Auf Wissen aufbauen - kumulatives Lernen in Chemie und Physik

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1 Hans E. Fischer, Ina Glemnitz, Alexander Kauertz & Elke Sumfleth Universität Duisburg-Essen

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Hans E. Fischer, Ina Glemnitz, Alexander Kauertz & Elke Sumfleth Universität Duisburg-Essen

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Ein wichtiger Faktor von Unterrichtsqualität ist die vertikale Vernet-zung der fachlichen Inhalte im Unterricht, also der Prozess, mit dem der unterrichtete Fachinhalt mit dem Vorwissen der Schülerinnen und Schüler verknüpft wird. Wenn das Niveau mit dem Schülerinnen und Schülern im Unterricht auf das Lehrerangebot reagieren adäquat berücksichtigt wird, können sie in das Geschehen einbezogen wer-den und den roten Faden, den der Lehrer oder die Lehrerin verfolgt, vom Anfang bis zum Ende der Stunde erkennen und mitverfolgen. Um das Niveau der Schülerinnen und Schüler beschreiben und diag-nostizieren zu können wird ein Modell vertikaler Vernetzung benö-tigt, das im Folgenden entwickelt und erläutert wird.

21.1 Einleitung Mathematischer und naturwissen-schaftlicher Unterricht ist durch geringe vertikale Vernetzung gekennzeichnet

Beim Vergleich der mittleren Schülerleistungen in den naturwissen-schaftlichen Fächern unterschiedlicher Schultypen nach der Third International Mathematics and Sciencs Study (TIMSS) fällt auf, dass sich die Leistungsschere zwischen Schülerinnen und Schülern mit niedriger und mit hoher Leistung nach einem Jahr Unterricht im 7. Jahrgang aller Schultypen kaum öffnet. Nach Baumert et al. (1997, S. 146) spricht „(...) dieser Befund (...) für eine relativ geringe fachinterne Kohärenz der Unterrichtsstoffe. Mit jedem Themengebiet beginnt der Unterricht neu, so dass Schülerinnen und Schüler kaum einen stetigen Zuwachs ihrer mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen wahrnehmen können“. Nach Baumert, Bos & Water-mann (1999) und Baumert, u.a. (2002) wird deutlich, dass die Defizi-te im internationalen Vergleich beim konzeptuellen Verständnis lie-gen. Neben geringen Leistungen beim Leseverstehen, die immer hoch mit den Leistungen in den einzelnen Fächern korrelieren, sind besondere Schwächen beim Übertragen in neue Kontexte, beim selbstständigen Anwenden des Gelernten und beim flexiblen Um-strukturieren von Problemkonstellationen festzustellen. Neues Wis-sen in den naturwissenschaftlichen Fächern wird nach Baumert et al. (1999) additiv gebildet und weniger kumulativ. Um diesen Be-fund zu verstehen, wird im Folgenden zunächst die theoretische Grundlage vom Wissen und Lernen skizziert, um dann einige Bedin-gungen für eine Vernetzung von Fachinhalten im Chemie- und Phy-sikunterricht zu formulieren.

21.2 Modelle von Wissen und Lernen 3

21.2 Modelle von Wissen und Lernen

Aktuelle Modelle vom Wissen und Lernen haben ihre Basis in kogni-tivistischen und konstruktivistischen Auffassungen.

Aus kognitionstheoretischer Sicht wird hauptsächlich beschrieben, wie durch die Gestaltung einer Lernumgebung die internen Verarbei-tungsprozesse, also Denken und Lernen, der Lerner angeregt werden können (Leutner 1992; Weidenmann 1993; Baumgartner & Payr 1994). Die Denkprozesse sollen durch Instruktion und Lernhilfen unterstützt und gelenkt werden. Lernen wird als ein Prozess verstan-den, bei dem neue Informationen aus einem Angebot selektiert, or-ganisiert und integriert werden müssen (Mayer 2003; Witt-rock 1989). Im Vordergrund steht das Angebot, dessen Angemessen-heit hauptsächlich durch die Betrachtung von mittleren kognitiven Leistungen ermittelt wird.

Denken und Lernen ist fremdbestimmt

In einer konstruktivistischen Sichtweise werden dagegen die indivi-duellen kognitiven Prozesse betont, in der kognitive Systeme als „selbstreferentiell“ aufgefasst werden. Das Denken und das dafür verantwortliche kognitive System werden danach grundsätzlich als von seiner Umgebung (oder allgemeiner sogar von der Realität) abgekoppelt betrachtet. Sie erhalten nach Glasersfeld (1995) nur über Widerstände, die den Erkenntnisaufbau behindern, undeutliche Hinweise zur Modifizierung der kognitiven Konstrukte, die dem eigenen Handeln zugrunde gelegt werden können (Fischer 1990). Für jeden Unterricht bedeutet dies, dass die angebotenen Lernumge-bungen, also die zur Initiierung kognitiver Konstrukte nötigen Wi-derstände beim Generieren von Erkenntnis, für jeden Lerner indivi-duell eingeschätzt werden müssen (Labudde & Pfluger 1999). Die Selbststeuerung des Lernprozesses steht im Mittelpunkt dieser Über-legungen. Die radikale Konsequenz aus dieser Theorie wäre die Ablehnung der Erkennbarkeit von Realität und damit die Ablehnung instruktionaler Komponenten in Lernumgebungen.

Denken und Lernen ist selbstgesteuert

Balance zwischen Instruktion (Fremdbestimmung) und Konstruktion (Selbstbestimmung)

Unter anderem Merrill (1991) und Weidenmann (1993) weisen einen Ausweg aus den Dilemmata beider Positionen. Aus kognitivistischer Perspektive wird die Beeinflussbarkeit des Lernprozesses, und damit der entstehenden kognitiven Strukturen, durch die Gestaltung von Lernangeboten betont. Die konstruktivistische Sicht wird dadurch berücksichtigt, dass die Lernumgebung dem Lerner eigene kognitive Konstruktionen in Problem- und Handlungszusammenhängen er-möglichen soll. Damit entsteht eine Balance zwischen Instruktion (Fremdbestimmung) und Konstruktion (Selbstbestimmung), und der

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Lehrende bekommt die Aufgabe, die Lernumgebung individuell an die Bedürfnisse der Lernenden anzupassen (Adaption) (vgl. Leutner 2002; Sumfleth u.a. 2002; Fischer et al. 2003).

