De- und Re-Synchronisationsketten. Die Schicksale des Plattenspielers.
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REIHE
Kulturtechnik
Bisher erschienen:
Bild - Schrift - Zahl, hrsg. von Sybille Krämer und Horst Bredekamp, 2003,
ISBN 3-7705-3859-5
Die mathematischen Wurzeln der Kultur. Mathematische Innovationen und
ihre kulturellen Folgen, hrsg. von Jochen Brüning und Eberhard Knobloch, 2005,
ISBN 3-7705-4016-6
Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechen
barkeit der Welt, hrsg. von Horst Bredekamp und Pablo Schneider, 2005,
ISBN 3-7705-4113-8
Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine,
hrsg. von Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer, 2005,
ISBN 3-7705-4190-1
Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift, Zahl und Ton
im Medienverbund, hrsg. von Wolfgang Ernst und Friedrich Kittler, 2006,
ISBN 978-3-7705-4267-3
Medien vor den Medien, hrsg. von Friedrich Kittler und Ana Ofak, 2007,
ISBN 978-3-7705-4284-0
Rekursionen. Von Faltungen des Wissens,
hrsg. von Ana Ofak und Philipp von Hilgers, 2010,
ISBN 978-3-7705-4678-7
Christian Kassung, Thomas Macho (Hrsg.)
KULTURTECHNIKEN DER SYN CHRONISATION
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der
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ISBN 978-3-7705-4808-8
Inhaltsverzeichnis
Christian Kassung/Thomas Macho
Einleitung
SOZIALE SYNCHRONISATION
Anna Echterhölter
Tabellarische Zeit. Formen und Effekte der Zeitrechnung
in Johann David Köhlers »Chronologia« (1736)
Thomas Macho
Befehlen. Kulturtechniken der sozialen Synchronisation
Olaf Briese
Die Regeln von der Ausnahme. Das epidemiologische Dilemma
Christine Schnaithmann
Factory-to-Family. Synchronisation im Produktmarketing
der Larkin Soap Manufacturing Company, 1890-1941
Sebastian Vehlken
Synchronschwimmen. Von Schlafmaschinen zu >Swarm Intelligence<
TECHNISCHE SYNCHRONISATION
Johannes Graf
Uhren im Gleichtakt. Wilhelm Foerster und die Zeitsynchronisation
in Deutschland
25
57
77
101
131
161
Wolfgang Pircher Gleichschaltungen: Im Takt des Einen
Gloria Meynen Kulturtechniken der Anpassung
Lasse Scherffig/Georg Trogemann Über das Warten beim Rechnen - Synchron isationsstrategien
in parallelen und interaktiven Systemen
Martin Warnke
Quantencomputer. Taktlos
MEDIALE SYNCHRONISATION
Christian Kassung Buchstabe, Wort, Schrift. Der Blick des Lesens
Michael Wedel Risse im »Erlebnis-System«. Tonfilm, Synchronisation, Audiovision um 1930
Sebastian Gießmann
Synchronisation im Diagramm. Henry C. Beck
und die Londoner Tube Map von 1933
Jens Schröter De- und Resynchronisationsketten. Die Schicksale des Plattenspielers
Albert Kümmel-Schnur
Synkopen
189
211
231
269
287
309
339
367
387
DE- UND RESYNCHRONISATIONSKETTEN.
DIE SCHICKSALE DES PLATTENSPIELERS
Jens Schröter
Die Speicherung von Klängen ist ein vorzüglicher Gegenstand, um sich der Frage
nach der Synchronisation zu nähern. Dies soll im Folgenden verdeutlicht werden - am
Beispiel eines kurzen und notwendig kursorischen Abrisses der historischen Schick
sale des Plattenspielers. Dabei wird - im Anschluss an Bruno Latours Konzept der
Übersetzungskette 1 - der Begriff der De- und Resynchronisationskette vorgeschlagen.
Er bezeichnet die Abfolge von Konfigurationen, in die der Plattenspieler historisch
eingetreten ist und die als wechselnde Verhältnisse erstens von Synchronisierung, De
Synchronisierung und Re-Synchronisierung und zweitens von Gleichzeitigkeit und
Ungleichzeitigkeit zu beschreiben sind.
Wie diese letzte Formulierung bereits nahe legt, muss der Terminus »Synchroni
sation« genauer bestimmt werden - in Differenz zum Begriff der »Gleichzeitigkeit«.
Am Beispiel der analogen 2 Klangaufzeichnung ist das leicht zu verdeutlichen. Auf
zeichnung ist Ungleichzeitigkeit per definitionem - zwischen Aufnahme und Wie
dergabe klafft prinzipiell eine zeitliche Lücke. Zugleich müssen Aufnahme und Wie
dergabe einer Klangaufzeichnung aber synchronisiert sein, genau in dem Sinne, dass
die Aufnahme- und die Wiedergabegeschwindigkeit übereinstimmen - denn analoge
Klangaufzeichnung ist die Übersetzung eines zeitlich ausgedehnten Klangs in eine
räumliche Spur, die auf einem sich bewegenden Träger lokalisiert ist. Nur durch die
Synchronisation von Aufnahme und Wiedergabe ist deren Ungleichzeitigkeit mög
lich - außer man möchte Abweichungen vom Originalklang gerade nicht vermeiden,
worauf weiter unten zurückzukommen sein wird.
Noch einmal anders formuliert: Zwei Leute können gleichzeitig in demselben Be
cken schwimmen, sind aber darum noch keine Synchronschwimmer. Synchronizität
1 Vgl. Latour 2002: 36-95. Zum heuristischen Status der Unterscheidung
analog/digital vgl. Schröter 2004a.
367
Jens Schröter
heißt keineswegs bloß Gleichzeitigkeit, sondern bedeutet, das zwei Vorgänge im glei
chen Takt oder in der gleichen Phase ablaufen, selbst, wenn sie ungleichzeitig sind:
Unter »Synchronisation« oder »Gleichlauf« versteht man den Zustand dau
ernder Frequenzübereinstimmung zweier oder mehrerer, periodisch sich
wiederholender Vorgänge. So sind zwei rotierende Achsen synchron, wenn
ihre Drehzahlen übereinstimmen. 3
Die Bezugnahme auf rotierende Achsen in diesem Zitat leitet mich zwanglos zu mei
nem Gegenstand - dem Plattenspieler. Denn Schallplatten müssen bekanntlich mit
bestimmten, standardisierten Geschwindigkeiten wiedergegeben werden, im 20. Jahr
hundert hauptsächlich mit 78, 45 oder 33 113 Umdrehungen pro Minute (UpM).
