Begehen und Verstehen. Wie der filmische Raum zum Ort wird

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Vinzenz Hediger Begehen und Verstehen Wie der filmische Raum zum Ort wird Was machen wir eigentlich mit dem filmischen Raum? Was machen wir mit einem Raum, den wir weder betreten noch bewohnen können, und der sich auch nur so weit besichtigen lässt, wie dies die vorab festgelegte Dramaturgie des Films zulässt? Oder anders gefragt: Auf welche Weise, falls überhaupt, wird der filmische Raum zum Ort, wird das „Geflecht von beweglichen Elementen“, das von der „Gesamtheit der Bewe- gungen erfüllt ist, die sich in ihm entfalten“, zu einer „momentanen Konstellation von festen Punkten“ und zu etwas „Eigenem“, um es mit De Certeau zu sagen?1 I. Sieht man einmal ab von dem Raum des Kinos oder dem jeweiligen gebauten Raum, in dem die Vorführung stattfindet (das heißt vom ‚dispositiven Raum‘ nach Paech 2 oder dem ‚dispositiv scénographique‘ nach Gardies 3 ), und beschränkt man sich auf jene Aspekte des Raums, die sich an den Bild-Ton-Konstellationen des Films festmachen lassen, dann kann man mit einer Begriffstriade, die Eric Rohmer in seiner filmwissen- schaftlichen Dissertation über Murnaus ‚Faustentwickelt hat, 4 drei Dimensionen des filmischen Raums unterscheiden: den Architekturraum, das heißt den gebauten Raum des Sets oder Drehorts, der pro-filmisch, also vor der Kamera und bevor die Kamera läuft, vorhanden ist; den Bildraum, also das, was im Bild, wie es auf der Leinwand oder auf dem Bild- schirm erscheint, vom Architekturraum zu sehen ist (wobei hier zu ergänzen ist, dass der Bildraum zumindest im Tonfilm immer auch ein Klangraum ist und das umfasst, was sich über diegetische Stimmen und Geräusche an Raum erschließt); und schließlich den Filmraum, dasheißt den Raum der Diegese oder der vorgestell- ten Welt, den die Zuschauer ausgehend von dem, was der Film ihnen liefert, in der Vorstellung zusammensetzen. 5 1 DE CERTEAU, Kunst, S. 217. Mit dieser Frage schließe ich an De Certeaus handlungstheoretische Kon- zeption des Raumes an, die sich in der deutschsprachigen soziologischen Diskussion etwa mit der Po- sition von Martina Löw trifft. Sie steht in einer kritischen Distanz zu den entfremdungstheoretischen Ansätzen, wie sie etwa Henri Lefebvre und Marc Augé vertreten. Vgl. AUGÉ, Nicht-Orte; LEFEBVRE, La production; LÖW, Raumsoziologie. 2 FRAHM, Jenseits des Raums, S. 118–120. 3 GARDIES, L’espace. 4 Vgl. ROHMER, L’Organisation. 5 Im ‚Vokabular der Filmologie‘, das Etienne Souriau in einem klassischen Aufsatz von 1951 entfaltet, lässt sich der Architekturraum dem Bereich des Profilmischen zurechnen, der Bildraum dem Bereich des ‚filmophanischen‘, also dessen, was auf der Leinwand erscheint, und der Filmraum zugleich dem Bereich des Diegetischen und des Spektatoriellen also der vorgestellten Welt und dem Prozess ihrer

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Vinzenz Hediger

Begehen und Verstehen Wie der filmische Raum zum ort wird

Was machen wir eigentlich mit dem filmischen Raum? Was machen wir mit einem Raum, den wir weder betreten noch bewohnen können, und der sich auch nur so weit besichtigen lässt, wie dies die vorab festgelegte Dramaturgie des Films zulässt? Oder anders gefragt: Auf welche Weise, falls überhaupt, wird der filmische Raum zum Ort, wird das „Geflecht von beweglichen Elementen“, das von der „Gesamtheit der Bewe-gungen erfüllt ist, die sich in ihm entfalten“, zu einer „momentanen Konstellation von festen Punkten“ und zu etwas „Eigenem“, um es mit De Certeau zu sagen?1

I.

Sieht man einmal ab von dem Raum des Kinos oder dem jeweiligen gebauten Raum, in dem die Vorführung stattfindet (das heißt vom ‚dispositiven Raum‘ nach Paech2 oder dem ‚dispositiv scénographique‘ nach Gardies3), und beschränkt man sich auf jene Aspekte des Raums, die sich an den Bild-Ton-Konstellationen des films festmachen lassen, dann kann man mit einer Begriffstriade, die Eric Rohmer in seiner filmwissen-schaftlichen Dissertation über Murnaus ‚faust‘ entwickelt hat,4 drei Dimensionen des filmischen Raums unterscheiden: – den Architekturraum, das heißt den gebauten Raum des Sets oder Drehorts, der

pro-filmisch, also vor der Kamera und bevor die Kamera läuft, vorhanden ist; – den Bildraum, also das, was im Bild, wie es auf der Leinwand oder auf dem Bild-

schirm erscheint, vom Architekturraum zu sehen ist (wobei hier zu ergänzen ist, dass der Bildraum zumindest im Tonfilm immer auch ein Klangraum ist und das umfasst, was sich über diegetische Stimmen und Geräusche an Raum erschließt);

– und schließlich den filmraum, dasheißt den Raum der Diegese oder der vorgestell-ten Welt, den die zuschauer ausgehend von dem, was der film ihnen liefert, in der Vorstellung zusammensetzen.5

1 de ceRteau, Kunst, S. 217. Mit dieser frage schließe ich an De Certeaus handlungstheoretische Kon-zeption des Raumes an, die sich in der deutschsprachigen soziologischen Diskussion etwa mit der Po-sition von Martina Löw trifft. Sie steht in einer kritischen Distanz zu den entfremdungstheoretischen Ansätzen, wie sie etwa Henri Lefebvre und Marc Augé vertreten. Vgl. augé, Nicht-orte; leFeBVRe, La production; löW, Raumsoziologie.

2 FRahm, Jenseits des Raums, S. 118–120.3 gaRdies, l’espace.4 Vgl. RohmeR, L’organisation. 5 Im ‚Vokabular der filmologie‘, das Etienne Souriau in einem klassischen Aufsatz von 1951 entfaltet,

lässt sich der Architekturraum dem Bereich des Profilmischen zurechnen, der Bildraum dem Bereich des ‚filmophanischen‘, also dessen, was auf der Leinwand erscheint, und der filmraum zugleich dem Bereich des Diegetischen und des Spektatoriellen also der vorgestellten Welt und dem Prozess ihrer

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Die drei Ebenen bilden zusammen einen Komplex, der den Charakter eines virtuellen Raums hat: Als Raum oder zusammenhang von Räumen, der möglich ist, und zwar auch und gerade insofern er realen Räumen gleicht, aber nicht wirklich (auch wenn das filmbild, zumal wenn es auf einem Bildschirm erscheint, in einem physikalischen Sinne im unterschied zum Spiegelbild streng genommen ein reales Bild ist, also eines, von dem Lichtstrahlen ausgehen). zur Virtualität des filmischen Raumes gehört fer-ner, dass er im unterschied etwa zur Architektur im gebauten Raum nur in der zeit existiert, oder „jenseits des Raums“, wie Laura frahm es formuliert: als in einem zeit-ablauf projizierter, gezeigter und vorgestellter, „genuin bewegter“ Raum, ja als „reine Transformation und reines Denken“.6 Vor und nach der Projektion existiert er nicht als gezeigter, und nach der Projektion höchstens als vorgestellter Raum (wobei festzuhal-ten ist, dass der filmische Raum nie ganz zur Sache des ‚reinen Denkens‘ wird, weil er auf den vorfilmischen Raum als seinen Anstoß angewiesen und damit ein okkasionelles Konstrukt bleibt).

Was also machen wir mit diesem ‚genuin bewegten‘ virtuellen Raum des films, im Raum des Dispositivs und darüber hinaus?

Ausgehend von Rohmers Modell, das der zuschauerin und dem zuschauer eine partizipative Rolle zuweist, lautet die Antwort zunächst ganz einfach: Wir konstru-ieren ihn, wir bauen ihn in unserer Vorstellung. Räume und orte sind, so die Quint-essenz der neueren Raumtheorie und Raumsoziologie, unabhängig von der jeweiligen theoretischen orientierung der Autorinnen oder Autoren, ohnehin gemacht. Sie sind das Produkt einer sozialen Praxis, wie Lefebvre sagt, und der filmische Raum wäre nach seiner Taxonomie ein Repräsentationsraum, der vor allem über die Praxis der Raumrepräsentation konstituiert wird.7 zum ort würde der filmische Raum demnach durch den jeweiligen und je eigenen mentalen Akt seiner Konstruktion: indem wir, im Sinne der unterscheidung von Raum und ort von Gardies, die jeweilige konkrete Manifestation eines Ausschnitts des filmischen Raums auf der Leinwand wahrnehmen, diesen als ort wahrnehmen und aus dem zusammenhang dieses ortes mit den auf ihn folgenden den filmraum als ein „ensemble de lieux“ konstruieren.8

Aber wozu dieses ‚reine Denken‘, und was machen wir mit dem filmischen Raum, wenn er gebaut ist? Eine Antwort auf die frage nach dem Weshalb und Wozu gab vor einiger zeit die psychoanalytische filmtheorie. Im Spiegelstadium entdeckt das Kleinkind sich selbst als Körperganzes im Spiegelbild; die Reaktion ist „jubilatorische Geschäftigkeit“, wie Lacan es formuliert9, eine Euphorie, die aber zugleich das faktum verdeckt, dass die Körperganzheit imaginär bleibt, nämlich ausgelagert in das vom er-fahrenen Körper abgetrennte Spiegelbild, und dass das Glücksgefühl der imaginären fülle nur um den Preis der Verschleierung dieser Abtrennung zu haben ist. Im Kino nun, so die psychoanalytische Lesart, regrediert das erwachsene Subjekt in gewisser

Konstruktion durch die zuschauerin und den zuschauer. Vgl. souRiau, Struktur, S. 156–157. Vgl. fer-ner auch die Taxonomien von ‚Erfahrungsraum‘, ‚Bildraum‘ und ‚filmraum‘ in KaPPelhoFF und die Trias von ‚dispositivem‘ (= Kino-Raum), ‚medialem‘ (= diegetischem) und ‚modalem‘ Raum (= „Raum der Darstellung“) bei Paech, Szene, S. 118–120.