Wissenseinheiten und ihre Verknüpfung sind die Grundlage des Denkens

Wissen kann als eine bestimmte Menge untereinander verbundene Wissenseinheiten aufgefasst werden, deren Verbindungen auf unter-schiedliche Weise beschrieben werden können. Besonders bewährt zur Beschreibung bestimmter Aspekte von Wissen haben sich Beg-riffsnetze, Concept Maps oder Mind Maps; sie werden als propositi-onale Netze bezeichnet. Die Begriffe (z.B. Kraft oder Masse) sind die „Knoten“ in solchen Netzen. Sie sind durch funktionale oder beschreibende Beziehungen, die „Kanten“ des propositionalen Net-zes, verbunden (z.B. funktional: F=m·a oder qualitativ: A ist Be-standteil von B). Bezeichnen wir die Knoten als physikalische Fak-ten, bestehen diese Netze sowohl aus Fakten, als auch aus Verbin-dungen zwischen den Fakten, ihren Zusammenhängen.

Mit einem solchen Netzverfahren (Mapping) können Wissensstruktu-ren dargestellt werden, indem man z.B. Schülerinnen und Schüler auffordert, ein Netz ihres Wissens nach bestimmten Regeln aufzu-schreiben. Mit dem Verfahren können aber auch Sachstrukturen von Lehrplänen, Lehrbüchern oder einzelnen Aufgaben dargestellt wer-den. Je nach Sachstruktur und Zweck der Darstellung können solche „propositionalen Netzwerkmodelle“ hierarchisch oder nach mehr oder weniger voneinander unabhängigen Kategorien geordnet sein. Je abstrakter die darzustellenden Wissenselemente und ihre Vernet-zungen sind, desto höher ist die Hierarchieebene der abgebildeten kognitiven Struktur oder Sachstruktur. Auch im Unterricht eigenen sich propositionale Netze dazu eine Wissensstruktur zu erfassen, da sie Lehrerinnen und Lehrern und Schülerinnen und Schülern mindes-tens einen Gesprächsanlass über physikalisches Wissen eröffnen und den Lehrkräften Hinweise auf das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler geben (s. Kap. 6).

Aus wissenschaftlicher Sicht haben sich Concept Maps oder Mind Maps, für die Untersuchung der Wissensstruktur von Lernenden als geeignet herausgestellt (Stracke 2004; Günther 2006). Solche Maps stellen grobe Strukturen des Wissens grafisch dar. Mehr zu dieser Methode findet man bei Fischler & Peuckert (2000).

Beschäftigt man sich mit der Erweiterung des Wissens durch Lernen, steht die Frage nach der Struktur des bereits vorhandenen Wissens ebenfalls im Mittelpunkt. Für den Aufbau von Wissensstrukturen müssen die Inhalte fachlich sinnvoll und für das Individuum schlüs-sig kognitiv verarbeitet werden und dabei effizient in das bestehende

Kumulatives Lernen

21.2 Modelle von Wissen und Lernen 5

Wissensnetz integriert werden. Im Gegensatz zum additiven Lernen, bei dem Fakten auswendig gelernt werden ohne ein Wissensnetz zu generieren und ohne an bereits Gelerntes anzuknüpfen, wird dieser Lernprozess als kumulativ bezeichnet.

In den Fachdidaktiken wird die Struktur der Fachinhalte als ein ent-scheidender Faktor beim Aufbau einer komplexen fachlichen Wis-sensstruktur angesehen. Da das, was heute als Fachinhalt gilt, das Ergebnis menschlicher Anstrengungen ist, die Welt zu verstehen, gibt es aber keine „natürliche Ordnung“ des Inhalts, sondern je nach Wissensstand und Intention des Betrachters unterschiedliche Ord-nungen. Z.B. werden theoretische Physiker und Experimentalphysi-ker die Physik jeweils unterschiedlich strukturieren und beschreiben, und ein Experte wird andere Strukturen in einem physikalischen Sachtext erkennen als ein Lernanfänger. Bestenfalls kann man die Sachstruktur für einen bestimmten Zweck (z.B. für den Unterricht an bestimmten Schulen oder zum Unterrichten in einem bestimmten Schultyp) als eine aggregierte (zusammengefasste und zugeordnete) und objektivierte Wissensstruktur ansehen. Auch in dieser Inhalts-struktur gibt es die bereits bei der Wissensstruktur beschriebenen Kategorisierungen und Zentralitäten, die die Inhalte gliedern, hierar-chisieren und zueinander in Beziehung setzen.

Sachstruktur: objektivierte, zusammengefasste Wissensstrutur

Für die Fachdidaktik ist, zum Beispiel für die Ermittlung von Lerner-folgen, die Erfassung von Wissen und seiner Struktur und Wissens-zuwächsen ein wichtiger Aspekt. Hinzu kommen Unterrichtsziele, die nach den Normen naturwissenschaftlicher Grundbildung be-stimmt werden können, die allerdings an dieser Stelle nicht diskutiert werden sollen (s. Fischer 1998). Gängige Instrumente für die Ab-schätzung von Leistung und Fähigkeiten sind, neben Concept Maps, auch Leistungstests in unterschiedlichen Ausführungen. Sie können den Umfang des Wissens und die Richtigkeit von Verknüpfungen zwischen den Wissenselementen erfassen. Die bekannten internatio-nalen Vergleichstests wie die „Third International Mathematics and Science Study“ (TIMSS) und das „Programme for International Student Assessement“ (PISA) sind hierfür Beispiele.

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21.3 Konsequenzen für das Lehren: Advance Organizer und Leitideen

Das Denken der Schüler kann durch übergeordnete Konzepte angeregt und geordnet werden

Aus den dargestellten Modellen für Wissen, Lernen und Inhalten ergibt sich für Unterricht die Notwendigkeit, die Lernumgebung so zu gestalten, dass der Lerner die komplexen Fachzusammenhänge durch kognitive Aktivität möglichst sinnvoll in die eigene Wissens-struktur integrieren kann. Eine große Hilfe hierfür sind übergeordne-te Konzepte oder Leitideen, die die vorhandenen oder neu zu lernen-den Wissenselemente neu strukturieren. Sie bestehen aus Sichtwei-sen auf den Inhalt und sie sind so generell, dekontextualisiert und abstrakt wie im Unterricht möglich. Ihre Bedeutung erhalten sie dadurch, dass die Sichtweise mehr ist als die Summe aus den Wis-senselementen und ihren Verbindungen. Sie werden im Folgenden als „übergeordnete Konzepte“ der Fachstruktur bezeichnet. Sie müs-sen nicht identisch mit den Konzepten sein, die der Lernende even-tuell zur Strukturierung seines eigenen Wissens in diesem Fach be-nutzt und sie entsprechen nicht unbedingt übergeordneten Konzepten des Faches. Z.B. kann es im naturwissenschaftlichen Unterricht wissenschaftstheoretische oder historische Sichtweisen geben, die im Fach unter Umständen keine Rolle spielen.

