Nietzsche, die Historie - und die Gründerkrise

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1 NIETZSCHE, DIE HISTORIE UND DIE GRÜNDERKRISE ODER: ÜBER DEN VERSUCH, MIT EINER DISKURSGESCHICHTE TRANSNATIONALER WIRTSCHAFTSKRISEN IN DER DEUTSCHEN ÖFFENTLICHKEIT ZU BEGINNEN VON GEORG SIMMERL Vortrag am 05.01.2016 im Kolloquium von Prof. Herfried Münkler an der Humboldt-Universität zu Berlin Deutschland, im Jahre 1874. Mit seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ wendet sich der junge Friedrich Nietzsche gegen das Bestreben, Geschichte als Wissenschaft zu betreiben. Nietzsche verlacht die Historiker seiner Zeit als „Sclaven“, die in der „wissenschaftlichen Fabrik arbeiten und nutzbar werden sollen“, indem sie „ein ganz isolirtes Capitelchen der Vergangenheit […] der erlernten Methode zum Opfer machen.1 Mit ihrem Verständnis geschichtlicher Objektivität würden sie damit nichts anderes zu Stande bringen, als vergangene „Meinungen und Thaten an den Allerwelts-Meinungen des Augenblicks“ zu messen und mithin „die Vergangenheit der zeitgemässen Trivialität anzupassen.“ 2 Aus Nietzsches Sicht ist diese Form der Geschichts- Wissenschaft, wie sie gerade der Historismus an den Universitäten des jungen Kaiserreichs repräsentiert, zugleich verantwortlich und symptomatisch für jene „historische Krankheit“, an der die deutsche Öffentlichkeit in besonderem Maße leide ein Hang zur Retrospektion, der nach den Maßgaben verwissenschaftlichter Bildung schier endlose Erkenntnisse über die Vergangenheit anhäufen lässt, darunter aber jegliche schöpferische Kraft begräbt. Die reglose Passivität und Rückwärtsgewandtheit der von der „historischen Krankheit“ befallenen Deutschen wiege umso schwerer, da sie dadurch fortlaufend daran gehindert werden würden sich eine nationale Kultur zu geben. Nietzsches Angriffe auf die wissenschaftliche Geschichtsschreibung seiner Zeit gewinnen somit eine politisch-kulturelle Schlagrichtung. Er selbst begreift sich nämlich als Künder einer kommenden Avantgarde. Diese soll den Deutschen eine Kultur erschaffen, ein Kultur, verstanden als „Einheit des deutschen Geistes und Lebens“, welche heißer erstrebt werde „als die politische Wiedervereinigung.3 Um dieser Avantgarde den Weg zu bereiten, fordert Nietzsche sich die Vergangenheit in einer Weise anzuverwandeln, die der schöpferischen Kraft dienlicher ist: Er will eine Historie, die es erträgt „reines Kunstgebilde zu werden,4 eine Geschichtsschreibung also, die „keinen Tropfen der gemeinen […] Wahrheit in sich hat und doch im höchsten Grade Anspruch auf 1 Nietzsche, Friedrich ( 1990 [1874]): Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Stuttgart: Reclam, S. 71. 2 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 58. 3 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 45. 4 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 66.

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NIETZSCHE, DIE HISTORIE – UND DIE GRÜNDERKRISE

ODER: ÜBER DEN VERSUCH, MIT EINER DISKURSGESCHICHTE TRANSNATIONALER

WIRTSCHAFTSKRISEN IN DER DEUTSCHEN ÖFFENTLICHKEIT ZU BEGINNEN

VON GEORG SIMMERL

Vortrag am 05.01.2016 im Kolloquium von Prof. Herfried Münkler an der Humboldt-Universität zu Berlin

Deutschland, im Jahre 1874. Mit seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung „Vom Nutzen

und Nachtheil der Historie für das Leben“ wendet sich der junge Friedrich Nietzsche gegen

das Bestreben, Geschichte als Wissenschaft zu betreiben. Nietzsche verlacht die Historiker

seiner Zeit als „Sclaven“, die in der „wissenschaftlichen Fabrik arbeiten und nutzbar werden

sollen“, indem sie „ein ganz isolirtes Capitelchen der Vergangenheit […] der erlernten

Methode zum Opfer machen.“1 Mit ihrem Verständnis geschichtlicher Objektivität würden sie

damit nichts anderes zu Stande bringen, als vergangene „Meinungen und Thaten an den

Allerwelts-Meinungen des Augenblicks“ zu messen und mithin „die Vergangenheit der

zeitgemässen Trivialität anzupassen.“2 Aus Nietzsches Sicht ist diese Form der Geschichts-

Wissenschaft, wie sie gerade der Historismus an den Universitäten des jungen Kaiserreichs

repräsentiert, zugleich verantwortlich und symptomatisch für jene „historische Krankheit“, an

der die deutsche Öffentlichkeit in besonderem Maße leide – ein Hang zur Retrospektion, der

nach den Maßgaben verwissenschaftlichter Bildung schier endlose Erkenntnisse über die

Vergangenheit anhäufen lässt, darunter aber jegliche schöpferische Kraft begräbt. Die

reglose Passivität und Rückwärtsgewandtheit der von der „historischen Krankheit“ befallenen

Deutschen wiege umso schwerer, da sie dadurch fortlaufend daran gehindert werden

würden sich eine nationale Kultur zu geben. Nietzsches Angriffe auf die wissenschaftliche

Geschichtsschreibung seiner Zeit gewinnen somit eine politisch-kulturelle Schlagrichtung. Er

selbst begreift sich nämlich als Künder einer kommenden Avantgarde. Diese soll den

Deutschen eine Kultur erschaffen, ein Kultur, verstanden als „Einheit des deutschen Geistes

und Lebens“, welche heißer erstrebt werde „als die politische Wiedervereinigung.“3 Um

dieser Avantgarde den Weg zu bereiten, fordert Nietzsche sich die Vergangenheit in einer

Weise anzuverwandeln, die der schöpferischen Kraft dienlicher ist: Er will eine Historie, die

es erträgt „reines Kunstgebilde zu werden,“4 eine Geschichtsschreibung also, die „keinen

Tropfen der gemeinen […] Wahrheit in sich hat und doch im höchsten Grade Anspruch auf

1 Nietzsche, Friedrich ( 1990 [1874]): Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Stuttgart: Reclam,

S. 71. 2 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 58.

3 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 45.

4 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 66.

2

das Prädicat Objectivität machen dürfte“. Diese Form der Geschichtsschreibung wäre ein

„schaffendes Darüberschweben“, ein „liebendes Versenktsein in die empirischen Data“, ein

„Weiterdichten an gegebenen Typen“, das letztlich das „Allbekannte zum Niegehörten“

umprägt.5

Jahre später wird Nietzsche in seiner Autobiographie die Erwartung äußern, dass an seinen

Namen einmal „die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen [wird] – an eine Krisis, wie

es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung

herausbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war.“6 In

der öffentlichen Wahrnehmung seiner Gegenwart entfaltet Nietzsche diese Wirkung noch

kaum. Seine Historienschrift verkauft sich nur 200 Mal im Jahr ihres Erscheinens und löst

auch keine Kontroversen aus. Auf dem Feld des historischen Wissens aber ist Nietzsches

unzeitgemäße Betrachtung zum Verhältnis von Historie, Wissenschaft und Kultur bereits ein

Schritt, der eine zum Urteil, zur Entscheidung drängende Situation heraufbeschwört. Diese

Schrift treibt eine Spaltung voran, im Zuge derer eine Form des historischen Wissens

entstehen wird, das, in Nietzsches Worten, seinen Stachel gegen sich selbst kehrt.7 Später,

in Nietzsches genealogischen Werken, wird sich das subversive Potential dieser historisch-

philosophischen Gegenwissenschaft noch deutlicher ausprägen.

In demselben Augenblick, im Jahr 1874 also, in dem Nietzsche mit seiner Historienschrift

diese Krise im historischen Wissen vorantreibt und das Fehlen einer nationalen Kultur

beklagt, könnte ihm aber ein Ereignis entgangen sein, das doch im Begriff ist der deutschen

Nation eine Kultur zu geben, und auch selbst als Krise, wenn auch auf dem Felde der

politischen Ökonomie, öffentlich verhandelt wird. I874 ist nämlich auch das Jahr, in dem die

Gründerkrise Deutschland mit voller Härte trifft. In Mitteleuropa erhält sie ihren Namen als

End- und Umschlagpunkt der vorangegangen Gründerzeit, einer Periode wirtschaftlicher

Prosperität, deren hitzigster Phase in Deutschland mit den Jahren unmittelbar nach der

Reichsgründung zusammenfällt. Die Gründerkrise setzt 1873 mit einer Börsenpanik in Wien

ein, die sich schnell auf die globalen Börsenplätze ausbreitet, die Wirtschaft der

Industriestaaten ins Stocken geraten lässt und durch einen rapiden Preisverfall gerade den

Jahren bis 1879 den Charakter eines schweren wirtschaftlichen Niedergangs verleiht – für

Deutschland den schwersten, den es im 19. Jahrhundert erlebt.

