Sperrzonen und Grenzfälle: Beobachtungen zu Herrschaft und Gewalt im kolonialen Kontext zwischen...

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Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft Band 27 Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes MAX - PLANC K - INSTITUT ZUR ERFORSCHUNG MU LT IREL IGIÖS ER UN D MULTIETHNISCHER G ESELLSCHAFTEN GÖTTINGEN 2008 Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes Historische Perspektiven Mit Beiträgen von Gadi Algazi, Jane Burbank, Kathleen Canning, Andreas Eckert, Michaela Hohk amp, Achim Landwe hr, Alf Lüdtke, Stefan Plaggenborg, William E. Scheuerman und Micl1ael Wildt Herausgegeben von Alf Lüdtke und Michael Wildt W ALLSTEIN VE RLAG

Transcript of Sperrzonen und Grenzfälle: Beobachtungen zu Herrschaft und Gewalt im kolonialen Kontext zwischen...

Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft Band 27

Staats-Gewalt:

Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes

MAX - PLANCK - INSTITUT

ZUR ERFORSCHUNG MULTIRELIGIÖSER UND

MULTIETHNISCHER G ESELLSCHAFTEN

GÖTTINGEN 2008

Staats-Gewalt: Ausnahmezustand

und Sicherheitsregimes Historische Perspektiven

Mit Beiträgen von Gadi Algazi, Jane Burbank,

Kathleen Canning, Andreas Eckert,

Michaela Hohkamp, Achim Landwehr,

Alf Lüdtke, Stefan Plaggenborg,

William E. Scheuerman und Micl1ael Wildt

Herausgegeben von

Alf Lüdtke und Michael Wildt

W ALLSTEIN VERLAG

GADI ALGAZI

I.

~~.entlieh gesprochen .befirtde-t sich Israel in ·einer perm,a­'P;&ut·~n ·Notst.andssitu.ation, gen3:uer g·esa.gt: in einem per­·mß:nent erneuerten vo·rüberg.ehenden Notstand_.2 Er wu·rde 'I·948 deklariert. B·is 1996 reicht€ eine einfac.he Re.gie­Xtl'n/g~·e.rklätu:ng, um seipe ·GeltU,ng für eine Periode von

.6 bi.s r ~ ~0.1:J~te~ zu verläng~rn·; seitdem mu·ss d·ies durch

d.iS: is~ailis.~he Parl:imeiit ratifizie~t Werden~ was .bisher

~iich geSCheheP i$~. ". ber N.o:tStaild ~rniäCfiif gr die Regie~ r,ung) N ot~tatiiiSeilasse (>i:EmerS,ellcy Regulatio~s«Y aus­ilisteilen, . die. ·se,h.i vet$~hiedene Lebe.nsb~relche tallgie-ren. ·oa:s B~ste&~n eines formellen Ausn'.ah'mezusiand . .s. i,st \:'örbeding9n:g·daf{ir, das.s· die älteren· briti;s:~hen No:tstands-

.y , " " ,„ ~

verteidigµ~seila:ss·~ . (;;n~:f ~nse . "(Eillerg~ncj) Regiila-ti_ons~< )~ cti.e für,Vafäsiina während der letzten Phas~n .des zweiten W~lt~riegs e;ia;sse~ worden waren, iin he~t.lgen IS.rael gliltjg bleiben. Teile diese"~ Korpu~ ·~on N~tstands­bestinimungen siqd heu.te ·tote 'Bucl1st~b~~- ~nder~ ~erden

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iiemli.~h. rege!n;aß;ig angewenilef; von der Eirizieh\lng pri-v~ter Pk.'Ys für militärische 'zwe,cke, Üb.e.r das· N ot.stands-

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arb~i~sdi~nstg·esetz,, das 'noc·h ,in der nicht a.llzu feT'r{en , ' '

Vergangenheit einges~tit wurde, u~·Streik~ in notwendi-„ " , >'

.g-~n bien;stle1·s.tung:s'beieichen zu unteib:inden ·bis' hi·n· ~ur "; 'li ; '< '< '

Preii;~egU.llerullg .urld der Einschrankµng d~r ß~Wegungs-freilieit, oie ·n ·emolietu.n.g v~n Hausern unct dt-e Deporta­tion von Me·ns.chen. Der Notstand' stellt zugleich , d~e le­_gal.e Basis des N otstand.sermäc·htigungsakts (>> Emergency

.. .:r-o.we·rs Act<<) von 1979 dar, welcher das Verteidigungs-

'Z ·:m1re ,-JD~,sku-ssio·n hat weitere Belege ·dafür e:rbrae'ht, dass -die Unter­·se,h~'i4u:ilg0zwi~Ghen Ausnahmez4st~n9 -(state 6f excepti<:Jf,l). unq Not­:st"ä:ttd-.(·state ·of em€r·gency) bedeutsam und fru~htb~r sein kann auch ·wenn .beide. 0.ft .. a:Is· S,ynonyme verwendet 'Werden. '

'

SPERRZGNEN UN·D .G.RENZFÄLLE

minis.t€ri-u;~ (~a.s .wor·tli,e.h ~~c.h :d.aß ~:>-Sicherheits,minis·te­

rium<<' .hejß_~-~:„~ti:~oris:i~xt, ~ers.onen für bi·s zu. 6. Monaten

in H:i:f:t zu neh:cne·11 ·( >->..~:dmini:s~t.ative, de.t.en·tio n << ), o:hne. A·nkl~ge ''0r:h;yben zu· müs~sen. Ad_ministrative Haft ist im p:liinzip unb:egrenzt verlängerbar, doch unterl·iegt sie der

r.ichter.li.ohe:n· Priitung. Di~e .Häftlinge:· könne:n si~h zwar

durch. Arrwoälre vewetea la~sen, be.i seiner Entscheidung darf. S:t~h das Geticht ,aber auf~ :vettJ:aul·i,ch~ Informationen

S'tü:tzen, ·zu welc.h~n di'.e Verh:~fte-ten und selb·s't ihre ' ,

~>e.cfit~anwälte: kein·en .zu.gang h:aben.

·r 9:97 ·wies· das ·israeli:sche O ,bel's,te Gericht die Regierung an, alle G,eset~·€;~st.iic,k,e zu widerru·f en oder zu etse:tzen,

d:erep Geltung VO"tl der E.xistenz eines f(>rmell bestehen­d.en ,N o.tsta·nrls~ ,flibhäng~t. :Alle nachf·ol-genden. Re.gieru·ngen hab.e.~ e_s-. ve~sttumty ·dies zu eun. ~Eig·entlieh wurde der Not­Sit-and :s·ehctn vier .:J1:ag.e. nach S:taa:t-s:griihdung· proklamie-rt, do.€h die Ktiegs;si.tuati'on. h~t längst ·i_hre.n Platz einer be­qu~~en rechtlichen Fikti'.On. ü:b.erlassen, die ein"e ganze Reihe v:on ·st)nctetmaßnallmen .mö·glich mac·h·t. Viele vo.n di:es,ert haben.:~:aum etwas· mit g-icherheit zu tun, ·nicht ein-

1 . . . s· D' ma Im · · · · · · · · ''' ' we1te,sten :Inn. ' le N .ots\tandsbes·timmungert

wutd.en - beso·nd.ers bis I 966-- dazu eingesetz.t, die politi­se;he Akt,jvität. der arab,ischen Bür.ge·r IsraEfls unter K·on­

trolle .zu halten. In d.en fiinfzig·~r ·und sechziger Jahren

durftet). ar·abi~sche B'ijrger· d;ie =>Sieherh.eitsz:one·n<, :in denen di;e· .m,ei;s-ten: von ihnen lebten, ohne Erlaubni,sschei.n ,de.r Militäirl1ehovl1e nit::h:t v:erI.assen. Ganz besonders trafen

A uf\m"thalts-· und Arbeitsbeschränkungen policisc:he Ak­tivistei=l "7·v:oF allem Kommunisten und Nationalisten,. Die geschl·c1ssenen Militärzonen., u·rsprüngli,ch als Sicherheits­s·treifen e:n-t:lang ls'raels ri.eu,e·r Gtenze,n nach dem Kti·eg

von 194.8 .defini~rt„ :s.te1lten ,sich als elastis'.ch g·eµu-g her~,us,

GADI ALGAZI

um nach Bedarf ausgedehnt und neu definiert zu werden.3

Sie dienten dazu, die Bewegungsfreiheit palästinensischer

Bürger einzuschränken und das zionistische Siedlungs­

projekt zu unterstützen; Ackerland wurde für die Bauern

unzugänglich gemacht, um später als unbebautes Land

enteignet zu werden.4 Innerhalb Israels wurden diese

Maßnahmen bis in die späten sechziger Jahre hinein re­

gelmäßig angewandt. Nach 1967, mit der militärischen

Besetzung von der Westbank, den Golanhöhen, dem Si­

nai und dem Gazastreifen, fanden sie breite Anwendung,

um jenseits der Bekämpfung militärischen Widerstands

politische Opposition jeder Art einzudämmen und der

israelischen Kolonialpolitik den Weg zu ebnen.