Im Folgenden sollen drei Stationen der De- und Resynchronisationskette dar
gestellt werden. Es wird hier keine positivistisch-kleinteilige Rekonstruktion von Er
findungsdaten geliefert, 4 es geht vielmehr um die Plausibilisierung des Konzepts der
De- und Resynchronisationskette. Dazu wird zunächst die historische Etablierung
der Synchronisation von Aufnahme und Wiedergabe behandelt, die die Gleichzeitig
keit von primärer Klangerzeugung und Klangwahrnehmung erstmalig aufzuheben
erlaubt. Diese Aufhebung erzeugt jedoch eine Praxis sekundärer Gleichzeitigkeit, das
Live-Konzert. Sodann sei in knapper Form darauf verwiesen, dass der typisch mo
dernistische Impetus der Medienreflexion in künstlerischen Praktiken auch vor der
Klangaufzeichnung nicht halt gemacht hat. Es seien aus einer größeren Vielfalt nur
zwei Exempel dargestellt, bei denen die in der perfekten Synchronisation invisibilisier
te Medialität der Aufzeichnung gestört und so vielleicht reflektiert wird. Es geht also
um De-Synchronisation als >ästhetisches< Verfahren. Abschließend wird eine andere,
neuere Praxis diskutiert, in der die Konfigurationen von Synchronisation und Gleich
zeitigkeit erneut verschoben werden: Die Praxis der DJs. Wieder wird de-synchroni
siert, aber nur, um neuen Praktiken der Synchronisation und Gleichzeitigkeit Raum
zu geben.
Erste Station: Etablierung der Synchronisation/ Spaltung der primären Gleichzeitigkeit und die sekundäre Gleichzeitigkeit des >Live<
Das historische Auftreten der analogen Klangaufzeichnung im 19. Jahrhundert ist die
erste Position in der De- und Resynchronisationskette. In dem Maße, in welchem die
368
De- und Resynchronisationsketten
Synchronisation zwischen Aufnahme und Wiedergabe gelang, konnte die bis dahin
unumgehbare Gleichzeitigkeit zwischen dem Spielen eines Instruments, dem Spre
chen, dem Singen etc. und der Klangwahrnehmung aufgespalten werden. Treffend
bemerkt Ulrich Holbein über das Klavier, dass es »seinen abgespielten Sonaten nur in
Zusammenarbeit mit Tonband oder Walkman gelingt, sich nicht in die Luft hinein
spurlos zu verzetteln«. 5 So musste Hegel in seinen »Vorlesungen über die Ästhetik«
(1835-38 erstmals publiziert) noch formulieren: »Zur Gegenwärtigkeit des musikali
schen Kunstwerks hingegen gehört[ ... ] der ausübende Musiker als handelnd.« 6 Oder:
»Ich habe nämlich früher bereits darauf hingewiesen, daß die lebendige Wirklichkeit
eines musikalischen Werkes immer erst von Neuem wieder producirt werden müsse.<<7
Im Spielen vernimmt das spielende Subjekt sofort die von ihm hergestellten Klänge.
Das Subjekt kann sich in dieser Feedback-Schleife von Moment zu Moment korrigieren.
Diese rekursive Kopräsenz erinnert an Jacques Derridas >Sich-selbst-sprechen-hören<:
Wenn ich spreche, habe ich nicht nur das Bewußtsein, bei dem zu sein, was
ich denke, sondern auch, jeglichen Signifikanten [d.h. den be-zeichnenden
Klang, z.B. das Wort >Stuhl< für den Begriff >Stuhl<] meinem Denken oder
dem >Begriff< maximal anzunähern; Signifikanten, die nicht in die Welt zu
rückfallen, die ich höre, sobald ich sie von mir gebe, die von meiner reinen
und freien Selbstbestimmung abzuhängen scheinen, die keiner Zuhilfenah
me eines Instrumentes, eines Zusatzes, irgendeiner aus der Welt geschöpften
Kraft bedürfen. 8
Sein (negativer) Hinweis auf das »Instrument« scheint meiner Argumentation zu wi
dersprechen. Doch haben die Stimme und das Spielen gemeinsam, kein äußerliches,
materielles Artefakt zurückzulassen. Friedrich Kittler schrieb 1986 in »Grammophon
Film Typewriter«: »Während es (mit Derrida) den sogenannten Menschen und sein
Bewusstsein ausmacht, sich sprechen zu hören oder sich schreiben zu sehen [oder sich
spielen zu hören, J. S.], trennen Medien solche Rückkopplungsschleifen auf.« 9
Also: Plötzlich kann die Stimme bzw. der Instrumentenklang ohne Körper er
scheinen; die Gleichzeitigkeit von Klangquelle und Klang wird aufgebrochen. Zu
gleich wird der abgelöste Klang, zumindest seit die Klangaufzeichnung durch Emil
Biedermann 1932: 246.
4 Eine solche Darstellung ist in Hiebler 1999
zu finden.
Holbein 1990: 71.
6 Hegel 1964: 215.
7 Ebd.: 190.
Derrida 1967: 145.
Kittler 1986: 39.
369
Jens Schröter
Berliner 1887 reproduzierbar geworden ist, als Ware auf dem Markt verfügbar - ähn
lich wie die Fotografie das visuelle Feld der Warenzirkulation unterwirft. »Sie [die
Schallplatte, J. S.] ist, als künstlerisches Verfallsprodukt, die erste Darstellungsweise
von Musik, die als Ding sich besitzen lässt.« 10 Mit Benjamin könnte man in diesem
Zusammenhang vom Verlust der Aura sprechen. Doch es kam zu einer gewaltigen
Re-Auratisierung, gerade und vor allem im Feld des Akustischen. Um die gesprengte
Gleichzeitigkeit zu re-inszenieren gibt es >Live-Konzerte<.
