Marx und die Weltgeschichte. Die "Schlosser-Exzerpte"

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Marx und die Weltgeschichte Die “Schlosser-Exzerpte” Michael R. Krätke Lancaster University / IISH, Amsterdam

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Marx und die Weltgeschichte

Die “Schlosser-Exzerpte”

Michael R. Krätke Lancaster University / IISH, Amsterdam

Marc Bloch ehrt Marx im Pantheon der Historiographie“Si jamais les historiens, adeptes d’une science renouvelée, décident de se donner une galérie d’ancêtres, le buste barbu du vieux prophète rhénan prendra place au premier rang de la chapelle de la corporation.” Marc Bloch 1943

Marx’ Begegnungen: - mit Hegels Philosophie der Weltgeschichte mit den Klassikern der antiken

Geschichtsschreibung mit der Histoire raisonnée der französi-

schen Aufklärung mit den Historikern / Theore-tikern der

schottischen Aufklärung (Millar, Ferguson, Gibbon)

mit den französischen Historikern der Restaurationszeit (Thierry, Guizot)

mit den deutschen Historikern des 18. und 19. Jahrhunderts

Es gibt nicht immer schon eine “Welt” und eine “Weltgeschichte” Erst mit dem modernen Kapitalismus beginnt eine “Weltgeschichte”

– alle grossen Ereignisse wirken aufeinander ein Denn: erst der moderne Kapitalismus schafft “Weltmarkt”,

“Weltökonomie”, “Weltpolitik”, ein “Weltsystem” (auch: Weltkonjunktur, Weltkrise, Weltkrieg)

Räume und Zeiten der Weltgeschichte sind ungleich: Es gibt zentrale Orte / Räume, es gibt entscheidende Wendezeiten / Sattelzeiten

Marx’ Überzeugung: Wir leben im 19. Jahrhundert in einer solchen Wendezeit und zugleich in Westeuropa an dem zentralen Ort – hier und jetzt fällt die Entscheidung über den weiteren Gang der Weltgeschichte

Aber: es gibt ungleiche Entwicklungen (aufsteigende / abstei-gende) in verschiedenen Teilen des kapitalistischen Weltsystems

Marx’ Konzept der “Weltgeschichte”

Marx’ historische Studien bis 1870 Marx’ historische Studien bis 1870 Studium von Gülichs Weltwirt- schaftsgeschichte (1846 / 47) Studien zur Geschichte Frankreichs, Spaniens, Englands, Russlands, Irlands, Amerikas usw. (1851- 56) Chronologische Aufzeichnung zur Auβenpolitik der europäischen Länder im 14. – 18. Jahrhundert (1857/58) Chronologische Aufzeichnung zur europäischen Geschichte, 1520 – 1856 (April/August 1860) Weitere Studien der Geschichte von Ländern / Regionen der Welt 1860ff

Marx’ historische Studien von 1870 bis 1883 1875 - 76 Studien zur russischen, englischen, griechischen Geschichte 1876 Studien zur Geschichte des Grundeigentums, der Technologie 1878 Studien zur Geschichte des Welthandels 1879 Studien zur antiken / römischen Geschichte 1879 – 1880 Studien zur Geschichte des Grundeigentums (Kowalewskij) 1879 – 1882 Studien zur Ethnologie, Anthropologie, zur Vor- und Früh- geschichte, zum Grundeigentum

4 Schul/Schreibhefte, DinA5 Format, schwarzer Leineneinband,

Deckel fester Karton, marmoriert, Seiten einfach blau liniert, geschrieben 1881-82 (IISG Amsterdam, Karl Marx – Friedrich Engels Nachlass, Sign. B 108 / B 157, B 109 / B 158, B 110 /B159, B 111 / B 160)

Titel (handschriftlich von Engels auf rechteckigen, aufgeklebten Etiketten):

a) Chronologische Auszüge I, - 96 bis + 1320 ca. b) Chronologische Auszüge II, ca. 1300 bis c. 1470 c) Chronologische Auszüge III, ca. 1470 - 1580 d) Chronologische Auszüge IV, ca. 1580 – ca 1648 Quellen (von Marx exzerpiert) - Botta, Schlosser

Wie in anderen Exzerpten: Marx gruppiert den Stoff um! Keine Kommentare, aber Unterstreichungen, Hervorhebungen!