6 FRahm, Jenseits des Raums, S. 15; S. 166.7 leFeBVRe, La production, S. 83–85.8 gaRdies, L’espace, S. 71.9 lacan, Schriften, S. 63.

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Weise in diesen zustand. Das continuity editing, der ‚unsichtbare Schnitt‘, der Positi-onswechsel der Kamera kaschiert und den Eindruck einer Kopräsenz von Betrachte-rin und dargestelltem Geschehen in einem kontinuierlichen Raum herstellt, bindet das Subjekt in die diegetische Welt ein und baut aus den fragmenten der einzelnen Einstel-lungen das Ganze einer vorgestellten Welt. ‚Suture‘ wird dieser Prozess genannt: Ein-nähen des Subjekts in die Welt des films beziehungsweise Konstruktion des Subjekts durch das Einnähen in die imaginäre fülle der vorgestellten Welt, zusammennähen der fragmente, aus denen sich diese Welt zusammensetzt, durch den Schnitt.10 Der fil-mische Raum wäre demnach ein Medium der Wiederherstellung der ‚imaginären fülle‘ des Spiegelstadiums und der mit dieser sich verbindenden Euphorie. Überdies lässt sich der filmische Raum mit Laura Mulvey in psychoanalytischen Begriffen auch als objektivierung eines maskulin-phallokratischen Machtstrebens verstehen, als Raum der Bewältigung der Kastrationsangst durch eine symbolische unterwerfung des weib-lichen Körpers unter den männlichen Blick.11

Eine andere Antwort auf die frage, was wir mit dem filmischen Raum machen, kommt aus einem Theoriezusammenhang, der diesen in ein weiteres feld von virtu-ellen Räumen einreiht, zu denen namentlich auch solche gehören, die in Computersi-mulationen hergestellt werden, aber auch schon durch die trompe l’oeil-Malereien des Barock. Der Schlüsselbegriff ist hier derjenige der Immersion. In ähnlicher Weise wie die psychoanalytische Theorie der ‚suture‘, wenn auch nicht mit einem Akzent auf der Konstitution des Subjekts, sondern im Gegensatz dazu mit der Anmutung eines Selbst-verlusts (und damit im Übrigen paradoxerweise auch eines ortsverlusts), postulieren Theorien der Immersion ein Bedürfnis nach dem Aufgehen des Subjekts im Bild.12

Diese Antworten auf die frage nach dem umgang mit dem filmischen Raum wer-den um den Preis einer Reihe von Einschränkungen und Ausschlüssen gegeben. Die psychoanalytische filmtheorie verfolgt eine ideologiekritische Stoßrichtung und kon-zentriert sich auf das dominante Erzählkino amerikanischer Provenienz. unter dem filmischen Raum versteht sie zunächst und zumeist den des dominanten Kinos. Sie setzt dessen Illusionswirkungen und damit auch den integrierenden Charakter der fil-mischen Raumkonstruktionen besonders hoch an, um sie umso wirkungsvoller de-konstruieren zu können. Die Immersionstheorien wiederum erheben einen Grenzfall der filmwahrnehmung zur Norm und rechnen wie die psychoanalytischen Ansätze zu wenig damit, dass Distanz zum Gezeigten eine konstitutive Dimension der filmwahr-nehmung darstellt.13

Will man sich nicht auf eine bestimmte (wenn auch mit großer Reichweite verse-hene) Ausprägung des Kinos und einen Grenzfall der filmwahrnehmung festlegen, wenn man die frage nach dem Gebrauch des filmischen Raums und nach der Örtlich-keit des films stellt, gilt es demnach diese Theorieangebote zunächst einmal zurück-zustellen.

Ich möchte im folgenden in drei Schritten zumindest den umriss einer Antwort auf die frage skizzieren, was wir mit dem filmischen Raum machen. zunächst will

10 heath, Space.11 mulVey, Lust.12 muRRay, Hamlet; gRau, Art; cuRtis, Immersion.13 Vgl. dazu michotte, Realitätscharakter.

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ich kurz darauf eingehen, weshalb die filmtheorie, obwohl die „filmische Raumkon-struktion“ sich durchaus „wie ein roter faden durch die Theoriegeschichte des films“ zieht,14 die frage nach dem Wozu des filmischen Raums bislang nur wenig thematisiert hat. Meine These lautet, dass vorab die neuere, bisweilen auch ‚modern‘ genannte film-theorie sich lange im Horizont sprachwissenschaftlicher Modelle orientierte und den film in Begriffen von Sprachlichkeit, Textualität und Narration zu fassen versuchte, die den film als Gegenstand im feld eines Wissens mit propositionaler Struktur zu verorten versprachen. Diese Verwissenschaftlichung aber konnte nur um den Preis einer weitgehenden Reduktion dessen geleistet werden, was man den ‚Eigensinn der Kunsterfahrung‘ nennen kann,15 welche der filmische Raum ermöglicht. um diesem Eigensinn auf die Spur zu kommen, soll in einem historischen Exkurs auf drei analy-tische Positionen zum Kino der Weimarer zeit von Lotte Eisner, Siegfried Kracauer und Kristin Thompson eingegangen werden. In einem dritten Schritt möchte ich ausge-hend von zwei Positionen zur Architektur aus der Philosophie der Kunst und anhand von filmbeispielen den ästhetischen Eigensinn des filmischen Raums am Leitfaden des Begriffspaars ‚Verstehen und Begehen‘ fassen.

II.

Die sogenannte ‚klassische‘ filmtheorie von Lukács und Lindsay über Münsterberg, Balázs und Arnheim bis Kracauer hat ihre ursprünge in der philosophischen ästhetik, während die sogenannte ‚moderne‘ filmtheorie, angefangen bei Metz und Bellour, aber auch bei odin, Gaudreault und Wulff ihre theoretischen Grundlagen aus der Sprach-wissenschaft und der Semiotik bezieht beziehungsweise sich auch da noch an diesen Grundlagen abarbeitet, wo sie – wie bei Bordwell – Alternativen zum sprachwissen-schaftlichen Paradigma sucht. Die ‚klassische‘ filmtheorie fragt nach der Medienspe-zifik des films und leitet diese oft nach Lessing’schem Vorbild auch durch einen Ver-gleich mit anderen Kunstformen und ihren Medien ab (Theater im falle von Lukács, Bildhauerei im falle von Lindsay etc.). Aus der Medienspezifik leitet sie hernach ein Kriterium für die Bestimmung des Kunstcharakters und Kunstwerks von filmen ab. Namentlich bei Arnheim, der ein Schüler von Max Wertheimer war und einen gestalt-psychologischen Ansatz vertrat, bildet der filmische Raum ein zentrales Element der Bestimmung der Medienspezifik und damit des Kunstcharakters des films. Der film zeichnet sich nach Arnheim durch einen „Mangel an Tiefenillusion“ und eine Reduk-tion des filmischen Raums auf die flächenprojektion aus. Dieses „Manko gegenüber der Wirklichkeit“ ist für ihn aber „kein bedauerlicher Schönheitsfehler, sondern bietet umgekehrt die Möglichkeit zu künstlerischen Wirkungen.“16 Es ist mitunter gerade das Wegfallen der Raumwirkung, das einer Einstellung ihren Sinn verleiht:

Die Abdeckungen und Überschneidungen erscheinen als scharf, gewollt … man fühlt sich gedrängt, einen Sinn in ihnen zu suchen, sich darüber klar zu werden, warum die Grenzen gerade so und nicht anders verlaufen.

14 Vgl. engelKe u.a., film, Klappentext.15 Vgl. sondeReggeR, ästhetik.16 Vgl. aRnheim, film, S. 72.

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Wenn die „Verringerung der räumlichen Tiefe einen sehr willkommenen Schuss un-wirklichkeit in das filmbild“17 bringt, wie Arnheim schreibt, dann erklärt er damit den filmischen Raum gerade in der flächigkeit seines Erscheinens zum definierenden Merkmal der Kunstform film: Nicht die Raumillusion ist das Spezifikum des films, sondern die Semantisierung des Raumes, die sich aus den künstlerischen Wirkungen der flächigen Darstellung ergibt. Der Wegfall der Raumillusion wandelt den filmischen Raum zu einem Träger spezifischer Bedeutungen, und die frage nach dem Wo, nach der Örtlichkeit tritt in den Hintergrund. Der richtige Gebrauch des filmischen Raumes liege demnach in einer Hermeneutik, die weniger der Struktur des Raumes als den Bedeutungsgehalten gilt, die ihm durch die künstlerische Gestaltung verliehen wurden und die in der Interpretation freizulegen seien. Der filmische Raum rechtfertigt sich dadurch und insofern er dazu beitrage, den film zum Anlass und Gegenstand einer Anstrengung der Auslegung zu machen, in der – im Sinne der romantischen Kunstkri-tik – das Werk überhaupt erst zu seiner Vollendung komme.

Die ‚moderne‘ filmtheorie wiederum entledigt sich weitgehend der Beschäftigung mit dem Kunstwert und stellt die frage nach der Bedeutung als frage nach den Struk-turen und Mechanismen der filmischen Bedeutungsproduktion. Wenn Bazin seinen Aufsatz über die ‚ontologie des photographischen Bildes‘ in einer Referenz auf Mal-raux mit dem freistehenden Satz enden lässt: „zugleich ist der film auch eine Sprache“18, dann setzt die ‚moderne‘ filmtheorie genau bei diesem Satz an. für sie ist der film eine Sprache, oder genauer: Er ist wie eine Sprache, deren Regeln, deren Grammatik sich auffinden und festschreiben lässt, wie dies Metz in seiner ‚Grande Syntagmatique‘ ver-suchte. für diese Theorie ist der film ferner ein Text, wenn auch ein ‚unauffindbarer‘, wie Raymond Bellour es formuliert, der Tatsache Rechnung tragend, dass der film – zumal im zeitalter vor seiner Verfügbarkeit auf Video und in digitalen formaten – nicht zitierbar ist.19 und für diese Theorie, oder vielmehr für ihre Ausläufer und Weiterent-wicklungen, ist der film schließlich auch Narration, ein vorstrukturierter Prozess der Vergabe von Informationen über eine vorgestellte Welt, der sich über eine Analyse der Struktur dieses Prozesses und die Charakterisierung seiner Informationspolitik am be-sten wissenschaftlich fassen lässt. Die skizzierten Positionen der ‚modernen‘ filmtheorie liegen durchaus im Streit darüber, wie das, was sie genau zum fundament ihrer Analyse und zum verlässlichen, wissenschaftlich belastbaren Gegenstand ihrer Analyse machen wollen, genau zu benennen sei. Die Sprachanalogie bleibt umstritten, der Textbegriff gilt manchen als selbstverständlich und manchen als falle,20 und darüber, was filmische Narration ist, gibt es stark auseinanderstrebende Auffassungen, wobei diejenigen von Metz und Bordwell immerhin in dem Punkt konvergieren, dass es im film keine perso-nifizierbare Erzählinstanz gibt, sondern nur ein foyer, aus dem die Narration emaniert beziehungsweise einen Prozess der Artikulation eines Plots oder eines syuzhets durch den filmischen Stil.21 Einigkeit herrscht aber durchaus darin, dass der film, soweit er Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse werden kann, zumindest insofern wie

17 aRnheim, film, S. 8.18 Bazin, ontologie, S. 42.19 BellouR, Text.20 Vgl. BlüheR u.a., film.21 Vgl. dazu hedigeR, Equivalent, S. 137f.