Übergeordnete Ideen können als Advance Organizer genutzt werden

Solche abstrakten, einem Wissensbereich übergeordnete Leitideen werden auch als Advance Organizer bezeichnet und benutzt (Ausu-bel 1974). Sie sollen vor der intensiven Beschäftigung mit neuen Inhalten einen abstrakten Überblick über den zu lernenden Wissens-bereich geben und dem Lernenden organisierende Elemente zur Verfügung stellen, die eine Verbindung zwischen relevanten Konzep-ten der zu lernenden Inhalte und seiner eigenen kognitiven Struktur knüpfen. In einer Studie konnte nachgewiesen werden, dass die posi-tive Wirkung vom Lehrenden eingeführter Strukturierungshilfen auf das Lernen über die Zeit zunimmt (Luiten, Ames & Ackerson 1980). Lernende haben demnach durch diese Organisationshilfen die Mög-lichkeit das neue Wissen zu gliedern, Wesentliches schneller zu er-kennen, es gegebenenfalls zu hierarchisieren und einen roten Faden zu finden und zu verfolgen. Das Bilden von Wissensstrukturen in der oben beschriebenen Form wird dadurch begünstigt (s. Kap. 4). Vom Lehrenden im Unterricht benutzte Organisations- oder Strukturie-rungshilfen können sich auch ausschließlich auf die bereits vorher gelernten oder vermittelten Inhalte beziehen und dazu dienen, das relevante Vorwissen der Lernenden zu aktivieren, um auf diese Wei-

Leitideen sind lernförderlich

21.4 Vernetzung und Kumulatives Lernen 7

se das Anknüpfen neuer Informationen zu erleichtern (Sumfleth 1988).

Vom Lerner eigenständig erstellte Concept Maps unterstützen das Lernen in ähnlicher Weise, nur werden hier die Ordnungsparameter benutzt, die der Lernende bereits als Teil seiner kognitiven Struktur akzeptiert hat. Leitideen/Anvance Organizer wirken über längere Unterrichtseinheit nachgewiesener Maßen lernförderlich, indem sie helfen, die neuen Informationen in bereits vorhandene Wissenstruk-turen explizit zu integrieren. (Markham, Mintzes & Jones 1994).

Leitideen sind also dadurch charakterisiert, dass sie nicht einfach nur Oberbegriffe für eine Reihe weniger abstrakter Fakten sind, sondern bestimmte Sichtweisen und Zusammenhänge umfassen. Dieselben Wissenselemente (Fakten) können mit unterschiedlichen Leitideen aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedlich strukturiert und im Unterricht mit jeweils spezifischen Lehrzielen benutzt werden. Dabei stehen die Fakten je nach Leitidee in unterschiedlicher Beziehung zueinander: Unterschiedliche Zusammenhänge sind wichtig und andere Begriffe werden zentral. Ein Beispiel für übergeordnete Kon-zepte sind so genannte Leitideen oder Basiskonzepte, wie sie in der Beschreibung der Standards für den Mittleren Schulabschluss von der KMK (2005) formuliert wurden. Dabei handelt es sich um zent-rale Konzepte eines Faches oder eines inhaltlichen Teilgebiets. Die unterrichteten Inhalte stehen in einer Beziehung zu diesen Konzepten und werden durch sie wie durch eine Klammer zusammengehalten. Eine für alle naturwissenschaftlichen Fächer wichtige Leitidee ist z.B. die „Naturwissenschaftliche Arbeitsweise“, die den Unterricht aus Sicht der systematischen Erkenntnisgewinnung durch experi-mentelles oder theoretisches Problem- oder Aufgabenlösen organi-siert. Auch das „Energiekonzept“ stellt über die naturwissenschaftli-chen Fächer hinweg eine Leitidee dar.

Kerncurricula berücksichtigen übergeordnete Konzepte

21.4 Vernetzung und Kumulatives Lernen

Der Begriff der „Vernetzung“ wird im Unterricht als Einbeziehen und Abstimmen bereits behandelter Themen verstanden. Auf eher intuitive Weise wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Inhalte nicht isoliert stehen, sondern Themenbereiche innerhalb der Fächer „etwas miteinander zu tun haben“ und aufeinander aufbauen. Hierbei unterscheidet man zwischen innerfachlicher, zeitlich aufeinander folgender Vernetzung, der so genannten vertikalen Vernetzung, und der zwischenfachlichen und in der Regel parallel stattfindenden

Vertikale und hori-zontale Vernetzung

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horizontalen Vernetzung. Zum anderen dient der Begriff zur Be-schreibung der im Lehrplan explizit genannten Verknüpfungen.

Bereits 1997 wird in einer Expertise der Bund Länder Kommission vertikale uns horizontale Vernetzung explizit gefordert, allerdings ohne Untersuchungen bezüglich der Wirkung berücksichtigen zu können (BLK-Expertise 1997). Bisher konnte nämlich weder geklärt werden, in welchem Umfang vertikale Vernetzung im naturwissen-schaftlichen Unterricht relevant ist, noch welchen Einfluss sie auf das Lernen und das Wissen der Schülerinnen und Schüler hat. Den-noch äußern Baumert & Lehmann (1997) im Rahmen TIMS-Studie die Hypothese, mangelnde vertikale Vernetzung im naturwissen-schaftlichen Unterricht sei eine Ursache für den geringen, über ein Jahr gemessenen Wissenszuwachs deutscher Schülerinnen und Schü-ler. Zu analysieren, worin die Ursachen für diese Probleme im na-turwissenschaftlichen Unterricht liegen erfordert eine Vorstellung davon, wie erfolgreiche „vertikale Vernetzung“ als Vorraussetzung für „kumulatives Lernen“ wirkt.

Die bisher eher intuitive Auffassung vertikaler Vernetzung und die Verbindung zur Leistung von Schülerinnen und Schülern wird im Folgenden unter Einbezug der oben genannten Vorstellungen von Lehren, Lernen, Inhaltsstrukturen und Wissensstrukturen in einem Modell vertikaler Vernetzung konkretisiert und dadurch empirisch prüfbar. Da einschlägige Forschung (u.a. Aufschnaiter 2001; Auf-schnaiter & Aufschnaiter 2001) zeigen konnte, dass isoliertes Fak-tenwissen im Gegensatz zu komplex verarbeitetem und gut integrier-tem Wissen relativ schnell vergessen wird, ist die Komplexität des Wissensaufbaus ein gutes Modell zur Beschreibung von Vernet-zungsleistung: je komplexer der vom Lerner reproduzierte oder an-gewandte Wissensbereich desto größer die Leistung, die dabei er-bracht wurde.