Der Begriff Live-Spielen hat nur Sinn als Gegensatz zur so genannten Studio
Aufnahme. Das Live-Konzert erzeugt eine neue sekundäre Form von Gleichzeitig
keit, eine neue sekundäre Rückkopplungsschleife: die von Publikum und Musiker.
Das bedeutet, dass das Live-Spielen logisch abhängig ist von der Tonaufzeichnung.
Die Reinheit des >direkten< Live-Erlebnisses ist immer schon kontaminiert durch die
Tonaufzeichnung, in Kontrast dazu das >Direkte< der Live-Aufführung erst seinen
Sinn bekommt. Dass improvisierte Formen von Musik, die es natürlich schon immer
gab, mit der Geschichte der Tonaufzeichnung Teil des kulturellen Archivs, mithin
stil- und werkfahig werden, ist also nahe liegend - das bekannteste Beispiel dafür ist
der Jazz.
Doch operieren solche Verfahren der Produktion sekundärer Gleichzeitigkeit
für alle Formen aufgezeichneter Musik - und keineswegs nur, wie das Beispiel Jazz
noch nahe legt, für Musik, die im Wesentlichen auf einem vorgängigen Spielereig
nis beruht. Im Gegenteil: Wenn ich eine auf 24 Spuren aufgenommene, hochgra
dig konstruierte CD höre, sind die Klänge keine Reproduktion eines vorgängigen
Originalereignisses mehr. Sie können erst durch die Aufzeichnung überhaupt hervor
gebracht werden. Studiotechniken wie Mehrspuraufnahmen und generell die ganze
Unsichtbarkeit und Komplexität dieses Prozesses, der am Ende zu einem Tonträger
führt, lösen eine einfache Gestalt >des Musikers< auf. Oft wird dann - nachträglich -
eine Tournee konzipiert, die das nie da gewesene Original der Studioaufzeichnung
rekonstituiert, bisweilen unter extrem hohem technischem Aufwand. Kopien ohne
Originale - ohne dass man hier apokalyptische Baudrillard'sche Untertöne mithö
ren müsste. 11 Was ist der Zweck des Live-Konzerts? Mit Steve Wurtzler kann man
argumentieren: Der Musiker muss seine Signatur unter den Klang setzen, allein um
zu beweisen, dass sein Gesicht, sein Name, seine Stimme als Identifikationsinstanz
glaubwürdig sind. Man könnte somit das Live-Konzert als Produktion von >Referenz<
bezeichnen. Durch eine ungeheure Vermittlungskette, die sich selbst invisibilisiert, er
scheint der Musiker als phantasmatische Quelle der Musik. 12 Es handelt sich um eine
370
De- und Resynchronisationsketten
phantasmagorische Verdeckung der Produktion durch ihre Produkte - das Gemacht
sein, Inszeniertsein verschwindet hinter der - wie es explizit heißt - >Bühnenpräsenz<.
Die sekundäre Gleichzeitigkeit von Publikum und Musiker soll das >Einmalige<, das
>Hier und Jetzt des Kunstwerks< - mit Worten Benjamins, die wohl kaum besser als
auf >Live<-Konzerte zutreffen - erzeugen und verstärken. In dieser Hinsicht sind auch
Sendungen wie MTV Unplugged sehr aufschlussreich. 13
Damit die Aufspaltung der Gleichzeitigkeit gelingt und mithin die Notwendig
keit für eine sekundäre Gleichzeitigkeit entsteht, damit überhaupt die illusorische
Präsenz der körperlosen Stimme bzw. des entkoppelten Instruments möglich ist, muss
die Synchronisation zwischen Aufnahme und Wiedergabe hergestellt werden. 14 Zur
Herstellung dieser Synchronisation sind zwei Dinge erforderlich. Erstens Standards,
die die Aufnahme- und Wiedergabegeschwindigkeit vereinheitlichen. Zweitens tech
nische Verfahren, die die Realisation dieser Standards erlauben. Es geht weder ohne
Technik noch ohne standardisierende Institutionen. Nur ein solches, im Sinne Fou
caults, Dispositiv als heterogenes Ensemble erlaubt die Synchronisation.
Es sei nur Folgendes festgehalten: Zunächst trat an die Stelle des Musikers, der
mit seinen Händen das Instrument bediente, der Zuhörer, der das Grammophon zur
Wiedergabe der Aufzeichnung bediente. Doch hierbei war es natürlich schwierig, die
notwendige Geschwindigkeit genau einzuhalten. Dieses Residuum an Gleichzeitig
keit, nämlich derjenigen zwischen dem >Grammophoneur< und dem Gerät, musste
beseitigt werden, um die Synchronisation zu erlangen. Bei Handbetrieb war die Zeit
achsenmanipulation quasi der Normalfall, der Urzustand der grammophonischen
Aufzeichnung. 15 Erst zusätzliche technische Verfahren wie Uhren - also Instrumen
te, die takten - erzeugen eine verbesserte Übereinstimmung von Aufzeichnung und
10 Adorno 1934: 531. Dort auch: »Nicht
umsonst wird der Ausdruck >Platte<, ohne
Zusatz, in Photographie und Phonographie
gleichsinnig gebraucht. Er bezeichnet das
zweidimensionale Modell einer Wirklichkeit,
die sich beliebig multiplizieren, nach Raum
und Zeit versetzen und auf dem Markte
tauschen lässt. Dafür hat sie das Opfer ihrer
dritten Dimension zu bringen: ihrer Höhe
und ihres Abgrunds .«
11 Vgl. Lastra 1992.
12 Vgl. Wurtzler 1992 . Vgl. auch Hennion
1997. Zur Phantasmatik der Stimme vgl.
Oolar 2007 und Silverman 1988.
13 Vgl. Schröter 1996.
14 Natürlich sind auch andere Faktoren, wie
etwa Rauschfreiheit des Kanals von Bedeu
tung. Oie Synchronisation ist eine notwen
dige, aber nicht unbedingt hinreichende
Bedingung.