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eine Sprache oder wie ein Text strukturiert ist, als sich seine bedeutungstragenden und bedeutungsstiftenden Basiseinheiten mit binären unterscheidungen und Dichotomien fassen und beschreiben lassen. Das gilt für das semiotische Paradigma der filmtheorie ebenso wie für das informationstheoretische, das Bordwell und seine Schüler der film-semiotik und den post-strukturalistischen Ansätzen entgegenstellen. Metz’ Konzept der ‚autonomen Segmente‘, die erst durch den Bezug zum filmganzen bedeutungstra-gend werden, und von denen seine ‚Grande Syntagmatique‘ sechs unterscheidet, etwa die Parallelmontage oder den plan autonome, also das Insert oder die Plansequenz, ist der paradigmatische fall einer theoretischen Bestimmung des films mit dem Instru-ment der binären unterscheidungen.22 Dem selben, seiner Herkunft nach sprachwis-senschaftlichen Prinzip folgen aber auch solche Begriffspaare wie die unterscheidung zwischen ‚monstration‘ und ‚narration‘, also zwischen ‚zeigen‘ und ‚Erzählen‘ bei And-ré Gaudreault oder zwischen ‚Darstellen‘ und ‚Mitteilen‘ bei Hans-Jürgen Wulff. Wulff reagiert auf das „Grundproblem der Semiotik der 60er und 70er, … dass im film keine Strukturen aufgefunden werden können, die dem sprachlichen formenbau analog sind“ und ein fortschreiten vom „kleinen“ zum „großen“, vom Wort zum Satz zum Text, nicht in gleicher Weise wie in sprachlichen Sinngebilden zu vollziehen ist, indem er von von Semantik und Syntax zur Pragmatik übergeht und die Leitunterscheidungen, die für den film bedeutungskonstituierend sind, im Rekurs auf den „Sinnrahmen der Mitteilung“ trifft23 (eine Volte, die auch die Pointe der Semiopragmatik des films von Roger odin ausmacht24). In die Reihe dieser binären unterscheidungen gehört aber auch noch die für die filmwissenschaft außerordentlich folgenreiche Dichotomie von ‚Kino der Attraktionen’ und ‚Kino der narrativen Integration‘, also von einem Kino, das primär mit dem Ausstellen von Schauwerten arbeitet, und einem solchen, das ge-schlossene narrative Welten mit figuren mit klaren Motivationsstrukturen und verläss-licher Psychologie entwickelt, mit der Tom Gunning in den 1980er Jahren die Spezifik des frühen Kinos zu fassen und zugleich den bedeutenden Beitrag von D. W. Griffith zur Herausbildung des narrativen Kinos zu benennen versuchte.25 So sehr auch in der Theorieentwicklung nach Metz immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass ein fort-schreiten vom Wort zum Satz und vom Satz zum Text beim film nicht möglich sei, weil die lose Koppelung von Elementen, aus denen ein film besteht, nie die festigkeit der grammatikalischen Struktur einer natürlichen Sprache erreicht, so steht im Hinter-grund der genannten Begriffsbildungen doch immer die Annahme, dass es so etwas wie ein sprachähnliches fundament gebe, auf das man in einem System der binären un-terscheidungen den film zurückführen könne. Dabei geht es den mit dem Textbegriff arbeitenden Ansätzen letztlich darum, den film so zu definieren, dass er Gegenstand eines Wissens mit propositionaler Struktur werden kann, das an etablierte textbasierte formen der wissenschaftlichen Wissensproduktion anschließbar wird.

Man kann diesen – weitgehend verdeckten – Szientismus der ‚modernen‘ filmtheo-rie mit den gleichen Argumenten kritisieren, mit denen Peter Szondi einst die Verwen-dung von quasi-naturwissenschaftlichen Verfahren der Induktion und der auf Quan-

22 metz, Syntagmatique.23 WulFF, Darstellen, S. 191.24 Vgl. odin, Kunst.25 gunning, Cinema; gunning, Griffith.

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tifikation gestützten Beweisführung in der Literaturwissenschaft kritisiert hat26 und mit denen Jean Starobinski vor der „prolifération invasive et monotone de la ‚théorie’“ warnte, der die Singularität der Werke zum opfer fallen müsse, wenn die Literaturwis-senschaft ihr kritisches Geschäft vernachlässige, um nach der Allgemeingültigkeit wis-senschaftlicher Aussagen zu streben.27 Auch wenn man ihn nicht im Namen der Sin-gularität der Werke und ihrer Genese kritisiert, bleibt unstrittig, dass dem inhärenten Szientismus der ‚modernen‘ filmtheorie tendenziell jene Elemente des films zum opfer fallen, die sich nicht auf verbalisierbare Bedeutungen und die sprachähnlichen Mechanismen ihrer Produktion zurückführen lassen. filmtheoretiker wie Raymond Bellour und Jacques Aumont und Philosophen wie Gilles Deleuze haben auf dieses Defizit reagiert, indem sie den Begriff des Bildes in ihren Überlegungen zum film stark gemacht haben.28 Gerade bei Deleuze richtet sich sein an Bergson angelehnter Bildbe-griff gegen die Reduktion des Ereignischarakters des filmbildes, die er als Problem und Schwachstelle der filmsemiotik benennt.29 Auch da allerdings, wo diese Theore-tiker auf die vorbegrifflichen Dimensionen der ästhetischen Erfahrung zurückgehen, steht am Ende wieder die frage nach der strukturierenden funktion der Narration im Vordergrund, so etwa bei Raymond Bellour, wenn er im Rückgriff auf Daniel Sterns forschung zur frühkindlichen Erfahrung die Strukturen der spielerischen Interaktion von Mutter und Säugling nicht nur zur ‚urszene‘ der ästhetischen Erfahrung erklärt, sondern auch zur strukturellen Matrix der filmischen Narration.30

Die Örtlichkeit des films kommt in diesem Theoriezusammenhang zunächst mit dem Begriff des Dispositivs zur Sprache. Jean-Louis Baudry benutzt den Begriff des Dispositivs 1974 erstmals, um das Kino als Anordnung von Technologien, Praktiken und Diskursen zu beschreiben, die bestimmte formen der Subjektivität hervorbringt; foucault löst den Dispositiv-Begriff wenig später vom Kino ab, um ihn auf eine Viel-zahl von diskursiven Praktiken auszuweiten. Der Raum des Kinos – der ‚Dispositiv-raum‘ im Sinne Paechs – dient dabei einer ganzen Generation von Theoretikern als unverzichtbare Voraussetzung ihrer Definitionen des films. Wenn Christian Metz in den 1970er Jahren die Semiotik mit der Psychoanalyse zusammenbringt, das filmbild als ‚imaginären Signifikanten‘ bestimmt und die Analogie zwischen dem Apparat des Kinos und dem psychischen Apparat im Sinne freuds erkundet, dann geht er dabei – etwa, wenn er den zustand des zuschauers als halbschlafähnlich beschreibt – ganz selbstverständlich von der Kinosituation aus.31 Wie sehr die Bestimmung des films in der neueren filmtheorie mitunter an der Lokalität des Kinos hängt, lässt sich derzeit im zuge dessen erkennen, was man wahlweise als „Explosion des Kinos“32 oder Krise des Dispositivs bezeichnen kann: Mit dem fernsehen, vollends aber mit der Ausbreitung von digitalen Kommunikationsplattformen wie Smartphones und Tablet-Computern hat sich der film vom Kino gelöst und ist ubiquitär geworden. filmtheoretikerinnen und filmtheoretiker der Generation von Metz reagieren darauf bisweilen, indem sie die

26 szondi, Hölderlin-Studien, S. 277–279.27 staRoBinsKi, La relation, S. 49.28 aumont, L’image; BellouR, L’entre-image; deleuze, zeitbild.29 deleuze, Régimes.30 BellouR, Entfalten.31 metz, Signifkant.32 casetti, Explosion.

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neuen Projektions- und zirkulationsformen aus dem Horizont dessen ausschließen, was den Namen ‚Kino‘ verdient.33

Dort, wo der filmische Raum in der ‚modernen‘ filmtheorie ausdrücklich zum Thema wird, nämlich zunächst bei André Gardies, geschieht dies weiterhin im Hori-zont des sprachwissenschaftlichen Paradigmas: Den Hintergrund von Gardies’ Leitun-terscheidung von filmischem Raum und filmischem ort oder zwischen einem abstrak-ten ensemble de lieux und dem konkreten lieu des jeweils sichtbaren Raumausschnitt, entspricht passgenau der unterscheidung von langue und parole bei de Saussure (was so im Übrigen natürlich für die unterscheidung von Raum und ort bei de Certeau gilt, aus der ich hier die frage nach dem Gebrauch des filmischen Raums und dem Wozu der Örtlichkeit des films ableite).

Was den filmischen Raum als Gegenstand einer Kunsterfahrung betrifft, fällt dieser in der ‚modernen‘ filmtheorie und ihren Weiterungen zunächst derselben Reduktion auf die frage nach seiner Bedeutung und seiner semantischen Aufladung anheim wie schon in der ‚klassischen‘ filmtheorie etwa bei Arnheim. Exemplarisch sind hier die Arbeiten von Giuliana Bruno34 und Ann friedberg35 über film und urbanität in der Postmoderne.

