Nietzsche, die Historie - und die Gründerkrise
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NIETZSCHE, DIE HISTORIE – UND DIE GRÜNDERKRISE
ODER: ÜBER DEN VERSUCH, MIT EINER DISKURSGESCHICHTE TRANSNATIONALER
WIRTSCHAFTSKRISEN IN DER DEUTSCHEN ÖFFENTLICHKEIT ZU BEGINNEN
VON GEORG SIMMERL
Vortrag am 05.01.2016 im Kolloquium von Prof. Herfried Münkler an der Humboldt-Universität zu Berlin
Deutschland, im Jahre 1874. Mit seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung „Vom Nutzen
und Nachtheil der Historie für das Leben“ wendet sich der junge Friedrich Nietzsche gegen
das Bestreben, Geschichte als Wissenschaft zu betreiben. Nietzsche verlacht die Historiker
seiner Zeit als „Sclaven“, die in der „wissenschaftlichen Fabrik arbeiten und nutzbar werden
sollen“, indem sie „ein ganz isolirtes Capitelchen der Vergangenheit […] der erlernten
Methode zum Opfer machen.“1 Mit ihrem Verständnis geschichtlicher Objektivität würden sie
damit nichts anderes zu Stande bringen, als vergangene „Meinungen und Thaten an den
Allerwelts-Meinungen des Augenblicks“ zu messen und mithin „die Vergangenheit der
zeitgemässen Trivialität anzupassen.“2 Aus Nietzsches Sicht ist diese Form der Geschichts-
Wissenschaft, wie sie gerade der Historismus an den Universitäten des jungen Kaiserreichs
repräsentiert, zugleich verantwortlich und symptomatisch für jene „historische Krankheit“, an
der die deutsche Öffentlichkeit in besonderem Maße leide – ein Hang zur Retrospektion, der
nach den Maßgaben verwissenschaftlichter Bildung schier endlose Erkenntnisse über die
Vergangenheit anhäufen lässt, darunter aber jegliche schöpferische Kraft begräbt. Die
reglose Passivität und Rückwärtsgewandtheit der von der „historischen Krankheit“ befallenen
Deutschen wiege umso schwerer, da sie dadurch fortlaufend daran gehindert werden
würden sich eine nationale Kultur zu geben. Nietzsches Angriffe auf die wissenschaftliche
Geschichtsschreibung seiner Zeit gewinnen somit eine politisch-kulturelle Schlagrichtung. Er
selbst begreift sich nämlich als Künder einer kommenden Avantgarde. Diese soll den
Deutschen eine Kultur erschaffen, ein Kultur, verstanden als „Einheit des deutschen Geistes
und Lebens“, welche heißer erstrebt werde „als die politische Wiedervereinigung.“3 Um
dieser Avantgarde den Weg zu bereiten, fordert Nietzsche sich die Vergangenheit in einer
Weise anzuverwandeln, die der schöpferischen Kraft dienlicher ist: Er will eine Historie, die
es erträgt „reines Kunstgebilde zu werden,“4 eine Geschichtsschreibung also, die „keinen
Tropfen der gemeinen […] Wahrheit in sich hat und doch im höchsten Grade Anspruch auf
1 Nietzsche, Friedrich ( 1990 [1874]): Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Stuttgart: Reclam,
S. 71. 2 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 58.
3 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 45.
4 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 66.
2
das Prädicat Objectivität machen dürfte“. Diese Form der Geschichtsschreibung wäre ein
„schaffendes Darüberschweben“, ein „liebendes Versenktsein in die empirischen Data“, ein
„Weiterdichten an gegebenen Typen“, das letztlich das „Allbekannte zum Niegehörten“
umprägt.5
Jahre später wird Nietzsche in seiner Autobiographie die Erwartung äußern, dass an seinen
Namen einmal „die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen [wird] – an eine Krisis, wie
es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung
herausbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war.“6 In
der öffentlichen Wahrnehmung seiner Gegenwart entfaltet Nietzsche diese Wirkung noch
kaum. Seine Historienschrift verkauft sich nur 200 Mal im Jahr ihres Erscheinens und löst
auch keine Kontroversen aus. Auf dem Feld des historischen Wissens aber ist Nietzsches
unzeitgemäße Betrachtung zum Verhältnis von Historie, Wissenschaft und Kultur bereits ein
Schritt, der eine zum Urteil, zur Entscheidung drängende Situation heraufbeschwört. Diese
Schrift treibt eine Spaltung voran, im Zuge derer eine Form des historischen Wissens
entstehen wird, das, in Nietzsches Worten, seinen Stachel gegen sich selbst kehrt.7 Später,
in Nietzsches genealogischen Werken, wird sich das subversive Potential dieser historisch-
philosophischen Gegenwissenschaft noch deutlicher ausprägen.
In demselben Augenblick, im Jahr 1874 also, in dem Nietzsche mit seiner Historienschrift
diese Krise im historischen Wissen vorantreibt und das Fehlen einer nationalen Kultur
beklagt, könnte ihm aber ein Ereignis entgangen sein, das doch im Begriff ist der deutschen
Nation eine Kultur zu geben, und auch selbst als Krise, wenn auch auf dem Felde der
politischen Ökonomie, öffentlich verhandelt wird. I874 ist nämlich auch das Jahr, in dem die
Gründerkrise Deutschland mit voller Härte trifft. In Mitteleuropa erhält sie ihren Namen als
End- und Umschlagpunkt der vorangegangen Gründerzeit, einer Periode wirtschaftlicher
Prosperität, deren hitzigster Phase in Deutschland mit den Jahren unmittelbar nach der
Reichsgründung zusammenfällt. Die Gründerkrise setzt 1873 mit einer Börsenpanik in Wien
ein, die sich schnell auf die globalen Börsenplätze ausbreitet, die Wirtschaft der
Industriestaaten ins Stocken geraten lässt und durch einen rapiden Preisverfall gerade den
Jahren bis 1879 den Charakter eines schweren wirtschaftlichen Niedergangs verleiht – für
Deutschland den schwersten, den es im 19. Jahrhundert erlebt.
Während sich die Wirtschaftsgeschichte mit all ihrer ökonometrischen Versiertheit in der
Frage verstrickt hat, inwiefern die internationale Konjunkturperiode, im Zuge derer sich die
Gründerkrise ereignet hat, wirklich den Namen einer „Großen Depression“ verdient, hat sich
5 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 63.
6 Nietzsche, Friedrich (1908): Ecce Homo, Kapitel 16, Nr.1.
7 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 78.
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zumindest in der deutschsprachigen Diskussion entgegen derlei retrospektiver
Spitzfindigkeiten die Einsicht durchgesetzt, dass es, unabhängig von der heutigen
Datenlage, gerade in der deutschen Öffentlichkeit dieser Zeit ein ausgeprägtes
Krisenbewusstsein gegeben habe, das zur Brutstätte einer Reihe von nachhaltigen
Transformationen in der Gesellschaft des Kaiserreichs werden sollte. Für die Beschreibung
dieser Transformationen hat der Wirtschaftshistoriker Hans Rosenberg in seinem 1967
erschienen Werk „Große Depression und Bismarckzeit“ die auch heute noch gängigen
Narrative kompiliert.8 In der Gründerkrise vollziehe sich demnach, erstens, ein Niedergang
des deutschen Liberalismus – die liberalistische Wirtschaftspolitik der vorangegangen
Hochkonjunktur wird für die Entstehung der Gründerkrise verantwortlich gemacht, in der
akademischen Nationalökonomie läuft die historische Schule dem klassischen Liberalismus
den Rang ab, und im Parlament verliert die nationalliberale Partei, die bis dahin Bismarcks
Regierung getragen hat, durch herbe Stimmverluste ihre Schlüsselstellung und spaltet sich
schließlich auch. Diese Spaltung steht mit dem zweiten großen Umbruch in Zusammenhang,
den die deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Gründerkrise erkennt: Bismarcks
wirtschaftspolitische Wende zum Protektionismus, zur Formulierung einer sogenannten
„nationalen Wirtschaftspolitik“. Mit Zöllen zum Schutz der „deutschen Arbeit“, deren
Einführung maßgeblich von den Interessensgruppen eines neu geschmiedeten Bündnisses
aus Roggen und Stahl, aus Großagrariern und Großindustrie, erwirkt wird, gehen aber
zugleich auch erste sozialpolitische Maßnahmen zur Linderung der Krisenauswirkungen
einher, welche die Kehrseite eines verschärften Kampfes gegen die Sozialdemokratie bilden.
