos und Tiryns Beispiele einer bis in kleinste Details durchdachten architektonischen Insze-nierung sind, die die Bewegung von Besuchern in eine bestimmte Richtung lenkte, sie dabei verschiedenen Sin-neseindrücken aussetzte und sie immer tiefer in den Palast hineinführte, bis diejenigen, denen dies erlaubt war, das Ziel der Bewegung, nämlich den Komplex aus Großem Hof und Großem Megaron, erreichten, wo am Herd des Thronrau-mes und am Altar des Hofes in kleinstem Kreis die für den Staat zentralen Rituale ausgeführt worden sein müssen25. Eine besondere Bedeutung bei dem Weg zum Megaron ha-ben Punkte, die ich als liminal bezeichnet habe26. Nicht nur befinden sie sich am Übergang von einer Zone zu einer an-deren, sondern sie machten durch ihre Gestaltung dem Be-sucher bewusst, dass er oder sie im Begriff war, in eine Zone verschiedener Bedeutung hinüber zu wechseln. Um diese Punkte zu erreichen, musste die Bewegungsrichtung geän-dert werden. Man positionierte sich neu, passierte den Punkt und sah sich einem weiteren Tor gegenüber. Eine bauliche Akzentuierung erhielten einige dieser Punkte durch die Ver-legung von Baugliedern aus Konglomerat, einem aus Stein-brüchen bei Mykene herbeigeschafften Gesteinsmaterial27, das stark semantisch aufgeladen gewesen sein muss, da sich die Häufigkeit monolithischer Bauglieder aus diesem Gestein in den liminalen Punkten des Schlussabschnitts des Weges immer mehr steigert, wogegen es außerhalb des Weges nicht anzutreffen ist28. Die Besonderheiten mykenischer pala-

tialer Architektur lassen sich, wie ich meine, nicht verstehen, wenn nicht Prozessionen als eine zentrale rituelle Handlung berücksichtigt werden29. Insofern ist es nur folgerichtig, dass jüngst Argumente dafür erbracht werden konnten, dass das Fresko der berühmten Tirynther Frauenprozession auf dem Schlussabschnitt des Weges zum Großen Megaron an-gebracht war und sich auf den Thronsaal zu bewegt haben dürfte30.

Bemerkenswert ist die Umgestaltung, die das Palastare-al von Tiryns nach seiner Zerstörung um 1200 v. Chr. erfuhr, um es an die neuen Formen sozialer Kommunikation eines Zeitabschnitts anzupassen, in der die Sozialordnung nicht mehr auf eine starke Herrscherpersönlichkeit zugespitzt war (Abb. 1 – 2)31. Einerseits stellen wir fest, dass im Mittelpunkt weiterhin Rituale gestanden haben müssen, die am Altar des Großen Hofes und in einem in die Ruine des Großen Megarons hinein gebauten schmalen Antenbau ausgeführt wurden (Abb. 2). Andererseits ist die zentripetale Wegefüh-rung nicht mehr nachweisbar und anstelle der immer größer werdenden Exklusivität palastzeitlicher Kulthandlungen, je näher man dem Megaron kam, wurde nach der Katastrophe die Oberburg so umgestaltet, dass der Zugang nicht mehr baulich reglementiert war und man von außen zumindest ansatzweise sehen konnte, was im Vorbereich des Anten-baus geschah (Abb. 1). Ich werte dies als einen Hinweis da-rauf, dass eine in der sozialen Imagination überhöhte Ver-gangenheit zu einem Bezugspunkt einer gesellschaftlichen Neuorientierung wurde. Indem man sich der integrativen Kraft der Ausführung der in und bei dem Antenbau stattfin-denden Formen sozialen Handelns bediente, brachte man den eigenen Anspruch auf legitime Herrschaft für alle sicht-bar durch einen Rückgriff auf die Vergangenheit besser zur Geltung.