Marx’ Schlosser – Exzerpte (Exzerpte zur Weltgeschichte)

Friedrich Christoph Schlosser (1776 – 1861) :

Weltgeschichte für das deutsche Volk, Frankfurt a.M. 1846 – 48, (6 Bände), andere Ausgabe: Frankfurt a.M. 1844 – 57, (18 Bände) und Fortsetzungen

- wahrscheinlich in Marx’ Bibliothek (Marginalien?) ders., Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung, Frankfurt a.M., 1815 – 24 (9 Bände) - von Marx benutzt? Carlo Guiseppe Guglielmo Botta (1766 – 1837):

Histoire des peuples d’Italie, Paris 1825 ( 3 Bände) – in Marx’ Bibliothek (zahlreiche Marginalien)

Die Quellen – Schlosser und Botta

Viel weiter als oft behauptet / angenommen (das zeigt sein

“Lesefeld” – teils Exzerpte, teils Marginalien) Keine Rede von “Eurozentrismus” (wohl mit Europablick)! Marx hat neben der Geschichte Europas auch die Geschichte

Amerikas, Asiens, Afrikas studiert sowohl Länderstudien als auch Regionalstudien – mehrere Länder in

ihren Beziehungen (z.B. Frankreich – England) / sowohl Wirtschafts- als politische Geschichte, Technikgeschichte, Geistesgeschichte

jeweils Spezialstudien zur Kolonialgeschichte der aussereuro-päischen Länder / Regionen (insbesondere für Indien, Nordamerika, Lateinamerika, Indonesien, Nordafrika – also die Geschichte der grossen Kolonialmächte England, Frankreich, Holland, Spanien)

- Geschichte Asiens mit zwei Schwerpunkten: Indien und

China (Japan nur am Rande)

Umfang der Marxschen Studien

zur Geschichte

in der Zeit: Vor- und Frühgeschichte, soweit erschlossen

(ethnologische, anthropologische Studien) in der Zeit: griech. und röm. Antike / europäisches

“Mittelalter”/ Neuzeit (von der italien. Renaissance bis Mitte des 19. Jahrhunderts)

im (geographischen) Raum: alle Erdteile (selbst Australien), die meisten Länder (c. 45 Staaten im Weltsystem um 1900)

im (geopolitischen) Raum: die meisten wichtigen Regionen – Europa, Atlantik und Ostsee, Mittelmeerraum, Nordeuropa, Zentraleuropa, Südosteuropa – Kleinasien, Naher und mittlerer Osten, Afrika, Ostasien, Südostasien, Nord-, Mittel- und Südamerika

Europa – Zentrum und Peripherien (also auch: Russland, osmanisches Reich, Skandinavien, Nordafrika)

Reichweite der historischen Studien

Politische Geschichte – aber parallel und aufeinander bezogen (z.B. französische – englische Geschichte, keine reine Nationalgeschichte)

Grosse, länderübergreifende Ereignisse – z.B. die Kreuzzüge (vom ersten bis zum letzten)

Politische und Wirtschafts- und Technikgeschichte Geschichte der Städte / Stadtstaaten und Staaten (Protostaaten, Quasistaaten)

Entwicklung der grossen Reiche (Mongolenreich / Kalifate / Osmanisches Reich/ Deutsches Reich, Britisches Empire)

Grundlagen der politischen Macht (Landmacht – Seeheerschaft, Handelszentren und –wege, Ressourcen, Bevölkerung, Erfindungen, Wissensproduktion, Eigentumsver-hältnisse, Fiskalität)

Thematische Schwerpunkte

Vorläufer der Staatsentwicklung – (Florenz und andere

Stadtstaaten, Spanien, Frankreich, Italien) Kampf zwischen Städten und feudalen Mächten – wechselnde