Während sich die Wirtschaftsgeschichte mit all ihrer ökonometrischen Versiertheit in der

Frage verstrickt hat, inwiefern die internationale Konjunkturperiode, im Zuge derer sich die

Gründerkrise ereignet hat, wirklich den Namen einer „Großen Depression“ verdient, hat sich

5 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 63.

6 Nietzsche, Friedrich (1908): Ecce Homo, Kapitel 16, Nr.1.

7 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 78.

3

zumindest in der deutschsprachigen Diskussion entgegen derlei retrospektiver

Spitzfindigkeiten die Einsicht durchgesetzt, dass es, unabhängig von der heutigen

Datenlage, gerade in der deutschen Öffentlichkeit dieser Zeit ein ausgeprägtes

Krisenbewusstsein gegeben habe, das zur Brutstätte einer Reihe von nachhaltigen

Transformationen in der Gesellschaft des Kaiserreichs werden sollte. Für die Beschreibung

dieser Transformationen hat der Wirtschaftshistoriker Hans Rosenberg in seinem 1967

erschienen Werk „Große Depression und Bismarckzeit“ die auch heute noch gängigen

Narrative kompiliert.8 In der Gründerkrise vollziehe sich demnach, erstens, ein Niedergang

des deutschen Liberalismus – die liberalistische Wirtschaftspolitik der vorangegangen

Hochkonjunktur wird für die Entstehung der Gründerkrise verantwortlich gemacht, in der

akademischen Nationalökonomie läuft die historische Schule dem klassischen Liberalismus

den Rang ab, und im Parlament verliert die nationalliberale Partei, die bis dahin Bismarcks

Regierung getragen hat, durch herbe Stimmverluste ihre Schlüsselstellung und spaltet sich

schließlich auch. Diese Spaltung steht mit dem zweiten großen Umbruch in Zusammenhang,

den die deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Gründerkrise erkennt: Bismarcks

wirtschaftspolitische Wende zum Protektionismus, zur Formulierung einer sogenannten

„nationalen Wirtschaftspolitik“. Mit Zöllen zum Schutz der „deutschen Arbeit“, deren

Einführung maßgeblich von den Interessensgruppen eines neu geschmiedeten Bündnisses

aus Roggen und Stahl, aus Großagrariern und Großindustrie, erwirkt wird, gehen aber

zugleich auch erste sozialpolitische Maßnahmen zur Linderung der Krisenauswirkungen

einher, welche die Kehrseite eines verschärften Kampfes gegen die Sozialdemokratie bilden.

Mit der Gründerkrise wird schließlich, drittens, auch das Aufkeimen des politischen

Antisemitismus in Verbindung gebracht. Im Zuge der aufwallenden Liberalismuskritik, die

Spekulation und Börsenschwindel für den Gründerkrach verantwortlich macht, wird der

jüdische Financier bald zur personifizierten Krisenursache und alle Juden zusehends

unverhohlener zum Feindbild erklärt, für dessen Bekämpfung sich erste politische Parteien

bilden. Zusammengenommen, erkennt die bundesrepublikanische Wirtschafts- und

Sozialgeschichte in der Gründerkrise eine Zeit, in der das Kaiserreich auf einen Pfad

verzögerter sozialer Modernisierung gerät, der letztlich nicht nur seinen Zusammenbruch im

Ersten Weltkrieg präjudiziert, sondern auch erste protofaschistische Züge in sich trägt.

In Nietzsches Historienschrift ist von all diesen politökonomischen Umwälzungen keine Spur

zu finden, obschon einzelne Versatzstücke einer Ökonomisierungskritik zu verzeichnen sind,

etwa wenn er den Arbeitsmarkt als einen der Zwecke dieser Zeit beschreibt, auf den alle

Menschen abgerichtet werden würden.9 Insofern bleibt es diesem Vortrag vorbehalten, den

8 Rosenberg, Hans (1967): Große Depression und Bismarckzeit: Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in

Mitteleuropa, Berlin: De Gruyter. 9 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 69.

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Weg, den die Historienschrift für eine subversive Geschichtsschreibung als Kunstgebilde

eröffnet hat, zu beschreiten, um die Sichtachsen des Blicks der Wirtschafts- und

Sozialhistoriker auf die Gründerkrise zu verschieben. Eine derartige Verschiebung läuft

darauf hinaus, die öffentliche Auseinandersetzung mit der Gründerkrise im Kaiserreich als

formierendes Moment eines spezifischen Diskurses über transnationale Wirtschaftskrisen

erscheinen zu lassen, der auch heute noch wirksam ist. Dem Weg Nietzsches zu folgen,

bedeutet in diesem Zusammenhang also in gewisser Weise, in die Zeit der Veröffentlichung

der Historienschrift zurückzugehen und dort, contra Nietzsche, nach den Anfängen einer

nationalen Kultur Deutschlands zu suchen, die man als deutsche Kultur des globalen

Kapitalismus beschreiben könnte.

Diese Suche ist der Ausgangspunkt meines Promotionsprojekts, das die Geschichte des

Diskurses über transnationale Wirtschaftskrisen in der deutschen Öffentlichkeit schreiben

will. Wirtschaftskrisen werden dabei als Diskursobjekte verstanden, in denen sich die

konstitutive Wissensordnung des Kapitalismus in Form eines Widerstreits von

Regierungsrationalität und Kritik ausprägt. Die Szenen dieser Diskursgeschichte bilden vier

transnationale Wirtschaftskrisen – neben der Gründerkrise im Kaiserreich, die

Weltwirtschaftskrise von 1929 – 32 in der Weimarer Republik, die Rezession der 1970er

Jahre in der Bundesrepublik und der DDR sowie die Euro-Krise ab 2010 im

wiedervereinigten Deutschland – die jeweils als singuläre diskursive Dynamiken anhand

öffentlicher Äußerungen erzählt werden. Die Montage der einzelnen Genealogien zu einer

Geschichte erlaubt es sodann der Frage nachzugehen, inwieweit sich dabei ein

Krisendiskurs formiert hat, der die Auseinandersetzung der deutschen Öffentlichkeit mit

unterschiedlichen Krisenereignissen strukturiert. In einem Akt, der also zugleich fiktional und

analytisch-theoretisch operiert, wird der Versuch unternommen einen Diskurs der deutschen

Öffentlichkeit über transnationale Wirtschaftskrisen als formale Voraussetzung deutscher

Kultur zu beschreiben, der unabhängig von der institutionellen Konfiguration deutscher

Staatlichkeit und dem konkreten Stadium der kapitalistischen Produktionsweise effektiv war

und immer noch ist. Der Umstand, dass die Euro-Krise seit 2010 den Fluchtpunkt dieser

Analyse bildet, verweist nicht zuletzt darauf, dass sie ihren Ansporn und ihre Relevanz aus

der Gegenwart gewinnt und eine bewusst selektive Geschichte dieser Gegenwart schreiben

will.

Was in diesem Vortrag in Angriff genommen werden soll, ist den Ausgangspunkt dieser

Promotion in theoretischer wie empirischer Hinsicht darzustellen, indem einerseits eine

Theorie der Formation von Wirtschaftskrisendiskursen entwickelt wird, die dem

diskursgeschichtlichen Ansatz des Gesamtprojekts unterliegt, und andererseits der Diskurs

der Gründerkrise in der deutschen Öffentlichkeit zumindest schlaglichtartig beschrieben wird,

5

um in einem abschließenden Schritt Rückschlüsse darüber zu gewinnen, wie sich die

Theorie und die Erkenntnisse aus der Betrachtung der Gründerkrise zueinander verhalten.

WAS IST UND WIE ANALYSIERT MAN EINEN WIRTSCHAFTSKRISENDISKURS?