Komplexität als Maß vertikaler Vernetzung

Vertikale Vernetzung wird als aktives Umgehen mit mehr oder weni-ger komplexen inhaltlichen Strukturen im Unterricht verstanden, die sowohl zuvor bearbeitete Inhalte aufgreift, als auch die diesen Inhal-ten zu Grunde liegende Struktur in einen Zusammenhang mit neu zu erarbeitenden Inhalten bringt. Das Aufgreifen der Wissensbasis und das nach vorne gerichtete „Anwenden“ bekannten Wissens sind relevante Strategien für vertikale Vernetzung.

21.4 Vernetzung und Kumulatives Lernen 9

Im Folgenden wird vertikale Vernetzung im Physikunterricht an einem Unterrichtsbeispiel deutlich gemacht: Ein

Unterrichtsbeispiel Eine Physiklehrerin möchte im Rahmen einer Unterrichtsstunde zur Kinematik die beschleunigte Bewegung eines Wagens auf einer Luftkissenbahn diskutieren. Der Wagen wird beschleunigt, indem ein fallendes Massestück bekannter Masse über eine Umlenkrolle mit einem Faden am Wagen befestigt ist.

1. Die Lehrerin bittet die Schülerinnen und Schüler zunächst, Vermu-tungen darüber anzustellen, welche ihnen bekannten physikalischen Größen zur Beschreibung des Systems wichtig sein könnten.

2. Da ein Schüler den Begriff „kinetische Energie“ nennt, bittet sie ihn, diesen für alle zu erklären.

3. Anschließend sollen die Schülerinnen und Schüler Beziehungen zwischen den genannten Größen herstellen und sie schriftlich fest-halten.

4. Dabei bilden sie Gruppen, in denen einige Schülerinnen und Schü-ler besonders die Rolle der Energien untersuchen. Andere befassen sich damit, wie die Größen gemessen werden können. Jede Gruppe führt Experimente zu ihren Vermutungen durch und hält die Ergeb-nisse fest, modifiziert die Vermutungen oder ihr experimentelles Vorgehen und führt erneut einen Versuch durch. Die Lehrerin bittet die Gruppen jeweils „wie üblich eine Ergebnisdarstellung vorzube-reiten“.

Eine oder mehrere Tatsachen nennen

Zu 1. Zur Beantwortung der Aufforderung der Lehrerin ist Vorwissen nötig, welches für diese neue Unterrichtssituation aktiviert werden soll. Die Schülerinnen und Schüler sollen Vermutungen dazu äußern, welche ihnen bekannte Größen im aktuellen Zusammenhang eine Rolle spielen könnten.

Zu 2. Die Aufforderung den Begriff „kinetische Energie“ zu erklä-ren, zielt zunächst auf die Reproduktion von Wissen. Zur Beantwor-tung reicht es aus, den Begriff durch ein einzelnes Wort bzw. durch das Nennen einer Eigenschaft zu erläutern.

Zu 3. Das Herstellen von Beziehungen zwischen den zuvor identifi-zierten Fakten, schafft eine Vernetzung der Fakten durch Zusam-menhänge. Auch dabei ist Vorwissen hilfreich, aber es geht primär darum, neue Verbindungen zu vermuten. Die Zusammenhänge wer-den durch eine übergeordnete Fragestellung (Leitidee) nach der E-nergie oder der Messbarkeit der Beziehungen (Naturwissenschaftli-che Arbeitsweisen) miteinander vernetzt. Im Vordergrund steht dabei

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die Aufgabe das neue, noch nicht gesicherte Wissen zu strukturieren und weiterem Lernen zugänglich zu machen.

Zu 4. Die Schülerinnen und Schüler sollten auf Basis zuvor erlernter Prozesse in der Lage sein, in selbst regulierter Weise naturwissen-schaftstypisch zu arbeiten. Die wesentliche Leistung besteht hierbei im Übertragen dieses Wissens auf die konkrete Situation. Die Expe-rimente müssen nach den Regeln naturwissenschaftlichen Arbeitens geplant und je nach Messvorschrift modifiziert werden, die Daten werden erhoben und dargestellt. Das systematische Vorgehen beim Experimentieren erfolgt z.B. nach der Regel der „Variablenkontrol-le“. Die zu erstellende Ergebnisdarstellung erfordert von den Schüle-rinnen und Schülern das Erfahrene auf typische, ihnen bekannte Weise zu strukturieren. Dazu benötigen sie auch Wissen über die angemessene Präsentation der Ergebnisse.

Vernetzungsleistun-gen im Unterricht

Es handelt sich zwar hier um ein optimiertes und idealisiertes Bei-spiel, dennoch wird deutlich, dass sich auch im realen Unterricht eine große Anzahl Vernetzungsleistungen in ähnlicher Art finden lassen. Nahezu jede fachliche Äußerung kann hinsichtlich dreier voneinander unabhängiger Aspekte eingeschätzt werden:

a. Nach der Art der Handlung: Handelt es sich um eine Anwei-sung/Frage/Aufgabe oder um eine Aussage/Antwort/Handlung?

b. Nach der Komplexität des Inhalts: Handelt es sich um einzelne Fakten oder vielfältig verknüpfte Zusammenhänge?

c. Nach dem Ziel des Einsatzes von Vorwissen: Soll das Wissen später reproduziert werden, sollen die Schülerinnen und Schüler das Wissen zum Aufgabenlösen anwenden oder sollen sie sich damit sogar neues Wissen erschließen?

Handelt es sich nach a) um eine Frage, so ist weniger der Umfang der Anweisung oder Frage von Interesse, sondern der Umfang der erwarteten Antwort. Bei Aussagen interessiert deren Anspruch. Diese Unterscheidung ist sinnvoll, da sehr einfache und kurze Fragen unter Umständen umfangreiche und anspruchsvolle Antworten erforderlich machen, also in großem Maße Vernetzung erfordern. Aspekt b) stellt den Zusammenhang mit der Inhaltsstruktur her: Wie komplex ein Inhalt ist, hängt eng von seiner Struktur und der Anzahl der zu ver-knüpfenden Fakten und Zusammenhänge ab. Die Art der Vernetzung wird durch Aspekt c) beschrieben. Wird ein Inhalt mit dem Ziel gelernt, später nur reproduziert zu werden, etwa für einen Test, wird er anders an bereits Gelerntes angebunden, als wenn er zum Lösen eines Problems oder zum Erarbeiten weiteren Wissens eingesetzt

21.5 Die Modellierung vertikaler Vernetzung im Unterricht 11

werden soll. Der Lernprozess umfasst die spezifische Integration in die bereits vorhandene kognitive Struktur mit dem gezielten Einsatz des Vorwissens. Diese kognitive Aktivität wird im Folgenden als Vernetzungsaktivität bezeichnet, da sie charakteristisch für aktives Vernetzen ist.