Menschenrechtsgruppen, kritische Juristen und Oppo­

sitionelle in Israel und anderswo haben schon längst in

diesem formal proklamierten Notstand ein geschmeidi­

ges polit.isches Instrument erkannt, das einem Staat, der

stolz auf seine demokratischen Institutionen ist, erlaubt,

seine erklärte Verpflichtung zum Respekt von Menschen­

rechten und Freiheiten zu umgehen. Das ist nichts Neues.

Wir haben gelernt, dass demokratische Institutionen und

Grundrechte äußerst zerbrechliche Wesen sind, für Ge­

fahrwahrnehmung und Sicherheits.diskurse höchst emp­

findlich. So sind wir Menschen auch.

Vielleicht hilft uns die zeitliche Struktur dieses Not­

stands, seine Eigenart besser in den Griff zu bekommen.

Ein Notstand wird in der Regel als eine momentane Ab­

weichung von der Regel wahrgenommen, als eine vorüber­

gehende Situation, die von außerordentlichen Umständen

3 Menachem H ofnung, Democracy, Law, and N ational Security in Is­rael, Dartmouth r 996.

4 Sabri Jiryis, The Arabs in Israel, New York 1976, S. 16-18, 26.!30.

SPERRZONEN UND GRENZFÄLLE

abhängt. Beides scheint für seine Akzeptanz als eine legi­

time Divergenz von akzeptierten Normen erforderlich

zu sein. Achtundfünfzig Jahre Notstand, wie im Falle Is­

raels, scheinen diese Vorstellung aber doch überzustrapa­

zieren - bei allem Respekt für Kriege und militärische

Auseinandersetzungen unterschiedlicher Intensität. Eine

Notsituation verweist auf die Unmittelbarkeit des Mo­

ments und seine eindringlichen Bedürfnisse. Doch in die­

sem Fall stützt sie sich auf eine spezifische Zeitwahrneh­

mung und verstärkt sie zugleich - eine ausgedehnte

Gegenwart, die die Schwankungen zwischen Zeiten rela­

tiver Stabilität und tatsächlichen militärischen Konfron­

tationen ignoriert, um stattdessen eine tief er liegende

Struktur permanenten Kriegs heraufzubeschwören. Ge­

wiss haben israelische Regierungen diese Vorstellung re­

produziert und ideologisch ausgenutzt. Gleichwohl bleibt

die Effektivität offizieller Diskurse sozial und kulturell

bedingt; wenn sie nicht nur Schein sind, liieren sie sich

mit Strukturen der gelebten Erfahrung. Auch der Sicher­

heits- und Notstandsdiskurs, der ständig eine unmittelbar

gegenwärtige Gefahr beschwört, aber auch überspielt, ver­

weist indirekt auf eine tiefere Unsicherheit. Er ignoriert

und maskiert sie, benutzt sie ab·er zugleich.

Der Notstand soll gegenwärtige Gefahr effektiv abweh­

ren können. Er beruht auf der Versicherung, gefährdete

>Sicherheit< durch legitime Gewalt und militärische Maß­

nahmen wiederherstellen zu können. Doch ständig ver­

längert und immer neu deklariert, wird das eigene Ver­

sprechen Lügen gestraft. Gleichzeitig schuldet er sowohl

seine Effektivität - nicht bloß als legale Fiktion, sondern

als formende Kraft des sozialen Bewusstseins - wi·e sein

subversives Potential dem Tatbestand, dass er auf eine

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GADI ALGAZI

unausgesprochene Gefahr verweist. Denn er zeigt in­

direkt jenseits der momentanen, täglich verwalteten Ge­

fahren eine langfristige, bleibende strukturelle Gefährdung

an, die der Gefahr-und-Sicherheit-Diskurs ignorieren

muss: Langfristig kann Israel im Nahen Osten nicht als

eine >>Villa mitten im Dschungel<< (in den Worten des

ehemaligen Premierministers Ehud Barak) existieren, als

>>ein Stück des Walles gegen Asien<< oder eine Gesell­

schaft, welche >>den V orpostendienst der Kultur gegen die

Barbarei<< zu besorgen hat (in der alten, doch immer noch

relevanten Formulierung des Begründers des politischen

Zionismus, Theodor Herzl).5 Der permane-nt verlänger­

bare temporäre Notstand führt zu einem dead end. Auf sichtbare, momentane Bedrohungen immer wie­

der verweisend, rührt die Evokation von Sicherheit und

Notstand an Ängste und strukturelle Gefahren, welche

ebendieselbe Politik in Frage stellen, die immer wieder

Sicherheit durch militärische Überlegenheit und den

Rückgriff auf Waffen versprochen hat. >Sicherheit< ver­

mag Hoffnungen zu erwecken, die ein Mini.sterium für

Sicherheit nicht erfüllen kann. Neben der nötigen kriti­

schen Analyse o·ffizieller Geb·rauchsweisen von >Sicher­

heit< und >Notstand< müssen wir diese Worte und ihre

soziale Resonanz ernst nehmen - bei der administrativen,

von Militärs und Sicherheitsexperten geprägten engen

Definition nicht haltmachen, um sie auf sedimentierte

Alltagserfahrungen zu beziehen. Die politische un·d so­

ziale Effektivität vom >Ausnahmezustand< liegt nicht in

5 Ehud Barak, Address to the Plenary Session of the National Jewish C-ommunity Relations Advisory Bo,ard, St. Louis, USA, 1r .. 2.1996; Theodor Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Berlin/Wien 1896, S. 29.

SPERRZONEN UN.D GRENZFÄLLE

seiner formalen, zunächst inhaltsleeren Definition als •

Ausnahme, sondern in der glaubhaften Evokation der

Not; erklärt wird sie ebenso wenig durch die bloße Be­

stimmung der Instanz, die ihn verhängen kann, als viel­

mehr durch die sozialen und kulturellen Bedingungen

seiner Ak·zeptanz. Und diese bringt wiederum neue Ver­

flechtungen mit sich: Wer nicht bloß von einer formalen

Ausnahmesituation, sondern von einem Notstand glaub­

haft zu sprechen versucht, hat einen Ausweg aus der Not

in Aussicht zu stellen. Das Spielen mit Sicherheit ist selbst

gefährlich. Wenn sich ein Notstandsdiskurs aus tiefer

Unsicherheit spe:ist, so verweist er zugleich auf eine zeit­

liche Perspektive, die außerhalb des durch die politischen

Machthaber verwalteten Moments und jenseits der nächs­

ten und übernächsten erfolgreich geführten Konfronta­

tion liegt - eine historische Perspektive.

• II.

Die Notstandserlasse sind ein koloniales Erbe, zunächst

in einem einfachen rechtlichen Sinne: Wie viele andere

Besonderheiten der israelischen Verfassung schulden sie

ihre Form der britischen Mandatsherrschaft (1920-1948).