ZWISCHEN KOSELLECK UND FOUCAULT, UND DARÜBER HINAUS

Als im Laufe des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung zusehends zur Revolution wird und

der Kapitalismus beginnt kulturelle Formen auszubilden, treten in immer kürzeren Abständen

wirtschaftliche Verwerfungen auf, die wachsende Zerstörungskraft und transnationale

Ausbreitung entfalten. Um diese ungekannten Ereignisse zu beschreiben, zu erklären und

vielleicht sogar vorherzusagen, bildet sich im gleichen Zug um den Begriff der Krise ein

politökonomisches Wissen, das in seinen Anfängen vor allem in Pamphleten und Zeitungen,

selten aber nur in wissenschaftlichen Fachpublikationen formuliert wird.10 Von den Anfängen

seiner Formierung an wird das politökonomische Krisenwissen stets zwischen einem

exogenen Verständnis der Krise als Schock, der das Wirtschaftssystem, von außen

kommend, aus seinem natürlichen Gleichgewicht bringt, und einem endogenen Verständnis

als einer dem Wirtschaftssystem immanenten Gesetzmäßigkeit, changieren. Die Disziplin der

Ökonomik selbst wird diesem Krisenwissen erst im 20. Jahrhundert gänzlich habhaft werden

und versucht es dann auch sogleich durch eine Konjunkturforschung zu neutralisieren,

welche sich anschickt die Dramen wirtschaftlicher Verwerfungen als berechenbare

Normalität, als periodische Zyklen und Wechsellagen, dazustellen.

Allein die Geschichte des politökonomischen Krisenwissens selbst gibt also schon Anlass,

die breitere und nicht allein die wissenschaftliche Öffentlichkeit als den Ort zu untersuchen,

an dem der wirtschaftliche Krisenbegriff zum Diskursobjekt wird. Darüber hinaus kann aber

auch jede einzelne Krisengeschichte, die diskursive Formierung eines jeden

Krisenereignisses als Argument für diese Vorgehensweise dienen. Denn obgleich die

Wirtschaftswissenschaft den Krisenbegriff aus ihrem technischen Vokabular schon längst

verbannt hat, kehrt er auch heute noch bei jeder wirtschaftlichen Verwerfung als zentraler

Signifikant der öffentlichen Auseinandersetzung wieder. Ihrer eigenen begrifflichen und

theoretischen Grundlage widersprechend versucht die Ökonomik dann zwar die

Deutungshoheit darüber zu bewahren, was eine Wirtschaftskrise sei und wann von ihr zu

sprechen ist. Eben dadurch kann sie aber nicht verhehlen, dass das Phänomen im

10

Vgl. Besomi, Daniele (2010): “Periodic crises”: Clement Juglar between theories of crises and theories of business cycles, in: Research in Economic History and Methodology 2010 (28A): 169 – 283; Besomi, Daniele (2010): The periodicity of crises. A survey of the literature before 1850, in: Journal of the History of Economic Thought 32 (1): 85-132; Besomi, Daniele (2011): Disease of the body politick. A metaphor for crises in the history of nineteenth century economics, in: Journal of the History of Economic Thought 33(1): 67-118.

6

ontologischen Sinne gar nicht als Erscheinung in einem als autonom verstandenen

Wirtschaftssystem begriffen werden kann, wie sie selbst immer wieder glauben machen will.

Wie auch der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt festhält, entstehen Wirtschaftskrisen im

eigentlichen Sinne erst durch ein öffentlich vermitteltes Krisenbewusstsein, das in

Wechselwirkung mit der Herausbildung dominanter Zukunftserwartungen unter den

Marktteilnehmern steht.11 Wirtschaftskrisen sind also nur als kulturelle Dynamiken, als

öffentliche Diskursobjekte zu begreifen.

In diesen kulturellen Dynamiken spielt das Wissen der Ökonomik eine maßgebliche Rolle, es

vermengt sich aber stets mit anderen politökonomischen Wissensformen. Um die Regeln,

nach denen sich ein derartiger Wirtschaftskrisendiskurs in der Öffentlichkeit bildet,

beschreiben zu können, muss also zunächst, unabhängig von spezifischen

Begriffsverwendungen in der Wirtschaftswissenschaft, der Horizont möglicher Bedeutungen

umrissen werden, der vom Krisenbegriff aufgespannt wird. Für diesen Zweck hat Reinhart

Koselleck mit seinen bahnbrechenden Arbeiten zur Geschichte des Krisenbegriffs das

Fundament geliefert.12 Diese lassen sich dahingehend kondensieren, dass der Krisenbegriff

eine zur Entscheidung drängende Situation der Unsicherheit und der Ungewissheit

beschreibt und dabei in seiner neuzeitlichen Verwendung insbesondere medizinisch-

diagnostische wie theologisch-prognostische Bedeutungspotentiale aufruft. Durch das

medizinisch-diagnostische Bedeutungspotential ist mit der Beschreibung einer Situation als

Krise stets die Frage danach verbunden, welche Ursachen für ihre Entstehung verantwortlich

sind, während das theologisch-prognostische Bedeutungspotential des Begriffs zugleich die

Frage nach der künftigen Lösung der Krise – oder zumindest ihrem zu erwartenden Ausgang

– aufscheinen lässt. Krisendiskurse konstituieren sich also letztlich durch konkurrierende

Erkenntnisweisen, die unterschiedliche Antworten auf die Frage nach den Krisenursachen

und die Frage nach der Krisenlösung geben. Wissenschaftliches Urteil und eschatologische

Zuspitzung verschwimmen dabei bis hin zu ihrer Ununterscheidbarkeit.

Um sich nun weiter einer Antwort auf die Frage zu nähern, was ein Krisendiskurs ist und wie

man ihn analysieren kann, bietet es sich an, in Kosellecks Werk noch einen Schritt zurück zu

gehen und sich im Detail mit seiner Dissertation „Kritik und Krise“ auseinanderzusetzen.13

Denn die maßgeblich von Carl Schmitt beeinflusste Dissertation „Kritik und Krise“ beinhaltet

11

Vgl. Borchardt, Knut (1993): Wandlungen im Denken über wirtschaftliche Krisen, in: Comparativ 3 (6): 9-31. 12

Vgl. Koselleck, Reinhart (1982): Krise, in: Brunner, O., Conze, W. und Koselleck, R. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Band 3), Stuttgart: Klett-Cotta, 617-650; Koselleck, Reinhart (2006): Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von Krise in: Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 203-217. 13

Koselleck, Reinhart (1973 [1959]): Kritik und Krise: Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

7

schon gewisse proto-begriffsgeschichtliche Ansätze, so dass sie einem diskursanalytischen

Zugriff auf das Krisenphänomen wichtige Anhaltspunkte liefern kann. Zugleich ist sie aber

durch gewisse Annahmen auch weit genug von einem diskurstheoretischen Verständnis des

Krisenphänomens entfernt, um dessen Konturierung durch Abgrenzung möglich zu machen.

Die Methode, die Koselleck nämlich für seine Studie reklamiert – eine Verknüpfung von

Geistesgeschichte und soziologische Bedingungsanalyse –14 korrespondiert mit

eigentümlichen ontologischen Setzungen, die seiner leitenden Argumentation unterliegen.

An der Oberfläche erscheint diese Argumentation eingängig: der absolutistische Staat

befriede den religiösen Bürgerkrieg, indem er Politik und Moral voneinander trennt, werde

dann aber, auf Grundlage ebendieser Trennung, von den Aufklärern mit einer moralischen

Kritik überzogen. Die Kritik verkenne die zeitlose Eigenständigkeit des Politischen und

gewinne eine vom geschichtsphilosophischen Utopismus getriebene Eigendynamik, so dass

sie die Moderne als einen Zustand der Dauerkrise zugleich begründet und fortlaufend

verschärft.

Betrachtet man den ontologischen Status von Staat, Krise und Kritik in dieser

Argumentationslinie näher, so wird schnell ihre Unvereinbarkeit mit einer diskursanalytischen

Herangehensweise deutlich. Der absolutistische Staat ist für Koselleck ein Faktum, das die

Scheidung von Politik und Moral tatsächlich vollzieht. Er ist politische Struktur, eine

konstante Hintergrundbedingung der Untersuchung – und soll daher auch mit dem

„methodischen Kniff“ einer soziologischen Bedingungsanalyse erfasst werden. Letztlich leitet

Koselleck das wahre Wesen des absolutistischen Staates, so wie er es sieht, aber doch nur

aus philosophischen Explikationen der Staatsräson ab, die zwar, wie etwa Hobbes‘

Leviathan, als eingängige Fiktionen unzweifelhaft wirkmächtige Diskursereignisse gewesen

sind, aber wohl kaum die tatsächliche Struktur des absolutistischen Staates und seine

wirkliche Geschichte zum Ausdruck bringen. Den gleichen ontologischen Status wie dem

Staat spricht Koselleck auch der Krise zu. Die Krise wird nicht als Diskursobjekt verstanden,

auch nicht als Begriff analysiert, der bestimmte Bedeutungsgehalte trägt, sondern als realer,

objektiver Zustand. Diese Verortung von Staat und Krise auf der gleichen Ebene ist dabei

kein Zufall. Denn laut Koselleck ist die Krise ihrer Natur nach politisch, sie ist letztlich eine

Krise des Staates und damit der formalen Autonomie des Politischen. Um zu verstehen, wie

diese Krise aber letztlich entsteht, wo Koselleck ihre Ursachen verortet, muss auch noch der

eigentümliche ontologische Status der Kritik berücksichtigt werden. Die Kritik ist für Koselleck

zuvorderst ein epistemologisches Manöver, das Sinn zugleich begründen oder verdecken

kann. Nichtsdestotrotz schreibt Koselleck der Kritik ein dialektisches Potential, ja eine

performative Kraft zu, die es ihr erlaube auf die Realität des Staates einzuwirken: indem sie

14

Koselleck, Kritik und Krise, S. 4.