15 Vgl. Kittler 1993.
371
Jens Schröter
Wiedergabe. Eldridge Johnson konstruierte 1896 eine Art Uhrwerk, welches die
Handkurbel ersetzte und so die Umlaufgeschwindigkeit stabilisierte. Seitdem ist die
Musik, wie Adorno 1934 schrieb, der »trostlosen Ewigkeit des Uhrwerks unterstellt«. 16
Doch das allein reichte immer noch nicht: Denn verschiedene Firmen erstellten -
auch das kennt man heute noch - verschiedene Standards. Folglich war bei vielen
Geräten die Geschwindigkeit stufenlos wählbar, natürlich genau um Platten verschie
dener Anbieter abspielen zu können. 1903 wird die Deutsche Grammophon, nachdem
sie die mit 70 UpM arbeitende Konkurrenz Zonophon Co. aufgekauft und sich als
Marktführer etabliert hat, 78 UpM festlegen - also eine erste, marktwüchsig erzwun
gene Standardisierung.17 Erst 1925 erfolgte wirklich die Standardisierung.18
Bemerkenswert im hier diskutierten Zusammenhang ist, dass die - jedenfalls
noch für Menschen meiner Generation - so überaus bekannte Geschwindigkeit von
33 1/3 für Langspielplatten in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Synchroni
sationsproblem entstand, und zwar jenem zwischen Ton und Bild im Tonfilm:
Tue speed of 33 113 was introduced in 1927 after theoretical analysis of the
compromise between signal-to-noise ratio and playing time (3 minutes per
radial inch) by J. P. Maxfield of Bell Laboratories for so und films produced
on the Vitaphone system. And it was a professional de facto standard before
it became commercialized by CBS in 1948. 19
Aufzeichnungen mit 78 Umdrehungen waren zu kurz, um mit der Länge von Filmrol
len mithalten zu können, also musste eine langsamere Aufzeichnung her. Nach dem
zweiten Weltkrieg entstand die 45 UpM-Single zunächst als Konkurrenzunternehmen
zur 33 113-Langspielplatte. Als schließlich Unternehmen Plattenspieler anboten, die
die nun etablierten drei Geschwindigkeiten 33 1/3, 45 und 78 UpM abspielen konn
ten, hatte sich diese Dreifaltigkeit als letzter und stabiler Standard etabliert. Die DIN
45545 fixiert z.B. den Standard für Testschallplatten, anhand derer sich die Einhal
tung von 33 1/3 und 45 UpM prüfen lässt.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Stabilisierung und Standardisierung
letztlich an der Elektrifizierung hingen. So kann durch Synchronmotoren, deren Ro
tation von der Frequenz des verwendeten Stroms abhängt und den man bei Sender
und Empfänger leicht festlegen kann, Synchronizität hergestellt werden. Im »Lexikon
der Vinyl-Platte« heißt es dazu: »Erst mit der elektrischen Tonaufzeichnung und der
damit verbundenen umfassenden Elektrifizierung der Schallplattenstudios begann
man durch Verwendung von Elektromotoren und deren genaue Kalibrierung, firme
ninterne Standarddrehzahlen einzuführen und diese auf den Schallplattenetiketten
372
De- und Resynchronisationsketten
anzugeben.« 20 Die Synchronisation war stabilisiert - mit all den skizzierten Folgen für
die Auflösung und Rekonstitution der Gleichzeitigkeit. In Hinsicht auf diese Phäno
mene hat McLuhan recht, wenn er die Elektrizität als das zentrale Medium der Mo
deme ansetzt. Die Elektrizität erlaubt endlich die Synchronisation als Invisibilisierung
der Aufzeichnung und mithin die Aufspaltung und phantasmatische (>re-auratisierte<)
Rekonstitution der Gleichzeitigkeit.
zweite Station: De-Synchronisation als Medienästhetik/ Zwei Beispiele
Wenn also die gelingende Aufhebung der Gleichzeitigkeit durch Synchronisation eine -
zumindest weitgehende - Invisibilisierung des Mediums bedeutet, dann drängt sich
sofort die Frage auf, ob nicht künstlerische Praktiken genau an dieser Invisibilisie
rung ansetzen. Bekanntlich ist dies eine zentrale Position modernistischer Ästhetik.
16 Adorno 1934: 532.
17 Vgl. Hiebler 1999: 627, 631. Warum 78
UpM? »Emil Berliner's first disc gram[m]
ophones were wound by hand at somewhere
between 60 and 100 rpm. Tue 7-inch discs
lasted a minure or so and had low sound qua
lity. Berliner and his assistant Fred Gaisberg
realized that unless the speed was governed,
the gramophone would never be more than a
novelty. Gaisberg visited a young mechanic
who was making clockwork machinery in
hoping to use it for sewing machines. This
machinery was never successful in sewing
machines, but was ideal for gramophones,
and it rotated at 78 rpm. Tue mechanic,
Eldridge Johnson, became a millionaire.
Columbia made all its discs to run at 80 and
HMV had its pioneer recordings produced
between 68 and 92 rpm with the key of the
piece marked on the labe!. You then tuned it
on your own piano, using the gramophone's
governor. These speeds all gradually settled
into the Standard of78.« Und: »From 1894
to around 1930 there were many different
record speeds ranging from 65 to 90 rpm,
each case being a compromise between play
i ng time and the need for a clean cut in the
original wax. Tue Victor company used 76
rpm for many years for its recordings but in
structed buyers ro reproduce at 78 [ . .. ] - the
record 's durability was improved that way.
Tue Standard of 78 rpm arrived by default ,
although the actual speed depended on the
electrical mains frequency. « Peneny o. J .
18 Vgl. Büchele 1999: 16.
19 Peneny o. J. Vgl. das US-Patent 1.6327.082
vom 26.7.1927 von Joseph P. Maxfi.eld mit
dem Namen »Sound Recording«, wo zwar
noch nicht explizit von 33 113 UpM die Rede
ist, aber darauf hingewiesen wird, dass »in
connection with rhe so-called >talking< motion
pictures« eine deutliche längere Spielzeit der
Schallplatte vonnöten ist. Vgl. auch Keller 1981.
20 Wonneberg 2000: 280.
373
Jens Schröter
So beschrieb etwa Clement Greenberg in den vierziger bis sechziger Jahren des 20.