Mit der Unabhängigkeit erbte der Staat Israel die Macht­

fülle des britischen Hochkommissars für Palästina. Dar­

aus resultieren das Übergewicht der Exekutive und die

deutliche Schwäche lokaler Kommunen gegenüber der

Zentralregierung. Die Notstandsbestimmungen wurden

zunächst erlassen, um die arabische Rebellion (1936-1939)

zu unterdrücken, und später, nach ihrer Kodifikation

194 5, gegen jüdische Opponenten der britischen Präsenz

in Palästina angewendet. Zionistische Juristen und Politi-

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·.

d€r k@lonialen Vergangenheit. Die Nots·tandsm.aßnahmen b'est.e·hen. weiter, weil sie in der· 'kolo.nialen ,'Ge.genwart

ihren,S.it·z im„,Le'b:€n haben. Koloniale. Situ.ationen unter­gr:ahen die herkömmlichen Untersc·heidunge·n zwi·schen Krie.g und Frieden; sie si·n:d vi-elmehr durch andau.ernde, endeJnisch.e. Feindseligkei.ten ch.;itakterisiert und zwingen

u·ns-:.d.adur~ch, Krieg als eine:n zent.v:alen Aspekt eine-r um­

fassend-en sozialen Transf orma;tion zu begreifen ...... in. die­

sem F.all, des. ko:lonialen Prozesses.~6 Ein ständig .erneuerter Notstand $'Cheint ene:n:dies, zu ar;tikutier:e.n: weder Krieg noch .Frieden,, ,ständige S·chw.ankungert'und, unvorherseh­

bar,e. Entgleis.ungen zwi.schen r.elative:r Ruhe. und. immer •

wiederkehrender low intensity~ warfare. ßoch,viel ·b·edeut-' samer ist, dass N.otstan.dsbestimmun~g.en eine eminente

Rolle im kolonialen Prozess gespielt h.aben, inne,rhalb. Is­

raels wie auch in ,den seit 1967 militärisch besetzten Ter­ritorien. In ,.Israel halfen .sie, unter :B.eibehaltu·ng ziviler

Rahmenbedingungen, die paläs·ti.nensische Minderhe~it~ zu entei,gnen„ In den b.esetzten Territorien b.oten die Not·-

d b ··· b . M.. i ·· hk. .. f .. d.. ·u stan s. est1mmungen reite .· . og io · ei·ten ·u.r ie . nter-wer:fun·g der Bevölk.erung un.d die Schaffung r,e·cht.sfreier Räumer ·die· für die ungehemmte Entfaltung kolonialer Pr .. o·J~;o,k·te ·s· o n·· o·· ti~ g·· s· 1~·n· ·d·· · .. ·· ·····. .: · · · ·· ··. ·· · .. · ··.· · :·.: .:: ·· .:. · · · ··· · · ·· · .. :·. · ·.· ·· ·. · ' '.· . ~ . ' .·: ... ' '.· .· . .. : . . ' .• , .. :::·:: ·: :: .. ·.: ·=·=·· ···:.::··;~:. ": ::.:- : .. :.:-·: .... ·· .· >·: .: :· .. : ·. · .. =.· -~· ": :·":· .. : .. :· :_=:.:.:;:· :·: <· -:~ :. :

· :<-:: Dies erklärt in hohem Maß,e, wie.so .der Staat Israel; ,der

seit.s;einer Grün:dung einen umfassenden Institutionalisie-­

run:gsprozess du.rchlaufen hat, es vermeidet, die Not-·.

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6 H. L. Wesseling, Imperialism and Colonialism; Es·says on the His­. tory ,of Eurbpean Expansi.on, West_port, Co·nn., 1997, 3-26.

31S

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SPERRZONEN UND GRENZF.ÄLLE

standserlasse durch o.rdentliche .Gesetzgebung zu e:rset­zen. Diese Spannung klingt auch im Argum·ent isra:elischer Menschenrechtler mit, die Regierenden würden befürch­ten, s,olc.he Ge,s:etze - abg·eschwächte funktionale Äquiva~

len·te der alten Notstandserlasse - hielten der richterlichen

.Prüfung nicht stand„7 Es, ist, als ob der Staat davor zurück­schr·ec:kt, seine eigene T~rans.f ormation in einen Rechts-

.

staat zu vollenden. Er zieht die imp·rovisi.erten Lösungen und, peinlichen histori,s,chen Re.likte ·der briti·schen _Herr­schaft -dem due pro·cess und f ormgemäßer Gesetzge:bung vor. Auf dies-e We·ise hinterlässt der koloniale Prozess seine Spuren auch im Staat sel.bst, .denn er erford.ert stä.ndige Entgrenzung zur Aufrechterhaltung des Siedlungsimpe-, tus und. zugleich die Verflüssigung feststehend-er Struk­

turen, bürgerlicher Kontrolle und formaler Regeln,. Die Siedlerbewe.gu.ng hat ebendies zum Ziel: nicht nur die ge ... waltsame Neugest:altung der physischen und sozialen

~ .

-Landschaft der eroberten Gebiete, sondern zugleich die Veränderung der israelische:n Gesellschaft. Das mobile, ständig in B'.ewegun.g befindliche colo.nial frontier soll rück~ wirkend die schon etablierte.n S.trukturen aufrütteln, die ganze Gesellschaft auf ihre kolonialen Ursprünge zurück­

fü.hren. Zaunanlagen, Mauern und Straßensperren fü.llen die Landschaf-t der Westbank., aber den Aktionen von Soldaten und Siedlern -sind kaum Schranken gesetzt. In

dieser Hinsicht stellt sie ein überzei:chnetes Bild von Is­

rael selb,st dar; ,eine Siedlergesellschaft, die vermeidet-· oder sich unfähig finde:t, - sich nieder·zulassen und sich zur Ruhe zu :setzen_, eine, welche in der Lage ist, di.e Koloni-

.. . . . . . . . . . . . .·. .

. . . . . . . . . . ... .. . . . . . . . . . . . .

7 Yuval Yoaz, >>A State in Emergency<<, Haaretz, r9.6.2005. . .

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319

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GADI ALGAZI •

sierten zu befrieden, aber nicht selbst den Frieden zu er­

reichen. Der Notstand herrscht.

Es ist also verlockend, den Staat Israel und die Palästi­

nensische Autonomiebehörde (Palestinian Authority) als

ein ungleiches Paar anzusehen, das in wichtigen Hinsich­

ten ein Spiegelbild voneinander abgibt. Auf der einen Seite

gibt es einen etablierten Staat, der dem Prozess von For­

malisierung und Institutionalisierung ausweicht - sich

etwa eine formale Verfassung und ein System bindender

Regeln zu geben, die eigenen Machtmittel Rechtsnormen

und öff entlieh er Kontrolle vollständig zu unterstellen,

wie ein idealisiertes Bild rationaler Herrschaft nach W e­

ber' schem Muster es erfordert hätte. Vielmehr vermeidet

er, seine Grenzen - territorial wie normativ - zu definie­

ren, und zieht temporäre W aff enstillstandslinien und einen

andauernden Notst.and vor. Auf der anderen Seite findet

sich ein Staatsgebilde, das alle formalen Elemente staat­

licher Herrschaft aufweist, doch ein gekapptes Staatspro­

jekt bleibt, mit allen Insignien der Macht ausgestattet,

doch mit wenig tatsächlicher Macht. Der Palästinensi­

schen Autonomiebehörde wird ein zersplittertes T errito­

rium zugewiesen; die Zuerkennung politischer Verant­

wortung geht mit weitgehender Abhängigkeit von Israel

einher, das - über seine militärische Oberherrschaft hin­

ausgehend - auch Gütermärkte und Melderegister, den

Zugang nach außen sowie lebensnotwendige Ressourcen

wie Land, Wasser und Energie kontrolliert. Von >unten<

und >oben<, durch globale Institutionen und lokale NGOs

unterminiert, kann die Palästinensische Autonomiebe­

hörde ein Gewaltmonopol nicht durchsetzen, weder Israel

gegenüber noch gegenüber lokalen bewaffneten Gruppen

und ihren Patronen.