Megalithische Tempel

Mein zweites Fallbeispiel sind die megalithischen Tempel Maltas, deren Blütezeit zwischen dem späten 4. und der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. lag. Während die Bewohner des maltesischen Archipels in dieser Zeit in den Hausbau erstaunlich wenig investierten32, erhielten die Tem-pelbauten eine Ausgestaltung, die auch noch heutigen Be-suchern sprachloses Staunen abverlangt. Die Gliederung der Tempel folgt dabei einem regelhaft wiederkehrenden Sche-

ma. Von dem der gekrümmten Tempelfassade vorgelagerten Vorplatz betritt man durch den Torbau den meist in gerader Linie verlaufenden Durchgangskomplex, der ein achsensym-metrisch zu ihm ausgerichtetes System aufeinander folgen-der Quertrakte mit Raumbuchten erschließt und in dem so genannten Kopf des Tempels endet33. In jüngster Zeit haben Untersuchungen das Potenzial für Bewegung und Sichtbar-keit in diesen Tempeln erforscht. Grundsätzlich sind die An-

Gesellschaftlicher Raum in schriftlosen und frühschriftlichen Epochen – Möglichkeiten des Nachweises und der Interpretation 5

Abb. 1 Modell von Tiryns während SH IIIC. Blick von südlicher Richtung.

Joseph Maran6

34 Grima 2007, 38.35 Anderson – Stoddart 2007, 42 – 44.36 Anderson – Stoddart 2007, 43; Taf. 5.

37 Anderson – Stoddart 2007, 43.38 von Freeden 1993, 236 – 249. 39 Anderson – Stoddart 2007, 42; Taf. 5.

lagen durch den Kontrast zwischen dem weiten Vorplatz, auf dem sich eine große Menschenmenge versammeln konnte, und der nur von dem Tor unterbrochenen Fassade gekenn-zeichnet, die die Gestaltung des Innenraumes und das, was in ihm geschah, weitgehend verbarg und die Bewegung zwischen Innen und Außen stark kanalisierte34. Was das Inne-re anbelangt, haben Michael Anderson und Simon Stoddart ausgeführt35, dass die etwas besser einsehbaren Bereiche des Durchgangskomplexes unmittelbar neben schwer einzuse-henden Bereichen der Raumbuchten lagen, was es ermög-lichte, sich schnell von verborgenen Bereichen zu solchen der Zurschaustellung zu bewegen. Zudem zeigen sie36, dass die wichtigsten beweglichen Objekte wie Figurinen oder Tempelmodelle sich allesamt in den schwer einsehbaren Be-reichen fanden. All dies werten Anderson und Stoddart als Hinweise darauf, dass die Tempel auf Rituale zugeschnitten waren, in denen die »Offenbarung« von Geheimnissen eine

Rolle gespielt hat37. Dadurch, dass die Bewegung entlang der Achse des Durchgangskomplexes erfolgte, wurde der Besu-cher immer tiefer in den Raum hineingeführt. Anders als bei den mykenischen Palästen ist aber kein Raum zu benennen, der aufgrund seiner architektonischen Ausgestaltung als Hauptziel der Bewegung zu identifizieren wäre.

Interessant ist allerdings das Beispiel der letzten Ausbau-phase des Tempels von Tarxien, in der ältere Tempelbauten zu einem einzigen Komplex vereint wurden38. Hierdurch entstand ein die Anlage erschließender Durchgangskom-plex, bei dem erstmalig die Bewegungsrichtung mehrfach geändert werden musste und dessen hintere Abschnitte be-sonders schlecht einzusehen waren39. Dies könnten Indizien dafür sein, dass in diesem Spätabschnitt der Tempelkultur zunehmende räumliche Tiefe mit größerer Bedeutung asso-ziiert wurde.

Abb. 2 Modell von Tiryns während SH IIIC. Blick auf den Antenbau in der Ruine des Großen Megarons und seinen Vorbereich aus südwestlicher Richtung.

Gesellschaftlicher Raum in schriftlosen und frühschriftlichen Epochen – Möglichkeiten des Nachweises und der Interpretation 7

40 Schmidt 1930, 160 – 162. 41 Schröter 2009.42 Schröter 2009, 138. 144 – 146.43 Im Unterschied den anderen Gebäuden soll die ›Versammlungs-

halle‹ A7 (17) einen breiten, dreigeteilten Eingang von Norden und ein von doppelten Pfosten getragenes Dach gehabt haben: Schmidt 1930, 135 – 139. Das Gebäude scheint auch nicht mit einer

Feuerstelle versehen gewesen zu sein: Schmidt 1930, 137; Schröter 2009, 97 f.; 136; Abb. 58.