Jahrhunderts die Aufgabe der Kunst als >Reflexion ihrer Medien<. 21 Die Kunst wäre
so gesehen die Praxis, die die Normalisierung und Standardisierung des Medialen
>kritisch< befragt und durchbricht oder etwas weniger emphatisch andersherum: Alles,
was mit den Standards auch nur partiell bricht, kann Kunst genannt werden. 22 Es
seien im Folgenden - ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit - zwei Beispiele kurz
dargestellt, die auf je ihre Weise sehr unterschiedlich mit dem Plattenspieler umgehen.
John Cage: lmaginary Landscape No. 1
Schon 1939, also zu einem Zeitpunkt, als 78 UpM noch beherrschender Standard
für die Schallplattenwiedergabe und 33 1/3 zwar schon entwickelt, aber noch nicht
auf breiter Basis eingeführt war, setzte sich - wie könnte es anders sein - der heute
weltbekannte Avantgarde-Komponist John Cage damit auseinander. Der Musikwis
senschaftler Rudolf Frisius beschreibt:
In der Komposition lmaginary [L}andscape [N}o. 1, die [„.] 1939 entstan
den ist, geht Cage auf der Suche nach experimenteller Erweiterung der
Klangquellen noch weiter: Nur einer der vier Spieler spielt ein traditionelles
Instrument in konventioneller Weise: Der 3. Spieler verwendet ein großes
chinesisches Becken - bald mit Wirbeln, bald mit einzelnen Schlägen. Der
4. Spieler spielt präpariertes Klavier - bald mit Glissandi auf den Saiten,
die mit einem darüber gleitenden Gon[g]schlägel erzeugt werden; bald mit
konventionell auf den Tasten gespielten Tönen, bei denen aber der Klang
verändert wird durch Abdämpfung der Saiten mit den Händen. Noch unge
wöhnlicher ist das Instrumentarium der ersten beiden Spieler: Ihre Instru
mente sind Schallplattenspieler, auf denen Schallplatten mit elektronischen
Klängen abgespielt werden. Der erste Spieler bedient je zwei Schallplatten
spieler [„.] in verschiedenen Abspielgeschwindigkeiten (33 1/3 bzw. 78 Um
drehungen pro Minute). Der zweite Spieler spielt eine einzige Schallplatte in
wechselnden Geschwindigkeiten ab. Das Stück ist nicht für die Aufführung
im Konzertsaal bestimmt, sondern eine Medienkomposition, die mit zwei
Mikrophonen in einem Radiostudio aufgenommen und geregelt und an
schließend über Lautsprecher (im Radio oder von einer Schallplatte) gehört
werden soll. 23
374
De- und Resynchronisationsketten
Die >elektronischen Klänge< auf den Schallplatten sind nichts anderes als Sinustöne. Es
handelt sich um Testplatten, wie sie später auch in der DIN 45545 normiert werden.
Sie wurden in der Zeit, als Plattenspieler noch kontinuierliche - analog - verstellbare
Geschwindigkeiten hatten, dazu genutzt, um im Abgleich mit geeichten Stimmgabeln
festzustellen, wann eine gewünschte Drehzahl erreicht war. Der zweite Spieler spielt
eine einzige Schallplatte in kontinuierlich wechselnden Geschwindigkeiten auf einem
eben solchen, prä-standardisierten, Plattenspieler ab. Cage verweist damit einerseits
auf den Plattenspieler vor seiner Standardisierung. Der erste Spieler bedient anderer
seits je zwei Schallplattenspieler mit verschiedenen Abspielgeschwindigkeiten (33 1/3
bzw. 78 Umdrehungen pro Minute), also den Schallplattenspieler nachdem das ana
loge Drehzahlkontinuum bereits durch zwei diskrete Standards ersetzt wurde. Cage
lotet am Übergang zur Standardisierung genau diesen Übergang aus. Dadurch wird
der Prozess, der am Ende zu einer weitgehenden Stabilisierung der Synchronisation
von Aufnahme und Wiedergabe führt - vielleicht ein letztes Mal - hörbar. Denn wie
Volker Straebel zu Cage bemerkt:
Schließlich gibt es Stücke, die nicht mehr aufführbar sind, und solche, deren
wiederholte Aufführung offensichtlich von Cage nicht vorgesehen war. Ein
einfaches Beispiel hierfür ist lmaginary Landscape No. 1 für Schallplatten
konstanter und variabler Frequenz, große chinesische Zimbel und Piano
(1939). Die Aufführungsvorschrift gibt an, das Stück sei in einem Radio
studio zu spielen und dann zu senden und/oder aufzuzeichnen. Während
der für die Aufführung geforderte Ort sich aus der technischen Situation
der Entstehungszeit des Werkes verstehen läßt, verwundern die Informa
tionen zu den abzuspielenden Schallplatten mit Testtönen, die aus Platten
nummern und unvollständigen Frequenzangaben bestehen. Denn als Cage
die Partitur 1960 zum Druck gab, waren diese Testplatten längst nicht mehr
im Handel erhältlich, und die aufgeführten Daten zu spärlich, um die ge
wünschten Klänge auf anderem Wege synthetisch zu erzeugen. So liegt die
21 Vgl. exemplarisch Greenberg 1960.
22 Diesem Konzept folgt übrigens noch Kitrler
1998: 26lf., wenn er von einer jeden >Me
dienkunst< verlangt, an den ihr zugrunde
liegenden technischen Standards zu rütteln.