320

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SPERRZONEN UND GRENZFÄLLE

Dennoch sind die beiden miteinander verschränkt. In

den Augen der israelischen Elite war und ist es die Funk­

tion der Palästinensischen Autonomiebehörde, das Elend

der Palästinenser zu verwalten, Israel von seiner Aufgabe

als Besatzungsmacht, für das Wohl der Bevölkerung in den

besetzten Gebieten zu sorgen, zu entlasten und vielleicht

auch die Kosten der militärischen Okkupation zu min­

dern. Dies ist ohne Zweifel eine widersprüchliche Auf­

gabe, und tatsächlich hat sich die Palästinensische Auto­

nomiebehörde zuweilen als widerspenstig erwiesen. Sie

ist weder ein fügsamer Sublieferant von Sicherheitsdiens­

ten für Israel noch ein unbeugsamer Widersacher gewor­

den. Israel schwankt daher ständig zwischen indirekter

Herrschaft mittels halbverlässlicher Gegner und voller

direkter Kontrolle der Palästinenser. Auf der palästinen­

sischen Seite hat es wiederum nicht an Kritikern geman­

gelt, die - besonders seit 2000 - die Palästinensische Auto­

nomiebehörde öff entlieh dazu aufgerufen haben, ihre

eigene Auflösung zu proklamieren und dadurch Israel

herauszufordern, die Kosten der Besatzung und die Ver­

antwortung für die Not der Okkupierten zu überneh­

men. Das ist bisher nicht geschehen, nicht nur deshalb,

weil die Palästinensische Autonomiebehörde für viele

immer noch für die Hoffnung auf Unabhängigkeit steht,

sondern auch, weil Machtpositionen - mögen sie noch so

schwach, derivativ und widersprüchlich sein - nicht leicht

aufgegeben werden. Beide Seiten, ungleich wie sie sind,

das israelische Establishment und die palästinensische

Elite, wahren also den Schein - miteinander und gegen­

einander - und höhlen ihn gleichzeitig ständig aus.

Vielleicht ist diese Situation gar nicht so außergewöhn­

lich, wie sie zunächst aussieht. Diese Form von Herr-

321

-

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GADI ALGAZI

schaft lässt sich auch als eine moderne Form des Aus­

lagerns (outsourcing) der Kosten des sozialen Elends

durch die Aufrechterhaltung einer Fiktion von Autorität

begreifen. Starke Staaten brauchen schwache Staatsge­

bilde - nicht nur, um möglichst fern von >zuhause< rechts­

fr·eie Zonen zu schaffen, in denen der Ausnahmezustand

vorherrschen kann, sondern ganz allgemein, um die >zu­

hause< vorhandenen sozialen Schranken und öff entliehen

Kontrollen zu umgehen. Schwache Staatsgebilde ihrer­

seits mögen sich als cunning states erweisen. 8 Aus dieser

Perspektive erscheint das koloniale frontier unter dem

Schirm scheinbarer politischer Autonomie als ein Grenz­

fall neoliberaler Outsourcing-Politik. Eine widersprüch­

liche, konfliktreiche und dennoch funktionale Arbeitstei­

lung zwischen ungleichen Partnern mag dabei entstehen.

Herrschaft, auch moderne staatliche Herrschaft, ist kei­

neswegs so einheitlich, total und formal erfassbar, wie sie

oft imaginiert wird. Kombinationen vorgespielter Souve­

ränität und informeller Kontrolle dürften also eine Zu­

kunft haben. Und lokale Eliten werden oft versucht sein,

die ihnen zugewiesene Rolle mit gemischten Gefühlen zu

übernehmen, was wiederum undurchschaubare Gemenge­

lagen von Mitmachen und Widerspenstigkeit, Kollabora­

tion und Auflehnung hervorbringt.

8 Shalini Randeria, Cunning States and Unaccountable lnternation~l Institutions: Social Movements and the Rights of Local Commun1-ties to Common Property Resources, in: E uropean Journal of Sociol­ogy 16 (1003), S. 27-60.

322

SPERRZONEN UND GRENZFÄLLE

III.

Nun etwas konkreter: einige Bilder unterschiedlicher

Komplexität. Das erste zu autorisierter Gewalt. Es ist

Frühling 2004; ich sitze im Gerichtssaal der Stadt Kfar

Saba und schreibe Notizen. Diesmal steht ein Siedler vor

Gericht, weil er auf einen Friedensaktivisten geschossen

haben soll, meinen Freund und Kollegen A., einen Latinis­

ten. Im 0 ktober 2002 schlossen sich Gruppen israelischer

Aktivisten palästinensischen Dorfbewohnern in der

Westbank bei der 0 livenernte an. Jahre kontinuierlicher

Schikanen der Siedler machten viele Felder zu no-go areas

für Palästinenser; sie wurden durch militante Kolonisten

faktisch enteignet. Die gewaltlose Teilnahme an den Ernte­

arbeiten sollte den Palästinensern helfen, ihre Haine wie­

der in Besitz zu nehmen; die Teilnehmer sollten ihnen im

Fall von Angriffen durch die Siedler beistehen.9 A.s

Gruppe schloss sich den Bewohnern von Einabus an,

einem Dorf in der Region von Nablous, und wurde tat­

sächlich von bewaffneten Siedlern aus der benachbarten

Kolonie angegriffen. Die Siedler schossen in die Luft, bis

fast alle zur Flucht gezwungen waren. Als die Siedler­

gruppe näher kam, blieb A. bei dem Olivenbaum, dessen

Früchte er erntete. >>Schieß ihm auf die Beine<< , soll einer

der bewaffneten Siedler .dem anderen gesagt haben; jener

beugte sich nieder und eröffnete das Feuer. Die Kugel

traf auf die Erde ganz nah bei A. - so zumindest glaubte

er. Erst zwei Tage später, als er mit hohem Fieber ins

9 Zum Kontext: Danny Adino Ababa, Meron Rapaport, Oron Meiri, >> The Battle of the O live<<, und Meron Rapaport, >> U prooted<<, Y e­di' ot Acharonot, Supplement, 22.1 r.2002; englisch: Journal.cf P~les­tine Studies 32 (2003), S. 94-roo; deutsch: >>Die 'Schlacht um die Olive<<: www.anis-online.de/ r/esays/gastessays/o6.htm (Stand: 1.6.2007).

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GA.DI ALGAZI

Kranke.nhaus eingeliefert wurde, hat er erfahren, dass er verwundet worden war. Ein Splitter hat'te seinen Magen

durchbohrt und musste chirurgisch entfernt werden. Es hat schon nicht wenig Mühe gekostet, A. dazu zu

bringen, Ankla:ge zu erheben. Palästinenser, meinte er, werden täglich erschossen; warum sollte sein Fall beson­ders behandelt we·rden?10 Doch. letztendlic'h ließ er sich überzeugen und ging zur Polizeistation in Ariel - einer der größten, mehr als 20.000 Einwohner starken Siedlun­gen in der Westbank - um den Fall registrieren ,zu lassen. ·Sie könnten wenig tun, meinten die Polizist.e:n, denn es sei äußerst schwierig, den Täter z·u identifizieren. A. hatte auch nicht den Eindruck, dass sie sich viel Mühe geben würden. Doch wenige Wochen später, beim Surfen im Internet, stieß er überraschenderweise auf einige Photos, die ein anderer Aktivist von der gewaltsamen Auseinan-

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dersetzung auf den Hügeln von Einabus gemacht hatte. Er erkannte. darin den Mann, der auf ihn g:eschossen hatte. Hier war ein sehr seltener Fall von klarer Identifi~ zierung - oder so schie:n es zumindest, bis die Gericht:s­

verhandlung begann. In seiner Beschreibung der Statur des Täters verwen­

dete A. ei.nen nicht häufig gebrauc,hten Ausdruck, der, wie sich herausgestellt hat, von den Polizeioffizieren missverstanden wurde. Die Polizei versäumte es auch, die elementarsten Untersuchungsroutinen durchzufüh­ren. Doch schwerwiegender war die Tatsache, dass der Angeklagte sich auf entlas~ende Zeugenaussagen anderer Siedler verlassen konnte. Als sich die Sitzung ihrem Ende

ro Siehe Chris McGreal, >>Bitter Harvest Groves,<< The Guardian, 14.11.2003.

in West Bank;s Olive

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SPERRZONEN UND GRENZFÄLLE

näherte, wurde klar, dass die Chancen einer Verurteilung sehr gering waren.