Mit der Gründerkrise wird schließlich, drittens, auch das Aufkeimen des politischen
Antisemitismus in Verbindung gebracht. Im Zuge der aufwallenden Liberalismuskritik, die
Spekulation und Börsenschwindel für den Gründerkrach verantwortlich macht, wird der
jüdische Financier bald zur personifizierten Krisenursache und alle Juden zusehends
unverhohlener zum Feindbild erklärt, für dessen Bekämpfung sich erste politische Parteien
bilden. Zusammengenommen, erkennt die bundesrepublikanische Wirtschafts- und
Sozialgeschichte in der Gründerkrise eine Zeit, in der das Kaiserreich auf einen Pfad
verzögerter sozialer Modernisierung gerät, der letztlich nicht nur seinen Zusammenbruch im
Ersten Weltkrieg präjudiziert, sondern auch erste protofaschistische Züge in sich trägt.
In Nietzsches Historienschrift ist von all diesen politökonomischen Umwälzungen keine Spur
zu finden, obschon einzelne Versatzstücke einer Ökonomisierungskritik zu verzeichnen sind,
etwa wenn er den Arbeitsmarkt als einen der Zwecke dieser Zeit beschreibt, auf den alle
Menschen abgerichtet werden würden.9 Insofern bleibt es diesem Vortrag vorbehalten, den
8 Rosenberg, Hans (1967): Große Depression und Bismarckzeit: Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in
Mitteleuropa, Berlin: De Gruyter. 9 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil, S. 69.
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Weg, den die Historienschrift für eine subversive Geschichtsschreibung als Kunstgebilde
eröffnet hat, zu beschreiten, um die Sichtachsen des Blicks der Wirtschafts- und
Sozialhistoriker auf die Gründerkrise zu verschieben. Eine derartige Verschiebung läuft
darauf hinaus, die öffentliche Auseinandersetzung mit der Gründerkrise im Kaiserreich als
formierendes Moment eines spezifischen Diskurses über transnationale Wirtschaftskrisen
erscheinen zu lassen, der auch heute noch wirksam ist. Dem Weg Nietzsches zu folgen,
bedeutet in diesem Zusammenhang also in gewisser Weise, in die Zeit der Veröffentlichung
der Historienschrift zurückzugehen und dort, contra Nietzsche, nach den Anfängen einer
nationalen Kultur Deutschlands zu suchen, die man als deutsche Kultur des globalen
Kapitalismus beschreiben könnte.
Diese Suche ist der Ausgangspunkt meines Promotionsprojekts, das die Geschichte des
Diskurses über transnationale Wirtschaftskrisen in der deutschen Öffentlichkeit schreiben
will. Wirtschaftskrisen werden dabei als Diskursobjekte verstanden, in denen sich die
konstitutive Wissensordnung des Kapitalismus in Form eines Widerstreits von
Regierungsrationalität und Kritik ausprägt. Die Szenen dieser Diskursgeschichte bilden vier
transnationale Wirtschaftskrisen – neben der Gründerkrise im Kaiserreich, die
Weltwirtschaftskrise von 1929 – 32 in der Weimarer Republik, die Rezession der 1970er
Jahre in der Bundesrepublik und der DDR sowie die Euro-Krise ab 2010 im
wiedervereinigten Deutschland – die jeweils als singuläre diskursive Dynamiken anhand
öffentlicher Äußerungen erzählt werden. Die Montage der einzelnen Genealogien zu einer
Geschichte erlaubt es sodann der Frage nachzugehen, inwieweit sich dabei ein
Krisendiskurs formiert hat, der die Auseinandersetzung der deutschen Öffentlichkeit mit
unterschiedlichen Krisenereignissen strukturiert. In einem Akt, der also zugleich fiktional und
analytisch-theoretisch operiert, wird der Versuch unternommen einen Diskurs der deutschen
Öffentlichkeit über transnationale Wirtschaftskrisen als formale Voraussetzung deutscher
Kultur zu beschreiben, der unabhängig von der institutionellen Konfiguration deutscher
Staatlichkeit und dem konkreten Stadium der kapitalistischen Produktionsweise effektiv war
und immer noch ist. Der Umstand, dass die Euro-Krise seit 2010 den Fluchtpunkt dieser
Analyse bildet, verweist nicht zuletzt darauf, dass sie ihren Ansporn und ihre Relevanz aus
der Gegenwart gewinnt und eine bewusst selektive Geschichte dieser Gegenwart schreiben
will.
Was in diesem Vortrag in Angriff genommen werden soll, ist den Ausgangspunkt dieser
Promotion in theoretischer wie empirischer Hinsicht darzustellen, indem einerseits eine
Theorie der Formation von Wirtschaftskrisendiskursen entwickelt wird, die dem
diskursgeschichtlichen Ansatz des Gesamtprojekts unterliegt, und andererseits der Diskurs
der Gründerkrise in der deutschen Öffentlichkeit zumindest schlaglichtartig beschrieben wird,
5
um in einem abschließenden Schritt Rückschlüsse darüber zu gewinnen, wie sich die
Theorie und die Erkenntnisse aus der Betrachtung der Gründerkrise zueinander verhalten.
WAS IST UND WIE ANALYSIERT MAN EINEN WIRTSCHAFTSKRISENDISKURS?
ZWISCHEN KOSELLECK UND FOUCAULT, UND DARÜBER HINAUS
Als im Laufe des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung zusehends zur Revolution wird und
der Kapitalismus beginnt kulturelle Formen auszubilden, treten in immer kürzeren Abständen
wirtschaftliche Verwerfungen auf, die wachsende Zerstörungskraft und transnationale
Ausbreitung entfalten. Um diese ungekannten Ereignisse zu beschreiben, zu erklären und
vielleicht sogar vorherzusagen, bildet sich im gleichen Zug um den Begriff der Krise ein
politökonomisches Wissen, das in seinen Anfängen vor allem in Pamphleten und Zeitungen,
selten aber nur in wissenschaftlichen Fachpublikationen formuliert wird.10 Von den Anfängen
seiner Formierung an wird das politökonomische Krisenwissen stets zwischen einem
exogenen Verständnis der Krise als Schock, der das Wirtschaftssystem, von außen
kommend, aus seinem natürlichen Gleichgewicht bringt, und einem endogenen Verständnis
als einer dem Wirtschaftssystem immanenten Gesetzmäßigkeit, changieren. Die Disziplin der
Ökonomik selbst wird diesem Krisenwissen erst im 20. Jahrhundert gänzlich habhaft werden
und versucht es dann auch sogleich durch eine Konjunkturforschung zu neutralisieren,
welche sich anschickt die Dramen wirtschaftlicher Verwerfungen als berechenbare
Normalität, als periodische Zyklen und Wechsellagen, dazustellen.
Allein die Geschichte des politökonomischen Krisenwissens selbst gibt also schon Anlass,
die breitere und nicht allein die wissenschaftliche Öffentlichkeit als den Ort zu untersuchen,
an dem der wirtschaftliche Krisenbegriff zum Diskursobjekt wird. Darüber hinaus kann aber
auch jede einzelne Krisengeschichte, die diskursive Formierung eines jeden
Krisenereignisses als Argument für diese Vorgehensweise dienen. Denn obgleich die
Wirtschaftswissenschaft den Krisenbegriff aus ihrem technischen Vokabular schon längst
verbannt hat, kehrt er auch heute noch bei jeder wirtschaftlichen Verwerfung als zentraler
Signifikant der öffentlichen Auseinandersetzung wieder. Ihrer eigenen begrifflichen und
theoretischen Grundlage widersprechend versucht die Ökonomik dann zwar die
Deutungshoheit darüber zu bewahren, was eine Wirtschaftskrise sei und wann von ihr zu
sprechen ist. Eben dadurch kann sie aber nicht verhehlen, dass das Phänomen im
10
Vgl. Besomi, Daniele (2010): “Periodic crises”: Clement Juglar between theories of crises and theories of business cycles, in: Research in Economic History and Methodology 2010 (28A): 169 – 283; Besomi, Daniele (2010): The periodicity of crises. A survey of the literature before 1850, in: Journal of the History of Economic Thought 32 (1): 85-132; Besomi, Daniele (2011): Disease of the body politick. A metaphor for crises in the history of nineteenth century economics, in: Journal of the History of Economic Thought 33(1): 67-118.