Zur mit Computern erzeugten Musik
schreibt Kitder (1997: 9): »Deshalb bleibt es
die unermeßliche und wohl auch unmögli
che Aufgabe aller Neuen Musik, ihre eigene
materielle Basis, die integrierte Scha!tungs
technik, überhaupt hörbar zu machen.«
23 Frisius o. J.
375
Jens Schröter
Vermutung nahe, daß Cage diese Partitur ausschließlich aus dokumenta
rischem Interesse und zu Studienzwecken veröffentlichte. Denn auch auf
seinem Jubiläumskonzert 1958 wurde Imaginary Landscape No. 1 nicht live
aufgeführt, sondern die wahrscheinlich 1939 im Radiostudio aufgenomme
ne Schallplatte abgespielt. 24
An dieser Passage ist einiges signifikant: Dass Cage unzureichende Angaben hinter
lassen hat, um das Stück erneut aufzuführen, mag daran liegen, dass die Partitur nur
dokumentarischen Zwecken dient. Es mag aber auch an Cages medienästhetischem
Interesse liegen, den historischen Zeitpunkt des Übergangs zur Standardisierung der
Synchronisation und der damit gegebenen Sprengung der Gleichzeitigkeit von Mu
siker und Klang als eben diesen unwiederholbaren Punkt zu fixieren. Bei dem Ju
biläumskonzert 1958 - also zu Cages Lebzeiten - wurde die Platte abgespielt. Das
bekräftigt die Annahme, es ginge gerade um den unwiederholbaren Moment des
Übergangs, weil Cage so jeden Versuch sekundärer Gleichzeitigkeit im Live-Konzert
verweigert und die mit jeder Spaltung der primordialen Gleichzeitigkeit einhergehen
de Geschichtlichkeit unterstreicht. Doch obwohl »Imaginary Landscape No. l« mit
den verschiedenen, teils kontinuierlich verstellbaren Plattenspielern und den Testplat
ten gerade auf die noch nicht gefestigte Synchronisation verweist, muss die Wiederga
be der Komposition eben jene Festigung voraussetzen. Bei der Wiedergabe der Platte
1958 sollte die Medialität des Plattenspielers, die in dem Stück thematisiert wird, auf
der Ebene der Wiedergabe ja gerade nicht erscheinen. Dies kann man wohlwollend
als besonders raffinierte dialektische Volte Cages verstehen - man kann es aber auch
als grundsätzliches Problem jeder medienästhetischen Strategie verstehen, die mit
Störungen oder Abweichungen von Standards arbeitet, nämlich dass die Reprodukti
on der mit Störungen operierenden Arbeiten z.B. im musealen Kontext selbst immer
störungsfrei sein muss.25 Die Reproduktion des De-Synchronisierten muss selbst syn
chronisiert sein.
Boyd Rice: Pagan Muzak
Offenkundig kann man diesem Problem - wenn man denn unbedingt will - nur und
allein so entkommen, indem man die De-Sychronisierung von der Ebene des prä-auf
gezeichneten Ereignisses wie bei Cage auf die Ebene der Wiedergabe selbst verschiebt.
Man hätte dies auch im Falle von Cage machen können, wenn etwa die Aufnahme
376
De- und Resynchronisationsketten
von »Imaginary Landscape No. 1« 1958 vorsätzlich mit >falscher< Geschwindigkeit
abgespielt worden wäre. Doch das wollte Cage offenbar nicht - und blieb so in ge
wisser Weise immer noch der sekundären Gleichzeitigkeit verhaftet. Einen neuen und
in dieser Hinsicht radikaleren Ansatz wählte ein Musiker, der aus einer ganz anderen
Ecke kommt: Boyd Rice. 26
Rice zählt in keiner Weise zur Geschichte der E-Musik, der man Cage zurechnet.
Es handelt sich vielmehr um einen Vertreter der in der Mitte der 1970er Jahre entstan
denen Musikrichtung namens Industrial. Der Wikipedia-Eintrag definiert Industrial
wie folgt:
Eine wesentliche Komponente des Industrials war und ist die Provokation
entlang der äußersten Ränder des Erträglichen und damit einhergehend das
Experiment mit audiovisuellen Grenzerfahrungen. [ ... ] Die drastischen Kol
portationen von verstörenden Ereignissen in Industriestücken können beim
Hörer eine nur schwer zu umgehende Fokussierung auf die Entwicklung
emanzipativer Prozesse auslösen. 27
Was man auch immer von einer solchen Definition halten mag, entscheidend im hier
diskutierten Zusammenhang ist, dass Rice seine Hörer in der Tat »Grenzerfahrungen«
aussetzte. 1980 erschien eine Schallplatte im 7"-Format namens »Pagan Muzak«, an
der schon ungewöhnlich genug gewesen wäre, dass die Stücke allesamt Endlosloop
Rillen sind, also jedes Stück im Prinzip für immer läuft, weil die Nadel die entspre
chenden Rillen nicht mehr verlässt. Außerdem bestehen die Stücke im Wesentlichen
aus unerträglichem Krach - z. B. mit einer so genannten Rotogitarre erzeugt, einem
Ventilator, der die Saiten einer elektrischen Gitarre malträtiert. Noch auffalliger war,
dass die Platten mit jeder am Plattenspieler verfügbaren Geschwindigkeit abgespielt
werden konnten (siehe Abb. 1, welche einen Ausschnitt der Rückseite des Plattencovers
24 Scraebel 1995.
25 Zu beachten ist dabei das grundsätzliche
Problem, dass jede künstlerische Arbeit mit
Störungen diese intendieren muss, was dem
Sinn von Störung als dem Nicht-Intendierten
per definitionem zuwiderläuft. Man kann
mithin gar nicht künstlerisch mit Störungen
arbeiten, weil eine intendierte Störung keine
ist. Diese Paradoxie ist bestenfalls temporal
auflösbar. Eine initiale, unintendierte Stö-
rung kann Anlass für folgende, intendierte
Formgebungen sein, die mit dem Charme
der Störung operieren und so >medienrefl.e
xiv< anmuten können.
26 Vgl. Anonymus 2012c und Ziehn 1995. In
diesem Artikel werden die, leider inakzepta
blen, politischen Ansichten von Boyd Rice
kritisch kommentiert.
27 Anonymus 2012d.
377
Jens Schröter
des Re-Release von »Pagan Muzak« von 1999 zeigt). Der Gipfel der plattenspieleri
schen Grenzerfahrung war aber dadurch erreicht, dass die Platte mehrere zusätzliche
Löcher neben dem vorgesehenen Mittelloch enthielt (Abb. 2). 28
NON Ll MUSIC (ETCJ-&OYD llCE. PU.YAIU AT .tNY SPHD. MAXIMUM VOLUME SUGOESTID
Abb. 1 - Rückseite des Plattencovers des
Re-Release von Boyd Rice: Pagan Muzak
(1999).