Allianzen, Kriege und Bürgerkriege, verschiedene Ökonomien Bedeutung von Reformation / Gegenreformation als politische,

soziale, moralische, intellektuelle Revolution, Bauernkrieg (insbesondere: die Folgen der Reformation in Deutschland – politische Neuordnung Europas)

Frankreich – Religionskriege und Reformen der politischen und ökonomischen Organisation, Verwaltung und Sprache

England – Rosenkriege, Henry VIII bis Elisabeth I: dynastischer Staat, Einheitsstaat, erster Nationalstaat (mit eigener Staatsreligion)

Niederlande Anfang des 17. Jahrhunderts (das am weitesten entwickelte kapitalistische Land – Innovationen, Handels-imperium, zugleich minimaler Staat, in dem die “Heren” regieren)

Die Logik der Staatsbildung (in einem europäischen Staatensystem)

Im IV. Heft: der “Westfälische Frieden” von 1648 detaillierte Darstellung (im Vergleich zu Frankreich,

England, Skandinavien und Russland) der politischen und ökonomischen Verhältnisse im Deutschen Reich vor 1618

Dreissigjähriger Krieg – sein Verlauf, seine Verwandlung in einen europäischen Krieg (kleiner Weltkrieg)

Ende des dreissigjährigen Kriegs – seine Folgen für die politischen Verhältnisse im “Staatensystem Europas”

detaillierte Darstellung der Friedensverhandlungen (Pläne, Akteure, Allianzen, Kompromisse, Vertragswerke)

1648 – eine Zeitenwende?

Marx endet diese Exzerpte mit der Vorgeschichte der Englischen Revolution des 17. Jahrhunderts

Er hat aber den weiteren Gang – Geschichte des 18. Jahrhunderts bis zur Französischen Revolution, Geschichte der Französischen Revolution bis 1815, die weitere politische Geschichte Europas und Amerikas bereits davor studiert

Früchte der früheren Studien: Frankreichschriften, Artikelserie über das “revolutionäre Spanien”, Schriften zur Geschichte der Diplomatie und interna-tionalen Politik

Also: Zu welchem Ende studiert Marx 1881-82 erneut den Gang der Weltgeschichte?

Fortsetzungen folgen …

Theorie und Geschichte – Karl Marx und Max Weber

Indizien: laufende Überarbeitungen des “Kapital”, fortgesetzte und unterbrochene Arbeit an den Ms zum II. und III. Band des “Kapital”

Ziel und Zweck der Übung: nicht nur empirische Unterbauung für Thesen / Theoreme im “Kapital”, sondern

ein neuer Anlauf der Selbstverständigung über die Gültigkeit der eigenen Grundthesen (angestossen durch die Verlegenheit, in die Engels mit dem Anti-Dühring kam)

klare Demonstration: die Sassulitsch-Briefe, Marx’ ausgesprochene Ablehnung jeder universalen geschichtsphilosophischen Konstruktion, Betonung der Grenzen ‘historischer Skizzen’, klare Ablehnung überdehnter Epochenbegriffe (“Feudalismus”), klare Einsicht in die Vielfalt der Kapitalismen und ihrer Entwicklungsgeschichte

Das gleiche gilt m.E. (mutatis mutandis) für die naturwissenschaftlichen und ethnologischen Exzerpte

Welcher Sache war Marx in den welthistorischen Exzerpten auf der Spur: M.E. dem Rätsel des historischen Ursprungs des Kapitalismus . Ist die Entstehung des europäischen Staatensystems (im Gegensatz zu den Empires in anderen Erdteilen) eine hinreichende Erklärung für den Durchbruch und die Beschleunigung der kapitalistischen Entwicklung in Westeuropa?

Reformulierung des “Historischen Materialismus”

Ein “weberianischer Marxismus”? Wieviel Weber steckt in Marx? Die beste Demonstration, das beste Beispiel für ein “idealtypisches” Verfahren liefert Marx! Die Idealtypen des “modernen”, “(west)europäischen”, “nordameri-kanischen”, kolonialen usw. Kapitalismus

Die Idealtypen des modernen Staates (und seiner Proto- bzw. Entwick-lungsformen) Die Idealtypen des Eigentums, des Rechts, der “bürgerlichen” Ideologien