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ontologischen Sinne gar nicht als Erscheinung in einem als autonom verstandenen
Wirtschaftssystem begriffen werden kann, wie sie selbst immer wieder glauben machen will.
Wie auch der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt festhält, entstehen Wirtschaftskrisen im
eigentlichen Sinne erst durch ein öffentlich vermitteltes Krisenbewusstsein, das in
Wechselwirkung mit der Herausbildung dominanter Zukunftserwartungen unter den
Marktteilnehmern steht.11 Wirtschaftskrisen sind also nur als kulturelle Dynamiken, als
öffentliche Diskursobjekte zu begreifen.
In diesen kulturellen Dynamiken spielt das Wissen der Ökonomik eine maßgebliche Rolle, es
vermengt sich aber stets mit anderen politökonomischen Wissensformen. Um die Regeln,
nach denen sich ein derartiger Wirtschaftskrisendiskurs in der Öffentlichkeit bildet,
beschreiben zu können, muss also zunächst, unabhängig von spezifischen
Begriffsverwendungen in der Wirtschaftswissenschaft, der Horizont möglicher Bedeutungen
umrissen werden, der vom Krisenbegriff aufgespannt wird. Für diesen Zweck hat Reinhart
Koselleck mit seinen bahnbrechenden Arbeiten zur Geschichte des Krisenbegriffs das
Fundament geliefert.12 Diese lassen sich dahingehend kondensieren, dass der Krisenbegriff
eine zur Entscheidung drängende Situation der Unsicherheit und der Ungewissheit
beschreibt und dabei in seiner neuzeitlichen Verwendung insbesondere medizinisch-
diagnostische wie theologisch-prognostische Bedeutungspotentiale aufruft. Durch das
medizinisch-diagnostische Bedeutungspotential ist mit der Beschreibung einer Situation als
Krise stets die Frage danach verbunden, welche Ursachen für ihre Entstehung verantwortlich
sind, während das theologisch-prognostische Bedeutungspotential des Begriffs zugleich die
Frage nach der künftigen Lösung der Krise – oder zumindest ihrem zu erwartenden Ausgang
– aufscheinen lässt. Krisendiskurse konstituieren sich also letztlich durch konkurrierende
Erkenntnisweisen, die unterschiedliche Antworten auf die Frage nach den Krisenursachen
und die Frage nach der Krisenlösung geben. Wissenschaftliches Urteil und eschatologische
Zuspitzung verschwimmen dabei bis hin zu ihrer Ununterscheidbarkeit.
Um sich nun weiter einer Antwort auf die Frage zu nähern, was ein Krisendiskurs ist und wie
man ihn analysieren kann, bietet es sich an, in Kosellecks Werk noch einen Schritt zurück zu
gehen und sich im Detail mit seiner Dissertation „Kritik und Krise“ auseinanderzusetzen.13
Denn die maßgeblich von Carl Schmitt beeinflusste Dissertation „Kritik und Krise“ beinhaltet
11
Vgl. Borchardt, Knut (1993): Wandlungen im Denken über wirtschaftliche Krisen, in: Comparativ 3 (6): 9-31. 12
Vgl. Koselleck, Reinhart (1982): Krise, in: Brunner, O., Conze, W. und Koselleck, R. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Band 3), Stuttgart: Klett-Cotta, 617-650; Koselleck, Reinhart (2006): Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von Krise in: Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 203-217. 13
Koselleck, Reinhart (1973 [1959]): Kritik und Krise: Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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schon gewisse proto-begriffsgeschichtliche Ansätze, so dass sie einem diskursanalytischen
Zugriff auf das Krisenphänomen wichtige Anhaltspunkte liefern kann. Zugleich ist sie aber
durch gewisse Annahmen auch weit genug von einem diskurstheoretischen Verständnis des
Krisenphänomens entfernt, um dessen Konturierung durch Abgrenzung möglich zu machen.
Die Methode, die Koselleck nämlich für seine Studie reklamiert – eine Verknüpfung von
Geistesgeschichte und soziologische Bedingungsanalyse –14 korrespondiert mit
eigentümlichen ontologischen Setzungen, die seiner leitenden Argumentation unterliegen.
An der Oberfläche erscheint diese Argumentation eingängig: der absolutistische Staat
befriede den religiösen Bürgerkrieg, indem er Politik und Moral voneinander trennt, werde
dann aber, auf Grundlage ebendieser Trennung, von den Aufklärern mit einer moralischen
Kritik überzogen. Die Kritik verkenne die zeitlose Eigenständigkeit des Politischen und
gewinne eine vom geschichtsphilosophischen Utopismus getriebene Eigendynamik, so dass
sie die Moderne als einen Zustand der Dauerkrise zugleich begründet und fortlaufend
verschärft.
Betrachtet man den ontologischen Status von Staat, Krise und Kritik in dieser
Argumentationslinie näher, so wird schnell ihre Unvereinbarkeit mit einer diskursanalytischen
Herangehensweise deutlich. Der absolutistische Staat ist für Koselleck ein Faktum, das die
Scheidung von Politik und Moral tatsächlich vollzieht. Er ist politische Struktur, eine
konstante Hintergrundbedingung der Untersuchung – und soll daher auch mit dem
„methodischen Kniff“ einer soziologischen Bedingungsanalyse erfasst werden. Letztlich leitet
Koselleck das wahre Wesen des absolutistischen Staates, so wie er es sieht, aber doch nur
aus philosophischen Explikationen der Staatsräson ab, die zwar, wie etwa Hobbes‘
Leviathan, als eingängige Fiktionen unzweifelhaft wirkmächtige Diskursereignisse gewesen
sind, aber wohl kaum die tatsächliche Struktur des absolutistischen Staates und seine
wirkliche Geschichte zum Ausdruck bringen. Den gleichen ontologischen Status wie dem
Staat spricht Koselleck auch der Krise zu. Die Krise wird nicht als Diskursobjekt verstanden,
auch nicht als Begriff analysiert, der bestimmte Bedeutungsgehalte trägt, sondern als realer,
objektiver Zustand. Diese Verortung von Staat und Krise auf der gleichen Ebene ist dabei
kein Zufall. Denn laut Koselleck ist die Krise ihrer Natur nach politisch, sie ist letztlich eine
Krise des Staates und damit der formalen Autonomie des Politischen. Um zu verstehen, wie
diese Krise aber letztlich entsteht, wo Koselleck ihre Ursachen verortet, muss auch noch der
eigentümliche ontologische Status der Kritik berücksichtigt werden. Die Kritik ist für Koselleck
zuvorderst ein epistemologisches Manöver, das Sinn zugleich begründen oder verdecken
kann. Nichtsdestotrotz schreibt Koselleck der Kritik ein dialektisches Potential, ja eine
performative Kraft zu, die es ihr erlaube auf die Realität des Staates einzuwirken: indem sie
14
Koselleck, Kritik und Krise, S. 4.
8
vorgeblich moralisch argumentiere, ignoriere die Kritik der Aufklärer die zeitlose Autonomie
des Politischen und stürze den Staat faktisch in die Krise. Die Artikulationslogik dieser Kritik
unterschlage fortlaufend ihre eigenen Effekte, indem sie den politischen Sinn der von ihr
ausgelösten Krise verdeckt. Im Zuge dessen wandele sich auch ihr ontologischer Status: die
Kritik wird von einem epistemologischen Manöver der Aufklärer zur Bedingung der Moderne,
da fortan jegliche Politik in dem von ihr eröffneten geschichtsphilosophischen Horizont agiert
und somit utopistische Zukunftsplanung wird.
Was Koselleck in „Kritik und Krise“ entwirft, ist eine eigenes Krisennarrativ, aber keine
Analyse der Krise als Diskursobjekt. Es ist das Krisennarrativ eines wehleidigen
Konservatismus, der den absolutistischen Staat gegen die in Hypokrisie umschlagende Kritik
der Aufklärer wieder ins Recht setzen will. Sobald man sich aber von all den ontologischen
Bestimmungen löst, die diesem Krisennarrativ seine Evidenz geben, hält „Kritik und Krise“
mindestens drei wichtige Anhaltspunkten für eine diskursanalytischen Zugriff auf das
Phänomen der Krise bereit.