8

vorgeblich moralisch argumentiere, ignoriere die Kritik der Aufklärer die zeitlose Autonomie

des Politischen und stürze den Staat faktisch in die Krise. Die Artikulationslogik dieser Kritik

unterschlage fortlaufend ihre eigenen Effekte, indem sie den politischen Sinn der von ihr

ausgelösten Krise verdeckt. Im Zuge dessen wandele sich auch ihr ontologischer Status: die

Kritik wird von einem epistemologischen Manöver der Aufklärer zur Bedingung der Moderne,

da fortan jegliche Politik in dem von ihr eröffneten geschichtsphilosophischen Horizont agiert

und somit utopistische Zukunftsplanung wird.

Was Koselleck in „Kritik und Krise“ entwirft, ist eine eigenes Krisennarrativ, aber keine

Analyse der Krise als Diskursobjekt. Es ist das Krisennarrativ eines wehleidigen

Konservatismus, der den absolutistischen Staat gegen die in Hypokrisie umschlagende Kritik

der Aufklärer wieder ins Recht setzen will. Sobald man sich aber von all den ontologischen

Bestimmungen löst, die diesem Krisennarrativ seine Evidenz geben, hält „Kritik und Krise“

mindestens drei wichtige Anhaltspunkten für eine diskursanalytischen Zugriff auf das

Phänomen der Krise bereit.

Dies betrifft, erstens, die Spezifizierung der konkurrierenden Erkenntnisweisen, die einen

Krisendiskurs konstituieren. Im Vordergrund stehen bei Koselleck natürlich die Artikulationen

der Kritik, die letztlich die objektive Krise des Staates herbeiführen. In seinen detaillierten

Ausführungen zur Heraufkunft der Krise, dem III. Kapitel von „Kritik und Krise“, macht er

jedoch deutlich, dass als erstes die Repräsentanten der alten Ordnung ein

Krisenbewusstsein entwickeln und die Situation als solche bezeichnen. Anschließend führt er

etwa das Beispiel des physiokratischen Reformministers Turgot an, der zwar dem

Gedankengut der Aufklärung zuneigt, die heraufziehende Krise aber erkennt und als

Staatsminister zu verhindern sucht. Hier wird deutlich, dass ein Krisendiskurs von

unterschiedlichen Erkenntnisstrategien hervorgebracht wird, deren extremste Ausprägungen

entweder eine bestehende Ordnung bedroht sehen und nach Lösungen für deren Erhalt

suchen oder aber die Ursachen der Krise in der alten Ordnung selbst erkennen und eine

Neue schaffen wollen.

Die konkurrierenden Artikulationen operieren dabei – und das ist der zweite Anhaltspunkt,

den „Kritik und Krise“ für einen diskursanalytischen Zugriff auf Krisenphänomene liefert – in

dem gleichen diskursiven Raum, sie sind Teil einer Wissensordnung. In der von Koselleck

untersuchten Konstellation des 18. Jahrhunderts ist diese Wissensordnung dichotomisch,

durch den Gegensatz von Politik und Moral, strukturiert. Zwar führen seine ontologischen

Setzungen dazu, dass diese Dichotomie als Wissensordnung immer wieder aus den Augen

gerät – mal fasst er sie als Wesen des absolutistischen Staates, mal als Form der

aufklärerischen Kritik. Letztlich werden die Aussagen von Vertretern der alten Ordnung und

der Aufklärung aber auch in Kosellecks Beschreibung als konkurrierende Strategien

9

erkennbar, die beiderseits von der gleichen Wissensordnung ermöglicht werden. Während

die Strategie des absolutistischen Staates die Moral der Politik unterordnet, verfährt die Kritik

schlichtweg umgekehrt. Für den Staat handelt es sich um eine politische Krise, in der

Anarchie droht, für die Kritik um eine moralische Krise, im Zuge derer eine neue Gesellschaft

gewonnen werden kann. Die aufklärerische Erkenntnisstrategie setzt sich schließlich durch

und wird selbst von Repräsentanten des Staates übernommen.

Den dritten Anhaltspunkt für eine Diskursanalyse von Krisen liefert schließlich Kosellecks

Beobachtung, dass sich mit dem Sieg der aufklärerischen Kritik die Bedingungen für Politik

in der Moderne grundsätzlich ändern: die Geschichtsphilosophie erhält Einzug in das

politische Denken, Vergangenheit und Zukunft reißen auseinander, jedwede Politik wird

utopische Zukunftsplanung. Dadurch steht zwar in Frage, inwiefern staatliche Politik und

Kritik im – wie Koselleck ihn nennt – technizistischen Staat, überhaupt noch Antipoden sind,

in jedem Fall ist das Politische in der Moderne aber durch ein geschichtsphilosophisches

Denksystem bestimmt, das es an die Wissenschaft als eine Form säkularisierter

Eschatologie bindet.

Um nun die Erkenntnisse, die Kosellecks Ausführungen abgerungen werden konnten, wieder

auf die Frage der Formierung von Wirtschaftskrisendiskursen zurückzuführen, erscheint es

geeignet, diese Erkenntnisse mithilfe von Foucaults theoretischem Werkzeugkasten zu

schärfen. Foucault ist zwar kein Krisentheoretiker und allenfalls ein verhinderter Theoretiker

des Kapitalismus, aber gerade seine Studien nach der Zuwendung zu Fragen der

Regierungskunst erlauben es Kosellecks Perspektive auf die politische Ökonomie scharf zu

stellen und für eine historisch-philosophischen Gegenwissenschaft im Geiste Nietzsches

brauchbar zu machen.

Zunächst lässt sich mit Foucault die von Koselleck beschriebene Krisenkonstellation der

Aufklärung als Widerstreit von Regierungsrationalität und Kritik neu denken. Der Staat

erscheint dabei nicht als Wesenheit, die der aufklärerischen Kritik gegenübersteht, ihre

Vorbedingung ist und schließlich von ihr unterworfen wird. Foucaults

Gouvernementaltitäsbegriff de-ontologisiert zuvorderst essentialistische Vorstellungen von

Staatlichkeit und löst sie in den Artikulationen sich ablösender Regierungsrationalitäten auf.

Regierungsrationalität und Kritik operieren also beiderseits als epistemologische Manöver

und können damit umstandsloser als konkurrierende Artikulationslogiken eines Diskurses

verstanden werden. Wie Foucault in seinem Vortrag „Was ist Kritik?“ festhält, ist die Kritik

zugleich „Partnerin und […] Widersacherin“15 der Regierungsrationalität.

Regierungsrationalität und Kritik stehen also, man könnte sagen, in einem intimen

15

Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?, Berlin: Merve, S. 12.

10

Konkurrenzverhältnis. Die Kritik kann Elemente der Regierungsrationalität ins sich

aufnehmen, wenn sie diese als ihr Objekt annimmt und reformistisch wird, genauso wie die

Regierungsrationalität selbst Formen der Kritik hervorbringt und in sich integriert. Foucault

erkennt beispielsweise in der positivistischen Wissenschaft eine Form der Kritik, die sich nur

zu gern mit Regierungskünsten vereint, er hat den Liberalismus als Prinzip der

Selbstbeschränkung und der Selbstkritik des Regierens beschrieben, während Boltanski und

Chiapello die Aufnahme kritischer Elemente in die Rechtfertigungsstrategien der

bestehenden Ordnung als den neuen Geist des postfordistischen Kapitalismus erkannt

haben.16 Und auch Koselleck benennt ein Moment dieser Verschmelzung von

Regierungsrationalität und Kritik, wenn er festhält, dass jegliche moderne Politik Erbe der

aufklärerischen Kritik ist und utopische Zukunftsplanung wird.