21.5 Die Modellierung vertikaler Vernetzung im Unterricht

Die Komplexität des Inhalts und die Vernetzung mit dem Vorwissen werden nun abstrakter und formalisierter dargestellt. Sie bilden dadurch die Kernpunkte eines Modells vertikaler Vernetzung, das es erlaubt, Unterricht gezielt im Hinblick auf Vernetzung zu analysie-ren, den Zusammenhang zur Fachleistung der Schülerinnen und Schüler herzustellen und Hinweise zur Unterrichtsdurchführung zu geben.

Vertikale Vernetzung nutzt die Sachstruktur und den Aufbau kognitiver Strukturen

21.5.1 Niveaus vertikaler Vernetzung

Der Inhalt wird im Zusammenhang mit Vernetzung durch seine Struktur charakterisiert. Wir beschreiben die Struktur durch zwei grundsätzliche Aspekte: ihre Qualität und die Anzahl ihrer Elemente. Unter der Annahme, eine Menge einzelner Fakten sei Basis eines bestimmten Inhaltsbereichs, stellt ein einzelnes Fakt die einfachste Struktur dar. Durch Hinzufügen weiterer unverbundener Fakten wird nur die Struktur auf dieser ersten Ebene der Komplexität ausgebaut. Sobald mindestens zwei Fakten durch eine Beziehung miteinander verbunden werden, entsteht eine neue Qualität. Auch auf dieser neu-en Ebene kann die reine Anzahl an Zusammenhängen zwischen zwei Fakten gesteigert werden, nimmt aber dadurch keine neue Qualität an. Eine sinnvolle qualitative Erweiterung stellt das Vergrößern die-ser Zusammenhänge dar, indem die Zusammenhänge untereinander verbunden werden. Auch auf dieser Ebene ist eine Steigerung durch immer umfangreichere Zusammenhänge nicht qualitätssteigernd. Handelt es sich um mehrere solcher umfangreichen verbundenen Zusammenhänge wird wiederum eine neue Stufe erreicht. Von dort aus ist eine weitere Erhöhung der Qualität der Struktur nur noch durch die Verallgemeinerung auf viele unterschiedliche Kontexte zu erreichen: Dies ist bei naturwissenschaftlich-fachlichem Inhalt durch Abstraktion zu übergeordneten Sichtweisen auf den Inhalt möglich, z.B. durch eine neue Ordnung des Inhaltsbereicht unter einer neuen Leitidee oder durch eine wissenschaftstheoretische oder historische

Die Struktur des In-halts kann in Niveaus geordnet werden

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Betrachtung des Inhaltsbereichs. Eine höhere Qualität kann die Struktur nicht mehr annehmen, da diese übergeordneten Perspekti-ven der abstrakten Betrachtung von Inhalten untereinander nicht sinnvoll in Beziehung zu setzen sind. Für jede (fachliche) Situation kann es für eine Betrachtung und Neustrukturierung nur eine be-stimmte übergeordnete Sichtweise geben.

Die beschriebene Steigerung der Qualität der Struktur führt zunächst zu sieben Stufen der Komplexität. Der Unterschied zwischen den Strukturen der fünften und sechsten Stufe ist jedoch vernachlässig-bar: Auf der fünften Stufe handelt es sich um einen Zusammenhang zwischen n Fakten. Die sechste Stufe müsste konsequenterweise mehrere dieser langen logischen Ketten enthalten. Sie könnte aus der fünften Stufe dadurch entstehen, dass in einer langen logischen Kette an geeigneter Stelle eine Verbindung herausgenommen wird, es sich somit um eine Struktur handelt, die sich von der auf der fünften Stufe durch das Fehlen eines Zusammenhangs unterscheidet. Wir akzeptie-ren diese Ungenauigkeit zu Gunsten eines kleineren und handhabba-reren Modells und fassen diese beiden Stufen zusammen. Die verbleibenden Stufen, die als Vernetzungsniveaus bezeichnet wer-den, sind somit: Fakt, mehrere Fakten, Zusammenhang, mehrere unverbundene Zusammenhänge, mehrere verbundene Zusammen-hänge, übergeordnetes Konzept.

Mit Hilfe dieser Vernetzungsniveaus kann die Vernetztheit des In-halts der Fragen, Antworten, Aussagen und Handlungen sowohl der Lehrerangebote als auch der Schülernutzung dieser Angebote be-schrieben werden. Vertikale Vernetzung hoher Komplexität liegt dann vor, wenn der Inhalt als ein relevanter Teil der Inhaltsstruktur (z.B. laut Lehrbuch) mit zahlreichen Verbindungen zu anderen In-haltsteilen auf einem hohen Vernetzungsniveau darzustellen ist.

21.5.2 Vernetzungsaktivitäten

Im Unterricht kann die Entwicklung der Komplexität mit Hilfe eines Angebot-Nutzungs-Modells beschrieben werden. Der Lehrer bietet einen Inhalt auf einer bestimmten Stufe der Vernetzung an und die Schülerinnen und Schüler nutzen dieses Angebot auf einer bestimm-ten Stufe in Bezug auf ihr Vorwissen. Für vertikale Vernetzung beu-tet dies, dass für ein bestimmtes Angebot Aktivitäten definiert wer-den müssen, mit denen die Nutzung adäquat beschrieben werden kann. Um Vernetzung und Lernen miteinander in Beziehung zu set-zen, werden als Ausgangspunkt für die Beschreibung der Aktivität, mit der das Lehrziel erreicht werden soll, Strategien und Prozesse

Lernen und Gedächtnis werden in kognitiven Aktivitäten verknüpft

21.5 Die Modellierung vertikaler Vernetzung im Unterricht 13

herangezogen, wie sie in der Psychologie zur Beschreibung von Bedeutungsentstehung in einem kognitiven System genutzt werden. Die Betrachtung der Vernetzungsaktivität auf dieser Mikroebene erlaubt es, auch die kognitive Verarbeitung weniger umfangreicher Inhalte (z. B. einzelner Fakten) zu beschreiben. Komplexere Lernak-tivitäten können aus solchen Mikroaktivitäten aufgebaut werden.