Das ist kein isolierter Fall. Nach der Statistik von Yesh Din, einem israelischen Menschenrechtsverein, verhan­d.elten israelische Gerichte zwischen September 2002 und September 2005 392 Fälle israelischer Bürger, die wegen krimi.neller Straftaten im nördlichen Teil der Westbank angeklagt wurden. Nur r r von ihnen waren wegen Straf­tate.n gegen Palästinenser angeklagt und lediglich vier wurden tatsächlich verurteilt. 1

i Diese Zahlen bestätigen nur ein all:zu bekanntes Bild: Auf den Hügeln der West­bank sind die Siedler die wirklichen Herrscher vor Ort. Dieser ·Tatbestand ist keinem punktuellen Versäumni.s de·r Staatsgewalt geschuldet; er widerspiegelt dere.n tat­sächliche Macht. Wenn wir Macht nicht rein formell de­finieren, sondern sie auch im Sinne der Fähigkeit verste~ hen, soziale Beziehung·en umzustruktu.rieren bzw. die sof,iale Landschaft zu verändern, wird klar, dass die Sied­ler die eigentl:ichen Machthaber sind.

Der koloni.ale Prozess ist kein Anhängsel der staatlichen Kontrolle oder der militärischen Gewalt, keine bloße Übertretung der Normen militärischer Okkupation. Die

Kolonisation ist das Herz des Ganzen; militärische Kon­

trolle stellt aus dieser Perspektive eher den Schutz,schild dar, der die ungehemmte koloniale Transformation der Westbank möglich macht,. D·ie israelischen Militärs und Polizei erklären oft, dass sie angesichts der Gewaltsamkeit der Siedler hilflos sind. Das ist sicherlich oft ein bloßer Vorwand für Nichtstun, doch es gibt auch einen Kern

l 1 Esti. Ahar:onovich 1,fnd Yuval Y oaz, Settlers above the Law, Haa­retz, 26.1.2006.

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GADI ALGAZI

Wahrheit darin: Der Staat ist nicht in der Lage, seine Ge­

setze gegen Taus ende bewaffneter Siedler durchzusetzen,

die eine Reihe formaler und informaler Immunitäten besit­

zen, ständig vor Ort präsent sind und solidarisch gegen je­

den Einmischungsversuch von außen auftreten. Gegenüber

einer solchen geschlossenen Grup·pe - einer sozialen Be­

wegung, für die Schikanen und Terror keine individuellen

Straftaten sind, sondern Teil einer kollektiven politischen

Strategie und ein zentrales Element der Kolonisation -

werden die Grenzen individueller Straftatverfolgung sicht­

bar. Man könnte gewiss auf kollektive Strafe zurückgrei­

fen, aber sie ist bekanntlich Palästinensern vorbehalten.

Die Situation ist noch komplexer. Der angeklagte Sied­

ler versuchte nicht nur zu behaupten, dass er vielleicht gar

nicht derjenige ist, der während der Olivenernte geschos­

sen hatte. Er machte noch ein grundsätzlicheres Argument

geltend: Er sei nämlich nicht irgendein Hooligan, son­

dern Recht und Ordnung in Person. Er hatte zwar keine

Uniform getragen, trat aber damals am Ort als das Haupt

der lokalen Siedlungswache auf, die zwar relativ autonom

operiert, aber der Armee angegliedert ist. Er war also kein

anonymer Krimineller, sondern den Soldaten gut bekannt

als derjenige, der für die Koordinierung von Sicherheits­

fragen mit den lokalen Armeeeinheiten zuständig ist.

S.icherheit war seine Sache und er sei damals an die Stelle

gekommen, um Frieden wiederherzustellen. Er war eigent­

lich der Einheimische; wären diese Unruhestifter, von

außen gekommen, um angeblich den Palästinensern zu

helfen, nicht dabei gewesen, hätte es keine Probleme mit

den Arabern gegeben. 'Die kennt er ja sehr gut.

Damit sollte unser Blick von den Beschränkungen

staatlicher Durchsetzungsfähigkeit im kolonialen Grenz-

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SPERRZONEN UND GRENZFÄLLE

raum hin zu der eigentlichen Allianz zwischen Staat und

Siedlern gelenkt werden. Macht - auch moderne Macht -

operiert hier mittels einer komplexen Arbeitsteilung zwi­

schen staatlichen Organen und sozialen Bewegungen, den

Siedlergemeinden, ihren Vereinen sowie den ihnen nahe­

stehenden Unternehmen. Es ist zweifelsohne eine kon­

fliktreiche Kooperation, aber eine, die immerhin auch in

Krisenmomenten weiter besteht - man denke nur an die

enormen staatlichen Subventionen und die massiven In­

vestitionen in der Infrastruktur der Siedlungen. Entgegen

einem Bild eines allmächtigen Staats, der die Bevölkerung

voll im Griff hat und ein Monopol der Gewaltausübung

besitzt, sind wir hier mit einer nicht weniger wirkungs­

vollen Form von Herrschaft konfrontiert, in der die ko­

loniale Dynamik eine enge Kooperation - und gelegent­

lich sogar die Übertragung von Autorität - zwischen

Staat und >>Zivilgesellschaft<< erfordert. 12

Wie außergewöhnlich ist dies? Mag es sein, dass wir es

hier lediglich mit einem Grenzfall eines verbreiteten

Trends zu tun haben? NGOs (Non Governmental Orga­

nizations) und GoNGOs (Governmental NGO's), private

Armeen, Sicherheitsunternehmen und protection brokers

als ökonomisch und politisch agierende Mitspieler, die in

enger Tuchfühlung mit politischen Organen operieren

und zuweilen sogar hoheitliche Funktionen ausüben, sind

nicht nur zwischen Israel und Palästina zu finden, sondern

auch anderswo in der Welt. In der Westbank selbst gibt es

vielleicht kein besseres Beispiel als der berühmt gewor-

r 2 Vgl. die Beobachtungen von Shalini Randeria, Zivilgesellschaft in postkolonialer Sicht, in: Jürgen Kocka, Paul N olte, Shalini Randeria und Sven Reichardt (Hgg.), Neu.es über Zivilgesellschaft. Aus his­torisch-sozialwissenschaflicl1em Blickwinkel, Berli112002, S. 81-103.

GADI ALGAZI

dene >Trennungszaun< - eigentlich ein ganzes System von

Zaunanlagen, Kontrollpunkten und Passierscheinen: vom

Staat angeblich aus Sicherheitsgründen unternommen

und finanziert, von privaten Bauunternehmen gebaut und

dabei durch schlechtbezahltes Sicherheitspersonal be­

wacht, do·ch nach Fertigstellung als militärische Anlage

durch israelische Soldaten bemannt - bringt der Zaun

enorme Profite für die in den Kolonien tätigen Baukon­

zerne, deren Immobilieninvestitionen er sichert. 1J

Wir brauchen uns keine Verschwörung zwischen Staat

und Siedlern vorzustellen. Sogar >objektive Komplizen­

schaft<, um einen beliebten Ausdruck Pierre Bourdieus

zu gebrauchen, suggeriert zu viel und kann der Viel­

schichtigkeit alltäglicher Situationen nicht gerecht wer­

den. Denken Sie an die in der städtischen Sie·dlung Ariel

stationierten Polizisten, die es versäumten, eine ordent­

liche Untersuchung im Fall der Schießerei während der

Olivenernte durchzuführen. Ich selbst habe sie nur ge­

troffen, wenn ich verhaftet wurde oder wenn ich zum Re­

vier kam, um zu helfen, andere Solidaritätsaktivisten aus

der Haft zu befreien. Viele von ihnen waren über die

Siedler tatsächlich empört: Sie hätten die Hooligans satt,

müssten anderes und wichtigeres tun, als auf den Hügeln

militanten jungen Siedlern, die in. kleine und große

Zwischenfälle involviert waren, nachzujagen.

Dabei handelt es sich um mehr als einen Sinn für Recht

und Ordnung oder den Frust der täglichen Polizeiarbeit.

Im Frühjahr 2001 befanden wir uns in einem militäri­

schen Fahrzeug auf dem Weg zur Polizeistation in Ariel,

13 Vgl. Gadi Algazi, Kapital, Kolonialismus und ziviler Widerstand in der Westbank1 in: H istorische Anthropologie r 4 (2006), S. 441 -

456.

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SPERRZONEN UND GRENZFÄLLE

um verhört zu werden. Wir wurden verhaftet, weil wir

mit einer großen Gruppe die Belagerung des palästinen­

sischen Dorfs Y assouf gebrochen hatten, um den Ein­

wohnern Grundnahrungsmittel zu bringen, u.nd an einem

gemeinsamen Demonstrationszug durch das Dorf t·eil­

nahmen, un1 gegen die Besatzung zu protestieren. Nun

fanden wir uns, ziemlich erschöpft, im Patrouillenfahr­

zeug auf dem Weg nach Ariel.