In der filmtheorie verhält es sich dabei bemerkenswerter Weise ganz ähnlich wie in der Architekturtheorie. Der Architekturtheoretiker Branko Mitrovic kritisiert die zeitgenössische Architekturtheorie, die sich nach wie vor weitgehend im Horizont des Poststrukturalismus bewegt, für ihren ‚Antiformalismus‘ und dafür, dass sie Archi-tektur statt als Problem der form als Text behandelt. Statt Projekte nach der Qualität der formalen Lösungen zu beurteilen, fragt die Architekturtheorie nach stories, da-nach, welche Geschichten ein Bau erzählt und also nach seinen verbalisierbaren und narrativierbaren Sinngehalten. Die Grundlage dieses Ansatzes, so Mitrovic, liegt in einer Konzeption des Sehens und des Denkens, die davon ausgeht, dass Denken und Wahrnehmung immer schon begrifflicher Natur und damit sprachlich vorgeformt sind. Die Ecksätze dieser Philosophie lauten, „that vision is inseperabale from conceptual thinking, that all thinking is verbal, that everything is text, that architecture is an art imbued with meanings“.36 In paradigmatischer Weise kommt diese Position, die sich in ihrer Reichweite keineswegs nur auf den Poststrukturalismus und seine zahlreichen akademischen Ausläufer beschränkt, auch in dem folgenreichen Satz „The innocent eye is blind“ von Ernst Gombrich37 zum Ausdruck, einem Kronzeugen im Übrigen des neoformalistischen Ansatzes in der filmwissenschaft.

Die neuere wahrnehmungspsychologische forschung zeigt nun allerdings, dass Raumwahrnehmung zunächst einmal vorbegrifflich ist. So lässt sich etwa eine unter-scheidung zwischen sense perception und cognitive perception treffen und mit David Marr von einer early vision sprechen, die der kognitiv überformten, mit der Identifika-tion, Klassifikation und zuordnung von objekten befassten kognitiven Wahrnehmung vorausgeht und von dieser unabhängig bleibt. Die sogenannte ‚fraser‘-Spirale, eine

33 BellouR, filmzuschauer.34 BRuno, Ramble City.35 FRiedBeRg, Windowshopping; FRiedBeRg, urban mobility.36 mitRoVic, Visuality, S. 89.37 zitiert nach mitchell, Iconology, S. 118.

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Grafik, die aus konzentrischen Kreisen besteht, sich in der Wahrnehmung aber als Spi-rale darstellt, und zwar auch dann, wenn man den tatsächlichen Sachverhalt kognitiv nachvollzogen hat, liefert für die Autonomie des early vision-Wahrnehmungssystems einen einfachen Nachweis. Dieser Gegebenheit trägt in der Philosophie unter anderem die formalistische ästhetik des englischen Philosophen Nick zangwill Rechnung, die ästhetische urteile von konzeptuellen Vorprägungen und damit auch von historischem und wissenschaftlichem Vorwissen abzulösen versucht.

Will man also dem Eigensinn der Kunsterfahrung des filmischen Raums gerecht werden, erscheint es demnach als durchaus produktiv, die Analyse des filmischen Raums nicht von vornherein in den Horizont einer untersuchung der Strukturen und Mechanismen der Produktion kultureller Bedeutungen oder einer Hermeneutik der ‚künstlerischen Wirkungen‘ der Raumdarstellung zu stellen, sondern die frage nach der Örtlichkeit des films zunächst einmal ausgehend von Annahmen wie derjenigen der early vision, also einer prä-kognitiven Raumwahrnehmung, anzugehen. Diese He-rausforderung möchte ich in einem nächsten Schritt anhand eines Rückgriffs auf die filmgeschichte genauer zu fassen versuchen.

III.

Das indische Grabmal heißt eine ufa-Großproduktion in zwei Teilen von Joe May aus dem Jahr 1921. Der film basiert auf einem Roman von Thea von Harbou und einem Drehbuch von fritz Lang und von Harbou. Mit Blick auf den internationalen Markt realisiert, auf dem die ufa sich zumindest in den 1920er Jahren recht gut behaupten konnte, erzählt Mays film die Geschichte eines englischen Architekten, der von einem indischen Maharaja einbestellt wird, um ein Grabmal zu bauen, das an Glanz noch den Taj Mahal übertreffen soll. Von einem Abgesandten des Potentaten überlistet, einem mit magischen fähigkeiten ausgestatteten Yogi, der es mit Geisteskräften unter anderem vermag Telefonleitungen zu unterbrechen und von fahrenden Automobilen die Räder abfallen zu lassen (Abb. 1), fährt der Architekt nach Indien. Im Königtum Eschnapur eingetroffen, realisiert der Architekt, dass das Grabmal für die Geliebte des orientalischen Potentaten vorgesehen ist, die zum zeitpunkt des Baus noch am Leben ist und für ihre untreue bestraft werden soll. Der Stoff wurde von Richard Eichberg 1938 ein zweites und von fritz Lang nach dessen Rückkehr nach Deutschland 1959 ein drittes Mal verfilmt. In der zweiten und dritten fassung ist der Architekt ein Deutscher (auch wenn er in Langs fassung von dem Schweizer Paul Hubschmid gespielt wird).

Es fällt fast zu leicht alle drei fassungen des films unter den Verdacht des ori-entalismus zu stellen: Überschießende Prachtentfaltung, unvorstellbare Grausamkeit, sexuelle zügellosigkeit und allgemeine Irrationalität, von der wahnhaften Eifersucht des Maharajas bis hin zu den telepathischen Kräften des Yogi – kein Topos des orien-talistischen Repertoires bleibt unbehandelt. Es handelt sich, wenn man so will, um ko-loniale fantasien nach dem Ende des deutschen Kolonialreiches. Dass die Geschichte in Indien angesiedelt ist, reiht die filme in eine Tradition der faszination für den Sub-kontinent ein, deren Anfänge ins ausgehende 18. Jahrhundert zurückreichen. Die Ent-deckung der strukturellen Verwandtschaft des Sanskrit mit den europäischen Sprachen Latein, Griechisch und vor allem mit dem Deutschen durch den französischen Jesuiten

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Gaston-Laurent Coeurdoux und die Vertiefung dieser Einsicht durch den englischen Kolonialbeamten William Jones, der in den 1770er Jahren in Kalkutta stationiert war, bildet nicht nur einen der Ausgangspunkte der modernen Disziplin der vergleichenden Sprachwissenschaft. Sie wird in Deutschland zum Anlass einer folgenreichen genealo-gischen filiation, welche die deutsche und die indische Kultur auf einen gemeinsamen ‚ursprung‘ zurückzuführen versucht. Das Andere der orientalistischen fantasie ist hier (wie im Grunde immer, aber in diesem falle in einer höchst kulturspezifischen Ausprägung) zugleich ein imaginäres Eigenes. Schon schwieriger ist es zu verstehen, weshalb der Held der Geschichte ein Architekt sein muss.

In ihrem Buch ‚Die dämonische Leinwand‘, das auf Englisch mit dem erklärenden untertitel ‚Expressionism in the German Cinema and the Influence of Max Reinhardt‘ publiziert wurde, widmet Lotte Eisner Mays film einen kurzen Abschnitt. Sie billigt ihm zu, nicht in dem Maße unter dem Einfluss der bahnbrechenden italienischen Mo-numentalfilme zu stehen, wie man dies angesichts von deren weltweitem Erfolg in den 1910er Jahren vielleicht erwarten könnte.38 Ihre Begeisterung hält sich indes in Grenzen:

Die von otto Hunte auf dem Ateliergelände errichteten, reich ornamentierten Monu-mentalbauten im Indischen Grabmal stehen im Kontrast zu einer recht banalen Hand-lung. Der film wirkt heute veraltet. Der Auftakt des zweiten Teils ist jedoch herrliche deutsche filmkunst. Conrad Veidts hohe Gestalt wandelt durch ein hell-dunkles Tem-pel-Inneres. Über aufgerauhte Mauermassen, über riesige, modern stilisierte indische Götterreliefs fließt geheimnisvolles Schimmern.39

Man mag sich vielleicht wundern, dass Lotte Eisner, die sich dem zugriff der Nazis durch die Emigration nach frankreich entziehen musste, den film nach dem Richt-

38 aloVisio/BeRtellini, Pastrone System.39 Vgl. eisneR, Leinwand, S. 79–80.

Abb. 1: Raumschichtung und Raumschrumpfung: Telepathische Intervention des Yogi in Das indische Grabmal (D 1921, Joe May)

71Wie der filmische Raum zum ort wird

maß der „herrliche[n] deutsche[n] filmkunst“ beurteilt. Eisner, deren intellektuelle Biographie noch zu schreiben ist, hatte Kunstgeschichte studiert und entstammte dem Westberliner assimilierten jüdischen Bürgertum, für das, wie unter anderem Amos Elon aufzeigt,40 die Kunst einen Bereich darstellte, in dem sich eine zugehörigkeit zur deutschen Kultur jenseits ethnischer und religiöser Markierungen entwickeln ließ.41 Wenn Eisner diesen Satz in den frühen 1950ern schreibt, verteidigt sie nicht zuletzt den Begriff einer deutschen Kultur, den es von seiner Verschandelung durch die Nazis zu befreien und in die Nachkriegszeit hinüber zu retten gilt. zugleich aber wendet Eisner an dieser Stelle eine leitende Annahme der akademischen Kunstgeschichtsschreibung auf den film an: Die Annahme, dass die Geschichte der Kunst aus einer Abfolge von Beeinflussungsverhältnissen zwischen bedeutenden Künstlern besteht und zugleich als Geschichte der Herausbildung nationaler Schulen zu verstehen ist. Künstlerisches Gelingen attestiert sie May genau dort, wo er die Leitideen einer deutschen Schule der filmkunst umsetzt und den Standards genügt, die für diese Schule kennzeichnend sind.

Bemerkenswert ist nun, dass „herrliche deutsche filmkunst“ für ihr Gelingen auf so etwas wie einen Plot nicht angewiesen zu sein scheint. Der film hat zwar einen Architekten zum Protagonisten; ausschlaggebend ist aber die Qualität der von otto Hunte auf dem Ateliergelände errichteten Bauten (Abb. 2), und das zusammenspiel von Schauspiel, Licht und für den film gebauter Architektur. Hohe deutsche film-kunst findet statt, wenn in einem „hell-dunkle[n] Tempel-Innere[n]“ ein „geheimnis-

40 elon, Pity.41 Vor diesem Hintergrund lässt sich womöglich auch Eisners Abneigung gegen Lubitsch verstehen: Man

könnte spekulieren, dass es sich dabei um eine innerberlinerische Abgrenzung des Charlottenburger Bürgertums gegenüber den ostjuden handelt, die sich nach ihrer zuwanderung im Scheunenviertel in Mitte niederließen. Man mag dabei auch an Walther Rathenau denken, der Ende der 1910er Jahre die ostjuden in einer zunächst anonym verfassten Schrift, mit der er zur Assimilation aufrief, als „asia-tische Horden im märkischen Sand“ beschrieb. Vgl. dazu gall, Walther Rathenau.