Dem kognitiven System und seiner Bedeutungsgenerierung kommt aus psychologischer Sicht für die Vernetzungsaktivitäten eine große Bedeutung zu. U.a. nach Mayer (2003) besteht das kognitive System aus dem für Lernen in der Schule relevante Kurzzeitgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis. Lernen wird in diesem Zusammenhang als das Überführen von Wissenselementen aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis verstanden, wobei der Übergang zwischen beiden Gedächtnisstrukturen durch drei Prozesse beschrieben wird, durch das Memorieren, Organisieren und Elaborieren. Memorieren beschreibt den Prozess, der durch häufige Wiederholung zum Behal-ten führt; Organisieren führt zum Schaffen von Zusammenhängen zwischen neuen Wissenselementen und ermöglicht dann das Elabo-rieren, welches neues Wissen an Bekanntes anknüpft. Diese Prozesse werden unter dem Aspekt der Vernetzung als Erinnern, Strukturieren und Elaborieren operationalisiert.

Kognitive Aktivitäten erschließen neue Wissensbereiche

Erinnern: Das Ziel ist die Bereitstellung von Wissen für weitere An-wendung. Die einfachste Art der Anwendung ist die Reproduktion.

Strukturieren: Das Ziel besteht im Organisieren eines Inhalts mit der Absicht ihm einen Platz in der eigenen Wissensstruktur zuzuweisen oder die eigene Wissensstruktur passend zu ändern. Bewusstes Orga-nisieren besteht im Ordnen, Verknüpfen, Hierarchisieren und Ele-mentarisieren.

Elaborieren Das Ziel besteht darin, den unbekannten Inhalt so auf-zubereiten, dass er mit dem Vorwissen verknüpft werden kann. Ela-borieren beinhaltet, neue Inhalte auf Relevanz, Neuheit oder Plausi-bilität zu bewerten. Dazu werden Beispiele im Vorwissen gesucht, Widersprüche identifiziert und mit logischen Schließverfahren oder Algorithmen im neuen Wissen bestehende Beziehungen erkannt.

21.5.3 Vernetzung und Unterrichtspraxis

Zur Beobachtung von Vernetzung im Klassenraum, werden Indikato-ren benötigt, mit denen Verhalten eingeschätzt werden kann. Da Vernetzungsaktivitäten eine Folge bewusster Entscheidungen sind, können diese Indikatoren im beobachtbaren Verhalten von Personen

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gefunden werden. Sie können verbaler Art sein (beispielsweise beim Erinnern die Verwendung der Vergangenheitsform) oder aus Hand-lungen zu erkennen sein (beispielsweise beim Strukturieren die Ver-wendung einer Tabelle). Es besteht dadurch die Möglichkeit die Vernetzungsaktivitäten auch im Unterricht zu erkennen und zu be-werten. Die Lehrenden können durch Nachfrage beim Lerner außer-dem feststellen, ob das Ziel, das mit der Vernetzungsaktivität verfolgt wird, auch erreicht wurde.

Mit Hilfe des Vernetzungsniveaus, als Qualität der Inhaltsstruktur, und der Vernetzungsaktivitäten, als Beschreibung der kognitiven Aktivität, kann eine Vernetzungsleistung im Unterricht adäquat be-schrieben werden.

Vernetzungsleistungen, die sich aus Aktivität und Niveau zusammen-setzen, zeigen sich sowohl in einzelnen Äußerungen, als auch in Handlungen der Schülerinnen und Schüler und der Lehrerinnen und Lehrer. Die Kürze der Vernetzungsleistungen und die Vielfältigkeit, mit der sie auftreten, erschweren die auf den gesamten Unterricht bezogene und subjektiv vom Lehrer oder der Lehrerin vorgenomme-ne Einschätzung der Vernetzung. Daher ist es unumgänglich, den Unterricht zur Analyse der Vernetzungsleistungen zu filmen. Auf diese Weise können Aussagen darüber gewonnen werden, wie häufig vernetzt wird, welche Vernetzungsaktivitäten auftreten und auf wel-chem Vernetzungsniveau Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler operieren. Die Beschreibung der Vernetzung erlaubt es, Unterschiede zwischen verschiedenen Stunden, verschiedenen Un-terrichtsteilen oder verschiedenen Schüler-Lehrer-Gesprächen aus-zumachen und abzuschätzen, in wie weit Lehrer und Schüler im Unterricht bezogen auf Vernetzung interagieren. Dadurch ist die Voraussetzung gegeben, den Einfluss inhaltlicher Strukturen auf den Unterricht und darüber hinaus den Einfluss der Vernetzung im Unter-richt auf Schülerleistungen zu bestimmen.

Unterricht zur Analyse der Vernetzungsleistungen filmen

Vernetzung ist im Unterricht sichtbar

Bei der Videoanalyse des Unterrichts werden in einzelnen Abschnit-ten Hinweise gesucht, die die Struktur des Inhalts erkennen lassen, um daraus das Vernetzungsniveau abzuleiten, und es werden Hinwei-se auf das Ziel gesucht, mit dem das Vorwissen zum Lernen verwen-det werden soll, um daraus die Vernetzungsaktivität abzuleiten. Bei der Analyse vertikaler Vernetzung im Chemie- und Physikunterricht haben sich 20 – 30 Sekunden-Intervalle bewährt, um nach jedem Intervall die Situation einzuschätzen. In diesen Abschnitten werden Hinweise auf vertikale Vernetzung gesucht und bewertet.

21.5 Die Modellierung vertikaler Vernetzung im Unterricht 15

Bei der Bestimmung des Vernetzungsniveaus von Aussagen ist grundsätzlich zu beachten, dass es nicht auf die Richtigkeit dieser Äußerungen ankommt sondern nur auf ihre Struktur. Im Folgenden wird die Ebenenstruktur vertiakler Vernetzung zusammengefasst:

Das Vernetzungs-niveau ist von der Richtigkeit der Aussage unabhängig

1. Fakt

Eine Bezeichnung, ein (Fach-)Begriff, eine Eigenschaft, ein Objekt

„Das hier ist Punkt A.“ (Bezeichnung), „Die Flüssigkeit ist rot.“ (Eigenschaft), „Das ist ein Ampèremeter.“ (Objekt)

2. Mehrere Fakten

Mehrere Begriffe, Eigenschaften, Objekte, die nicht in einer expli-ziten Beziehung zu einander stehen

3. Zusammenhang

Zusammenhänge werden durch „Kausalitäten“, „Abhängigkeiten“ oder „Bedingungen“ gekennzeichnet (aus A folgt B); eine Abhän-gigkeit ist durch „A hängt mit B zusammen“ gekennzeichnet und eine Bedingung (auch einseitig) wird durch „für A ist B notwendig“ beschrieben (z.B. auch „A ist größer als B“, oder „A wird grün, während B rot wird“).