44 Eine Zusammenstellung solcher Bauten gibt Ebersbach 2010, 196 mit Anm. 5.

45 Vgl. zusammenfassend Ebersbach 2010, 193 – 203.46 Ebersbach 2010, 205 – 209.

Neolithische Feuchtbodensiedlungen

Nach den bisher vorgestellten Beispielen könnte der Ein-druck entstanden sein, es sei ohne weiteres möglich, Räume, die als »politisch« bezeichnet werden können, in den ur- und frühgeschichtlichen Quellen nachzuweisen. Dies wäre indes ein unzutreffender Eindruck, denn tatsächlich sind es weit eher Ausnahmen, in denen derartiges gelingt. Dies soll ab-schließend am Beispiel neolithischer Feuchtbodensiedlun-gen des 5. und 4. v. Chr. aus dem Südwesten Deutschlands und der Schweiz gezeigt werden. Noch vor wenigen Jahr-zehnten hätte man unter Verweis auf den Plan der in den 1920er und 30er Jahren ausgegrabenen jungneolithischen Siedlung von Aichbühl am Federsee wohl ebenfalls auf die Existenz solch baulich gestalteter gesellschaftlicher Räume in dieser Zeit verwiesen. Denn die Ausgräber der aus dem letzten Drittel des 5. Jahrtausends v. Chr. stammenden Sied-lung meinten, nicht nur einen Hauptplatz, um den sich alle Häuser gruppierten, sondern auch eine zentral gelegene Versammlungshalle und ein an dem Platz befindliches Haus eines Anführers nachweisen zu können40. Die jüngst publi-zierte Auswertung der Ausgrabungen von Aichbühl durch Rudolfine Schröter hat dieses Bild indes dekonstruiert und als Widerspieglung des Wunschdenkens der damaligen Ausgrä-ber entlarvt41. Wir müssen heute zum einen annehmen, dass die zu einem einzigen Siedlungsplan zusammengefassten Häuser sich auf verschiedene, nicht mehr zu differenzierende Bauphasen verteilt haben und zum anderen, dass die Inter-pretation der Ausgräber auf der Annahme beruhte, ein Dorf wie Aichbühl müsse über Hauptplatz, Versammlungshalle und Anführerhaus verfügt haben42. Wir werden vermutlich nie wissen, wie viel von dieser Interpretation vielleicht doch zutreffen könnte, was auch deshalb höchst bedauerlich ist, weil sich die »Versammlungshalle« aufgrund bestimmter Merkmale in der Tat von den anderen Gebäuden der Sied-lung deutlich zu unterscheiden scheint und deshalb mei-nes Erachtens weiterhin die Möglichkeit einer Deutung als gemeinschaftlich genutztes Gebäude besteht43. Andererseits liegen aus den mittlerweile zahlreichen modern ausgegra-benen neolithischen Feuchtbodensiedlungen nur sehr we-nige Gebäude vor, für die anhand von Besonderheiten des Grundrisses, der Lage und/oder der Inneneinrichtung eine gemeinschaftliche Nutzung wahrscheinlich gemacht wer-den kann, was unterstreicht, dass wir es hierbei ganz und gar nicht mit der Regel, sondern weit eher mit Ausnahmen zu tun haben44.

Generell bieten die in den letzten zwei bis drei Jahrzehn-ten untersuchten Feuchtbodensiedlungen des Alpenraumes den außerordentlichen Vorzug, dass sich dank der Dendro-chronologie die Erbauung von Häusern in Jahresschritten verfolgen lässt, wodurch die bauliche Dynamik in einer Klar-heit hervortritt, die ihresgleichen sucht. Das Studium der Siedlungspläne zeigt bei allen Unterschieden im Detail doch in aller Regel dicht an dicht in Zeilen angeordnete Häuser mit

allenfalls geringen Größenunterschieden, die durch Wege getrennt werden. Weder heben sich Gebäude durch ihre be-sondere Größe, Form oder Ausstattung als mögliche gemein-schaftlich genutzte Räume hervor, noch scheinen Freiflächen systematisch ausgespart worden zu sein, für die durch Befun-de oder Funde eine Nutzung für Formen gesellschaftlicher Kommunikation wahrscheinlich gemacht werden kann45.