Worin ein an Foucault angelehntes Verständnis von Regierungsrationalität aber von

Kosellecks Analyse abweicht, ist die Frage, ob die rationale Kritik, und in der Folge auch die

moderne Politik, die Eigenständigkeit und Autonomie ihres Gegenstands notwendigerweise

verletzt und ignoriert. Nach Foucault ist es nämlich gerade das definierende Merkmal der

modernen, liberalen Regierungsrationalität, dass sie ein Objekt kennt, dessen

Eigenständigkeit und Autonomie sie sehr wohl respektiert – den Markt!17 Der vom Wissen

der Politischen Ökonomie konstituierte Markt ist der Ort, an dem die Wahrheit über die

Richtigkeit politischer Maßnahmen gesprochen wird, er ist das Prinzip, nach dessen

Maßgaben moderne Politik ausgerichtet und kritisiert wird. Foucault sucht auch im

absolutistischen Merkantilismus nach den Anfängen dieser Regierungsrationalität und

erzählt somit eine politisch-ökonomische Entstehungsgeschichte, die quer zur von Koselleck

behaupteten Transformation des Politischen durch die Aufklärung verläuft. In dieser

Erzählung verweigert Foucault der Französischen Revolution einen Ort und macht es

zugleich möglich, durch eine positive Bestimmung der liberalen Regierungsrationalität als

Ausrichtung der Politik nach den Maßgaben des Marktes, diese auch in der Moderne von

den Artikulationen der politökonomischen Kritik zu unterscheiden.

Versuchen wir das Gesagte nochmals zusammenzufassen und dabei auf den Fall von

Wirtschaftskrisendiskursen zu übertragen: Krisendiskurse beschreiben eine zur

Entscheidung drängenden Situation der Ungewissheit und formieren sich um die Frage nach

den Krisenursachen und der Frage nach ihrem Ausgang oder ihrer Lösung. Die moderne

Regierungsrationalität und die Kritik können dabei als für einen Wirtschaftskrisendiskurs

konstitutive Erkenntnisweisen verstanden werden, die miteinander konkurrieren, einander

16

Vgl. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collége de France 1978/1979, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Boltanski, Luc/Chiapello, Eve (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. 17

Foucault, Geschichte der Gouvernmentalität II, S. 49 – 80.

11

bisweilen aber auch durchdringen, in ihrer Artikulation aber beiderseits stets faktisches Urteil

und eschatologische Zuspitzung sind. Während die Regierungsrationalität den Markt als „Ort

des Wahrsprechens“ behandelt, der auch in der akuten Krisensituation verlässlich Auskunft

über die Richtigkeit ihrer Maßnahmen gibt, nimmt sich die Kritik diese Form der

Regierungsrationalität zum Gegenstand oder visiert gar das gesamte Herrschaftssystem an.

Erscheint der reinsten Form dieser Regierungsrationalität, dem Liberalismus, eine

Wirtschaftskrise dementsprechend als ein normales Phänomen, das von exogenen Schocks

in das Wirtschaftssystem hineingetragen wird und nur überwunden werden kann, wenn es

dem wirtschaftlichen Gleichgewicht erlaubt wird, sich selbst einzustellen, so gilt etwa den

Formen marxistischer Kritik jegliche Krise als Ausprägung der immanenten

Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise, deren apokalyptisches Ende im

selben Augenblick aber auch einen Schritt näher rückt. Aufgrund dieser Überlagerung von

wissenschaftlichem Faktenurteil und eschatologischer Zukunftsvision können wirtschaftliche

Krisendiskurse auch mit einigem Recht als die Signatur desjenigen Wissensfeldes begriffen

werden, das Giorgio Agamben als „ökonomische Theologie“18 oder Joseph Vogl als

„Oikodizee“19 beschrieben haben.

Wie werden diese theoretischen Überlegungen zur Formierung von Krisendiskursen nun in

meinem Promotionsprojekt umgesetzt? Zunächst wird jede der vier Krisenszenen als ein

singuläres, dynamisches Ereignis auf der Ebene öffentlicher Äußerungen minutiös

nachgezeichnet. Dazu werden die Äußerungen von Staatsvertretern,

Wirtschaftsrepräsentanten, Wissenschaftlern und Publizisten zu Fragen der Krisenursachen

und Krisenlösungen herangezogen, wie sie in Zeitungsberichten, Regierungsdokumenten,

Parteiprogrammen, Reden sowie wissenschaftliche Publikationen und anderen kulturellen

Artefakten aufgefunden werden können. Die Montage der einzelnen diskursiven Dynamiken

zu einer jahrhunderteumspannenden Geschichte, in der alle modernen Formen deutscher

Staatlichkeit und Stadien der kapitalistischen Produktionsweise – vom Industrie- bis zum

Finanzkapitalismus – abgeschritten werden, erlaubt es sodann, einen Diskurs der deutschen

Öffentlichkeit über transnationale Wirtschaftskrisen zu beschreiben. Mit dem Begriff des

Diskurses ist dabei eine wiederkehrende Regelhaftigkeit, eine Wiederholungsstruktur des

Widerstreits von Regierungsrationalität und Kritik in unterschiedlichen Krisenszenen

anvisiert. Diese Regelhaftigkeit des Widerstreits von Regierungsrationalität und Kritik über

das Wissensobjekt der transnationalen Wirtschaftskrise könnte letztlich eine konstitutive

Wissensordnung des Kapitalismus erahnen lassen, die mit der analytischen Fokussierung

18

Vgl. Agamben, Giorgio (2010): Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 19

Vgl. Vogl, Joseph (2010): Das Gespenst des Kapitals, Zürich: Diaphanes.

12

auf die deutsche Öffentlichkeit natürlich nur als kontingente Variante bestimmt werden

könnte.

Den Fragen, welche Anfänge einer deutschen Ausprägung dieser Wissensordnung sich

anhand der Gründerkrise nachzeichnen lassen und inwieweit es möglich wäre, mit einer

derartigen historisch-philosophischen Analyse aus ebender Wissensordnung herauszutreten,

die ihren Gegenstand bildet, soll der Rest des Vortrags gewidmet sein.

DIE GRÜNDERKRISE IN DER DEUTSCHEN ÖFFENTLICHKEIT

Das politökomische Wissen, welches die deutsche Öffentlichkeit am Vorabend der

Gründerkrise durchzog, muss man sich als integriert – oder besser – als noch nicht

ausdifferenziert vorstellen. Es gab zwar bereits eine liberale Wirtschaftspresse, auch die

Sozialdemokratie hatte ihre öffentlichen Sprachrohe, aber das politökonomische Wissen

selbst, das in den Äußerungen dieser unterschiedlichen Organen zum Ausdruck kam, hatte

noch eine gewisse Kohärenz. Die publizistische Auseinandersetzung mit politökonomischen

Zusammenhängen mochte zwar einer wirtschaftswissenschaftlichen Fundierung im heutigen

Verständnis mit all seiner objektivierenden Indikatorik ermangeln, war aber gerade dadurch

auch in sich geschlossener. Die Ökonomik hatte sich noch nicht als mathematisiertes

Spezialistenwissen konstituiert, das die alleinige Deutungshoheit über wirtschaftliche

Vorgänge beansprucht und dadurch eine Vielzahl von politökonomischen

Gegenwissenschaften provoziert. Im Gegensatz dazu zeichnete sich die deutschsprachige

Nationalökonomie dieser Zeit dadurch aus, dass sie sich aus verschiedenen Disziplinen

speiste, aus dem Smith’schen System genauso wie aus den Cameral- und

Policeywissenschaften, aber dabei letztlich auch immer im philosophischen Horizont des

deutschen Idealismus operierte. Daher war sie auch in der Lage geschichtliche, mit

statistischen und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen - obschon

auch bereits damals die ewig wiederkehrenden Methodenstreitigkeiten ausgetragen wurden.

Der sich formierende Marxismus fügte sich ebenfalls als Kritik der klassischen Politischen

Ökonomie in deren Sprachspiel ein. Am Vorabend der Gründerkrise war Marxens

Krisentheorie aber noch nicht zur Gänze ausgearbeitet, nur der erste Band des Kapitals

bereits veröffentlicht. Sie würde auch – wie sich noch zeigen sollte – auf ewigem Fragment

und somit Ausgangspunkt vieler Kriseninterpretationen bleiben. Auch sie knüpfte aber direkt

an das Wissen der Nationalökonomie über das Phänomen der Wirtschaftskrisen an, das sich

im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig verdichtet hatte und vorrangig in geschichtlichen

Betrachtungen zusammengetragen wurde. In dieser Zeit wurde der Begriff der

„Produktionskrise“ geprägt, der im Gegensatz zur gängigen Bezeichnung wirtschaftlicher

13

Verwerfungen als „Handelskrise“ eine gewisse analytische Tiefe versprach und deren

behauptete Ursachen benannte.20 Durch erste Krisenerfahrungen, wie etwa mit der ersten

Weltwirtschaftskrise von 1857/58, hatte sich in der breiteren Öffentlichkeit nicht nur ein

gewisses Bewusstsein für die grenzüberschreitende Verflechtung der Weltwirtschaft

verbreitet, sondern auch eine Einsicht in die prinzipielle Krisenhaftigkeit der modernen

Wirtschaftsweise, welche in prototheoretischen Vorstellungen einer Periodizität

wirtschaftlicher Stockungen mündete und deren Wiederkehr in regelmäßigen Abständen

erwarten ließ.