Abb. 2: Befahren und begehen, ohne zu betreten: Sakralarchitektur in Das indische Grabmal (D 1921, Joe May)

72 Vinzenz Hediger

volles Schimmern“ „[ü]ber aufgerauhte Mauermassen, über riesige, modern stilisierte indische Götterreliefs“ fließt. Was genau sich in den Bauten und Räumen abspielt, ist hinsichtlich der Bestimmung des Kunstwerts des Gezeigten nach Eisners Einschätzung nachranging gegenüber dem Wie des Architekturraums und seiner umsetzung in den Bildraum, um Rohmers Termini aufzugreifen.

Dass modern stilisierte Bauten ein stilbildendes Merkmal deutscher filme sind, fiel auch anderen Beobachtern auf. Die filmhistorikerin Kristin Thompson spricht mit Blick auf die 1910er und frühen 1920er Jahre von dem „vaunted German-style set de-sign, the one aspect of the country’s cinema that was internationally praised“.42 Selbst ein kursorischer Überblick über die Produktion der Jahre 1918 bis 1922, so Thompson, zeige

many eye-catching sets that were either elegantly designed, had extreme depth (re-quiring long walks by actors before they came into close camera range), cluttered set dressing, or a combination of all of these elements.43

Der englische Dokumentarfilm-Pionier, Kritiker und filmhistoriker Paul Rotha wie-derum konstatiert in der dem Weimarer Kino gewidmeten Überblicksdarstellung seines Buches ‚The film Till Now‘ von 1930, dass es äußerst wichtig sei, „den Anteil zu er-messen, den der Architekt an der Entwicklung des deutschen films genommen hat“.44 Rotha prägt in diesem zusammenhang den Begriff des ‚Studio-Konstruktivismus‘, den Kracauer im Caligari-Buch aufgreift und ideologiekritisch vertieft:

[Die deutschen Regisseure] zogen die Herrschaft über eine künstliche Welt der Ab-hängigkeit von den zufällen der Außenwelt vor. Ihr Rückzug ins Studio war im Ein-klang mit dem allgemeinen Rückzug ins Reich der Seele. Nachdem sich einmal die Deutschen dazu entschlossen hatten, ihre zuflucht im Innern zu suchen, konnten sie nicht wohl ihren filmen gestatten, jene selbe Wirklichkeit zu durchmessen, die sie im Stich ließen. Daher das Gewicht, das im Anschluss an ‚Caligari‘ auf Architektur gelegt wird […] Wie hätte es anders sein können? Die fassaden und Räume des Architekten waren nicht nur Hintergründe, sondern Hieroglyphen. Sie drückten die Struktur der Seele in Raumverhältnissen aus.45

Dieser „Rückzug ins Studio“ verleiht der deutschen filmproduktion auch in den Au-gen von Kracauer durchaus eine künstlerische Kohärenz und ein eigenes Gepräge. Die fassaden und Räume werden „Hieroglyphen“, sie werden les- und dekodierbar und fordern eine hermeneutische Anstrengung heraus, die allerdings keineswegs nur einem künstlerischen Sinn gilt, sondern an die Deutungsarbeit der Psychoanalyse anschließt. Die „Hieroglyphen“ der deutschen filmarchitekten drücken „die Struktur der Seele in Raumverhältnissen“ aus (vgl. Abb. 3); die filmarchitektur wäre demnach so etwas wie das filmische äquivalent von fehlleistung, Symptombildung und Traum, also eine via regia zur freilegung des latenten Sinns, der sich hinter dem manifesten Sinn der filmischen Darstellung verbirgt. oder anders gesagt: Im Projekt Kracauers, die filme

42 thomPson, Mr. Lubtisch, S. 110.43 thomPson, Mr. Lubtisch, S. 57.44 Vgl. Rotha, film, S. 258.45 Vgl. KRacaueR, Caligari, S. 81–82.

73Wie der filmische Raum zum ort wird

der Weimarer zeit als psychoanalytisch zu deutende Kollektivsymptome mit prophe-tischem Gehalt zu lesen, nehmen die „Hieroglyphen“ der filmarchitektur die Rolle eines Schlüsselsignals ein, insofern sie geradewegs Aufschluss über die „Struktur der Seele“ geben. Wie das unbewusste bei freud, so könnte man sagen, ist der filmische Raum vollständig determiniert.

Was die frage nach der Medienspezifik und nach dem Kunstwert angeht, ist sich Kracauer demnach, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, mit Eisner immerhin darin einig, dass die „fassaden und Räume“ der Architekten ein ausschlaggebendes Merkmal der ‚deutschen filmkunst‘ ausmachen. Während aber der Arnheim von ‚film als Kunst‘ die durchdringende Semantisierung des filmischen Raumes, die Kracauer mit dem Begriff der „Hieroglyphen“ benennt, zum Ausweis eines medienadäquaten Gebrauchs der Möglichkeiten des films und damit des künstlerischen Gelingens er-heben würde, steht für den Realismus-Theoretiker Kracauer eine solche Stilistik im geraden Gegensatz zu dem, was für ihn das Spezifische des films ausmacht:

Abb. 3: Die Sehnsucht der Deutschen, sich zu unterwerfen: Das Kabinett des Doktor Caligari (D 1920, Robert Wiene) als Beispiel für „Studio-Konstruktivismus“

74 Vinzenz Hediger

Da die äußere Realität ihrem Wesen nach unberechenbar ist und daher nicht so sehr beherrscht als beobachtet zu werden verlangt, schließen sich Realismus und totale or-ganisation im film gegenseitig aus. Sowohl durch ihren „Studio-Konstruktivismus“ wie durch ihre Lichtbehandlung gaben die deutschen filme zu erkennen, daß sie un-wirklichen Ereignissen zugewandt waren, die sich in einer grundsätzlich beherrsch-baren Sphäre entrollten.46

Man darf darüber spekulieren, ob die fantasie der totalen organisation und einer „grundsätzlich beherrschbaren Sphäre“ in der deutschen Nachkriegskultur nicht fort-lebt und unter anderem erklären hilft, weshalb sich Stanley Kubrick in Deutschland einer so großen Beliebtheit erfreut, so sehr, dass er geradezu als Lieblingsregisseur al-ler gebildeten Menschen gelten darf, die sonst vom Kino nichts verstehen. So oder so aber zeichnen sich in diesem virtuellen Dialog zwischen Kracauer und Eisner zwei Gegenüberstellungen ab, zwischen denen der filmische Raum und die Architektur im film sich ansiedeln: die Gegenüberstellung von „Realismus“ und „totaler organisati-on“ einerseits, und die Gegenüberstellung von ‚Handlung‘ und Raumgestaltung (un-ter Einbezug der Lichtführung) andererseits. Das Spezifische ‚deutscher filmkunst‘ – wenn auch in den Augen Kracauers nicht das Spezifische des Mediums – liegt in einer Tendenz zur Durchgestaltung der Bauten und Räume, bis hin zur „totale[n] organi-sation“ und zur vollständigen Determiniertheit ihrer Semantisierung, und dieses Spe-zifische der „herrliche[n] deutsche[n] filmkunst“ kann sich, wenn man Eisner glaubt, auch unter Vernachlässigung der Handlung einstellen. zumal, wenn der Protagonist ein Architekt ist.

Man könnte nun, angesichts der Dominanz realismustheoretischer Ansätze in der filmtheorie und der filmwissenschaft und der Substitution der frage nach dem Kunst-wert des films durch die frage nach den Strukturen und Praktiken der Bedeutungs-produktion am Übergang zur sogenannten ‚modernen‘ filmtheorie Eisners Position einfach für veraltet erklären. Kracauer etwa hat im Vergleich mit Eisner ein größeres Gewicht als kanonischer Autor der filmwissenschaft, und mit dem Caligari-Buch, so umstritten dieses aufgrund des retrospektiven Charakters der Deutung und der me-thodischen Grundannahme einer Kollektiv-Psyche auch sein mag, hat er ein Modell für einen ideologiekritischen zugang zu nationalkinematographischen filmkorpora geschaffen, dem ein erhebliches Nachleben beschieden war, etwa in den Ausdeutungen des Hollywood-Kinos der Reagan-ära durch fredric Jameson. Eisners Position eignet indes etwas Widerständiges, das sich nicht ohne Rest auf den Kontext zurückführen lässt, in dem sie formuliert wurde. Es lohnt sich deshalb, ihr urteil über den Kunstwert von Mays film mit den Überlegungen zur filmarchitektur zu kontrastieren, die Kri-stin Thompson, gemeinsam mit David Bordwell die führende Vertreterin des Neofor-malismus, in ihrem Buch über Lubitsch entwickelt.

Die Leitfrage von Thompsons Buch lautet: Weshalb konnte Lubitsch als wichtiger Vertreter des Weimarer Kinos in Hollywood reüssieren? Die Antwort, die sie gibt, greift zurück auf den Begriff des classical Hollywood style, den sie gemeinsam mit Janet Staiger und David Bordwell in der grundlegenden Studie ‚Classical Hollywood Cine-ma. film Style and Mode of Production 1917–1960‘ entwickelt hatte. Der classical sty-