Gewiss, es lässt sich weder völlig ausschließen, dass Ver-sammlungen in Häusern stattfanden, die nicht anders als andere aussahen, noch dass Treffen in Baulücken zwischen Häusern abgehalten wurden, die in den folgenden Jahren sogleich wieder geschlossen wurden. Die geringe Größe der Häuser und die Tatsache, dass Freiflächen in keiner der Sied-lungen in ihrer Lage stabil blieben, macht aber meines Erach-tens einen anderen Schluss unausweichlich: Der politische Raum dieser neolithischen Menschengruppen ist nicht vor-rangig in dem umbauten Areal der Siedlung, sondern außer-halb davon zu lokalisieren und er dürfte in erster Linie durch landschaftliche Bezugspunkte, wie z. B. Bäume, Felsen, Was-serflächen sowie die Präsenz und die Handlungen derjenigen konstituiert worden sein, die sich an bestimmten Stellen der Landschaft zusammenfanden. Dabei muss dieser außerhalb des umbauten Areals befindliche politische Raum nicht not-wendigerweise von Einwohnern ein und derselben Siedlung gebildet worden sein. Einer interessanten Hypothese von Renate Ebersbach46 zufolge könnte die erstaunlich kurze Be-siedlungsdauer solcher jung- und spätneolithischer Feucht-bodensiedlungen damit in Zusammenhang stehen, dass die Siedlungen aus Menschengruppen bestanden, die sich jeweils Bewohnern anderer Siedlungen verbundener fühlten als denen, mit denen sie am gleichen Platz lebten, wodurch die Mobilität von Personen und Gruppen erhöht wurde. In den vordergründig einheitlich und geschlossen wirkenden Siedlungen hätten gemäß dieser Deutung gewissermaßen zentrifugale soziale Kräfte gewirkt, die dadurch entstanden, dass Bewohner einer Siedlungsgemeinschaft je nach Zu-schnitt der zwischen Siedlungen bestehenden sozia len Netz-werke in unterschiedliche politische Räume eingebunden gewesen sein könnten.

Sofern der politische Raum der Bewohner neolithischer Feuchtbodensiedlungen außerhalb des bebauten Raumes durch die Ko-Präsenz von Mitgliedern einer oder mehrerer Siedlungen konstituiert wurde, hätte dies archäologisch zwei schwer wiegende Konsequenzen: Erstens, dass die Möglich-keit des Nachweises solcher situativ entstehender politischer Räume sehr schlecht wäre und von der Art der darin vollzo-genen Handlungen abhinge. Zweitens, dass der bereits von den Ausgräbern von Aichbühl eingeschlagene Weg, die soziale Ordnung derartiger Gemeinschaften allein an Sied-lungsplänen abzulesen, entschieden zu kurz griffe, da die eigentlich politisch wirksamen Handlungen, in denen die Be-ziehungen zwischen Personen und Gruppen visualisiert und

Joseph Maran8

47 Schechner 1988, 59 – 65.

ausgehandelt wurden, in vielen Fällen außerhalb der Siedlun-gen stattfanden.

Insgesamt ist festzustellen, dass relationale Raumkonzep-tionen dem Fach Ur- und Frühgeschichte helfen, die Vielfalt der Möglichkeiten zu verstehen, in denen Menschen ihre Lebenswelt gestaltet haben. Welche Form und welches Aus-sehen politische Räume annahmen war von der Struktur der Sozialordnung ebenso abhängig wie von den spezifischen Formen sozialer Kommunikation. Es bedurfte dabei nicht not-wendigerweise einer baulichen Ausgestaltung, um solche Räume entstehen zu lassen, ja es ist sogar wahrscheinlich, dass außerhalb der umbauten Flächen befindliche, situativ entstehende politische Räume in bestimmten Abschnitten der Ur- und Frühgeschichte vorherrschend waren. Als in der Natur befindlich sollte allerdings diese Art von politischen Räumen nicht bezeichnet werden, denn im rituellen Handeln

wird zwangsläufig ein kultureller Ort konstituiert und kultu-relle Bedeutung der Natur gleichsam eingeschrieben47. Mit seinen Quellen kann das Fach das Potenzial für Bewegung und Sinneseindrücke erforschen, durch Einbeziehung dia-chroner Veränderungen Einblicke in die Intention der Erbau-er gewinnen und im Ausnahmefall auch Aspekte ehemaliger Handlungen gleichsam als Momentaufnahme in der Wider-spieglung in den in situ aufgefundenen Objekten erfassen. All dies setzt voraus, Raumphänomene unter einem anthropo-logischen Blickwinkel zu betrachten, d. h. die Perspektive der ehemaligen Akteure bei der Interpretation archäologischer Befunde mit einzubeziehen, ohne die sich der große Vorzug archäologischer Quellen, sich auf einen langen Zeitraum und sehr verschiedene kulturelle Kontexte zu beziehen, nicht er-schließen wird.

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Abbildungsnachweis

Abb. 1 – 2: ARW-Modellbau, Thomas Weber.

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Joseph MaranUniversität HeidelbergZentrum für AltertumswissenschaftenInstitut für Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatische ArchäologieMarstallhof 4D-69117 [email protected]