Dies betrifft, erstens, die Spezifizierung der konkurrierenden Erkenntnisweisen, die einen
Krisendiskurs konstituieren. Im Vordergrund stehen bei Koselleck natürlich die Artikulationen
der Kritik, die letztlich die objektive Krise des Staates herbeiführen. In seinen detaillierten
Ausführungen zur Heraufkunft der Krise, dem III. Kapitel von „Kritik und Krise“, macht er
jedoch deutlich, dass als erstes die Repräsentanten der alten Ordnung ein
Krisenbewusstsein entwickeln und die Situation als solche bezeichnen. Anschließend führt er
etwa das Beispiel des physiokratischen Reformministers Turgot an, der zwar dem
Gedankengut der Aufklärung zuneigt, die heraufziehende Krise aber erkennt und als
Staatsminister zu verhindern sucht. Hier wird deutlich, dass ein Krisendiskurs von
unterschiedlichen Erkenntnisstrategien hervorgebracht wird, deren extremste Ausprägungen
entweder eine bestehende Ordnung bedroht sehen und nach Lösungen für deren Erhalt
suchen oder aber die Ursachen der Krise in der alten Ordnung selbst erkennen und eine
Neue schaffen wollen.
Die konkurrierenden Artikulationen operieren dabei – und das ist der zweite Anhaltspunkt,
den „Kritik und Krise“ für einen diskursanalytischen Zugriff auf Krisenphänomene liefert – in
dem gleichen diskursiven Raum, sie sind Teil einer Wissensordnung. In der von Koselleck
untersuchten Konstellation des 18. Jahrhunderts ist diese Wissensordnung dichotomisch,
durch den Gegensatz von Politik und Moral, strukturiert. Zwar führen seine ontologischen
Setzungen dazu, dass diese Dichotomie als Wissensordnung immer wieder aus den Augen
gerät – mal fasst er sie als Wesen des absolutistischen Staates, mal als Form der
aufklärerischen Kritik. Letztlich werden die Aussagen von Vertretern der alten Ordnung und
der Aufklärung aber auch in Kosellecks Beschreibung als konkurrierende Strategien
9
erkennbar, die beiderseits von der gleichen Wissensordnung ermöglicht werden. Während
die Strategie des absolutistischen Staates die Moral der Politik unterordnet, verfährt die Kritik
schlichtweg umgekehrt. Für den Staat handelt es sich um eine politische Krise, in der
Anarchie droht, für die Kritik um eine moralische Krise, im Zuge derer eine neue Gesellschaft
gewonnen werden kann. Die aufklärerische Erkenntnisstrategie setzt sich schließlich durch
und wird selbst von Repräsentanten des Staates übernommen.
Den dritten Anhaltspunkt für eine Diskursanalyse von Krisen liefert schließlich Kosellecks
Beobachtung, dass sich mit dem Sieg der aufklärerischen Kritik die Bedingungen für Politik
in der Moderne grundsätzlich ändern: die Geschichtsphilosophie erhält Einzug in das
politische Denken, Vergangenheit und Zukunft reißen auseinander, jedwede Politik wird
utopische Zukunftsplanung. Dadurch steht zwar in Frage, inwiefern staatliche Politik und
Kritik im – wie Koselleck ihn nennt – technizistischen Staat, überhaupt noch Antipoden sind,
in jedem Fall ist das Politische in der Moderne aber durch ein geschichtsphilosophisches
Denksystem bestimmt, das es an die Wissenschaft als eine Form säkularisierter
Eschatologie bindet.
Um nun die Erkenntnisse, die Kosellecks Ausführungen abgerungen werden konnten, wieder
auf die Frage der Formierung von Wirtschaftskrisendiskursen zurückzuführen, erscheint es
geeignet, diese Erkenntnisse mithilfe von Foucaults theoretischem Werkzeugkasten zu
schärfen. Foucault ist zwar kein Krisentheoretiker und allenfalls ein verhinderter Theoretiker
des Kapitalismus, aber gerade seine Studien nach der Zuwendung zu Fragen der
Regierungskunst erlauben es Kosellecks Perspektive auf die politische Ökonomie scharf zu
stellen und für eine historisch-philosophischen Gegenwissenschaft im Geiste Nietzsches
brauchbar zu machen.
Zunächst lässt sich mit Foucault die von Koselleck beschriebene Krisenkonstellation der
Aufklärung als Widerstreit von Regierungsrationalität und Kritik neu denken. Der Staat
erscheint dabei nicht als Wesenheit, die der aufklärerischen Kritik gegenübersteht, ihre
Vorbedingung ist und schließlich von ihr unterworfen wird. Foucaults
Gouvernementaltitäsbegriff de-ontologisiert zuvorderst essentialistische Vorstellungen von
Staatlichkeit und löst sie in den Artikulationen sich ablösender Regierungsrationalitäten auf.
Regierungsrationalität und Kritik operieren also beiderseits als epistemologische Manöver
und können damit umstandsloser als konkurrierende Artikulationslogiken eines Diskurses
verstanden werden. Wie Foucault in seinem Vortrag „Was ist Kritik?“ festhält, ist die Kritik
zugleich „Partnerin und […] Widersacherin“15 der Regierungsrationalität.
Regierungsrationalität und Kritik stehen also, man könnte sagen, in einem intimen
15
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?, Berlin: Merve, S. 12.
10
Konkurrenzverhältnis. Die Kritik kann Elemente der Regierungsrationalität ins sich
aufnehmen, wenn sie diese als ihr Objekt annimmt und reformistisch wird, genauso wie die
Regierungsrationalität selbst Formen der Kritik hervorbringt und in sich integriert. Foucault
erkennt beispielsweise in der positivistischen Wissenschaft eine Form der Kritik, die sich nur
zu gern mit Regierungskünsten vereint, er hat den Liberalismus als Prinzip der
Selbstbeschränkung und der Selbstkritik des Regierens beschrieben, während Boltanski und
Chiapello die Aufnahme kritischer Elemente in die Rechtfertigungsstrategien der
bestehenden Ordnung als den neuen Geist des postfordistischen Kapitalismus erkannt
haben.16 Und auch Koselleck benennt ein Moment dieser Verschmelzung von
Regierungsrationalität und Kritik, wenn er festhält, dass jegliche moderne Politik Erbe der
aufklärerischen Kritik ist und utopische Zukunftsplanung wird.
Worin ein an Foucault angelehntes Verständnis von Regierungsrationalität aber von
Kosellecks Analyse abweicht, ist die Frage, ob die rationale Kritik, und in der Folge auch die
moderne Politik, die Eigenständigkeit und Autonomie ihres Gegenstands notwendigerweise
verletzt und ignoriert. Nach Foucault ist es nämlich gerade das definierende Merkmal der
modernen, liberalen Regierungsrationalität, dass sie ein Objekt kennt, dessen
Eigenständigkeit und Autonomie sie sehr wohl respektiert – den Markt!17 Der vom Wissen
der Politischen Ökonomie konstituierte Markt ist der Ort, an dem die Wahrheit über die
Richtigkeit politischer Maßnahmen gesprochen wird, er ist das Prinzip, nach dessen
Maßgaben moderne Politik ausgerichtet und kritisiert wird. Foucault sucht auch im
absolutistischen Merkantilismus nach den Anfängen dieser Regierungsrationalität und
erzählt somit eine politisch-ökonomische Entstehungsgeschichte, die quer zur von Koselleck
behaupteten Transformation des Politischen durch die Aufklärung verläuft. In dieser
Erzählung verweigert Foucault der Französischen Revolution einen Ort und macht es
zugleich möglich, durch eine positive Bestimmung der liberalen Regierungsrationalität als
Ausrichtung der Politik nach den Maßgaben des Marktes, diese auch in der Moderne von
den Artikulationen der politökonomischen Kritik zu unterscheiden.
Versuchen wir das Gesagte nochmals zusammenzufassen und dabei auf den Fall von
Wirtschaftskrisendiskursen zu übertragen: Krisendiskurse beschreiben eine zur
Entscheidung drängenden Situation der Ungewissheit und formieren sich um die Frage nach
den Krisenursachen und der Frage nach ihrem Ausgang oder ihrer Lösung. Die moderne
Regierungsrationalität und die Kritik können dabei als für einen Wirtschaftskrisendiskurs
konstitutive Erkenntnisweisen verstanden werden, die miteinander konkurrieren, einander
16
Vgl. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collége de France 1978/1979, Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Boltanski, Luc/Chiapello, Eve (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. 17
Foucault, Geschichte der Gouvernmentalität II, S. 49 – 80.
