Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaftliche Kontexte

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Helmut Heit, Lisa Heller ( Hrsg. ) HANDBUCH NIETZSCHE UND DIE WISSENSCHAFTEN HANDBUCH

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Nietzsches Philosophie steht zeitlich und inhaltlich inmitten des Spannungsfeldes des 19. Jahrhunderts. Der dynamische Wandel in den Natur-, Geistes- und Sozialwissen-schaften bringt neue Methoden, Perspektiven und Rangordnungen der Wissenschaften hervor. Dieser Kontext, der Nietzsche Inspiration und Abgrenzungsfolie ist, bietet für das Verständnis seiner Philosophie einen unverzichtbaren Hintergrund. In 18 Beiträgen, die je eine Disziplin und ihre Wirkung auf Nietzsche analysieren, bietet das Handbuch nicht nur für Nietzsche-Forscher die Referenz für die Wissenschafts-geschichte im späten 19. Jahrhundert.

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Helmut Heit, Lisa Heller (Hrsg.)

HANDBUCH NIETZSCHE UND DIE WISSEN SCHAFTEN

www.degruyter.comISBN 978-3-11-028578-9

HANDBUCH

HandbuchNietzsche und dieWissenschaftenNatur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte

Herausgegeben vonHelmut Heit und Lisa Heller

ISBN 978-3-11-028578-9e-ISBN 978-3-11-028568-0

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Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis VII

Helmut Heit und Lisa HellerEinleitung 1

Lisa HellerAusführliche Inhaltsübersicht 7

I. Nietzsche im 19. Jahrhundert

Helmut HeitNietzsches Philosophie und das „Age of Science“ 19

Gregor SchiemannNietzsche und die Wahrheitsgewissheitsverluste im Anbruch der Moderne 46

II. Naturwissenschaftliche Kontexte

Sören ReuterNietzsche und die Sinnesphysiologie und Erkenntniskritik 79

Dirk SoliesNietzsche und die Lebenswissenschaften 107

Pietro GoriNietzsche and Mechanism 119

Tobias DahlkvistNietzsche and Medicine 138

Irene TreccaniNietzsche und die Astronomie 155

III. Geisteswissenschaftliche Kontexte

Christian Benne und Carlotta SantiniNietzsche und die Philologie 173

Anthony K. JensenNietzsche and Historiography 201

Nikolaos LoukidelisNietzsche und die „Logiker“ 222

Mattia RiccardiNietzsche und die Erkenntnistheorie und Metaphysik 242

Benedetta ZavattaNietzsche and Linguistics 265

Andreas Urs SommerNietzsche und die Religionswissenschaft 290

IV. Sozialwissenschaftliche Kontexte

Thomas BrobjerNietzsche and Economics 307

Maria Cristina FornariNietzsche und die politische Philosophie 322

Chiara PiazzesiNietzsche and Sociology 341

Martin LiebscherNietzsche und die Psychologie 362

Personenregister 379

Sachregister 387

VI Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis

A. Werkausgaben

KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzi-no Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pesta-lozzi, ab Abt. IX/4 von Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Berlin, New York: De Gruyter 1967ff.

KGB Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli undMazzino Montinari, weitergeführt von Norbert Miller und AnnemariePieper. Berlin, New York: De Gruyter 1975ff.

KSA Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bände. Hrsg. von Giorgio Colli undMazzino Montinari. 2. durchges. Aufl. München, Berlin, New York: dtv/De Gruyter 1999.

BAW Frühe Schriften 1854–1869 [1933–1942]. 5 Bände. Hrsg. von Hans-JoachimMette, Carl Koch und Karl Schlechta. Mit einer editorischen Vorbemer-kung von R. Schmidt zum Nachdruck der Ausgabe. München: dtv 1994.

B. Siglen einzelner Werke in den deutschsprachigen Beiträgen

AC Der AntichristBA Über die Zukunft unserer BildungsanstaltenCV Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen BüchernDaR Darstellung der antiken RhetorikDD Dionysos-DithyrambenDS David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (Unzeitgemäße Be-

trachtungen 1)DW Die dionysische WeltanschauungEH Ecce homoEKP Encyclopädie der klassischen Philologie und Einleitung in das Studium

derselbenFW Die fröhliche WissenschaftGD Götzen-DämmerungGG Die Geburt des tragischen GedankensGGL Geschichte der griechischen LiteraturGM Zur Genealogie der MoralGMD Das griechische MusikdramaGT Die Geburt der TragödieHkP Homer und die klassische PhilologieHL Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Unzeitgemäße Be-

trachtungen 2)