Durch die Fenster des Fahrzeugs schauend, gab uns

einer der rangniederen Polizeioffiziere zu verstehen, dass

er mit den Kolonisten nicht unter einer Decke steckt:

>>Warum denkt ihr, dass ich unbedingt auf ihrer Seite

bin - nur deshalb, weil ich hier stationiert bin? Ich habe

anderes zu tun, als Siedler und Palästinenser voneinander

zu trennen. Habt ihr etwa überhaupt eine Vorstellung da­

von, mit wie viel häuslicher Gewalt wir es hier zu tun

haben? << Und Geschichte, sagte er, liebt er übrigens auch.

Die in der Regel schlechtbezahlten Polizisten, oft orien­

talischer Herkunft, wussten allzu gut, dass die radikalen

Siedler, die selbsternannten Vorkämpfer der Lander­

lösung, auf sie herabschauen. Er zeigte auf die mit roten

Ziegelsteinen gedeckten Mittelstandshäuschen der Sied­

lung: >> All diese Häuschen hier [ ... ] eines Tages werden

sie vielleicht alle den Palästinensern gehören <<, sagte er.

>> Die Jungs mit den Gewehren aus all den Sicherheits­

organen werden sie wahrscheinlich unter sich teilen. << Er

überschätzte sicherlich die Erfolgschancen der Palästinen­

ser: Es waren die ersten Monate des Zweiten Aufstands.

Vermutlich versu.chte er auch, etwas Gemeinsames mit

seinen ungewöhnlichen, wenn nicht merkwürdigen Häft­

lingen zu finden, die, gab er zu, doch gar nicht gewaltsa1n

waren (im offiziellen Report sah das danach anders aus).

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GADI ALGAZI

Ich dachte mir aber, dass in seiner Aussag.e noch etwas

anderes mitklang: e·in Stück kaum verschleierter Identifi­

kation mit diesen >Jungs mit Gewehren<, die eines Tag:es

die Beute unter sich teilen würden - st.att nur die Häus­

chen zu bewachen, wie er es tun muss.

Drei Jahre später hatten wir wieder eine Auseinander-·

setzung in derselben Region, diesmal während der P.ro~

testkampagne gegen den Trennungszaun. Ein großer

Aufmarsch von Grenzpolizisten und Militärs blockierte

uns auf der Schnellstraße und hinderte uns dadurch da.r­

an, unser Ziel zu erreichen - das Dorf Deir Ballout, in

dem wir an einem gemeinsamen israelisch~palästinensi­

s-chen friedlichen Protestmarsch gegen den Zaun teilneh­

men sollten, der drei relativ isolierte palästinensische

D·örfer in einer Enklave einzäunen sollte. Im Gegenzug

setzten sich die Aktivisten auf die Straße - eine dies.er

Schnellstraßen, die nur Siedlern und Soldaten vorbehal­

ten s.ind und von Palästinensern gar n.icht befahren wer­

.den düden - und blockierten den Verkehr der Siedler.

Nach einigen Schauern kalten Wassers und etwas Gewalt

seitens der So.nd·ereinheiten de.r Polizei ließen wir die be­k.annten Rituale von V erhaftun.g und Registrierung im

Polizeirevier von Ariel über uns ergehen: Pitschnass im

Revierhof sitzen, auf die Strahlen der Wintersonne hof­

fend, die Handys widerwillig abgeb·en (.diejenigen, die wir

nicht rechtzeitig verstecken konnten), warten., dass Fin­

gerabdrücke genommen und die Verhörrunden be.ginnen

werd·en.

Mein Verhöroffizier schien seine Aufgabe ohne En­thusiasmus zu absolvieren. Als wir fertig waren, legte er

das Dos.sier zur Seite und schaute mich an. >>Gute Ant­

worten<<, sagte er wie ein etwas verlegener Lehrer, der

330

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SPERRZO NEN UND GRE'NZFÄLLE

realisiert, dass alle Schüler doch ihre Rolle zu gut kennen„

>>Eigentlich finde ich es richtig, was ihr da getan habt<<,

sagte er unerwartet zu mir. Ich habe mir seine Unter­

schrift auf dem V erhörf ormular angesehen: er war al,so

Druse, gehörte zu der drusischen Minderheit unter den

arabischen Bürgern Israels, welche - anders als andere

arabische Bürger - zum Militärdiens.t eingezogen werden

(und deshalb für manche Zwecke als >wahre Israelis<

klassifiziert werden und eini:ge Vorrechte gegenüber an­

deren arabischen Bürgern genießen), sie bleiben aber

nachdrücklich diskriminiert (und de-shalb für Rassisten

jeder Couleur schlichtweg >Araber<·).

Diese Fäll,e werden hier nicht zitiert, um die humane

Seite eines r·epressiven Systems zu exemplifizieren. We­

der Polizisten wie der vorhin erwähnte noch drusische

Soldaten haben einen guten Ruf, wenn es um die Behand­

lung von Palästinensern geht. Es ist kein Zufall, dass die

f rontpositionen des israelischen Kolonialismus - Grenz~

schutzpolizisten und rang.niedere Soldaten, welche täg­

lich im Kontakt mit der unterworfenen palästinensischen

Bevölkerung stehen~ durch die Marginalisierten und Be­

nachteiligten der israelischen Gesellschaft besetzt wer­

den; Drusen, neue Immigranten aus Russland und Äthio~ pien und .orientalische Juden. Meine Pointe ist vielmehr,

dass ambivalente Positionen an den Rä:ndern der israe­

lischen Gesellschaft und an ihren kolonialen Grenzrau -

men widersprüchliche und ambivalente Praktiken her­

vorbringen.

Die drei Szenen sind als Gegenmitt.el zu einem Bild einer

homogenen und 'kohäsiven Staatsmaschinerie (man denke

an das Bild vom >apparat d'Etat<) gedacht und, konkreter,

um eine undifferenzierte Sicht der israelischen Gesell-

331

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GADI ALGAZI

schaft in Frage zu stellen. Die gewaltsamen Siedler stan­

den nicht einfach dem geordneten Staat gegenüber - und

die Polizisten und Soldaten gingen in ihm nicht voll auf,

als treue und blinde Vollstrecker seiner Politik. In beiden

Fällen - sowohl bei dem jüdischen Polizisten, der sich mit

den Waffentragenden der palästinensischen Gesellschaft

identifizieren konnte, die die Siedlerhäuschen nehmen

würden, als auch bei dem drusischen Polizeioffizier, dem

es so sehr daran lag, mir klarzumachen, dass er unseren

Widerstand gegen den Bau des Trennungszauns gerecht­

fertigt fand - gingen Diskriminierung und Privileg, rela­

tive Überlegenheit und ein wohlbegründetes Gefühl so­

zialer Benachteiligung, Identifikation mit den Zielen des

Staats, Reserviertheit und Ambivalenz Hand in Hand.

IV.