11
bisweilen aber auch durchdringen, in ihrer Artikulation aber beiderseits stets faktisches Urteil
und eschatologische Zuspitzung sind. Während die Regierungsrationalität den Markt als „Ort
des Wahrsprechens“ behandelt, der auch in der akuten Krisensituation verlässlich Auskunft
über die Richtigkeit ihrer Maßnahmen gibt, nimmt sich die Kritik diese Form der
Regierungsrationalität zum Gegenstand oder visiert gar das gesamte Herrschaftssystem an.
Erscheint der reinsten Form dieser Regierungsrationalität, dem Liberalismus, eine
Wirtschaftskrise dementsprechend als ein normales Phänomen, das von exogenen Schocks
in das Wirtschaftssystem hineingetragen wird und nur überwunden werden kann, wenn es
dem wirtschaftlichen Gleichgewicht erlaubt wird, sich selbst einzustellen, so gilt etwa den
Formen marxistischer Kritik jegliche Krise als Ausprägung der immanenten
Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise, deren apokalyptisches Ende im
selben Augenblick aber auch einen Schritt näher rückt. Aufgrund dieser Überlagerung von
wissenschaftlichem Faktenurteil und eschatologischer Zukunftsvision können wirtschaftliche
Krisendiskurse auch mit einigem Recht als die Signatur desjenigen Wissensfeldes begriffen
werden, das Giorgio Agamben als „ökonomische Theologie“18 oder Joseph Vogl als
„Oikodizee“19 beschrieben haben.
Wie werden diese theoretischen Überlegungen zur Formierung von Krisendiskursen nun in
meinem Promotionsprojekt umgesetzt? Zunächst wird jede der vier Krisenszenen als ein
singuläres, dynamisches Ereignis auf der Ebene öffentlicher Äußerungen minutiös
nachgezeichnet. Dazu werden die Äußerungen von Staatsvertretern,
Wirtschaftsrepräsentanten, Wissenschaftlern und Publizisten zu Fragen der Krisenursachen
und Krisenlösungen herangezogen, wie sie in Zeitungsberichten, Regierungsdokumenten,
Parteiprogrammen, Reden sowie wissenschaftliche Publikationen und anderen kulturellen
Artefakten aufgefunden werden können. Die Montage der einzelnen diskursiven Dynamiken
zu einer jahrhunderteumspannenden Geschichte, in der alle modernen Formen deutscher
Staatlichkeit und Stadien der kapitalistischen Produktionsweise – vom Industrie- bis zum
Finanzkapitalismus – abgeschritten werden, erlaubt es sodann, einen Diskurs der deutschen
Öffentlichkeit über transnationale Wirtschaftskrisen zu beschreiben. Mit dem Begriff des
Diskurses ist dabei eine wiederkehrende Regelhaftigkeit, eine Wiederholungsstruktur des
Widerstreits von Regierungsrationalität und Kritik in unterschiedlichen Krisenszenen
anvisiert. Diese Regelhaftigkeit des Widerstreits von Regierungsrationalität und Kritik über
das Wissensobjekt der transnationalen Wirtschaftskrise könnte letztlich eine konstitutive
Wissensordnung des Kapitalismus erahnen lassen, die mit der analytischen Fokussierung
18
Vgl. Agamben, Giorgio (2010): Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 19
Vgl. Vogl, Joseph (2010): Das Gespenst des Kapitals, Zürich: Diaphanes.
12
auf die deutsche Öffentlichkeit natürlich nur als kontingente Variante bestimmt werden
könnte.
Den Fragen, welche Anfänge einer deutschen Ausprägung dieser Wissensordnung sich
anhand der Gründerkrise nachzeichnen lassen und inwieweit es möglich wäre, mit einer
derartigen historisch-philosophischen Analyse aus ebender Wissensordnung herauszutreten,
die ihren Gegenstand bildet, soll der Rest des Vortrags gewidmet sein.
DIE GRÜNDERKRISE IN DER DEUTSCHEN ÖFFENTLICHKEIT
Das politökomische Wissen, welches die deutsche Öffentlichkeit am Vorabend der
Gründerkrise durchzog, muss man sich als integriert – oder besser – als noch nicht
ausdifferenziert vorstellen. Es gab zwar bereits eine liberale Wirtschaftspresse, auch die
Sozialdemokratie hatte ihre öffentlichen Sprachrohe, aber das politökonomische Wissen
selbst, das in den Äußerungen dieser unterschiedlichen Organen zum Ausdruck kam, hatte
noch eine gewisse Kohärenz. Die publizistische Auseinandersetzung mit politökonomischen
Zusammenhängen mochte zwar einer wirtschaftswissenschaftlichen Fundierung im heutigen
Verständnis mit all seiner objektivierenden Indikatorik ermangeln, war aber gerade dadurch
auch in sich geschlossener. Die Ökonomik hatte sich noch nicht als mathematisiertes
Spezialistenwissen konstituiert, das die alleinige Deutungshoheit über wirtschaftliche
Vorgänge beansprucht und dadurch eine Vielzahl von politökonomischen
Gegenwissenschaften provoziert. Im Gegensatz dazu zeichnete sich die deutschsprachige
Nationalökonomie dieser Zeit dadurch aus, dass sie sich aus verschiedenen Disziplinen
speiste, aus dem Smith’schen System genauso wie aus den Cameral- und
Policeywissenschaften, aber dabei letztlich auch immer im philosophischen Horizont des
deutschen Idealismus operierte. Daher war sie auch in der Lage geschichtliche, mit
statistischen und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen - obschon
auch bereits damals die ewig wiederkehrenden Methodenstreitigkeiten ausgetragen wurden.
Der sich formierende Marxismus fügte sich ebenfalls als Kritik der klassischen Politischen
Ökonomie in deren Sprachspiel ein. Am Vorabend der Gründerkrise war Marxens
Krisentheorie aber noch nicht zur Gänze ausgearbeitet, nur der erste Band des Kapitals
bereits veröffentlicht. Sie würde auch – wie sich noch zeigen sollte – auf ewigem Fragment
und somit Ausgangspunkt vieler Kriseninterpretationen bleiben. Auch sie knüpfte aber direkt
an das Wissen der Nationalökonomie über das Phänomen der Wirtschaftskrisen an, das sich
im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig verdichtet hatte und vorrangig in geschichtlichen
Betrachtungen zusammengetragen wurde. In dieser Zeit wurde der Begriff der
„Produktionskrise“ geprägt, der im Gegensatz zur gängigen Bezeichnung wirtschaftlicher
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Verwerfungen als „Handelskrise“ eine gewisse analytische Tiefe versprach und deren
behauptete Ursachen benannte.20 Durch erste Krisenerfahrungen, wie etwa mit der ersten
Weltwirtschaftskrise von 1857/58, hatte sich in der breiteren Öffentlichkeit nicht nur ein
gewisses Bewusstsein für die grenzüberschreitende Verflechtung der Weltwirtschaft
verbreitet, sondern auch eine Einsicht in die prinzipielle Krisenhaftigkeit der modernen
Wirtschaftsweise, welche in prototheoretischen Vorstellungen einer Periodizität
wirtschaftlicher Stockungen mündete und deren Wiederkehr in regelmäßigen Abständen
erwarten ließ.