4. Mehrere unverbundene Zusammenhänge

Mehreren Zusammenhänge, die untereinander nicht in Beziehung stehen

„Die kinetische Energie des ersten Wagens ist größer als die des zweiten. Bei beiden Wagen verursacht die Reibung eine Verlang-samung.“

5. Mehrere verbundene Zusammenhänge

Zwischen mehreren Zusammenhängen wird explizit ein Zusam-menhang hergestellt. Es handelt sich dabei um eine Abhängigkeit, eine Bedingung oder eine erklärte Kausalität, die über mehrere Zwischenschritte begründet wird.

„Die kinetische Energie des ersten Wagens ist größer als die des zweiten. Obwohl die Reibung bei beiden Wagen eine Verlangsa-mung verursacht, wird der erste Wagen wegen der Proportionalität zwischen der Reibung und der Geschwindigkeit stärker gebremst.“

6. Übergeordnetes Konzept

In einem oder mehreren konkreten Fällen wird ein übergeordnetes Konzept auf einen oder mehrere Spezialfälle angewandt und so

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dekontextualisiert. Das Erkennen einer Inhaltsstruktur, die ein ü-bergeordnetes Konzept beinhaltet bzw. darstellt, ist dadurch er-schwert, dass diese Struktur nur schwer an einzelnen Wörtern fest-zumachen ist. Außerdem sind übergeordnete Konzepte fachlich nicht immer verbindlich geklärt: Auch die wissenschaftstheoretisch unsinnige Annahme, Naturwissenschaften würden die existieren-den, verborgenen Gründe für Phänomene (=Naturgesetze) enthül-len, kann z.B. als übergeordnetes Konzept fungieren.

„Da Energie grundsätzlich in geschlossenen Systemen erhalten bleibt, ist es nicht möglich, dass sie von alleine entsteht. Es muss demnach Energie zugeführt worden sein.“

„Der Ball hat alle Kraft verbraucht, wenn er den höchsten Punkt der Flugbahn erreicht hat. Weil Körper die durch Bewegung verbrauch-te Kraft ersetzen wollen, konnte die Gewichtskraft anfangen zu wirken und den Ball wieder nach unten ziehen.“ (Fehlkonzept)

Die bisher diskutierten Indikatoren erlauben eine Einschätzung des Vernetzungsniveaus einer Aussage. Zu einer vollständigen Beschrei-bung einer Vernetzungsleistung gehört dem Modell nach auch die Einschätzung der Vernetzungsaktivitäten die in der folgenden Tabelle zusammengefasst sind:

Einschätzung von Vernetzungs-aktivitäten

Erinnern

Rückgriff auf bestehendes Wissen. Dabei steht nicht der Zweck im Vordergrund, für den das Wissen im Nachfolgenden gebraucht wird, sondern die Absicht sich wieder daran zu erinnern.

Indikatoren: Aufsagen, Wiedergeben, Aufgreifen und Reaktivieren im Imperfekt, Perfekt, Plusquamperfekt (Signalworte: „letztes Mal“, „noch einmal“, „wiederholen“ etc.): „Beim letzten Mal haben wir festgehalten, dass Kraft und Beschleunigung proportional zu-einander sind.“

Strukturieren

Organisation bestehenden Wissens

Indikatoren: Einordnen, Beschriften, Auswerten im Sinne von Kombinieren von Daten, Hervorheben und Zusammenfassen zu Gruppen und Klassen. Verwendung von Tabellen, Skizzen und Listen und Aussagen zum Zusammenfassen, Sammeln und Verglei-chen: „Diese Elemente gehören zu den Edelgasen“ (Zusammenfas-sen); „im ersten Versuch waren es 3g, im zweiten 1,5, im dritten 0,75 und so weiter“ (Sammeln), „die Stromstärke war deutlich

21.6 Rahmenbedingungen von Unterrichtsanalysen 17

größer als im zweiten Stromkreis“ (Vergleichen).

Elaborieren

Neues Wissen wird der Aufnahme in die eigene Wissensstruktur zugänglich gemacht. Charakteristisch ist die Ausrichtung der Aus-sage oder des Handelns auf das neue Wissen.

Indikatoren: Beschreiben von Beobachtungen, (Be-)Nennen der Einzelheiten einer Situation, Erkennen von Beispielen (Analogien), Aufstellen von Vermutungen, Bewertungen der Richtigkeit und Relevanz der Einzelheiten in der Situation, Erkennen von Begrün-dungen und Ziehen von Schlussfolgerungen, die auf Grund des neuen Wissens möglich sind: „Vermutlich gibt es da ein Magnet-feld“ (Vermutung), „Wasser und Öl vermischen sich offenbar nicht“ (Beobachtung beschreiben), „wenn das so ist, kann meine Vermu-tung also nicht stimmen“ (Schlussfolgern).

21.6 Rahmenbedingungen von Unterrichtsanalysen

Da das Modell vertikaler Vernetzung eine empirische Beschreibung der Vernetzung ermöglicht, können nun Faktoren untersucht werden, die a) die Vernetzung im Unterricht beeinflussen und b) die von Vernetzung beeinflusst werden.

Folgende Aspekte haben auf der Lehrerseite vermutlich einen Ein-fluss auf Vernetzung: Curriculares Vernetzungspotential, Lehrerein-stellungen, allgemeine Unterrichtsqualität und schulische Rahmen-bedingungen. Auf Seiten der Schülerinnen und Schüler sind Ein-flussfaktoren wie Fachinteresse, Motivation, schulische Anstren-gungsbereitschaft, fachbezogenes Selbstkonzept, Aufmerksamkeit im Unterricht und Vorwissen denkbar (KMK 2005).