46 Vgl. KRacaueR, Caligari, S. 83.

75Wie der filmische Raum zum ort wird

le im Sinne von Bordwell/Staiger/Thompson bezeichnet im Weber’schen Sinne einen Idealtypus der filmischen Narration, der sich als Set von Normen beschreiben lässt, die sich in den späten 1910er Jahren herausbilden und bis in die 1960er Jahre Bestand haben. Die wesentlichen Elemente des classical style sind eine schauspieler- und prota-gonistenzentrierte Gesamtausrichtung, eine faziozentrische (und nach der Einführung des filmtons vokozentrische) Bildästhetik, transparente Plotstrukturen, bei denen der Protagonist stets einen professional plot und einen romantic plot durchläuft, das heißt ein berufliches Problem löst und die Liebe einer frau gewinnt, sowie das continuity editing, also ein Montage-Stil, der den Handlungsfluss unterstützt und den Schnitt ‚un-sichtbar‘ macht, indem er Bildwechsel unterhalb der Schwelle der bewussten Wahrneh-mung anzusiedeln versucht. Diesen Idealtypus des Erzählens arbeiten Bordwell/Stai-ger/Thompson an einem Korpus von rund 400 filmen heraus; ihre These lautet, dass er den Namen ‚klassisch‘ verdient, weil er – vergleichbar dem Grundbauplan des grie-chischen Tempels in der Architektur – verbindlich zur Anwendung kommt, egal, wer Regie führt und welches Studio den film produziert. Eine Handschrift konnten Regis-seure, soweit dies überhaupt möglich war, nur im Rahmen dieses Modells entwickeln. Lubitsch war erfolgreich, so Thompson, weil er sich dem emergenten Hollywood-Stil anpassen und diesen auch mit prägen konnte. Der berühmte Lubitsch touch war nach dieser Lesart nicht ein ganz persönlicher Stil, sondern bezeichnete nur Lubitschs be-sondere Raffinesse in der Handhabung des classical style. Nach Thompsons Lesart gründet sich nun Lubitschs Erfolg in Hollywood darauf, dass er sich rasch einem fil-mischen Stil anpassen konnte, der ganz und gar auf den fluss einer von einem Protago-nisten mit klaren zielen und durchschaubaren optionen vorangetriebenen Handlung ausgerichtet war und dem das set design nur Mittel zum zweck sein konnte. folgt man Thompson, dann war der Leitgedanke des set design, der sich in Hollywood als Teil des klassischen Stils in den späten 1910er Jahren durchsetzte, das Ideal des unobtrusive set, des unaufdringlichen Sets. Vergleichbar dem continuity editing, das sich parallel dazu verfestigte und die Kontinuität des Handlungsflusses zum ziel hatte, gehorchte das unobtrusive set design Regeln, die darauf abzielten, Sets unauffällig zu machen „by largely subordinating their functions to the narrative action“.47 Der stilbildende Art Director Hugo Ballin, den Thompson als Innovator des unobtrusive set anführt, bringt diese Regeln wie folgt auf den Punkt:

Perfect sets have never made a drama. The audience follows the story. The story can be explained by settings. Settings are dramatic rhetoric. They should be indicative of breeding. When settings receive uncommon notice the drama is defective.48

Wo also für Eisner in der filmarchitektur, die Aufmerksamkeit auf sich zieht, immer-hin die „herrliche deutsche filmkunst“ zu sich selbst kommen kann, gilt für Ballin ein Drama gerade dann als gescheitert, wenn das Set besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Nun war allerdings Lubitsch, ein Schüler von Max Reinhardt, in den frühen Jahren seiner Karriere gerade für seinen umgang mit der filmarchitektur und seine pracht-vollen set designs bekannt. Seine letzten filme in Deutschland wurden sogar mit ame-

47 thomPson, Mr. Lubtisch, S. 56.48 zitiert nach thomPson, Mr. Lubtisch, S. 57.

76 Vinzenz Hediger

rikanischem Geld realisiert, was es Lubitsch und seinen filmarchitekten unter ande-rem erlaubte, ausschließlich mit in originalgröße gebauten Sets zu arbeiten und auf Modelle und maßstabgetreue Verkleinerungen zu verzichten. Soweit es einen Lubitsch touch schon in Deutschland gab, hatte dieser viel mit filmarchitektur zu tun, und die amerikanischen Investoren schienen gerade an diesem Stilmerkmal interessiert zu sein.

Wie passt dies nun mit Thompsons These von Lubitsch als einem der Protagonisten des classical style zusammen? Thompson räumt den Widerspruch mit zwei Schachzü-gen aus: zum einen zitiert sie ein frühes Interview von Lubitsch, in dem dieser die deut-sche Präferenz für aufwändige Bauten und den Eigensinn der filmarchitektur gerade kritisiert. Dieses Interview, so Thompson, „suggests that the young director and star had ideas about set design that were not all that different from those developing in Hol-lywood at the same time“. Namentlich wird Lubitsch mit der Aussage zitiert, dass die filmarchitektur schön und stilvoll sein müsse, aber nicht dominieren und zur Haupt-sache werden dürfe.49 Die Ausstattungsexzesse von Lubitschs Erfolgsfilmen der späten zehner und frühen zwanziger Jahre wären demnach bloße Aberrationen vom Ideal der „narrative action“, dem der Regisseur sich eigentlich von Anfang an verpflichtet ge-fühlt habe. Erklären lassen sich diese Aberrationen, und das ist der zweite Schachzug von Thompson, durch den Einfluss des Milieus. Verantwortlich war nicht zuletzt der Expressionismus. Dieser war, so Thompson

in many ways an exact opposite of classical style. It subordinated the actors’ move-ments to the very conspicuous space surrounding them. It relied on simple, frontal framing to allow the sets to create pictorial compositions. It generally encouraged flat, frontal lighting, since the compositional elements were usually contained within the shapes and surfaces of the sets. It used analytical editing primarily to eliminate the sets and concentrate the spectator’s attention on the actors for brief periods during which the story was being advanced. The actors themselves often moved in exagger-ated, theatrical ways that were more reminiscent of primitive pantomime than of the subtle flow of changing facial expressions developed in Hollywood during the 1910s.50

Den Expressionismus erkennt man demnach daran, dass er die Bewegung der Schau-spieler der zurschaustellung der sie umgebenden Räume unterordnet. Was sich daraus ergibt, ist nun aber keineswegs ‚hohe deutsche filmkunst‘ oder auch nur schon ein nationaler Stil, der es verdient, als solcher gewürdigt zu werden. Vielmehr haben wir es, wenn wir Thompson glauben wollen, mit einer primitiven Vorform des richtigen filmischen Stils, des classical style zu tun. Der Stil des Expressionismus sei ‚flach‘, auf piktoriale Effekte hin ausgeleuchtet (das sogenannte three-point lighting, mit dem in Hollywood seit den frühen 1920er Jahren Raumtiefenwirkungen hergestellt werden, musste erst noch ‚entdeckt‘ werden), er benutze „analytical editing“ nur in den ‚kurzen Momenten‘, in denen die Story dann doch noch vorangetrieben werde, und die Schau-spielerei erinnere an eine ‚primitive Pantomime‘ und sei weit entfernt vom ‚subtilen fluss‘ sich abfolgender Gesichtsausdrücke. Diesen zustand der primitiven Piktoriali-tät konnte der deutsche film schließlich überwinden, so Thompson, indem er sich im Laufe der 1920er Jahre ‚amerikanisierte‘:

49 zitiert nach thomPson, Mr. Lubtisch, S. 58.50 Nachfolgende Bezugnahmen auf das zitat folgen der Übersetzung des Verfassers.

77Wie der filmische Raum zum ort wird

As German cinema became more Americanized, films tended to look simpler and sleeker, to move at a faster rate as a result of increased analytical editing, and to tell more straightforward, comprehensible stories.51

Erst mit der Überwindung der piktorialen Exzesse eines Stils, der auf den Raum als solchen statt auf die „narrative action“ fokussiert war, wurden die filme wirklich ver-ständlich. Der Stil der frühen 1920er Jahren war in einer Weise auf den Raum fixiert, die doppelt unverständlich war: Die filme selbst widersetzten sich dem Verstehen, und es ist nicht zu verstehen, zumindest nicht aus der Sicht einer Apologetin des fortschritts, den der klassische Stil doch in so evidenter Weise repräsentiert, weshalb die filme dies taten. Thompsons Version von Lubitsch hatte schon 1916 kein Verständnis für diesen unverständlichen Stil, aber er fügte sich dem expressionistischen zeitgeist, zumindest so lange, bis er sich nach Hollywood absetzte, wo er ungestört dem Primat der „narra-tive action“ frönen konnte.52

Nun gibt es Momente des narrativen Stillstands und des piktorialen Schwelgens natürlich auch im Hollywood-Kino. So fällt es schwer, die Tanznummern in einem Musical mit fred Astaire als Beispiele für einen Stil anzuführen, der die Handlung mit den Mitteln des „analytical editing“ und einem „subtle flow of changing facial expres-sions“ vorantreibt. Musical-Nummern bestehen oft aus langen Totalen, und selbst in sogenannten ‚integrierten‘ Musicals, in denen die Gesangs- und Tanzeinlagen narrativ motiviert sind und sich beispielsweise aus den Probearbeiten an einer Broadway-Show ergeben, treiben die Nummern selbst die Narration nicht voran. für diesen fall hat Thompson den Begriff des ‚Exzesses‘ entwickelt.53 ‚Exzess‘ ist im Rahmen des klas-sischen Stils alles, was die Narration nicht vorantreibt und, so könnte man vor dem Hintergrund ihrer Einlassungen zum Expressionismus ergänzen, trotzdem verständ-lich bleibt. Die piktorialen Exzesse der ‚hohen deutschen filmkunst‘ hingegen wider-setzen sich dem Verstehen, und es bleibt im Lichte der Vorherrschaft des Prinzips der narrativen Ökonomie unverständlich, was sie sollen.

Was sich da dem Verstehen widersetzt, kann natürlich mit einer Tiefenhermeneu-tik entschlüsselt werden, wie sie Kracauer vorschlägt, wenn er die These vertritt, dass sich im „Studio-Konstruktivismus“ des deutschen films die „Struktur der Seele in Raumverhältnissen“54 zum Ausdruck bringe. Der manifeste Sinn der filmischen Räu-me des deutschen films vor seiner ‚Amerikanisierung‘ mag abstrus und unverständlich sein, ihr latenter Sinn aber erschließt sich einer Psychoanalyse jener Kollektivseele, der Kracauer den film als Medium ihrer Symptombildung zuweist. Eine solche tiefen-psychologische Hermeneutik bewährt sich indes jenseits des spezifischen kulturellen Horizonts, für den sie gedacht war, nur bedingt. Sie bewährt sich in gewisser Weise an einem film wie Polanskis Repulsion von 1964, in dem die gebauten Räume plastisch sind und sich mit dem fortschreitenden Wahnsinn der Protagonistin verformen, um der „Struktur der Seele in Raumverhältnissen“ Ausdruck zu verleihen (Abb. 4); es ist

51 thomPson, Mr. Lubtisch, S. 110.52 für eine differenzierte Kritik am ‚Amerikanisierungs‘-Narrativ von Thompson vgl. BeRgFeldeR u.a.,

film Architecture, S. 44–46.53 thomPson, filmanalyse.54 Vgl. KRacaueR, Caligari, S. 82.