IM Idyllen aus MessinaJGB Jenseits von Gut und BöseM MorgenrötheMA Menschliches, Allzumenschliches (I und II)MD Mahnruf an die DeutschenNL Nachgelassene Notate/Aufzeichnungen/FragmenteNW Nietzsche contra WagnerPHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der GriechenSE Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3)SGT Sokrates und die griechische TragödieST Sokrates und die TragödieVM Vermischte Meinungen und SprücheVPP Vorlesungen zu den vorplatonischen PhilosophenWA Der Fall WagnerWB Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4)WL Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen SinneWS Der Wanderer und sein SchattenZ Also sprach Zarathustra

C. Abbreviations of Nietzsche’s Works in English

A The AntichristAOM Assorted Opinions and Maxims (HH II)BGE Beyond Good and EvilBT The Birth of TragedyBT Attempt The Birth of Tragedy, Attempt At a Self-Criticism.CW The Case of WagnerD DaybreakDD Dithyrambs of DionysusEH Ecce HomoGM On the Genealogy of MoralsGS The Gay ScienceHH Human, All Too HumanNL Posthumous Fragments/SketchesNW Nietzsche contra WagnerPTAG Philosophy in the Tragic Age of the GreeksTI Twilight of the Idols. How To Philosophize with a HammerTL On Truth and Lying in a Non-Moral SenseUM Untimely MeditationsWS TheWanderer and His Shadow (HH II)Z Thus Spoke Zarathustra

VIII Siglenverzeichnis

Helmut Heit und Lisa Heller

Einleitung

Nietzsche ist trotz aller selbst attestierten Unzeitgemäßheit auch ein Kind seiner Zeit.Seine Philosophie entsteht im Kontext des 19. Jahrhunderts, der Zeit einer Abkehr vonidealistischen Positionen und des gleichzeitigen rasanten Aufstiegs der Naturwissen-schaften als Instrumente der praktischen und theoretischen Gestaltung der Welt. Diezweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erweist sich so als eine besonders faszinierendeund in ihren Wirkungen besonders aktuelle Phase der Wissenschaftsgeschichte. Dietheologischen oder philosophisch-metaphysischen Vorzeichen der Forschung wei-chen zunehmend den positivistischen Prinzipien von induktiv oder hypothetisch-deduktiv verfahrenden Gesetzeswissenschaften. Zwar betonte Christian Wolff schon1713 die Differenz von „Pneumatologie, oder Geister-Lehre“ auf der einen Seite und„Natur-Wissenschaft, oder Natur-Lehre“ auf der anderen (Wolff 1965, §12), aber seitden 1850er Jahren verschärft sich diese Unterscheidung zunehmend. Während dieNaturwissenschaften an methodischem Selbstbewusstsein und kultureller Hegemo-nie gewinnen, entwickeln auch die Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften aus derrelativen Defensive ein disziplinäres Selbstverständnis und neue methodische Stan-dards. Dabei sind die Grenzen zwischen den heute bekannten Fächern im 19. Jahr-hundert oft noch wenig bestimmt und verlaufen teilweise entlang anderer Linien alsgegenwärtig. Nicht immer entsprechen den neu entstehenden oder sich wandelndenThemenfeldern auch einheitliche Formen akademischer Identität oder gar universitä-re Institute. Für die Geistes-, Kultur- oder historischen Wissenschaften hat sich nochnicht einmal eine gemeinsame Bezeichnung etabliert, und die später so genanntenSozialwissenschaften formieren sich erst zum Ende des Jahrhunderts als eigenständi-ge und intern differenzierte Disziplinen. Manche Fächer wie Psychologie, Soziologieoder Religionswissenschaft sind noch in der Entstehung begriffen. Auch die Naturwis-senschaften durchlaufen verschiedene Transformationen und Ausdifferenzierungen.So erlebt zum Beispiel die Physiologie Aufstieg und Niedergang im Verlauf dieserhundert Jahre.