Abb. 2 - Schallplatte des Re
Release von Pagan Muzak (mit
nur einem zusätzlichen Loch).
Masami Akita, der unter dem Künstlernamen Merzbow 29 ebenfalls zur Industrial
Szene gehört hatte, schrieb:
Die nächste Platte von Boyd Rice war eine 7", die den Titel >Pagan Muz
ak< trug. Auch auf dieser Platte, aus drei Tapeschleifen bestehend, war der
Hinweis abgedruckt, daß sie in beliebiger Geschwindigkeit abspielbar ist
[ ... ].Allerdings waren hier direkt neben dem mittleren Führungsloch noch
mehrere andere Löcher vorhanden. (Die Plattenfirma selbst hatte sich nicht
bereit erklärt, diese zusätzlichen Löcher anzubringen. Deshalb mußte Boyd
selbst die Löcher nachträglich mit einem Elektrobohrer bohren. Von dieser
Platte wurden 86 Stück gepreßt, obwohl Boyd nur 75 bestellt hatte). >Pagan
Muzak< gab es in den verschiedensten Variationen: Mit 2, 3 oder 4 Löchern
versehen. [ ... ] Versuchte man allerdings, die Platte in einem >Plus Alpha<
Modus zu hören, bei dem sie sich nicht um das Zentralloch drehte, hüpfte
die Nadel nur wild herum. (Boyd Rice hat daher einen sich selbst asym[m]
etrisch drehenden Plattenteller entwickelt. Die darauf gelegten Platten voll
führen keine[ ... ] runden Kreisbewegungen, sondern Ellipsen). Kurz, durch
die irregulär gebohrten zusätzlichen Löcher, hüpfte die Nadel von Spur zu
Spur, so daß mehrere Spuren für den Hörer miteinander verbunden wurden.
378
De- und Resynchronisationsketten
So wurde, abhängig von der Anordnung und Zahl der Löcher und abhängig
vom Abspielgerät, jedesmal ein Unikat erzeugt, das bei jedem Abspielern
erneut eine einzigartige, zufällig entstehende Musik hören läßt. >Pagan Muz
ak< ist damit die erste Platte, die aus unendlich verschiedenen Variationen
besteht. [ ... ] Wir haben uns so sehr an das normale Abspielen einer Platte
gewöhnt, daß uns ein Brechen der Regel gar nicht mehr in den Sinn kommt.
Deshalb übernehmen die Künstler solche Regelbrüche. Der Benutzer ist
noch nicht mündig genug, mit den Produkten so umzugehen, wie es ihm
beliebt.30
Wieder kann man das naiv aufklärerische Programm, die Künstler müssten die Dest
ruktion der etablierten Black Boxes - hier: des Plattenspielers und seiner Standards -
durchführen, um die >noch< nicht mündigen Benutzer zu einem irgendwie >kritische
ren< Umgang mit ihren Technologien zu bewegen, milde belächeln. Außer einigen
lndustrial-Musikern hat kaum jemand seine Plattenspieler mutwillig beschädigt oder
zusätzliche Löcher in die eigenen Lieblingsschallplatten gebohrt. Der aggressive Fron
talangriff gegen die technologische Standardisierung der Synchronisation, die De
Synchronisierung als Destruktion, war letztlich nicht der Weg, auf dem sich eine
Transformation des Synchronisations-/Gleichzeitigkeitsregimes etablieren konnte.
Dritte Station: De-Sychronisation als Re-Synchronisation des Beats/ Die tertiäre Gleichzeitigkeit der Tanzmasse
Die nächste Verschiebung der Konfiguration von (De-)Synchronisation und (Un-)
Gleichzeitigkeit ereignete sich nicht im Feld irgendwelcher radikaler Avantgarden,
sondern eher im Bereich der Popkultur. Vorläufer einer solchen gezielten Praxis mit
28 In jüngerer Zeit hat der Medienkünstler Lau
rent Montaron im Zusammenhang mit der
Installation »Somniloquie« (2002) ebenfalls
Plattenspieler mit Platten, die zusätzliche
Löcher aufweisen, eingesetzt, vgl. (ohne
Hinweis auf die zusätzlichen Bohrlöcher)
Exertier 2007. Ein weiterer Künstler, der
schon in den 1960er und 1970er Jahren mit
der Transformation und Destruktion von
Platten und Plattenspielern arbeitete, war
Milan Knizak, vgl. Thunderperfecrmind
2007 sowie Schraenen 2005.
29 Vgl. Anonymus 2012b.
30 Akita 1995: 124.
379
Jens Schröter
Schallplatten reichen bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zurück, doch erst
ab den späten 1970er Jahren etablierte sich die DJ-Culture als eigenständiges Kul
turphänomen. Das Auflegen und Mixen von Platten wurde zu einer eigenen, sehr
populären Kulturtechnik. Eines der zentralen Verfahren dabei ist das so genannte
Beatmatching:
Als Beatmatching (auch Beatmixing) bezeichnet man das taktgenaue Syn
chronisieren der Geschwindigkeit zweier Schallplatten durch einen DJ.