Insofern trifft der Gründerkrach des Jahres 1873 die deutsche Öffentlichkeit auch nicht

gänzlich unvorbereitet. Gerade in den Wirtschaftsblättern wird in der manischen

Neugründung von Aktiengesellschaften, Banken und Unternehmungen in der Folge der

Einigungskriege schon der Vorbote einer künftigen Krise erkannt, vereinzelt ist bereits von

Schwindel und Spekulationsexzessen die Rede, die Entwicklung der Börsenbewegungen

wird argwöhnisch betrachtet, bevor die Börsenpanik ihren Lauf nimmt. Als diese dann im

Oktober 1873 in Wien ausbricht, wird jedoch zumeist davon ausgegangen, dass die Eigenart

und Widerstandsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschlands eine Ansteckung

verhindern würde.21 Diese Annahme wird jedoch schnell von den Ereignissen überholt, als im

Laufe des Jahres 1874 auch in Deutschland die Börsenkurse einbrechen und erste Banken

ins Schwanken geraten. Als diskursives Ereignis bleibt der Krach aber noch weitegehend auf

die Börsenplätze, Börsenblätter und die Tagespresse begrenzt: die Kurstürze und panischen

Handlungen werden beschrieben ohne eine tiefergehende Erklärung abzugeben, allenfalls

von Überspekulation ist bisweilen die Rede. In mancher politischen Zeitschrift, wie den

Preußischen Jahrbüchern, regt sich eine Debatte über eine möglich Kreditkontraktion als

Ursache des Krachs, eine Diagnose, die sich mit der Forderung nach einer

gesamtdeutschen Zettelbank verbindet, welche im Notfall die notwendige Liquidität zur

Verfügung stellen könnte.22 Mit Ausnahme eines Kredits für die in Schieflage geratene

Qistorp’sche Vereinsbank gibt sich der Staats selbst aber nur als besorgter Beobachter der

sich zuspitzenden Lage.

Dies ändert sich auch noch nicht, als in den Jahren 1874 und 1875 allmählich die

Transformation des Börsenkrachs in eine ausgeprägte Wirtschaftskrise mit fallenden

Warenpreisen, stockender Produktion und Massenentlassungen verzeichnet wird. In seiner

Rede zur Eröffnung des Reichstages am 27. Oktober 1875 widmet der

20

Vgl. Koselleck, Krise, S. 642. 21

Vgl. Davies, Catherine (2012): Papierschwindel und Börsenpanik: Der Gründerkrach von 1873 als Globalisierungsphänomen, in: Merkur 66 (12): 1178-1185 22

Vgl. o.A. (1874): Die Bankfrage: Die Reform des deutschen Zettelbankwesens, in: Preußische Jahrbücher 33 (3): 256 – 260.

14

Reichskanzleramtschef Heinrich von Delbrück zwar erstmals den wirtschaftlichen

Kalamitäten seine Aufmerksamkeit, hält aber zugleich fest, „[w]enn in Handel und Verkehr

[…] eine Stagnation stattfindet, wie sie im Laufe der Zeit periodisch wiederkehren, so liegt es

leider nicht in der Macht der Regierung, diesem Übelstande abzuhelfen, der sich in anderen

Ländern wie in Deutschland fühlbar macht.“23 Delbrück versteht Wirtschaftskrisen als stetig

wiederkehrendes, mithin natürliches, Phänomen, das daher in seinem Auftreten

unvermeidbar ist und nicht zuletzt aufgrund seiner transnationalen Ausdehnung von der

Regierung eines Staates nicht gelöst werden kann. In ähnlicher Weise hält Delbrücks

Nachfolger Karl von Hofmann ein Jahr später am gleichen Ort fest: „Der Druck, welcher auf

Handel und Verkehr nicht blos in Deutschland, sondern auch in den meisten andern Ländern

schon seit geraumer Zeit lastet, ist Gegenstand der unausgesetzten Aufmerksamkeit der

verbündeten Regierungen. Eine unmittelbare und durchgreifende Abhülfe liegt bei der

Allgemeinheit der obwaltenden Uebelstände und nach der Natur derselben nicht in der

Macht eines einzelnen Landes, wie lebhaft immer der gute Wille und die Bethätigung

desselben bei denen sein mag, die an seiner Spitze stehen.“24 Nur um dann noch

hinzuzufügen: „Wohl aber wird es als die Aufgabe der deutschen Handelspolitik zu

betrachten sein, von der heimischen Industrie Benachtheiligungen abzuwenden, welche ihr

durch die Zoll- und Steuer-Einrichtungen anderer Staaten bereitet werden.“

Wir können in diesem letzten Zusatz Hofmanns die zarten Anfänge eines

Wirtschaftskrisendiskurses in dem Sinne beobachten, dass allmählich eine Situation mit

unsicherem Ausgang erkannt wird, in der Entscheidungen unweigerlich getroffen werden

müssen. Zwar beschreibt Hoffmann, wie auch sein Vorgänger Delbrück, die Gründerkrise als

einen transnationalen, mithin allgemeinen Zustand, für den es keine unmittelbare Abhilfe

gäbe. Zumindest was manche Folgen dieser Situation in der internationalen Handelspolitik

anbelangt, weist er einen staatlichen Handlungsnotstand aber nicht gänzlich von der Hand.

Die Formierung eines Wirtschaftskrisendiskurs in der deutschen Öffentlichkeit ist also

unmittelbar mit der Entstehung einer Rationalität des Regierens in Wirtschaftskrisen

verbunden, welche sich durch einen gewissen Aktivismus bestimmt und deren

fortschreitende Intensivierung eine der maßgeblichen Entwicklungslinien der kulturellen

Dynamik der Gründerkrise gewesen ist.

Die spezifische Form, welche diese Regierungsrationalität im weiteren Verlauf der Ereignisse

annehmen sollte, war dabei eng mit einem Wandel in der Bestimmung der Krisenursachen

verbunden. Nachdem anfänglich, in unmittelbarer Folge des Börsencrashs, noch vor allem in

23

Zitiert nach No. 43. Provinzial-Correspondenz. Dreizehnter Jahrgang. 27. Oktober 1875. Online verfügbar unter: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/amtspresse/ansicht/issue//1982/ 24

Zitiert nach No. 44. Provinzial-Correspondenz. Vierzehnter Jahrgang. 1. November 1876. Online verfügbar unter: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/amtspresse/ansicht/issue/9838247/2035/

15

Spekulationsexzessen die Ursache der Krise erkannt wurde, griff man im Zuge der

anschließenden Depressionsphase auf das in der Nationalökonomie dominierenden Konzept

der „Produktionskrise“ zurück und präzisierte sie bisweilen hin zum Begriff einer

„Überproduktionskrise“. Die darin eingelassene Rückführung der Krisenursachen auf ein

Übermaß industrieller Produktion, das keinen Absatz mehr finden würde, konnte durch die

eigentümliche Dialektik von Nation und Globalität, die einem Diskurs über transnationale

Wirtschaftskrisen zu Eigen zu sein scheint, auf zwei Weisen ausgedeutet werden. Einerseits

konnte der Ursprung der Überproduktion auf die ausländische Konkurrenz zurückgeführt

werden, welche den deutschen Markt mit ihren Waren überschwemmen und diese zu

Schleuderpreisen verkaufen würde. Gerade unter dem Eindruck der anhaltenden Klagen von

dem eigenen Bekunden nach unverschuldet in Not geratener Gutsbesitzer und Industrieller,

welche das erwachende öffentliche Krisenbewusstsein maßgeblich prägten, wurde diese

Lesart bald dominant und eröffnete den Weg für eine Strategie, die auch schon von

Reichskanzleramtschef Hofmann angedeutet worden war: die Einführung von Schutzzöllen

zum Schutz der „deutschen Arbeit“, welche ab 1878/79 zur maßgeblichen Leitlinie der

Bismarck’schen Krisenpolitik werden sollte. Andererseits konnte der Ursprung der

Überproduktion aber auch im eigenen Land verortet und so die Notwendigkeit neuer

Absatzmärkte postuliert werden, in welche die Überproduktion abfließen könne. Wie Ulrich

Wehler in seiner Habilitationsschrift „Bismarck und der Imperialismus“ dargelegt hat,

entwickelte sich aus der Verbreitung dieser Interpretation der Gründerkrise als

Überproduktionskrise im eigenen Lande sowohl eine Intensivierung privatwirtschaftlicher