Dieser Dynamik entsprechend sind auch die Curricula höherer Bildung und dieOrganisation der akademischen Institutionen strittig, wie sich an der berühmtenForderung des Berliner Physiologen Emil Du Bois-Reymond festmachen lässt: „Kegel-schnitte! Kein griechisches Skriptum mehr!“ Die Entwicklungen in den Wissenschaf-ten begleiten massive weltanschauliche Auseinandersetzungen nicht nur um Fragender Erziehung, sondern auch um die Rolle der Geschichte und der Religion, umMaterialismus, Reduktionismus und Evolutionstheorie, sowie schließlich um dieMöglichkeiten und Aussichten menschlicher Wahrheitserkenntnis. Diese Prozesseund Diskurse sind Teil einer umfassenden kulturellen, ökonomischen und sozialenVerwandlung der Welt (Osterhammel 2009), die sich etwa an Stichworten wie Indus-trialisierung, Kapitalismus, Imperialismus, Bürgerlichkeit, Arbeiterfrage und Demo-

kratisierung, aber auch an der Oper, der Literatur und den Künsten festmachen lässt.Der Zeigertelegraph von Siemens und Halske aus dem Jahre 1847, dessen Abbildungwir für den Einband dieses Handbuches ausgewählt haben, verkörpert als innovativeKommunikationstechnologie paradigmatisch die wissenschaftlichen, technischen,kulturellen und sozialen Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts. Diese sozial-historischen Konstellationen stehen immer wieder mehr oder minder deutlich imHintergrund, auch wenn die Beiträge in diesem Band sich vor allem auf die intellektu-ellen und wissenschaftlichen Entwicklungen der Zeitgenossenschaft Nietzsches kon-zentrieren und auf die Formen, in denen sich sein eigenes Denken in der Auseinander-setzung damit formt. Insoweit die hier versammelten Aufsätze Nietzsche im Kontextdieser Zeit situieren, kann man sie auch als Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des19. Jahrhunderts lesen.

Nietzsches Philosophie steht zeitlich und inhaltlich inmitten dieses facettenrei-chen Spannungsfeldes, in dem die Wissenschaften eine sehr zentrale Rolle spielen.Die einzige Disziplin, in der er selbst eine solide Ausbildung erfahren hat, die klassi-sche Philologie, sensibilisiert ihn für die kulturhistorische Komponente des akademi-schen und epistemischen Wandels und bleibt von grundlegender Bedeutung für seinWissenschaftsverständnis. Seine Auseinandersetzung mit dem historischen Bewusst-sein steht im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit den Ansätzen von Burck-hardt, Ranke, Wellhausen und anderen. Der sich formierenden geisteswissenschaft-lichen Sphäre begegnet Nietzsche mit Interesse und Skepsis, früh erkennt erspezifische Probleme. So gehört Nietzsche zwar sowohl hinsichtlich seiner Ausbildungals auch hinsichtlich seiner eigenen Tätigkeit vorrangig in das Feld der Geisteswissen-schaft, aber weder seine Lektüren noch seine Äußerungen beschränken sich darauf.Die sozialwissenschaftlichen Debatten über die gesellschaftliche Organisation, die‚Arbeiterfrage‘, die Tauschökonomie oder die Formen von Herrschaft hinterlassendeutliche Spuren in seinem Denken, wie man nicht nur an seiner Beschäftigung mitSpencer oder Dühring sieht. Auch die soziale Organisation der Wissenschaften undihre Rolle in der Gesellschaft erregen sein Interesse. Dabei verbindet er Themen derGeistes- und Sozialwissenschaften vielfältig mit Fragen der Naturauffassung. Zeit-lebens lässt sich bei Nietzsche ein starkes Interesse an den Naturwissenschaften nach-weisen, auch wenn er seinen Plan, selbst Chemie und Physik zu studieren, nicht in dieTat umsetzt. Seine Lektüren und Notizen dokumentieren ein ungebrochen großesInteresse an naturwissenschaftlichen Forschungen, an Feldern wie der Sinnesphysio-logie oder an bestimmten Theorien wie demDarwinismus.

Nietzsches Auseinandersetzung mit den Wissenschaften findet somit in vielerHinsicht produktiven Niederschlag in seinemWerk: Die Spannbreite reicht von einzel-nen Gedanken, die ohne Kenntnis ihrer zeitgenössischen Inspirationsquellen oderGrundlagen nur schwer verständlich werden, bis hin zu elementaren Konzepten wiedem Willen zur Macht, dem Interpretationsgedanken, dem Perspektivismus oder derWiederkunftslehre. Allerdings handelt es sich hierbei selten um eindeutige unddirekte Adaptionen, sondern um unterschiedliche Formen konstruktiver Aneignung