Insofern trifft der Gründerkrach des Jahres 1873 die deutsche Öffentlichkeit auch nicht
gänzlich unvorbereitet. Gerade in den Wirtschaftsblättern wird in der manischen
Neugründung von Aktiengesellschaften, Banken und Unternehmungen in der Folge der
Einigungskriege schon der Vorbote einer künftigen Krise erkannt, vereinzelt ist bereits von
Schwindel und Spekulationsexzessen die Rede, die Entwicklung der Börsenbewegungen
wird argwöhnisch betrachtet, bevor die Börsenpanik ihren Lauf nimmt. Als diese dann im
Oktober 1873 in Wien ausbricht, wird jedoch zumeist davon ausgegangen, dass die Eigenart
und Widerstandsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschlands eine Ansteckung
verhindern würde.21 Diese Annahme wird jedoch schnell von den Ereignissen überholt, als im
Laufe des Jahres 1874 auch in Deutschland die Börsenkurse einbrechen und erste Banken
ins Schwanken geraten. Als diskursives Ereignis bleibt der Krach aber noch weitegehend auf
die Börsenplätze, Börsenblätter und die Tagespresse begrenzt: die Kurstürze und panischen
Handlungen werden beschrieben ohne eine tiefergehende Erklärung abzugeben, allenfalls
von Überspekulation ist bisweilen die Rede. In mancher politischen Zeitschrift, wie den
Preußischen Jahrbüchern, regt sich eine Debatte über eine möglich Kreditkontraktion als
Ursache des Krachs, eine Diagnose, die sich mit der Forderung nach einer
gesamtdeutschen Zettelbank verbindet, welche im Notfall die notwendige Liquidität zur
Verfügung stellen könnte.22 Mit Ausnahme eines Kredits für die in Schieflage geratene
Qistorp’sche Vereinsbank gibt sich der Staats selbst aber nur als besorgter Beobachter der
sich zuspitzenden Lage.
Dies ändert sich auch noch nicht, als in den Jahren 1874 und 1875 allmählich die
Transformation des Börsenkrachs in eine ausgeprägte Wirtschaftskrise mit fallenden
Warenpreisen, stockender Produktion und Massenentlassungen verzeichnet wird. In seiner
Rede zur Eröffnung des Reichstages am 27. Oktober 1875 widmet der
20
Vgl. Koselleck, Krise, S. 642. 21
Vgl. Davies, Catherine (2012): Papierschwindel und Börsenpanik: Der Gründerkrach von 1873 als Globalisierungsphänomen, in: Merkur 66 (12): 1178-1185 22
Vgl. o.A. (1874): Die Bankfrage: Die Reform des deutschen Zettelbankwesens, in: Preußische Jahrbücher 33 (3): 256 – 260.
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Reichskanzleramtschef Heinrich von Delbrück zwar erstmals den wirtschaftlichen
Kalamitäten seine Aufmerksamkeit, hält aber zugleich fest, „[w]enn in Handel und Verkehr
[…] eine Stagnation stattfindet, wie sie im Laufe der Zeit periodisch wiederkehren, so liegt es
leider nicht in der Macht der Regierung, diesem Übelstande abzuhelfen, der sich in anderen
Ländern wie in Deutschland fühlbar macht.“23 Delbrück versteht Wirtschaftskrisen als stetig
wiederkehrendes, mithin natürliches, Phänomen, das daher in seinem Auftreten
unvermeidbar ist und nicht zuletzt aufgrund seiner transnationalen Ausdehnung von der
Regierung eines Staates nicht gelöst werden kann. In ähnlicher Weise hält Delbrücks
Nachfolger Karl von Hofmann ein Jahr später am gleichen Ort fest: „Der Druck, welcher auf
Handel und Verkehr nicht blos in Deutschland, sondern auch in den meisten andern Ländern
schon seit geraumer Zeit lastet, ist Gegenstand der unausgesetzten Aufmerksamkeit der
verbündeten Regierungen. Eine unmittelbare und durchgreifende Abhülfe liegt bei der
Allgemeinheit der obwaltenden Uebelstände und nach der Natur derselben nicht in der
Macht eines einzelnen Landes, wie lebhaft immer der gute Wille und die Bethätigung
desselben bei denen sein mag, die an seiner Spitze stehen.“24 Nur um dann noch
hinzuzufügen: „Wohl aber wird es als die Aufgabe der deutschen Handelspolitik zu
betrachten sein, von der heimischen Industrie Benachtheiligungen abzuwenden, welche ihr
durch die Zoll- und Steuer-Einrichtungen anderer Staaten bereitet werden.“
Wir können in diesem letzten Zusatz Hofmanns die zarten Anfänge eines
Wirtschaftskrisendiskurses in dem Sinne beobachten, dass allmählich eine Situation mit
unsicherem Ausgang erkannt wird, in der Entscheidungen unweigerlich getroffen werden
müssen. Zwar beschreibt Hoffmann, wie auch sein Vorgänger Delbrück, die Gründerkrise als
einen transnationalen, mithin allgemeinen Zustand, für den es keine unmittelbare Abhilfe
gäbe. Zumindest was manche Folgen dieser Situation in der internationalen Handelspolitik
anbelangt, weist er einen staatlichen Handlungsnotstand aber nicht gänzlich von der Hand.
Die Formierung eines Wirtschaftskrisendiskurs in der deutschen Öffentlichkeit ist also
unmittelbar mit der Entstehung einer Rationalität des Regierens in Wirtschaftskrisen
verbunden, welche sich durch einen gewissen Aktivismus bestimmt und deren
fortschreitende Intensivierung eine der maßgeblichen Entwicklungslinien der kulturellen
Dynamik der Gründerkrise gewesen ist.
Die spezifische Form, welche diese Regierungsrationalität im weiteren Verlauf der Ereignisse
annehmen sollte, war dabei eng mit einem Wandel in der Bestimmung der Krisenursachen
verbunden. Nachdem anfänglich, in unmittelbarer Folge des Börsencrashs, noch vor allem in
23
Zitiert nach No. 43. Provinzial-Correspondenz. Dreizehnter Jahrgang. 27. Oktober 1875. Online verfügbar unter: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/amtspresse/ansicht/issue//1982/ 24
Zitiert nach No. 44. Provinzial-Correspondenz. Vierzehnter Jahrgang. 1. November 1876. Online verfügbar unter: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/amtspresse/ansicht/issue/9838247/2035/
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Spekulationsexzessen die Ursache der Krise erkannt wurde, griff man im Zuge der
anschließenden Depressionsphase auf das in der Nationalökonomie dominierenden Konzept
der „Produktionskrise“ zurück und präzisierte sie bisweilen hin zum Begriff einer
„Überproduktionskrise“. Die darin eingelassene Rückführung der Krisenursachen auf ein
Übermaß industrieller Produktion, das keinen Absatz mehr finden würde, konnte durch die
eigentümliche Dialektik von Nation und Globalität, die einem Diskurs über transnationale
Wirtschaftskrisen zu Eigen zu sein scheint, auf zwei Weisen ausgedeutet werden. Einerseits
konnte der Ursprung der Überproduktion auf die ausländische Konkurrenz zurückgeführt
werden, welche den deutschen Markt mit ihren Waren überschwemmen und diese zu
Schleuderpreisen verkaufen würde. Gerade unter dem Eindruck der anhaltenden Klagen von
dem eigenen Bekunden nach unverschuldet in Not geratener Gutsbesitzer und Industrieller,
welche das erwachende öffentliche Krisenbewusstsein maßgeblich prägten, wurde diese
Lesart bald dominant und eröffnete den Weg für eine Strategie, die auch schon von
Reichskanzleramtschef Hofmann angedeutet worden war: die Einführung von Schutzzöllen
zum Schutz der „deutschen Arbeit“, welche ab 1878/79 zur maßgeblichen Leitlinie der
Bismarck’schen Krisenpolitik werden sollte. Andererseits konnte der Ursprung der
Überproduktion aber auch im eigenen Land verortet und so die Notwendigkeit neuer
Absatzmärkte postuliert werden, in welche die Überproduktion abfließen könne. Wie Ulrich
Wehler in seiner Habilitationsschrift „Bismarck und der Imperialismus“ dargelegt hat,
entwickelte sich aus der Verbreitung dieser Interpretation der Gründerkrise als
Überproduktionskrise im eigenen Lande sowohl eine Intensivierung privatwirtschaftlicher
Überseeunternehmungen als auch wachsende Forderungen nach formalem Koloniebesitz,
welche schließlich in den 1880er Jahren auch in die Tat umgesetzt werden sollten.25 Es kann
daher auch nicht überraschen, dass in einer der maßgeblichen Schriften für die Formierung
des deutschen Imperialismus, das als „politisch-ökonomische Betrachtung“ deklarierte
Traktat „Bedarf Deutschland der Kolonien?“ des evangelischen Theologen und Publizisten
Friedrich Fabri aus dem Jahr 1879, mit der Feststellung beginnt, dass das neue Reich in
einer drückende wirtschaftlichen Lage geraten sei, welche sich im Vergleich zu den anderen
„Cultur-Staaten“ am ungünstigsten ausnehme.26 Als Antwort auf dieses, so wörtlich, „Gefolge
von Krisen, Überproduktion und Arbeitslosigkeit“ entwickelt er dann im weiteren Fortgang der
Argumentation seine Forderung nach Kolonialerwerb. Sowohl imperiale Bestrebungen als
auch Schutzzoll erscheinen also als Lösungsstrategien einer Wirtschaftskrise, deren
Ursache in der Überproduktion verortet wird. Sie verbleiben aber beide im Rahmen einer
ökonomischen Regierungsrationalität, die Politik nach Maßgaben des Marktes macht. Der
25
Wehler, Hans-Ulrich (1969): Bismarck und der Imperialismus, Köln: Kiepenheuer & Witsch. 26
Fabri, Friedrich (1879): Bedarf Deutschland der Kolonien? Eine politisch-oekonomische Betrachtung, Gotha: Perthes.