78 Vinzenz Hediger

allerdings die Struktur der Seele der Hauptfi gur, die in der Plastizität der Räume ihr objektives Korrelat erhält. Die Korrelation von seelischer Struktur und Raum ist hier ein Mittel der Narration. Man könnte allenfalls auch die These vertreten, dass die-se Korrelation in weniger offensichtlicher form in allen filmen Polanskis vorkommt, deren Handlung meistens auf Innenräume beschränkt ist und in der Regel ein Ele-ment von Klaustrophobie aufweisen, und es sich also um ein Element der ‚Handschrift‘ des Auteurs Polanski handelt. ähnliche Lesarten lassen sich für die filme Hitchcocks entwickeln, besonders natürlich für Psycho von 1960. Man wird aus solchen Lesarten von Einzelwerken aus unterschiedlichen Produktionszusammenhängen aber weder auf eine allgemeine kulturelle Symptomatik schließen noch einen Schlüssel zur Lektüre fi l-mischer Räume schlechthin gewinnen können. Wenn man sich nun aber weder auf den Primitivismus-Verdacht von Thompson noch auf den kulturspezifi schen Pathologie-Verdacht von Kracauer einlassen will und stattdessen noch einmal danach fragt, worauf Eisner eigentlich genau hinauswill: Was ist dann das Andere des Verstehens, das durch die Privilegierung des Raumes gegenüber der Narration aufgerufen wird? Wie lässt sich das, was für Thompson zumindest tendenziell ‚incomprehensible‘ bleibt, in seiner Ei-genlogik erfassen? Worin liegt der ‚Eigensinn der Kunsterfahrung‘ der vermeintlichen Exzesse des fi lmischen Raums?

IV.

zu den Listen der Vernunft zählt, dass Kristin Thompson sich zur Rechtfertigung ihrer Position auf einen deutschen Philosophen berufen könnte. In seinen Vorlesungen über die ästhetik‘ liefert Hegel eine Bestimmung der Architektur, die sich gut mit dem in Einklang bringen lässt, was Thompson die ‚Amerikanisierung‘ des deutschen films nennt. Im ‚System der einzelnen Künste‘, das Hegel als hierarchische ordnung und in einer Stufenfolge entwirft, die von der symbolischen zur klassischen zur romantischen

Abb. 4: Seelenräume, die ins Auge gehen,in Repulsion (f/GB 1965, Roman Polanski)

79Wie der filmische Raum zum ort wird

Kunst fortschreitet, nimmt die Architektur die unterste Ebene ein. Hegel zufolge ist Architektur

der Anfang der Kunst, weil die Kunst in ihrem Beginn überhaupt für die Darstellung ihres geistigen Gehalts weder das gemäße Material noch die entsprechenden formen gefunden hat und sich deshalb in dem bloßen Suchen der wahren Angemessenheit und in der äußerlichkeit von Inhalt und Darstellungsweise begnügen muß.55

Die Architektur, so Hegel, ist „die Kunst am äußerlichen“,

so daß hier die wesentlichen unterschiede darin bestehen, ob dies äußerliche an sich selbst seine Bedeutung erhält oder als Mittel behandelt wird für einen ihm anderen zweck oder sich in dieser Dienstbarkeit zugleich als selbständig zeigt.56

Die Architektur kann eine „selbständig[e]“ Kunst sein, die ihre Bedeutung in sich selbst und nicht einem anderen zweck trägt, aber sie kann dies nur als ‚symbolische‘ Kunst sein, weil und insofern sie „die ihr eingepflanzten Bedeutungen nur im äußerlichen der umgebung anzudeuten befähigt“ ist.57 Die Architektur kann ferner eine klassische Kunst sein: Die Baukunst wird ihrer Selbständigkeit entkleidet und dazu herabgesetzt, „für die nun ihrerseits selbständig realisierten geistigen Bedeutungen ihrerseits eine künstlerisch geformte umgebung umherzustellen“.58 Die Architektur kann schließ-lich eine romantische Kunst sein, so etwa als maurische oder gotische Architektur, die zugleich eine künstlerisch geformte umgebung für die „bürgerlichen und religiösen Bedürfnisse und Beschäftigungen des Geistes“ bereit stellt, sich aber auch „gleichsam unbekümmert um diesen zweck“ selbständig gestaltet.59 Entscheidend ist aber, dass die Architektur weder in ihrer symbolischen noch in ihrer romantischen Ausprägung sich je ganz von der „äußerlichkeit“ ihres zwecks frei machen kann.60

Will man Thompsons Position in Hegel’sche Termini umsetzten, dann wäre die Narration, die „narrative action“, die „Beschäftigungen des Geistes“, welche der „künstlerisch geformtem umgebung“ des filmischen Raumes ihren zweck vorgibt und ihre Bedeutung einpflanzt. Gibt sie sich „unbekümmert um diesen zweck“, fällt sie entweder auf die – in der Tat „primitive“ – Stufe der symbolischen Kunst zurück oder wird zu einer Perversion der romantischen. Das vermeintlich so typisch amerikanische Ideal des unobtrusive set hingegen entspricht genau der klassischen Stufe der Baukunst, womit der „classical style“ auch im Sinne Hegels als ein solcher gerechtfertigt wäre.

Hingegen wird man Eisners Intuition eines Eigensinns der Kunsterfahrung des fil-mischen Raums, die seiner Semantisierung oder dem Vollzug eines äußeren zwecks voraus liegt, mit Hegel nicht auf den Begriff bringen können. Einen möglichen zu-gang offeriert ein anderer Philosoph, der die Architektur gerade als die paradigmatische Kunst ansetzt, die alle anderen Künste umfasst: Hans-Georg Gadamer. Die Baukunst, so Gadamer,

55 hegel, Vorlesungen über die ästhetik III. S. 258.56 hegel, Vorlesungen über die ästhetik III. S. 271.57 hegel, Vorlesungen über die ästhetik II, S. 269.58 hegel, Vorlesungen über die ästhetik II, S. 271.59 hegel, Vorlesungen über die ästhetik II, S. 271.60 hegel, Vorlesungen über die ästhetik II, S. 272.

80 Vinzenz Hediger

ist raumgreifend schlechthin. Raum ist das, was alles im Raume Seiende umgreift. Daher umgreift die Baukunst alle anderen formen von Darstellung, alle Werke der bildenden Kunst, alles ornament – sie gibt überdies der Darstellung von Dichtung, Musik, Mimik und Tanz erst ihren Platz.61

An der Baukunst, so Gadamer, kommt das „Vorurteil des ästhetischen Bewusstseins“ zum Scheitern,

demzufolge das eigentliche Kunstwerk das sei, was außer allem Raum und aller zeit in der Präsenz des Erlebens Gegenstand eines ästhetischen Erlebnisses wäre. An ihr wird unzweifelhaft, daß die uns gewohnte unterscheidung des eigentlichen Kunstwerks und der bloßen Dekoration einer Überprüfung bedarf.62

Die Leistung der Architektur besteht gerade darin, dass sie, in dem sie „das Ganze der Künste umgreift“, ihren „eigenen Gesichtspunkt überall geltend“ macht, den Gesichts-punkt der Dekoration:

Als die raumbildende Kunst schlechthin ist [die Architektur] ebenso sehr Raum ge-staltend wie Raum freilassend. Sie umfasst nicht nur alle dekorativen Gesichtspunkte der Raumgestaltung bis hin zum ornament, sondern sie ist selbst ihrem Wesen nach dekorativ.63

Der Dekoration kommt dabei die Aufgabe einer „zweiseitigen Vermittlung“ zu:

… die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zu ziehen, seinen Geschmack zu be-friedigen und doch auch wieder ihn von sich wegzuweisen in das größere Ganze des Lebenszusammenhanges, den sie begleitet.64

für Gadamer, für den Darstellung der Schlüsselbegriff seines Kunstverständnisses ist, eignet sich der Begriff des Dekorativen, um „unsere fragestellung nach der Seinsart des ästhetischen abzurunden.“ Dekoration ist ein Modus der Darstellung, wobei unter Darstellung zu verstehen ist

ein universelles ontologisches Strukturmoment des ästhetischen, ein Seinsvorgang und nicht etwa ein Erlebnisvorgang, der im Augenblick der künstlerischen Schöpfung geschähe und von dem aufnehmenden Gemüt jeweils nur wiederholt würde.65

Soweit es nun um das Verstehen des Kunstwerks geht, gilt es zunächst zu berücksich-tigen, was Gadamer als „allgemeine okkasionalität der Kunst“ bezeichnet. okkasio-nalität heißt zunächst, „dass die Bedeutung sich aus der Gelegenheit, in der sie gemeint wird, inhaltlich fortbestimmt, so dass sie mehr enthält als ohne diese Gelegenheit“.66 Der spezifische zusammenhang der Entstehung des Werks geht in dieses ein, und die Bedeutungen, die dem Werk aufgrund des Bezugs zu diesem zusammenhang eigen

61 gadameR, Wahrheit, S. 162.62 gadameR, Wahrheit, S. 163.63 gadameR, Wahrheit, S. 163.64 gadameR, Wahrheit, S. 163.65 gadameR, Wahrheit, S. 164.66 gadameR, Wahrheit, S. 149.

81Wie der filmische Raum zum ort wird

sind – etwa einem Porträt der Bezug zum Porträtierten –, erhalten sich in dem Werk. Daraus ergibt sich, was Gadamer als die „allgemeine okkasionalität der Kunst“ be-zeichnet, ihre Bezogenheit auf einen kontingenten Anlass. Es kommt im umgang mit dem Kunstwerk darum darauf an, die Schwebe zu halten zwischen der Abstraktion eines bloß ästhetischen Verstehens und der Werkvergessenheit des Historismus, also einer Haltung, die das Werk als historische Tatsache unter anderen ansieht und auf seinen Entstehungskontext zu reduzieren versucht. Die Architektur ist auch in diesem Sinn die paradigmatische Kunst. Im umgang mit der Architektur wird das Verstehen zum situierten Vollzug, als Besuchen, Bewohnen und Begehen.