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durch Nietzsche, die sorgsam analysiert werden müssen. Was Nietzsche liest, wasNietzsche denkt und was Nietzsche schreibt sind drei verschiedene Dinge, die nichtnotwendig in einer linearen kausalen Verbindung zueinander stehen. Aus diesemGrund ist Nietzsches Philosophie letztlich ohne eine Kenntnis seiner Kontexte nichtangemessen zu verstehen, aber es reicht auch nicht, die Summe der Lektüren undRezeptionen zu kennen und die mehr oder minder verborgenen Anspielungen undVerweise in seinen Schriften gelehrig zu entschlüsseln. Vielmehr geht es darum, eineproduktive Verbindung zwischen den zeitgenössischen Kontexten und den eigenenTexten Nietzsches herzustellen. Die Metapher des „Einflusses“ erweist sich dabei fastimmer als unbrauchbar, da selbst eine zustimmende Lektüre ein Prozess der aktivenund selektiven Aneignung ist. Um Nietzsches Denken im Kontext der Wissenschaftenseiner Zeit zu begreifen, bedarf es daher sowohl einer gelehrten Kenntnis seinerQuellen als auch einer philosophischen Deutung seiner Philosophie.

Dieser Aufgabe stellen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes auf eine um-fassende Weise, indem sie möglichst sämtliche Disziplinen oder Themenfelder be-rücksichtigen, die für Nietzsche, für seine Zeitgenossen und auch für uns relevantsind. Dabei können die einzelnen Beiträge in unterschiedlichem Umfang auf dieErgebnisse bisheriger kontextueller und quellengenetischer Forschungen zurückgrei-fen, die in den letzten Jahren bedeutend zum Verständnis der Philosophie Nietzschesbeigetragen haben. Als George J. Stack 1983 seine grundlegende Studie zu Nietzscheand Lange publiziert, konstatiert er noch in seinem Vorwort, der Nachweis einersolchen engen Verbindung „may come as a surprise to those who have been, or are,interested in the thought of Nietzsche“ (Stack 1983, V). Allzu oft habe man nachseinem Eindruck über Nietzsche gedacht und geschrieben, „as if an impressive apexof a pryramid of thought was assumed to have had no base“ (Stack 1983, VI). Einsolches Bild von der Philosophie Nietzsches als einer Version freischwebender Intelli-genz ist ohne Zweifel irreführend, auch wenn es gute Gründe gibt, Stacks Eindruckzumindest auf die englischsprachige Nietzsche-Rezeption zu beschränken – oder aufsein verständliches Anliegen, die Originalität seiner Arbeit herauszustellen. WichtigeDetails der Verbindung zwischen Nietzsche und Friedrich Albert Lange hatte JörgSalaquarda schon 1978 in den Nietzsche Studien veröffentlicht. Spätestens jedoch seitden 1980er Jahren, und nicht zuletzt auch durch die Arbeit George Stacks, hat sich dasallgemeine Bewusstsein dafür geschärft, wie stark Nietzsche aller unzeitgemäßenDistanzgefühle zum Trotz in den Kontext seiner Zeit eingebunden ist. Mit Blick aufLanges Geschichte des Materialismus, zum Beispiel, wird man inzwischen kaumzögern, dessen Bedeutung für das Denken Nietzsches geradezu mit Schopenhauerund Wagner auf eine Stufe zu stellen. Besonders im Anschluss an die ForderungMazzino Montinaris, Nietzsches „ideale Bibliothek zu rekonstruieren“ (Montinari1982, S. 6), ist eine eigene Tradition quellengenetischer, kontextueller und verglei-chender Forschungen entstanden. In den Nietzsche Studien gibt es seit 1988 eineeigene Rubrik dazu (vgl. Ratsch-Heitmann / Sommer 2001) und eine Vielzahl vonAufsätzen und Monographien dokumentiert die Verbindung Nietzsches zu seinen

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Lektüren und seiner Zeit. Auch sind zwischenzeitlich diverse vergleichende undquellengenetische Studien entstanden, die in den jeweiligen Beiträgen dieses Hand-buchs zur Sprache kommen.