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Markt, nach dem sich die Politik richtet, ist in diesem Fall aber in erster Linie der nationale,
zu dessen Schutz und Förderung der Staat aktivistisch werden muss.
An der Heraufkunft dieser Regierungsrationalität im Zuge der Gründerkrise ist in
besonderem Maße auch eine Form reformistischer Sozialkritik beteiligt, die sich im Rahmen
der akademischen Nationalökonomie herausbildet und im „Verein für Socialpolitik“ ihren
institutionellen Ort findet. Bereits im Jahr 1972 gegründet, wird der Verein im Lauf der Krise
zu einem Sprachrohr von Vertretern der historischen Schule der Nationalökonomie, die sich
für eine aktive Sozial- und Wirtschaftspolitik einsetzen. Eines ihrer führenden Mitglieder, der
Ökonom Erwin Nasse, veröffentlicht etwa im Jahr 1879 den Aufsatz „Über die Verhinderung
von Produktionskrisen durch staatliche Fürsorge“ und benennt mit dem Ziel der
Verhinderung künftiger Krisen in gewisser Weise die positive Utopie der im Entstehen
befindlichen Regierungsrationalität – auch wenn er die Möglichkeit der tatsächlichen
Verhinderung periodisch wiederkehrender Krisen aus praktischen Gründen letztendlich
ausschließt und dem staatlichen Handeln höchstens das Potential zugesteht, diese Krisen
entweder zu verlängern oder abzukürzen.27 Nasse tritt also letztlich für einen klugen
staatlichen Aktivismus ein, der die Folgen der prinzipiell unvermeidlichen Wirtschaftskrisen
abmildern soll. Dieses für den gesamten „Verein für Socialpolitik“ charakteristische Plädoyer
für eine aktive Sozial- und Wirtschaftspolitik wird von der Geschichtsschreibung oft als
Abkehr vom klassischen Liberalismus beschrieben, dessen Repräsentanten die Vereins-
Mitglieder auch als „Kathedersozialisten“ schmähen. Die liberale Wirtschaftspolitik der
Gründerjahre wird jedoch in der akademischen Nationalökonomie selten unmittelbar für die
Entstehung der nachfolgenden Krise verantwortlich gemacht, wenn man genau hinsieht
bemerkt man sogar, dass etwa Nasses Ausführungen selbst von einem liberalen
Krisenverständnis als prinzipiell unvermeidliches Ereignis ausgehen. Unter den
Zeitgenossen der Gründerkrise sind diejenigen Erkenntnisweisen der Krisenursachen, die
auf den Liberalismus abheben, vor allem in populären Pamphleten wie den Ära-Artikeln von
Franz Perrot in der „Kreuzzeitung“ aus dem Jahre 1875 oder den in der beliebten Illustrierten
„Gartenlaube“ veröffentlichten Traktaten des Publizisten Otto Glagau zum Gründungs- und
Börsenschwindel zu finden.28 Mit ihrer Vermischung der Liberalismuskritik und einer
personalisierten Bestimmung der Krisenursachen in der Figur des Juden verleihen diese
Schriften kleinbürgerlichen Ressentiments Ausdruck und bereiten durch ihr Krisennarrativ die
Entstehung antisemitischer Parteien und Vereinigung vor. Anders als die reformistische
Sozialkritik des Vereins für Socialpolitik gehen daraus aber keine expliziten Antworten auf die
27
Nasse, Erwin (1879): Über die Verhütung von Produktionskrisen durch staatliche Fürsorge, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 1879(3): S. 145 – 189. 28
Die beiden Artikelserien wurden schließlich auch in Buchform herausgebracht: vgl. Glagau, Otto (1876): Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, Leipzig: Frohberg; Perrot, Franz (1876): Die Aera Bleichröder-Delbrück-Camphausen, Berlin: Niendorf.
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Frage der Krisenlösung hervor, so dass der Antisemitismus der Regierungsrationalität noch
unversöhnlich gegenübersteht.
Worauf die reformistische Sozialkritik des Vereins für Socialpolitik letztlich abzielte, ist es
eine zweite Form der radikalen Kritik zu neutralisieren, die in der Gründerkrise einen Aufstieg
erlebt. Mit ihren Forderungen nach Reformen auf Grundlage der althergebrachten
Gesellschaftsordnung versuchen die Kathedersozialisten nämlich zuvorderst der
Sozialdemokratie den Zulauf abzugraben und so ihre revolutionären Bestrebungen
abzufangen. Marx hatte schon am Anfang des Jahres 1873 in seinem Vorwort zur zweiten
Auflage des Kapitals eine herannahende allgemeine Krise erkannt und damit eine
Entscheidungssituation in Deutschland in Aussicht gestellt, in der die gesellschaftlichen
Widersprüche aus der Latenz treten würden. Er schrieb: „[Die Krise] ist wieder im Anmarsch,
obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres
Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen, heiligen,
preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken.“29 Die Beschreibung der intensiven
Auswirkungen der Gründerkrise, von Massenentlassungen und Verarmung, sollte sodann
aber für die sozialdemokratischen Artikulationen dieser Zeit von größerer Bedeutung werden
als die Erklärung von Krisenursachen und der Ableitung klarer Handlungsstrategien daraus.
Hinsichtlich der Bestimmung der Krisenursachen bediente man sich vor allem auch der
gängigen Rede von einer zirkulär auftretenden Produktionskrise, aus der man aber zugleich
den nahenden Untergang der bestehenden Ordnung ableitete.
Da gerade die zerstörerischen Auswirkungen der wirtschaftlichen Verwerfungen begannen
die Massen der Sozialdemokratie zuzutreiben, wandte sich die Regierungsrationalität alsbald
auch der Gründerkrise als eine sozialdemokratische Krise zu. Die Regierungspraxis
übernahm zum einen manche Elemente der von den Nationalökonomen geforderten
Sozialpolitik, zum anderen wurde mit den Sozialistengesetzen von 1878 die
Sozialdemokratische Partei verboten und ihre Mitglieder intensiver verfolgt. Man muss es
wohl als ersten Beleg für die nachhaltige Zentralität des Signifikanten der Wirtschaftskrise für
die deutsche Öffentlichkeit ansehen, dass Bismarck sogar die Sozialistengesetze vor dem
Reichstag damit rechtfertigte, dass die Sozialdemokraten für die anhaltende Depression
verantwortlich seien. Er führte dort aus „solange die sozialistischen Bestrebungen diese
bedrohlichen Höhen haben, wie jetzt, wird aus der Furcht vor der weiteren Entwicklung das
Vertrauen und der Glaube nicht wiederkehren, und deshalb wird die Arbeitslosigkeit auch so
lange, wie die Sozialdemokratie uns bedroht, mit geringen Ausnahmen anhalten.“30 In
Bismarck kann man also den Vorboten einer Regierungsrationalität erkennen, die mit dem
29
Marx, Karl (1987 [1873]): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (=MEGA² II/6). Berlin: Dietz, S. 709. 30
Otto Bismarck, zitiert n. Rosenberg, Große Depression, S. 207.
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Verweis auf das prekäre Vertrauen der Marktteilnehmer zu den letzten Mitteln greift und stets
bereits ist dies als konjunkturpolitische Maßnahmen für das wirtschaftliche Wohlergehen des
deutschen Volkes zu verkaufen.