Dabei wird der Schlagzeugrhythmus (Beat) beider Platten so ineinanderge
mischt, dass der Übergang zwischen beiden Musikstücken (Tracks) konti
nuierlich wirkt und oft unbemerkt geschieht. Das Beatmatching ist eine der
Grundtechniken, die ein DJ beherrschen muss. Dies gilt insbesondere für
DJs die Platten der Disco-orientierteren Musikstile wie z.B. Techno, House
oder Jungle auflegen, während in den Hip-Hop-Verwandten Musikrichtun
gen mehr Wert auf Scratching und Beatjuggling gelegt wird. Die Technik
setzt zwei Plattenspieler (Turntables) voraus, deren Abspielgeschwindigkeit
pitchbar, das heißt über einen Schieberegler veränderbar ist. Deren Signale
sollten durch einen Crossfader überblendbar sein und man benötigt einen
Kopfhörer, auf dem man beide Plattenspieler unabhängig vom Crossfader
hören kann. Die Plattenspieler sollten deshalb vom selben Typ sein, damit
ihre Eigenschaften wie Gleichlaufschwankungen und Motorkraft möglichst
ähnlich (wenn nicht sogar annähernd 100% gleich) sind, da das Beatmat
ching ansonsten zu einer unmöglichen Angelegenheit werden kann.31
Eine neue Konfiguration erscheint hier: Von der Sollgeschwindigkeit, dem Punkt
der idealen Synchronisation, wird mutwillig abgewichen. Die Platten werden mit
etwas geringerer oder höherer Geschwindigkeit wiedergegeben - aber nur, um wie
derum eine sekundäre Synchronisation herzustellen - nämlich zwischen den rhyth
mischen Phasen der Musik selbst. In diesem Prozess hat man es mit »Elementen, die
nach einer Zeit der Ungebräuchlichkeit, des Vergessens oder gar der Annullierung
wiedererscheinen« 32 zu tun - mit der stufenlosen Regulation der Wiedergabege
schwindigkeit (in gewissen Grenzen). Dieses Verfahren, üblich bei Plattenspielern vor
den Prozessen der Standardisierung und noch bei Cage Mittel medienästhetischer Re
flexion, wird nun für den Prozess sekundärer Synchronisation benötigt. Dabei taucht
auch die zersprungene primordiale Kopräsenz zwischen Musiker und Instrument ver
schoben als sekundäre Kopräsenz von DJ und Plattenspieler wieder auf. Diese sekun
däre Kopräsenz kann - wenn der DJ live handelt-wiederum mit der näherungsweise
380
De- und Resynchronisationsketten
synchron zum Rhythmus der Musik schwingenden Tanzmasse 33 eine tertiäre Gleich
zeitigkeit bilden.
Fazit
Es wurden drei Stationen einer De- und Resynchronisationskette beschrieben, in de
nen der Plattenspieler als Technik der Klangaufzeichnung historisch aufzufinden ist.
Diese »Transformationskette« 34 ist interessant, weil sie zeigt, dass die Fragen nach der
Synchronisation oder Abweichung von ihr genau wie diejenigen nach Gleichzeitigkeit
und Ungleichzeitigkeit nicht am Apparat alleine beantwortet werden können - ob
einem das gefallt oder nicht. Die Abweichung von der Sollgeschwindigkeit der Auf
zeichnung kann in einem Fall zu überwindende Störung, im nächsten Fall Mittel der
Reflexion eben jener Bemühungen um Vermeidung von Abweichung und in einem
weiteren Fall Werkzeug der Erzeugung einer Synchronisation zweiter Ordnung sein.
Man kann dies keiner Platte und keinem Plattenspieler a priori ablesen.
Der Plattenspieler ist - noch- nicht obsolet, er lebt in der DJ-Culture in einer anderen
Synchronisations-/Gleichzeitigkeitsordnung fort. Man mag seine Form sogar in der
sich heute in jedem Rechner befindlichen Festplatte wiedererkennen - insofern man
dort einen Arm vorfindet, der sich über einer rotierenden Scheibe bewegt.
Rotierende Scheiben sind nun einmal günstig für den Zugriff auf Daten, weil
man nicht, um an ein Datum zu gelangen, alle vorherliegenden durchlaufen muss
(wie z. B. bei Bändern). Aber ob diese, zumal vage, visuelle Analogie hinreicht, selbst
31 Anonymus 2012a.
32 Foucault 1995: 247.
Abb. 3 - Bild
einer Festplatte.
33 Frei nach Canetti 1961.
34 Larour 2002: 86.
381
Jens Schröter
wenn ergänzt um einen Hinweis auf die Geräusche der Festplatte, die verstärkt schon
sehr den von den DJs gemischten Techno-Sounds ähneln, sei hier dahingestellt. 35
Jedenfalls dringt die Computertechnologie auch in die letzte Nische des Plattenspielers
vor:
Modeme Software ist in der Lage, mehrere Stücke am Computer ineinan
der übergehen zu lassen (zu mixen), es wird also kein Plattenspieler mehr
benötigt. Die Programme analysieren die BPM-Zahl und passen diese ggf.
an. Diese Art des computergestützten Beatmatchings findet durch profes
sionelle Hybridlösungen wie Final Scratch oder Rane Serato Scratch Live
auch bei klassischen Vinyl-DJs eine immer höhere Verbreitung. Durch
das einfachere und schnellere Angleichen der Tracks mit grafischer Rück
meldung in Form von BPM- und Waveform-Anzeige bleibt dem DJ mehr
Zeit für andere kreative Handgriffe. 36
Daran zeigt sich schließlich, dass die >alten< analogen Medien im grellen Licht
ihrer >neuen< digitalen Brüder und Schwestern nicht einfach verlöschen. Das
Abb. 4 - CD-Rom
im >Vinyl-Look<.
Verhältnis der analogen zu den digitalen Medi
en ist allem Gejubel der Computerindustrie zum
Trotz nicht in der Form der Sukzession verständlich.
Gerade weil digitale Rechner programmierbar sind,
müssen sie auch programmiert werden, um überhaupt
etwas zu sein. Die Form der analogen Medien koppelt
das relativ offene Digitale. Die Form der Schallplat
te kann auch partiell und approximativ das Digita
le koppeln - aber das zeigt sich, wie gesagt, am we
nigsten an der Festplatte, sondern eher daran, dass der
Sound, das Knistern, das Handling erhalten bleiben
soll. Selbst wenn es am Ende das Schicksal des Plat-
tenspielers sein sollte, nur mehr als sein eigenes digitales Simulakrum zu verbleiben,
heißt das nur, dass der Plattenspieler nicht aufhört nicht aufzuhören.
35 Mit Dank an Wolfgang Ernst. Vgl.
dazu ausführlicher Schröter 2010.
36 Anonymus 2012a.
382
37 Vgl. Schröter 2004a.
38 Vgl. Schröter 2004b.
De- und Resynchronisationsketten
Abbildungsnachweise
Abb. 1: Privatbesitz.
Abb. 2: Privatbesitz.
Abb. 3: Wikimedia Commons, Fotografie von Christian Jansky. URL: http://
commons.wikimedia.org/wiki/File:Samsung_HD753LJ_03-0pened.jpg.
Download vom 11.09.2011.
Abb. 3: Privatbesitz.
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