Überseeunternehmungen als auch wachsende Forderungen nach formalem Koloniebesitz,

welche schließlich in den 1880er Jahren auch in die Tat umgesetzt werden sollten.25 Es kann

daher auch nicht überraschen, dass in einer der maßgeblichen Schriften für die Formierung

des deutschen Imperialismus, das als „politisch-ökonomische Betrachtung“ deklarierte

Traktat „Bedarf Deutschland der Kolonien?“ des evangelischen Theologen und Publizisten

Friedrich Fabri aus dem Jahr 1879, mit der Feststellung beginnt, dass das neue Reich in

einer drückende wirtschaftlichen Lage geraten sei, welche sich im Vergleich zu den anderen

„Cultur-Staaten“ am ungünstigsten ausnehme.26 Als Antwort auf dieses, so wörtlich, „Gefolge

von Krisen, Überproduktion und Arbeitslosigkeit“ entwickelt er dann im weiteren Fortgang der

Argumentation seine Forderung nach Kolonialerwerb. Sowohl imperiale Bestrebungen als

auch Schutzzoll erscheinen also als Lösungsstrategien einer Wirtschaftskrise, deren

Ursache in der Überproduktion verortet wird. Sie verbleiben aber beide im Rahmen einer

ökonomischen Regierungsrationalität, die Politik nach Maßgaben des Marktes macht. Der

25

Wehler, Hans-Ulrich (1969): Bismarck und der Imperialismus, Köln: Kiepenheuer & Witsch. 26

Fabri, Friedrich (1879): Bedarf Deutschland der Kolonien? Eine politisch-oekonomische Betrachtung, Gotha: Perthes.

16

Markt, nach dem sich die Politik richtet, ist in diesem Fall aber in erster Linie der nationale,

zu dessen Schutz und Förderung der Staat aktivistisch werden muss.

An der Heraufkunft dieser Regierungsrationalität im Zuge der Gründerkrise ist in

besonderem Maße auch eine Form reformistischer Sozialkritik beteiligt, die sich im Rahmen

der akademischen Nationalökonomie herausbildet und im „Verein für Socialpolitik“ ihren

institutionellen Ort findet. Bereits im Jahr 1972 gegründet, wird der Verein im Lauf der Krise

zu einem Sprachrohr von Vertretern der historischen Schule der Nationalökonomie, die sich

für eine aktive Sozial- und Wirtschaftspolitik einsetzen. Eines ihrer führenden Mitglieder, der

Ökonom Erwin Nasse, veröffentlicht etwa im Jahr 1879 den Aufsatz „Über die Verhinderung

von Produktionskrisen durch staatliche Fürsorge“ und benennt mit dem Ziel der

Verhinderung künftiger Krisen in gewisser Weise die positive Utopie der im Entstehen

befindlichen Regierungsrationalität – auch wenn er die Möglichkeit der tatsächlichen

Verhinderung periodisch wiederkehrender Krisen aus praktischen Gründen letztendlich

ausschließt und dem staatlichen Handeln höchstens das Potential zugesteht, diese Krisen

entweder zu verlängern oder abzukürzen.27 Nasse tritt also letztlich für einen klugen

staatlichen Aktivismus ein, der die Folgen der prinzipiell unvermeidlichen Wirtschaftskrisen

abmildern soll. Dieses für den gesamten „Verein für Socialpolitik“ charakteristische Plädoyer

für eine aktive Sozial- und Wirtschaftspolitik wird von der Geschichtsschreibung oft als

Abkehr vom klassischen Liberalismus beschrieben, dessen Repräsentanten die Vereins-

Mitglieder auch als „Kathedersozialisten“ schmähen. Die liberale Wirtschaftspolitik der

Gründerjahre wird jedoch in der akademischen Nationalökonomie selten unmittelbar für die

Entstehung der nachfolgenden Krise verantwortlich gemacht, wenn man genau hinsieht

bemerkt man sogar, dass etwa Nasses Ausführungen selbst von einem liberalen

Krisenverständnis als prinzipiell unvermeidliches Ereignis ausgehen. Unter den

Zeitgenossen der Gründerkrise sind diejenigen Erkenntnisweisen der Krisenursachen, die

auf den Liberalismus abheben, vor allem in populären Pamphleten wie den Ära-Artikeln von

Franz Perrot in der „Kreuzzeitung“ aus dem Jahre 1875 oder den in der beliebten Illustrierten

„Gartenlaube“ veröffentlichten Traktaten des Publizisten Otto Glagau zum Gründungs- und

Börsenschwindel zu finden.28 Mit ihrer Vermischung der Liberalismuskritik und einer

personalisierten Bestimmung der Krisenursachen in der Figur des Juden verleihen diese

Schriften kleinbürgerlichen Ressentiments Ausdruck und bereiten durch ihr Krisennarrativ die

Entstehung antisemitischer Parteien und Vereinigung vor. Anders als die reformistische

Sozialkritik des Vereins für Socialpolitik gehen daraus aber keine expliziten Antworten auf die

27

Nasse, Erwin (1879): Über die Verhütung von Produktionskrisen durch staatliche Fürsorge, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 1879(3): S. 145 – 189. 28

Die beiden Artikelserien wurden schließlich auch in Buchform herausgebracht: vgl. Glagau, Otto (1876): Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, Leipzig: Frohberg; Perrot, Franz (1876): Die Aera Bleichröder-Delbrück-Camphausen, Berlin: Niendorf.

17

Frage der Krisenlösung hervor, so dass der Antisemitismus der Regierungsrationalität noch

unversöhnlich gegenübersteht.

Worauf die reformistische Sozialkritik des Vereins für Socialpolitik letztlich abzielte, ist es

eine zweite Form der radikalen Kritik zu neutralisieren, die in der Gründerkrise einen Aufstieg

erlebt. Mit ihren Forderungen nach Reformen auf Grundlage der althergebrachten

Gesellschaftsordnung versuchen die Kathedersozialisten nämlich zuvorderst der

Sozialdemokratie den Zulauf abzugraben und so ihre revolutionären Bestrebungen

abzufangen. Marx hatte schon am Anfang des Jahres 1873 in seinem Vorwort zur zweiten

Auflage des Kapitals eine herannahende allgemeine Krise erkannt und damit eine

Entscheidungssituation in Deutschland in Aussicht gestellt, in der die gesellschaftlichen

Widersprüche aus der Latenz treten würden. Er schrieb: „[Die Krise] ist wieder im Anmarsch,

obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres

Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen, heiligen,

preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken.“29 Die Beschreibung der intensiven

Auswirkungen der Gründerkrise, von Massenentlassungen und Verarmung, sollte sodann

aber für die sozialdemokratischen Artikulationen dieser Zeit von größerer Bedeutung werden

als die Erklärung von Krisenursachen und der Ableitung klarer Handlungsstrategien daraus.

Hinsichtlich der Bestimmung der Krisenursachen bediente man sich vor allem auch der

gängigen Rede von einer zirkulär auftretenden Produktionskrise, aus der man aber zugleich

den nahenden Untergang der bestehenden Ordnung ableitete.

Da gerade die zerstörerischen Auswirkungen der wirtschaftlichen Verwerfungen begannen

die Massen der Sozialdemokratie zuzutreiben, wandte sich die Regierungsrationalität alsbald

auch der Gründerkrise als eine sozialdemokratische Krise zu. Die Regierungspraxis

übernahm zum einen manche Elemente der von den Nationalökonomen geforderten

Sozialpolitik, zum anderen wurde mit den Sozialistengesetzen von 1878 die

Sozialdemokratische Partei verboten und ihre Mitglieder intensiver verfolgt. Man muss es

wohl als ersten Beleg für die nachhaltige Zentralität des Signifikanten der Wirtschaftskrise für

die deutsche Öffentlichkeit ansehen, dass Bismarck sogar die Sozialistengesetze vor dem

Reichstag damit rechtfertigte, dass die Sozialdemokraten für die anhaltende Depression

verantwortlich seien. Er führte dort aus „solange die sozialistischen Bestrebungen diese

bedrohlichen Höhen haben, wie jetzt, wird aus der Furcht vor der weiteren Entwicklung das

Vertrauen und der Glaube nicht wiederkehren, und deshalb wird die Arbeitslosigkeit auch so

lange, wie die Sozialdemokratie uns bedroht, mit geringen Ausnahmen anhalten.“30 In

Bismarck kann man also den Vorboten einer Regierungsrationalität erkennen, die mit dem

29

Marx, Karl (1987 [1873]): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (=MEGA² II/6). Berlin: Dietz, S. 709. 30

Otto Bismarck, zitiert n. Rosenberg, Große Depression, S. 207.

18

Verweis auf das prekäre Vertrauen der Marktteilnehmer zu den letzten Mitteln greift und stets

bereits ist dies als konjunkturpolitische Maßnahmen für das wirtschaftliche Wohlergehen des

deutschen Volkes zu verkaufen.