Vom Bericht über Einzelfälle möchte ich nun zu einer

wiederholten Erfahrung kommen, die das Leben in der

Westbank seit den frühen neunziger Jahren tief geprägt

hat: der des Checkpoint. Ich habe Checkpoints nicht sel­

ten beobachtet und zusammen mit Palästinensern über­

quert, das heißt, ohne von dem privilegierten Zugang - in

manchen ausgebauten Checkpointanlagen existiert sogar

eine ganz getrennte, Siedlern und jüdischen Bürgern vor­

behaltene Fahrspur - Gebrauch zu machen. Doch meine

Erfahrung als jüdischer Bürger Israels ist begrenzt und

gibt keineswegs die Erfahrung der Palästinenser wieder,

die unter dem Checkpoint-Regime leben. Die vielen

Checkpoints, die palästinensische Lokalitäten voneinan­

der trennen, haben oft als zu ephemer gegolten, um ernst

genommen zu werden, aber sie dauern fort, vermehren

332

SPERRZONEN UND GRENZFÄLLE

sich - im März 2007 zählte das UN Office f or the Co­

ordination of Humanitarian Affairs in the Occupied Ter­

ritories ( OCHA) 5 46 Straßensperren, Pforten und Check­

points in der W estbank14 - und manche sind mittlerweile

zu Knotenpunkten des stetig ausgebauten Trennungs­

zauns geworden. Sie sind oft als bloßes Menschenrechts­

problem abgetan worden, als ein primitives Kontroll­

instrument. Ich möchte vorschlagen, sie als ein zentrales

Element einer Form von Macht zu begreifen, die wir

ernst nehmen sollten. Ich werde versuchen, einige Fragen

zu stellen - sowohl über die Art von Macht, die im

Checkpoint-Regime verkörpert ist, als auch über die Er­

fahrung, die mit ihr zusammenhängt. 1 5

Wie beschreibt man die Erfahrung, von einer Stimme

kontrolliert zu werd·en, die oft hinter einer Betonmauer

ertönt oder aus einer dunklen Kabine kommt? (Abb. r)

Manchmal siehst du kein Gesicht - nur eine Stimme, und

ein Gewehr. Diese Stimme hat einen sehr begrenzten

Wortschatz: >>Weitergehen! << , >>Stopp!<<, >> Umdrehen! <<,

>>Jacke ausziehen! <<, >>Links drehen, rechts drehen! << ,

>>Schnell weiter!<<, >>Alles auspacken! << (Abb. 2), >>Warten! <<,

14 Avi Issacharoff, World Bank Scolds Israel for Impeding T ravel in West Bank, in: Haaretz, 9. 5 .2007.

1 5 Einige wichtige Berichte: Azmi Bishara, Checkpoint. Ins Französi­sche übersetzt von Rachid Akel, Arles 2004 ; Lia N irgad, Winter in Qualandia. Straßensperre zwischen Jerusalem und Ramallah. Ins D eutsche übersetzt von Abraham Melzer, Neu-Isenburg 200 5; siehe auch den D okumentarfilm: Y oav Shamir, C heckpoint (Israel 2003),

80 Min. Die hier abgedruckten Bilder machten Esther Tsal und Vera Reider, zwei Aktivistinnen von Machsom-Watch - Women for Human Rights, als teilnehmende Beobachterinnen am Check­p oint Beit Iba bei Nablus. Ich möchte ihnen herzlichen D ank aus­sprechen; ganz besonders danke ich Vera Reider und Snait Gissis für lehrreiche Gespräche.

333

GADI ALGAZI

oder: >>Schnell, schnell, weitergehen! <<, oder doch: >> Zu­

rück, kein Durchgang. Heute ist zu!<<

Diese Stimme ist allmächtig und arbiträr (Abb. 3). Sie

kennt keinen Widerspruch, ihre Entscheidungen sind

endgültig. Protest wird oft umgehend bestraft: Stunden­

lang am Straßenrand oder in den Feldern stehenzublei­

ben, manchmal mit erhobenen Händen; gezwungen zu

werden, die Autoschlüssel, schlimmer noch - die Papiere

abzugeben (Abb. 4); vor allen Umstehenden, der ganzen

Checkpointgemeinschaft, die stundenlang wartet (es wird

gesprochen, gelacht, gespielt, gehandelt an dem Check­

point), erniedrigt zu werden (Abb. 5 ). Nie werde ich den

blinden jungen Mann am Kalandya-Checkpoint verges­

sen, im Frühjahr 2002, der auf dem Weg nach Jerusalem

von einem Verwandten begleitet wurde. Sie standen mit­

ten im Niemandsland, die Menschenschlange hinter ih­

nen, die zubetonierte Kabine vor ihnen, aus welcher die

Stimme kam. Der Verwandte wurde nicht zugelassen, er

wurde beordert, den Checkpoint zu verlassen; der Blinde

blieb allein stehen. Am Ende gab er auf und ging zurück.

Der Soldat am Checkpoint entscheidet, ob du nach

Hause kommen oder deine Tante besuchen kannst inner­

halb von 20 Minute.n oder vier oder acht Stunden oder gar

nicht, ob du überhaupt deinen Arbeitsplatz erreichst, ob

eine schwangere Frau zum Geburtshaus gelangt, ob ein

Nierenkranker es rechtzeitig zur Dialyse schafft, ob die

Kinder zur ersten Schulstunde oder wieder nach Hause

kommen. Manchmal reicht es auch, wenn keiner da ist:

Das gelbe Tor am Zaun bleibt geschlossen, die Schulkin­

der warten und gehen irgendwann nach Hause .. Oft legt

die Armee absichtlich Wert darauf, dass man nicht weiß,

womit man zu rechnen haben würde, wenn man am

334

SPERRZONEN UND Gl~ENZFÄLLE

Checkpoint ankommt. Hat man heute überhaupt ge­

öffnet? Wenn du mit dieser Form von Macht konfrontiert

bist, plane nicht deinen Tag, versuch lieber nicht, genaue

Verabredungen zu treffen, einen Zeitplan zu haben. Du

solltest dich an einen Zustand gewöhnen, in dem du schier

nicht weiß, wie es weitergeht, ohne Vorhersehbarkeit.

Manchmal würdest du doch das Gesicht des Soldaten -

gelegentlich der Soldatin - sehen, vor allem in den kleine­

ren, noch halb improvisierten Checkpoints (Abb. 6). Er

kennt dich und weiß nichts über dich. Er kennt dich, weil

Israel die ganze Westbank überwacht und ein breites

Netz von Spitzeln und Kollaborateuren operiert. Seine

Befehle sind definitiv, aber der Soldat weiß selbst nicht,

warum du nicht zugelassen wirst. Du magst zu einer der

Risikogruppen gehören - junge Männer etwa, oder Men­

schen, deren V erwandre einer der palästinensischen politi­

schen Gruppierungen angehören oder in bewaffnete Ak­

tionen oder Attacken auf Zivilisten verwickelt sind. Oder

du stehst einfach auf seiner Liste oder im Bildschirm. Die

Listen sind lang; im Fall des Trennungszauns etwa wird

nur ein Bruchteil der Dorfbewohner zu den eigenen Fel­

dern auf der anderen Seite des Zauns zugelassen. Aber

sonst entscheidet darüber dein vom Geheimdienst ange­

fertigtes Dossier - und darin erhält der Soldat am Check­

point keinen Einblick. Er ist allwissend und allmächtig

und weiß gleichzeitig nichts.

Wichtiger noch, er weiß nichts über dich als konkretes

soziales Wesen, über dein Leben, über die Gründe, war­

um du deine Tante besuchen willst, wieso deine T achter

ebendort studiert, sonst hättest du ihn gar nicht belästi­

gen müssen. Er versteht in der Regel l<ein Arabisch. Du

magst Papiere - Rezepte, Einladu.ngen, V orladu11gen, Bil-

335

GADI ALGAZI

der, Bestätigungen vor seiner Nase wedeln: Er kann da­

mit nichts anfangen. Manchmal versucht er es schon.

Anders als andere Formen intrusiver Macht, die Ge­

meinden kontrollieren, ignoriert diese Form von Macht

die Gesellschaft, die sie angreift. Früher kontrollierte die

israelische Besatzungsmacht jeden Aspekt des täglichen

Lebens in der Westbank und mischte sich massiv in das

Gewebe des sozialen Lebens ein. Wissen wurde geschickt

eingesetzt: Die Besatzungsmacht kontrollierte den Zu­

gang zu Gesundheitsdiensten, erteilte Baugenehmigun­

gen, spielte lokale Fraktionen im Dorf gegeneinander aus

und verteilte Privilegien in klassischer kolonialer Manier.

Anders das Checkpoint-Regime: Es erlaubt, die Bewegung

von Menschen und ihre Zugangsmöglichkeiten zu kon­

trollieren, ohne in lokale Gemeinden einzudringen, ihr

Leben zu gestalten, und ohne jegliche Verantwortung für

die Folgen der eigenen Aktionen zu übernehmen. In die­

sem Sinn, trotz effektiver Überwachung und strategische

Aufsicht, ist es blind. Was weiß schon ein Soldat oder seine

Vorgesetzten über die Folgen einer Straßensperre? Dieses

Regime lässt Menschen allein in ihrem Elend und zieht

die Fernsteuerung vor. Kontakt wird auf das Minimalste

reduziert; es ist auf gate-keeping und die Verwaltung von

Zäunen und Toren ausgerichtet. Es kann sich leisten, die

sozialen Konsequenzen der eigenen Politik zu vergessen,

und verstärkt unaufhörlich die gegenseitige Dämonisie­

rung und Ignoranz (Abb. 7).