Was Gadamer für die Architektur sagt – dass sie alle anderen Künste umfasst und situiert –, wird gerade in den Anfängen der filmtheorie auch für den film behauptet67 (und findet in der Medientheorie einen weiteren Nachhall in der Rede vom Computer als Medium, das alle anderen Medien darstellen kann68). Vom gebauten Raum unter-scheidet den filmischen Raum, wie eingangs festgehalten, dass man ihn nicht betre-ten kann und damit nicht besuchen und bewohnen. In einem konkreten physischen Sinn lässt er sich auch nicht begehen. Er ist in diesem Sinne tatsächlich ‚reine Trans-formation‘ und ‚reines Denken‘. Dem filmischen Raum eignet aber unweigerlich ein Aspekt des okkasionellen. Er verweist und bleibt verwiesen auf den profilmischen Raum, der auch dann die Konkretheit des okkasionellen hat, wenn der film einer ästhetik des ‚Studio-Konstruktivismus‘ entspricht und wir es mit einem ganz und gar kontrollierten, durchorganisierten Raum zu tun haben. Dies gilt insbesondere deshalb, weil der film auch nach dem Übergang zur digitalen Produktion ein indexikalisches Medium bleibt: Das Bild entsteht weiterhin durch Lichteinfall auf ein aufzeichnungs- und speicherfähiges Medium, in der digitalen Kamera ein CCD-Chip in Verbindung mit einer digitalen Speichereinheit anstelle des mit einer Silberemulsion beschichteten filmstreifens, und damit durch eine Beziehung der physischen Verursachung, und das Bild zeigt das Dargestellte im Sinne einer deiktischen Beziehung des „pointing“.69 Wie der Raum der Architektur und die Darstellung der Baukunst lässt der filmische Raum demnach weder die Werkvergessenheit des Historismus zu – nur und erst wenn der film als historisches Quellenmaterial betrachtet wird, fällt die form der Darstellung oder seine ‚Medialität‘ außer Betracht –, noch lässt er sich auf die Abstraktion eines bloß ästhetischen Verstehens reduzieren. Selbst der abstrakte Animationsfilm, der ganz ohne Architekturraum auszukommen scheint, zeigt in der materiellen Anmutung des – wiewohl ganz flächigen – Bildraums noch die Spuren seiner Genese. Auch der flächige Raum des abstrakten Animationsfilms weist eine doppelte Verweisstruktur auf und zieht die Aufmerksamkeit auf sich, um zugleich über sich hinaus zu weisen.

Der filmische Raum stiftet aber nicht nur eine Schwebe zwischen einem bloß äs-thetischen und einem aufs okkasionelle, Kontingente der Darstellung gerichteten Ver-stehen. Er stiftet auch eine Schwebe zwischen dem Verstehen der semantischen Ge-halte der Darstellung und einem Nachvollzug seiner bloß räumlichen, ‚dekorativen‘ Aspekte. Auch wenn der filmische Raum nicht betreten werden kann, hat sein Vollzug

67 So findet sich eine Übertragung von Wagners Begriff des Gesamtkunstwerks auf den film in Hermann Häfkers Schrift ‚Kunst und Kino‘ von 1913. Vgl. diedeRichs, frühgeschichte, S. 182–184.

68 Vgl. Bolz u.a., Computer als Medium.69 Vgl. leFeBVRe, Art.

82 Vinzenz Hediger

und Nachvollzug doch einen Aspekt des Begehens, und erst durch diesen Aspekt des Begehens wird der filmische Raum zum ort.

Begehen als Entsprechung des Verstehens setzt das Betreten nicht notwendigerwei-se voraus. Vor etwas mehr als vierzig Jahren zeigten die Psychologen Roger Shepard und Jacqueline Metzler, dass die zeit, die Versuchspersonen beanspruchen, um sich ein objekt vorzustellen, das in zeichnungen in zwei unterschiedlichen Perspektiven dar-gestellt wird, proportional zum Grad der Divergenz der Perspektiven zunimmt.70 Sie wiesen damit nach, dass wir über die fähigkeit verfügen, in der Vorstellung dreidimen-sionale objekte im Raum rotieren zu lassen. Die Gestaltungs- und Rotationsverfahren des sogenannten Computer-Aided Design (CAD), die in den 1980er und 1990er Jahren entwickelt wurden, spiegeln diese fähigkeit aus in einen Bildraum. Computersimu-lationen mit virtueller Kamera, die darauf aufbauen, sind als Mittel der Planung zu bauender Räume mittlerweile die Regel geworden. Der gebaute Raum ist im zeitalter der Simulation des computer-aided design zunächst ein filmischer Raum. zugleich gilt umgekehrt für den filmischen Raum immer schon, was für die Simulation gilt: Er ist keine bloße Repräsentation, sondern fügt, um es in ontologischer Diktion zu formu-lieren, der Welt etwas hinzu.71 Darstellung ist immer mehr als Repräsentation. Das Bild hat, wie Gadamer es formuliert „im ästhetischen Sinn des Wortes ein eigenes Sein“, ein „Sein als Darstellung“. Selbst die „mechanischen Bildtechniken der Gegenwart“, so billigt er fotographie und film zu, „können insoweit künstlerisch gebraucht wer-den, als sie aus dem Abgebildeten etwas herausholen, das in seinem bloßen Anblick als solchem nicht liegt.“ Ein solches Bild, so Gadamer, ist kein Abbild, „denn es stellt etwas dar, was ohne es sich nicht so darstellte.“72 Wenn André Bazin in seiner ‚ontolo-gie des photographischen Bildes‘ den neu-platonischen Gedanken der Seinsemanation aufgreift und der fotographie zuschreibt, dass sie das Sein mehrt – was Gadamer in vergleichbarer Weise, aber ohne den theologischen Überbau Bazins,73 als den „posi-tiven Seinsrang des Bildes“ beschreibt74 –, dann gilt dies auch und in besonderer Weise für den filmischen Raum. Der filmische Raum holt aus dem Architekturraum etwas heraus, das in seinem bloßen Anblick als solchem nicht liegt, und zwar etwas, was sich nur begehen und begehend verstehen lässt.

Selbst im narrativen Spielfilm amerikanischer Prägung behauptet sich noch der As-pekt des Begehens als eigenständige Dimension der Kunsterfahrung des films gegen-über dem Verstehen der Narration. In Martin Scorseses Gangsterfilm goodFellas von 1990 führt die Hauptfigur Henry Hill (Ray Liotta) seine künftige frau Karen (Loraine Bracco) aus und betritt mit ihr an einer langen Warteschlange vorbei den Klub durch die Hintertür. Der Weg führt durch die Küche und verwinkelte Gänge ins Lokal, wo für den Gangster einer der besten Tische in der ersten Reihe vor der Bühne bereit steht, auf der gerade der Komiker Henny Youngman seine Show anfängt. Die Einstellung ist mit einer Steadycam gefilmt und dauert nahezu drei Minuten. Es handelt sich um ein inszenatorisches und filmtechnisches Bravourstück. Man könnte nun leicht im

70 Vgl. dazu shePaRd/metzleR, Rotation; mitRoVic, Visuality, S. 63–65. 71 Vgl. humPhReys, Extending ourselves.72 Vgl. gadameR, Wahrheit, S. 144f.73 Vgl. hedigeR, Wunder.74 gadameR, Wahrheit, S. 145.

83Wie der filmische Raum zum ort wird

Thompson’schen Begriff von Exzess sprechen: Drei Minuten dauert die durchschnitt-liche Sequenz in einem Hollywood-Spielfilm; in den drei Minuten der goodFellas-Sequenz wird weniger erzählt als sonst üblich; es handelt sich demnach um Exzess. Eine solche Lesart würde aber gerade die erzählerische Pointe der Szene verfehlen. Natürlich könnte man den Vorgang – Gangster betritt mit seiner künftigen Braut einen Nachtklub und will sie beeindrucken – auch in einem Drittel der zeit erzählen. Die Bewegung von figuren und Kamera hat aber ihren Sinn gerade darin, das Schwin-delerregende des Moments in die Termini der filmischen Darstellung zu übertragen. Wenn man die Szene genau analysiert, realisiert man im Übrigen rasch, dass die beiden Darsteller und die Kamera in der Küche einmal im Kreis herumgehen. Gerade diese zusätzliche Volte ist aber für das Gelingen der Szene unerlässlich: Es kommt darauf an, dass der Raum in seiner ganzen Ausdehnung durchmessen wird. Was sich an dieser Be-wegung auf narrative Information nicht reduzieren lässt, hat nicht den Charakter eines ‚reinen Denkens‘, des Vollzugs einer Transformation, sondern des Begehens eines orts.

Besonders deutlich tritt dieser Aspekt in einer anderen Szene des Ankommens und Eintreffens zutage, in der die Narration noch stärker retardiert wird, in der Szene der Ankunft des Raumtransporters bei der Raumstation in 2001 – A Space Odyssey von Stanley Kubrick. zu Klängen von Richard Strauß nähert sich ein Raumschiff einer ro-tierenden, teilweise noch im Bau befindlichen Weltraumstation im Erdorbit an. Ein establishing shot zeigt das große Rad der Station und den Raumgleiter, der sich ihm annähert, mit der Erde im Hintergrund. Es folgen Einstellungen aus dem Cockpit, ein Blick auf die Station, und Einstellungen aus dem Passagierraum. Dieser ist leer bis auf einen Reisenden, der schläft. Aus seinem Anzug hat sich ein Schreibstift gelöst, der im zustand der Schwerelosigkeit im Raum schwebt. Eine flugbegleiterin, die Ma-gnetschuhe trägt, sich gegen die Schwerelosigkeit und die Magnetkräfte ankämpfend um einen eleganten Bewegungsablauf bemüht und dennoch halb stakst, kommt heran, fängt den Schreibstift ein und steckt ihn in die Brusttasche des Passagiers zurück. Es passiert sonst in der Szene nichts Erwähnenswertes; die Anfahrt auf die Raumstation ist erkennbar eine Routinehandlung. Das Detail mit dem Schreibstift ist die Pointe der Szene: Erst über dieses Detail kommt zur Darstellung, was es bedeutet, einen solchen Raum zu begehen.

Man könnt die Reihe der Beispiele fortsetzen, etwa mit einer Analyse des Endes von Luchino Viscontis Il Gattopardo, einer Hochzeitsszene, die alleine ein fünftel des films beansprucht und aus prachtvollen Tableaus besteht, die den Stillstand der Welt des Titelhelden, eines Grafen aus Sizilien, in dem Moment beschwören, in dem diese zum Verschwinden verurteilt ist. Das Begehen wird hier zum Verweilen, und der fil-mische Raum zu einer form der historischen Erfahrung.

Ein gutes Buch besteht, wie Wittgenstein einmal schrieb, aus lauter Beispielen, die zeigen, was gemeint ist. In diesem Sinne ließe sich die Schwebe zwischen Begehen und Verstehen an einer Reihe von weiteren Beispielen in ihren unterschiedlichsten Ausprä-gungen exemplifizieren.

84 Vinzenz Hediger

V.

Wie also wird der film zum ort? Indem er nicht nur etwas zu verstehen gibt, sondern sich zunächst und immer schon als begehbare Örtlichkeit darstellt. und wozu brau-chen wir den filmischen Raum? um orte, die sich ohne den film so nicht darstellen, begehen zu können.

Abbildungen

Abb. 1–2: Das indische Grabmal Screenshot von DVD (Image Entertainment 2000) Abb. 3: Das Kabinett des Doktor Caligari Screenshot von DVD (Living Color Entertainment

2008)Abb. 4: Repulsion Screenshot von DVD (Criterion Collection 2009)

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Hervorheben
dm
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