Hinsichtlich der wissenschaftlichen Kontexte Nietzsches sind gleichwohl nochimmer die Studie von Alwin Mittasch (1952, bes. S. 365–371) sowie die Ausführungenvon Karl Schlechta und Anni Anders zu den verborgenen Anfängen der PhilosophieNietzsches (Schlechta / Anders 1962) von grundsätzlicher Bedeutung. Eine allgemeineRekonstruktion der im weiteren Sinne philosophischen Lektüren hat Thomas Brobjerin seiner intellektuellen Biographie Nietzsches vorgelegt (Brobjer 2008), der auch indiesem Band mit einem Beitrag zu den wirtschaftswissenschaftlichen KontextenNietzsches vertreten ist. Neben einigen Beiträgen in den Sammelbänden von Babichund Cohen (1999) und von Heit, Abel und Brusotti (2012) enthält vor allem die StudieNietzsche in Context von Robin Small (2001) wichtige Beiträge zum Thema diesesBuches. Besonders hervorzuheben ist außerdem die Anthologie Nietzsche and Sci-ence, die Gregory Moore und Thomas Brobjer im Jahre 2004 herausgegeben haben.Darin findet sich neben Beiträgen zu Nietzsches Auseinandersetzung mit verschiede-nen Wissenschaften vor allem ein sehr nützlicher Überblick über seine naturwissen-schaftlichen Lektüren (Brobjer 2004). Insgesamt hat die Quellenforschung zahlreicheVerbindung Nietzsches zu seinem intellektuellen Umfeld herausgearbeitet und ist inmanchen Details sehr weit fortgeschritten. Allerdings fehlt es an einer Zusammen-schau, in der die verschiedenen Felder systematisch verbunden werden. Daher kon-statiert Moore mit Recht: „To date, work on the subject of Nietzsche and science hasbeen patchy, leaving a vacuum“ (Moore 2004, S. 9). Diesem Umstand leistet aller-dings auch der von ihm und Brobjer vorgelegte Band nur zum Teil Abhilfe, denn dievon ihnen versammelten Texte und auch sonst große Teile der bisherigen Arbeiten zuNietzsches wissenschaftlichen Kontexten fokussieren fast ausschließlich auf die Rolleder Naturwissenschaften. Das ist ohne Zweifel verdienstvoll, denn tatsächlich bestandhier besonderer Aufklärungsbedarf, immerhin sind große Teile der Bibliothek Nietz-sches und auch seiner Lektüren naturwissenschaftlichen Inhalts. Dennoch birgtdieser selektive Fokus die Gefahr, dem umfassenderen WissenschaftsverständnisNietzsches letztlich nicht gerecht zu werden.

Aus diesem Grund versammelt dieses Handbuch Beiträge namhafter Forsche-rinnen und Forscher zu Nietzsche im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit in einemdie Natur- Geistes- und Sozialwissenschaften umfassenden Sinne. Dabei verfolgen wireinerseits das Ziel, den Leserinnen und Lesern einen breit angelegten Überblick überden Stand der Forschung zu ermöglichen. Andererseits setzen die Autoren in ihrenFeldern jeweilige Schwerpunkte und markieren aktuelle Fragen und Probleme. ZumAuftakt des Handbuchs bietet eine detaillierte Übersicht, die Lisa Heller erstellt hat,eine umfassende Orientierung über den Aufbau und Inhalt des Bandes. Sie soll es denLeserinnen und Lesern erleichtern, sich einen Eindruck von dem Spektrum derbehandelten Themen zu machen und gezielt bestimmte Beiträge aufzusuchen. Darauffolgen zwei Beiträge zur grundsätzlichen Verortung Nietzsches im 19. Jahrhundert. In

4 Helmut Heit und Lisa Heller

dem Text von Helmut Heit wird im Stile einer Einleitung der Versuch unternommen,Nietzsche in den allgemeinen Zusammenhang der soziokulturellen und wissenschaft-lichen Dynamik seiner Lebenszeit einzuordnen. Gregor Schiemann erläutert sodannin einem konkreteren Sinne den Wissenschaftsbegriff Nietzsches, insbesondere imVerhältnis zu demjenigen von Hermann von Helmholtz. Im Anschluss daran widmensich die weiteren Abhandlungen detailliert dem Verhältnis Nietzsches zu einzelnenFächern. Hinsichtlich der Organisation des Handbuchs orientieren wir uns dabeiweitgehend an heute geläufigen disziplinären Differenzierungen. Ein erster Teil istden Naturwissenschaften gewidmet (im engeren Sinne Physiologie, Biologie, Physik,Medizin und Astronomie) während ein zweiter die Geisteswissenschaften behan-delt (Philologie, Geschichte, Philosophie, Linguistik, Religionswissenschaften) undein dritter die Sozialwissenschaften (Ökonomie, Politik, Soziologie, Psychologie).Dieser Aufbau folgt allerdings auch pragmatischen Gründen, denn die jeweiligenFächergrenzen entbehren nicht der Kontingenz. Zugleich ist im Auge zu behalten,dass Nietzsche sich für Probleme und Sachfragen interessierte und weniger für dis-ziplinäre Hoheitsgebiete. Aus diesem Grund verbindet er im besten interdisziplinärenSinne Einsichten etwa der Physiologie mit der Erkenntnistheorie, der Philologie mitder Physik, oder der Linguistik mit der Soziologie. Als Einzelne gelesen erlauben dieStudien, sich einen profunden Eindruck von einem jeweiligen Themenfeld zu ver-schaffen; in ihrer Gesamtheit ergeben sie ein möglichst umfassendes Bild der wissen-schaftlichen Kontexte Nietzsches, auch wenn dieses Bild niemals vollständig seinkann. Insbesondere spiegelt unsere breite Auswahl auch, welchen Problemkonstella-tionen und Lösungsansätzen Nietzsche besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat. Somöchte dieses Handbuch einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahr-hunderts leisten und zugleich eine Grundlage bieten für ein vertieftes Verständnis derZeitbedingtheit und Originalität der Philosophie Nietzsches.