SCHLUSSFOLGERUNG
Abschließend will ich nun zwei miteinander zusammenhängende Fragen aufwerfen: In
welchem Licht erscheint die Gründerkrise, wenn man sie als Ausgangspunkt einer
Diskursgeschichte transnationaler Wirtschaftskrisen in der deutschen Öffentlichkeit
betrachtet? Und welche Erkenntnisse lassen sich, umgekehrt, für den theoretischen
Unterbau dieses diskursgeschichtlichen Ansatzes aus der Analyse der Gründerkrise
gewinnen?
Zunächst erlaubt es eine Perspektivierung der Gründerkrise als formierendes Moment eines
Widerstreits von Regierungsrationalität und Kritik, dessen Struktur eine lange Dauer
nachgesagt wird, sich von den Urteilen der älteren Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu
lösen, die, um es mit Nietzsche zu sagen, die Gründerkrise an den Allerweltsmeinungen
ihres eigenen Augenblicks, der bunderepublikanischen Nachkriegszeit, maßen. Die von
Rosenberg und Wehler repräsentierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte begriff die
Gründerkrise aus dem Blickwinkel der Modernisierungstheorie als einen Umschlagpunkt in
der Entwicklung der deutschen Gesellschaft, in dem sich eine nachhaltige Entkoppelung von
wirtschaftlicher und sozialer Modernisierung vollzogen, der deutsche Liberalismus seinen
Niedergang und erste protofaschistische Regungen ihren Ausbruch erlebt hätten. Ihr
erschien die Gründerkrise also als erste Etappe auf dem deutschen Sonderweg in die
Katastrophen des 1. und 2. Weltkriegs, ein Bild, das es der Wirtschafts- und
Sozialgeschichte zugleich erlaubte die autokratisch-faschistische Vergangenheit scharf von
der sozialen Modernität ihrer eigenen bundesrepublikanischen Gegenwart abzugrenzen.31 Im
Gegensatz dazu zieht eine diskursgeschichtliche Betrachtungsweise der Gründerkrise
insbesondere in Zweifel, dass ihre Dynamik umstandslos als Niedergang liberalen
Gedankenguts beschrieben werden kann. Vielmehr wird auf diesem Wege die Entstehung
einer aktivistischen Regierungsrationalität ersichtlich, die sich in Wechselwirkung mit
verschiedenen Formen der Kritik formierte, dabei aber sehr wohl dazu bereit war, die
Gesetze, die der Markt, im Fall der Gründerkrise: der nationale Markt, vorschrieb, als ihre
Maßgabe anzunehmen. Die Verbreitung der Liberalismuskritik in der Gründerkrise und
31
Vgl. Eley, Geoff (1986): Hans Rosenberg and the Great Depression of 1873-96. Politics and Economics in Recent German Historiography, in: Eley, Geoff (Hrsg.): From Unification to Nazism: Re-interpreting the German Past, Boston: Allen & Unwinn, 23-41.
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Bismarcks Wende vom Freihandel zum Schutzzoll hat die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
vorschnell dazu veranlasst von einem Ende der liberalen Wirtschaftspolitik zu sprechen. Eine
gouvernementalitätstheoretische Perspektive kann hingegen in der Entstehung des
wirtschaftspolitischen Aktivismus des Staats im Kontext der Gründerkrise auch das
Fortdauern liberalen Gedankenguts erkennen.
Es geht diesem Promotionsprojekt jedoch nicht vorrangig darum, ein neues Narrativ zur
Beschreibung der Gründerkrise hervorzubringen. Das Ereignis der Gründerkrise soll
vielmehr in eine Diskursgeschichte eingeordnet werden, welche ihren Fluchtpunkt in der
Gegenwart hat und dabei verfolgt, inwieweit sich durch die unterschiedlichen institutionellen
Formen deutscher Staatlichkeit und die unterschiedlichen Stadien der kapitalistischen
Produktionsweise hindurch eine Struktur des Widerstreits von Regierungsrationalität und
Kritik verfestigt hat. Im Gegensatz zu einer Betrachtungsweise, welche die
bundesrepublikanische Moderne von der autokratisch-faschistischen Vorvergangenheit
abgrenzt, versucht ein diskursgeschichtlicher Ansatz also die Regelhaftigkeit des Sprechens
über transnationale Wirtschaftskrisen als lange Kontinuitäten in der deutschen Geschichte
herauszustellen und diese Regelhaftigkeit somit als formale Voraussetzung einer nationalen
Kultur erscheinen zu lassen. Es handelt sich dabei aber um keinen essentialistischen Begriff
nationaler Kultur – nicht nur, weil ihre Voraussetzungen rein formal, auf der Oberfläche des
Diskurses bestimmt werden. Sondern auch, weil sie anhand der Wissensordnung über
transnationale Wirtschaftskrise beschrieben wird und somit allein als Form und Ausdruck des
globalen Kapitalismus auftritt.
Das kritische Potential einer derartigen Diskursgeschichte im Geiste der philosophisch-
historischen Gegenwissenschaft Nietzsches und Foucaults liegt letztlich also darin, die
deutsche Geschichte auf eine Abfolge von transnationalen Wirtschaftskrisen zu verkürzen
und mittels einer archäologischen Geste eine Struktur des Widerstreits von
Regierungsrationalität und Kritik zu identifizieren. Es handelt sich dabei letztlich um einen
analytisch-fiktionalen Akt, der diese Struktur des Widerstreits als dem Kapitalismus inhärent
erkennbar macht und sich im Moment seiner Beschreibung ihm zugleich entfremdet.
Dieser kritische Erkenntnisakt beruht letztlich auf der Annahme, dass durch das Objekt einer
transnationalen Wirtschaftskrise ein Raum des Wissens aufgespannt wird, in dem nur einer
beschreibbaren Zahl von Erkenntnisstrategien der Krisenursachen und der Krisenlösung
möglich ist. Für die Vermessung dieses Wissensraums und seine Veränderung über Zeit
hinweg, birgt die öffentliche Auseinandersetzung mit der Gründerkrise erste Anhaltspunkte.
In ihr bildeten sich nicht nur Artikulationslogiken der Regierungsrationalität und der Kritik, die
auch heute noch, etwa am Beispiel der jüngsten Weltwirtschaftskrise, unschwer
nachgewiesen werden können. Insbesondere durch die Abfolge von Börsenkrach und
20
gesamtwirtschaftlichen Niedergang hat sich in der Gründerkrise eine Wissensordnung
etabliert, die weiterführende Erkenntnisse für die formale Regelhaftigkeit von
Wirtschaftskrisendiskursen birgt. Nachdem der anfängliche Börsenkrach vor allem als
Ergebnis von Überspekulation, Schwindel und einer verfehlten Wirtschaftspolitik interpretiert
wird, tritt im Zuge der anschließenden Depressionsphase sowohl in Artikulationen der
Regierungsrationalität als auch in den unterschiedlichen Formen der Kritik die
Ursachenbestimmung als Überproduktionskrise in den Vordergrund, wobei der Ursprung der
Überproduktion wahlweise im Ausland oder in Deutschland selbst verortet wird.
Aus dieser doppelten Lesbarkeit der Gründerkrise als Überproduktionskrise lässt sich eine
Intuition entwickelten, die im Laufe dieses diskurshistorischen Forschungsprojekts zu einer
These erhärtet werden soll: nämlich, dass die Wissensordnung transnationaler
Wirtschaftskrisen in der deutschen Öffentlichkeit stets von den Dichotomien Nation -
Globalität und Staat - Markt strukturiert sein könnte und, dass die einzelnen
Erkenntnisstrategie von Krisenursache und Krisenlösung letztlich dazu tendieren, diese
dichotomische Struktur dialektisch aufzuheben – ein performativer Effekt, den Koselleck
schon der aufklärerischen Kritik in einer dichotomisch strukturierten Wissensordnung
zuschrieben hatte.
Dies ist allerdings, wie gesagt, gegenwärtig nicht mehr als eine Intuition, deren Status
zugleich daran erinnert, dass der Fluchtpunkt der zu schreibenden Diskursgeschichte in der
Gegenwart zwar klar bestimmt ist, die Erwartung aber, dass durch die unterschiedlichen
Szenen dieser Geschichte hindurch die Entstehung eines Wissensraums mit einer
bestimmten Struktur und Regelhaftigkeit beobachtet werden könnte, bislang nicht mehr zu
sein scheint als eine unsichere Wette, die sich auf diskurstheoretische Annahmen stützt und
bei der zu erwartenden Widerspenstigkeit der Empirie schwere Herausforderungen an die
narrative Montagearbeit stellen wird.