SCHLUSSFOLGERUNG

Abschließend will ich nun zwei miteinander zusammenhängende Fragen aufwerfen: In

welchem Licht erscheint die Gründerkrise, wenn man sie als Ausgangspunkt einer

Diskursgeschichte transnationaler Wirtschaftskrisen in der deutschen Öffentlichkeit

betrachtet? Und welche Erkenntnisse lassen sich, umgekehrt, für den theoretischen

Unterbau dieses diskursgeschichtlichen Ansatzes aus der Analyse der Gründerkrise

gewinnen?

Zunächst erlaubt es eine Perspektivierung der Gründerkrise als formierendes Moment eines

Widerstreits von Regierungsrationalität und Kritik, dessen Struktur eine lange Dauer

nachgesagt wird, sich von den Urteilen der älteren Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu

lösen, die, um es mit Nietzsche zu sagen, die Gründerkrise an den Allerweltsmeinungen

ihres eigenen Augenblicks, der bunderepublikanischen Nachkriegszeit, maßen. Die von

Rosenberg und Wehler repräsentierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte begriff die

Gründerkrise aus dem Blickwinkel der Modernisierungstheorie als einen Umschlagpunkt in

der Entwicklung der deutschen Gesellschaft, in dem sich eine nachhaltige Entkoppelung von

wirtschaftlicher und sozialer Modernisierung vollzogen, der deutsche Liberalismus seinen

Niedergang und erste protofaschistische Regungen ihren Ausbruch erlebt hätten. Ihr

erschien die Gründerkrise also als erste Etappe auf dem deutschen Sonderweg in die

Katastrophen des 1. und 2. Weltkriegs, ein Bild, das es der Wirtschafts- und

Sozialgeschichte zugleich erlaubte die autokratisch-faschistische Vergangenheit scharf von

der sozialen Modernität ihrer eigenen bundesrepublikanischen Gegenwart abzugrenzen.31 Im

Gegensatz dazu zieht eine diskursgeschichtliche Betrachtungsweise der Gründerkrise

insbesondere in Zweifel, dass ihre Dynamik umstandslos als Niedergang liberalen

Gedankenguts beschrieben werden kann. Vielmehr wird auf diesem Wege die Entstehung

einer aktivistischen Regierungsrationalität ersichtlich, die sich in Wechselwirkung mit

verschiedenen Formen der Kritik formierte, dabei aber sehr wohl dazu bereit war, die

Gesetze, die der Markt, im Fall der Gründerkrise: der nationale Markt, vorschrieb, als ihre

Maßgabe anzunehmen. Die Verbreitung der Liberalismuskritik in der Gründerkrise und

31

Vgl. Eley, Geoff (1986): Hans Rosenberg and the Great Depression of 1873-96. Politics and Economics in Recent German Historiography, in: Eley, Geoff (Hrsg.): From Unification to Nazism: Re-interpreting the German Past, Boston: Allen & Unwinn, 23-41.

19

Bismarcks Wende vom Freihandel zum Schutzzoll hat die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

vorschnell dazu veranlasst von einem Ende der liberalen Wirtschaftspolitik zu sprechen. Eine

gouvernementalitätstheoretische Perspektive kann hingegen in der Entstehung des

wirtschaftspolitischen Aktivismus des Staats im Kontext der Gründerkrise auch das

Fortdauern liberalen Gedankenguts erkennen.

Es geht diesem Promotionsprojekt jedoch nicht vorrangig darum, ein neues Narrativ zur

Beschreibung der Gründerkrise hervorzubringen. Das Ereignis der Gründerkrise soll

vielmehr in eine Diskursgeschichte eingeordnet werden, welche ihren Fluchtpunkt in der

Gegenwart hat und dabei verfolgt, inwieweit sich durch die unterschiedlichen institutionellen

Formen deutscher Staatlichkeit und die unterschiedlichen Stadien der kapitalistischen

Produktionsweise hindurch eine Struktur des Widerstreits von Regierungsrationalität und

Kritik verfestigt hat. Im Gegensatz zu einer Betrachtungsweise, welche die

bundesrepublikanische Moderne von der autokratisch-faschistischen Vorvergangenheit

abgrenzt, versucht ein diskursgeschichtlicher Ansatz also die Regelhaftigkeit des Sprechens

über transnationale Wirtschaftskrisen als lange Kontinuitäten in der deutschen Geschichte

herauszustellen und diese Regelhaftigkeit somit als formale Voraussetzung einer nationalen

Kultur erscheinen zu lassen. Es handelt sich dabei aber um keinen essentialistischen Begriff

nationaler Kultur – nicht nur, weil ihre Voraussetzungen rein formal, auf der Oberfläche des

Diskurses bestimmt werden. Sondern auch, weil sie anhand der Wissensordnung über

transnationale Wirtschaftskrise beschrieben wird und somit allein als Form und Ausdruck des

globalen Kapitalismus auftritt.

Das kritische Potential einer derartigen Diskursgeschichte im Geiste der philosophisch-

historischen Gegenwissenschaft Nietzsches und Foucaults liegt letztlich also darin, die

deutsche Geschichte auf eine Abfolge von transnationalen Wirtschaftskrisen zu verkürzen

und mittels einer archäologischen Geste eine Struktur des Widerstreits von

Regierungsrationalität und Kritik zu identifizieren. Es handelt sich dabei letztlich um einen

analytisch-fiktionalen Akt, der diese Struktur des Widerstreits als dem Kapitalismus inhärent

erkennbar macht und sich im Moment seiner Beschreibung ihm zugleich entfremdet.

Dieser kritische Erkenntnisakt beruht letztlich auf der Annahme, dass durch das Objekt einer

transnationalen Wirtschaftskrise ein Raum des Wissens aufgespannt wird, in dem nur einer

beschreibbaren Zahl von Erkenntnisstrategien der Krisenursachen und der Krisenlösung

möglich ist. Für die Vermessung dieses Wissensraums und seine Veränderung über Zeit

hinweg, birgt die öffentliche Auseinandersetzung mit der Gründerkrise erste Anhaltspunkte.

In ihr bildeten sich nicht nur Artikulationslogiken der Regierungsrationalität und der Kritik, die

auch heute noch, etwa am Beispiel der jüngsten Weltwirtschaftskrise, unschwer

nachgewiesen werden können. Insbesondere durch die Abfolge von Börsenkrach und

20

gesamtwirtschaftlichen Niedergang hat sich in der Gründerkrise eine Wissensordnung

etabliert, die weiterführende Erkenntnisse für die formale Regelhaftigkeit von

Wirtschaftskrisendiskursen birgt. Nachdem der anfängliche Börsenkrach vor allem als

Ergebnis von Überspekulation, Schwindel und einer verfehlten Wirtschaftspolitik interpretiert

wird, tritt im Zuge der anschließenden Depressionsphase sowohl in Artikulationen der

Regierungsrationalität als auch in den unterschiedlichen Formen der Kritik die

Ursachenbestimmung als Überproduktionskrise in den Vordergrund, wobei der Ursprung der

Überproduktion wahlweise im Ausland oder in Deutschland selbst verortet wird.

Aus dieser doppelten Lesbarkeit der Gründerkrise als Überproduktionskrise lässt sich eine

Intuition entwickelten, die im Laufe dieses diskurshistorischen Forschungsprojekts zu einer

These erhärtet werden soll: nämlich, dass die Wissensordnung transnationaler

Wirtschaftskrisen in der deutschen Öffentlichkeit stets von den Dichotomien Nation -

Globalität und Staat - Markt strukturiert sein könnte und, dass die einzelnen

Erkenntnisstrategie von Krisenursache und Krisenlösung letztlich dazu tendieren, diese

dichotomische Struktur dialektisch aufzuheben – ein performativer Effekt, den Koselleck

schon der aufklärerischen Kritik in einer dichotomisch strukturierten Wissensordnung

zuschrieben hatte.

Dies ist allerdings, wie gesagt, gegenwärtig nicht mehr als eine Intuition, deren Status

zugleich daran erinnert, dass der Fluchtpunkt der zu schreibenden Diskursgeschichte in der

Gegenwart zwar klar bestimmt ist, die Erwartung aber, dass durch die unterschiedlichen

Szenen dieser Geschichte hindurch die Entstehung eines Wissensraums mit einer

bestimmten Struktur und Regelhaftigkeit beobachtet werden könnte, bislang nicht mehr zu

sein scheint als eine unsichere Wette, die sich auf diskurstheoretische Annahmen stützt und

bei der zu erwartenden Widerspenstigkeit der Empirie schwere Herausforderungen an die

narrative Montagearbeit stellen wird.