Keimzelle der vorliegenden Edition war ein Workshop an der Technischen Uni-versität Berlin, der im Rahmen des Berliner Nietzsche Colloquiums von den Heraus-gebern veranstaltet worden war. Diese Veranstaltung wurde durch die finanzielleUnterstützung der VolkswagenStiftung und des Innovationszentrums Wissensforschungder Technischen Universität Berlin ermöglicht. Die in Berlin gehaltenen Referatewurden für dieses Handbuch grundlegend überarbeitet und systematisch durch wei-tere Beiträge ergänzt. Wir danken unseren Autorinnen und Autoren und dem deGruyter Verlag, insbesondere Christoph Schirmer für die Förderung dieses Projekts.

Berlin und PrincetonApril 2013

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Literaturverzeichnis

Babich, Babette E./Cohen, Robert S. (1999): Nietzsche and the Sciences. I: Nietzsche, Theories ofKnowledge, and Critical Theory. II: Nietzsche, Epistemology, and Philosophy of Science. Dord-recht et. al.: Kluwer.

Brobjer, Thomas H. (2004): „Nietzsche’s Reading and Knowledge of Natural Science: An Overview“. In:Gregory Moore/Thomas H. Brobjer (Hrsg.): Nietzsche and Science, Aldershot: Ashgate, S. 21–50.

Brobjer, Thomas H. (2008): Nietzsche’s Philosophical Context. An Intellectual Biography. Urbana:University of Illinois Press.

Heit, Helmut/Abel, Günter/Brusotti, Marco (2012): Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergrün-de, Wirkungen und Aktualität. Berlin, New York: de Gruyter.

Mittasch, Alwin (1952): Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph. Stuttgart: Kröner.Montinari, Mazzino (1982): Nietzsche lesen. Berlin, New York: de Gruyter.Moore, Gregory (2004): „Introduction“. In: Gregory Moore/Thomas H. Brobjer (Hrsg.): Nietzsche and

Science, Aldershot: Ashgate, S. 1–16.Moore, Gregory/Brobjer, Thomas H. (2004): Nietzsche and Science. Aldershot: Ashgate.Osterhammel, Jürgen (2009): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts.

München: Beck.Ratsch-Heitmann, Rüdiger/Sommer, Andreas Urs (2001): „Beiträge zur Quellenforschung. Register zu

den Bänden 17–30“. In: Nietzsche-Studien, Bd. 30, S. 435–473.Salaquarda, Jörg (1978): „Nietzsche und Lange“. In: Nietzsche-Studien, Bd. 7, S. 236–253.Schlechta, Karl/Anders, Anni (1962): Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines

Philosophierens. Stuttgart, Bad Cannstatt: Frommann Holzboog.Small, Robin (2001): Nietzsche in Context. Aldershot: Ashgate.Stack, George J. (1983): Lange and Nietzsche. Berlin, New York: de Gruyter.Wolff, Christian von (1965): „Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes

und ihrem richtigen Gebrauche in Erkäntnis der Wahrheit den Liebhabern der Wahrheit mit-getheilet“ [1713] In: Hans Werner Arndt (Hrsg.): Christian Wolff. Gesammelte Werke. I. Abteilung.Deutsche Schriften. Band 1. Vernünftige Gedanken (1) (Deutsche Logik), Hildesheim: Olms,S. 103–252.

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