Denn es gibt eine enorme Distanz zwischen dieser

Macht und denen, die ihr unterstellt sind, auch wenn die

Soldaten am Checkpoint so nah sind, dass sie deinen Kör­

per betasten und in deiner Tasche herumwühlen können.

Der Soldat am Checkpoint kennt deine Sprache nicht. Er

SPERRZONEN UND GRENZf'ÄLLE

ist oft auch nie an dem Ort gewesen, wo du herkommst.

r 9 Jahre alt, versteht er häufig nicht das familiäre Leid, die

Sorgen von Eltern. Da er dich und deine Kinder nicht

kennt, seid ihr für ihn eine Belästigung, unverständlich,

zu oft da, so dass er keine Ruhe hat, zt1 kurz da, um ihm

bekannt gent1g vorzukommen, damit man sich wiederer­

kennt, kleine Keime von V orhersel1barkeit und Bere­

chenbarkeit entstehen mögen (Abb. 8). Und vor allem;

Omnipotent wie er ist, in der Lage, über dein Schicksal

zu entscheiden, hat er oft Angst. Er ist r 9, vielleicht erst

20 Jahre alt, versteht deine Erklärungen nicht, aber weiß

über Angriffe und Selbstmordattacken gut Bescheid.

Dies ist keine providentielle Macht; sie ist fern von Bil­

dern von allumfassender Regierung und Kontrolle, vo11

der Art Macht, die das Soziale neu zu gestalten und Sub­

jekte umzubauen versucht. Ihre Eingriffe sind punktuell;

ihr Zugriff kurz und schmerzhaft, aber von weitreichen­

den Folgen. Sie hat Übersicht, aber keine Umsicht.

Andere Formen von Macht - providentiell, scheinbar

rational, intrusiv und produktiv - sind nicht aus der Welt,

doch diejenige, die ich andeutungsweise skizziere, ge­

winnt an Bedeutung. Wenn die Form von produktiver

Macht, die unter anderem von Michel Foucault diagnos­

tiziert wurde, in der Tat bedeutsam mit der Entstehung

des modernen Kapitalismus zusammenhängt, so kann das

Checkpoint-Regime vielleicht mit der wachsenden Zahl

von Menschen in Beziehung gesetzt werden, die es nicht

mal wert sind, ausgebeutet zu werden, sogar nicht mal als

Konsumenten in Frage kommen und nur dadurch von

Belang werden, dass sie eine Gefahr darstellen könnten.

Die Logik dieser Macht heißt Containment, nicht Regie­

rung. Ihre flüchtigen Subjekte - die sie ständig anderswo,

337

G ADI ALGAZI

Abb. 1: Beit Iba Checkpoint, ohne Datum. Photo: Esther Tsal. Quelle: Machsom-Watch Website: www.machsomwatch.org.

SPERRZO EN U D GRE ZFÄLLE

Abb. 2: Beit I ba Checkpoint, ohne Datum. Photo: Esther Tsal. Quelle: Machsom-Watch Website: www.machsomw atch. org.

339

GADI AL GAZI

Abb. 3: Beit Iba Checkpoint, ohne Datum. Photo: Esther Tsal. Quelle: Machsom-Watch Website: www.machsomwatch.org.

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SPERRZONEN UND GRENZFÄLLE

Abb. 4: Beit Iba Checkpoint, Februar 2004. Photo: Vera

Reider.

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Abb. 5: Beit Jba Checkpoint, Februar 2004. Photo: Vera R eider.

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SPERRZO E U D GRENZFÄLLE

Abb. 6: Beit Iba Checkpoint, Februar 2004. Photo: Vera R eider.

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GADI ALGAZI

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Abb. 7: Beit Jba Checkpoint, März 2004. Photo: Esther Tsal. Quelle: Machsom-Watch Website: W'[;)'[;).machsomwatch.org.

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SPERRZO E . liND GRE ZI ÄLLE

Abb. 8 Beit lba Checkpoint, Februar 2004. Photo: Vera Reider.

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GADI A~LGAZI

n1öglichst weit weg produziert - werden nicht auf ihre potentielle Produktivität hin wahrgenommen, sondern als Risikofaktor. In vielen Teilen der W elr macl1e11 Men~

sehen Erfahrungen mit dieser Form von Macht - eher für

kurze Zeit - an Eingängen und Tor,e.n, an Flughäfen und

Grenzen .-.. in anonymen und zerbrechlichen Zwischen-„

räumen. In der Westbank ist diese For1n von Macht allge-

genwärtig und hinterlässt ihre Spuren im Alltag von

Hunderttausenden. Welche Begriffe würden es erlauben, die tägliche Er­

fahrung der Menschen, die mit dieser Form von Macht

konfrontiert sind, einzufangen ,~ omnipotent und arbi-,

trär, unsichtbar, allwissen,d und ignorant, zu fern für

menschliche Kommunikation, nah genug, um dich nackt ausziehen zu la,ssen? Wäre e,s nicht a,ngebracht und hilf­

reich, über den Soldaten als eine kleine ver,borgene Gott­

heit zu denken, die deine Bewegung kontrolliert, aber an

individueller Vorsehung nicht mehr interessiert ist, all­

wissend, halbwissend und unberechenbar? Wären nicht

spezifische religiöse Semantiken di,e am meisten zugäng­

lichen kulturellen Repertoires, u1n diese Erfahrung ein­zufangen -- wenn auch nicht zu erklären? Zugleich: Kolo­

niale Grenzräume, scheinbar altmodische Machtformen,

sagen womöglich doch Wesentliches aus über moderne

Verhält11isse. Man könnte versuchen, vormoderne, früh-1noderne und moderne Erfahrungen mit arbitrarer Macht

und nichtstaatlicher Gewalt, mit merkwürdigen Staatsge­

bilden und endemiscl1en Unsicherl1eiten, mit Hilflosig­

keit und Mangel an Vorhersehbarkeit aufeinander zu be­

ziehen - nicht um sie gleichzusetzen, sonder11 u1n sie

jeweils besser zu beleuchten. Vielleicht braucl1t man doch Historiker?

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Über die Autorinnen und Autoren

G ADI A LGAZI ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Tel Aviv und geschäftsführender Her­

ausgeber der Zeitscl1rift History & Jvf emory. Seine For­

schungsschwerpunkte sind Sozial- und Ku.lturgeschic.hte

des späten Mitte,lalters und der Frühen N euz.eit, Histori­scl1e Anthropo,logie sowie die Geschichte u11d Theorie

der Sozialwissenschaften. Sein gegenwärtiges Forschu11gs­proj ekt beha11delt gelehrte Lebensführungen zwischen

1400 und r6oo. Neuere Veröffentlichungen: >> Eine gelernte

Leben,sweise: Figurationen des Gelehrtenlebens zwischen

Mittelalter u11d Früher Neuzeit<<, in: Berichte zur \Klissen­

schaftsgeschichte 30 (1007), S. 107-r r8; >> Making Invisible Movement Visible: Norbert Elias's Motion Pictures <<, in:

Studies in the History an.d Philosophy of Science ,(i1n Er­

scheinen).

] ANE B uRBANK ist Professori11 für Geschichte und Russi­

sche sowie Slawische Studien an der New York Univer­sity. Ihre Forschu.ngen gelten den Korresp,onde,nzen und

Konflikten von Recht und politischen Praktiken i1n rus­

sischen Reich* Derzeit ar,beitet sie, zusamme11 mit Fred-­erick Cooper, a11 einer Studie zu Imp,erien in der Welt­

geschichte. Neuere V eröff entlic.hungen: R ussian Empire: Space, Pe~ple, Power 1700-1930, hg. mit Mark von Hagen u11d Anatolyi Remnev, Bloomington 2007; >> An Imperial

Rights Regime: Law and Citizenship ii1 the Russia11 Em­

pire<<, in: Kritika.: Explorations i,n Russian and Eurasian

History 7,3 (2006), S. 397-431; Russian Pe_asants G.o to Court: Legal Culture in the Countryside, 1905-1917,

Bloomington 2004 .

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