Bedingungen einer Analyse des naturwissenschaft-lichen Unterrichts

Das curriculare Vernetzungspotential kann u.a. durch eine Sachstruk-turanalyse der Curricula ermittelt werden (Neumann et al. 2006). Da die Implementation von Inhaltsstrukturen im Unterricht von den Lehrern und Lehrerinnen und deren Interpretation der Inhalte abhän-gig ist, kann ein direkter Einfluss des Curriculums auf den Unterricht bezweifelt werden. Dennoch haben die Lehrpläne, vor allem in der Lehrerausbildung, Einfluss auf die Wahrnehmung des fachlichen Inhalts und dessen Umsetzung im Unterricht. Da die Vernetzungsan-gebote aber letztlich durch Lehrerinnen und Lehrer vorgenommen werden müssen, hängt Vernetzung im Unterricht wesentlich von Merkmalen der Lehrerinnen und Lehrer ab, wie z.B. Einstellung zum

Vernetzungs-potential und Lehrereinstellungen

18 21 Auf Wissen aufbauen - kumulatives Lernen in Chemie und Physik

Fach, fachdidaktisches Wissen, Fachwissen, Fähigkeit zu systemati-sieren, Diagnosekompetenz, Erfahrung mit Schülervorstellungen und Unterrichtsführung, die voneinander wiederum nicht unabhängig sind. Aus fachdidaktischer Forschung zum Effekt von Lehrerfortbil-dungen und zur Implementation neuer Methoden oder Konzeptionen ist bekannt, dass Lehrereinstellungen und Verhaltensweisen gegen-über Neuerungen oftmals sehr resistent sind (Gräsel & Parchmann 2005). Man kann deshalb davon ausgehen, dass die genannten Ei-genschaften sich zumindest für eine mittlere Zeitspanne (z.B. in einem Halbjahr) kaum verändern. Dies gilt erst recht für eine Unter-richtsstunde oder die Zeit zwischen zwei Stunden.

Erhebungs-instrument

In einer empirischen Untersuchung vertikaler Vernetzung müssen möglichst viele Randbedingungen durch entsprechende Erhebungs-instrumente (Tests, Fragebögen, Concept Maps, Videoanalysen) kontrolliert werden, um deren Einflüsse bestimmen zu können. Hier-bei hilft ein Modell allgemeiner (nicht fachbezogener) Unterrichts-qualität, das Aspekte der Klarheit und Strukturiertheit des Unter-richts, der Schülerorientierung, der Disziplin, der Angemessenheit des Unterrichtstempos sowie Häufigkeit und Art der Rückmeldung des Lehrers oder der Lehrerin an die Schülerinnen und Schüler um-fasst. Clausen (2002) stellt in seiner Arbeit eine Reihe von Indikato-ren zur genaueren Beschreibung all dieser Aspekte dar und zeigt auf, dass sie Rahmenbedingungen für Lernen und somit auch für Vernet-zung im Unterricht sind.

Wie passt das Angebot zur Nutzung?

Dieser Fragebogen und die beschriebene Videoanalyse vertikaler Vernetzung sind auch für Lehrerinnen und Lehrer zur Analyse des eigenen Unterrichts geeignet. Dabei ist z.B. von Interesse, auf wel-chem Niveau der Lehrende in die Entwicklung eines Konzepts oder die Initiierung einer Problemlösung einsteigt (welches Angebot ge-macht wird) und auf welchem Niveau, Schülerinnen und Schüler darauf antworten, wie sie also das Angebot nutzen. Die Passung von Angebot und Nutzung oder die Adaption des Angebots des Lehren-den auf das Niveau der kognitiven Leistung der Schülerinnen und Schüler könnte ein wichtiges Kriterium für Unterrichtserfolg sein, da Schülerinnen und Schüler bei einer sprunghaften und unvorhersehba-ren Unterrichtführung des Lehrers oder der Lehrerin keine Möglich-keit haben, sich mit dem Inhalt auseinander zu setzten, weil sie mit dem permanenten Einstellen auf neue Situationen beschäftigt sind. Durch passungsbezogene Analyse des eigenen Unterrichts und unter Berücksichtigung der Kriterien allgemeiner Unterrichtsqualität

21.6 Rahmenbedingungen von Unterrichtsanalysen 19

(Clausen 2002) können Lehrerinnen und Lehrer ihr Adaptionsver-mögen systematisch trainieren.

Die beschriebenen Einflüsse seitens der Lehrenden und der Schule oder des Systems wirken auf die Vernetzungsleistung der gesamten Klasse. Für jeden einzelnen Schüler und jeder Schülerin können weitere Einflüsse hinzukommen.

Fachinteresse, Motivation, Aufmerksamkeit, Vorwissen und Leistung

1. Fachinteresse, fachliches Selbstkonzept und Motivation sind im Wesentlichen Ergebnisse vorangegangenen Unterrichts, die nachfol-genden Unterricht jedoch beeinflussen. Die aktuelle Ausprägung des Fachinteresses, der Motivation und des fachbezogenen Selbstkon-zepts stellen Kriterien dar, die zur Entscheidung des Schülers oder der Schülerin beitragen, sich mit dem Inhalt zu befassen. Unterricht auf hohem Vernetzungsniveau dürfte Schülerinnen und Schülern mit niedrigem Selbstkonzept, geringer Motivation und geringem Fachin-teresse überfordern. Es gibt zahlreiche Ansätze diese Voraussetzun-gen zu messen(Fischer & Horstendahl 1997), von denen die Frage-bögen der großen Vergleichsstudien (TIMSS, PISA) am besten ge-eignet sind.

2. Die Aufmerksamkeit im Unterricht stellt einen individuellen Filter für das Ausmaß des Lernens und Verstehens der Inhalte und somit für die Anzahl und Relevanz der erworbenen Verknüpfungen dar (Wittrock 1989). Aufmerksamkeit von Schülerinnen und Schülern ist im Unterricht nur sehr schwer zu diagnostizieren, da sie nicht immer am Verhalten erkannt werden kann (Büttner 2004; Helmke & Renkl 1992). Sie kann nur bei einer aktiven Teilnahme am Unterricht eindeutig bestimmt werden.

3. Zu den kognitiven Voraussetzungen zählt u.a. das Vorwissen: Ha-ben die Schülerinnen und Schüler bereits tragfähige übergeordnete Konzepte in ihrer Wissensstruktur entwickelt, fällt es ihnen vermut-lich leichter neue Inhalte in die Struktur zu integrieren. Je mehr Vor-wissen im Sinne einer gut strukturierten Wissensbasis vorhanden ist, desto besser können die Schülerinnen und Schüler dieses im Sinne von Vernetzungsaktivitäten zielgerichtet einsetzen: Wer mehr weiß lernt in der selben Zeit mehr dazu, falls die Gelegenheit dazu besteht. Vorwissen bezieht sich dabei nicht nur auf fachliches Faktenwissen, sondern ist am ehesten als naturwissenschaftliche Kompetenz Im Sinne von TIMSS und PISA zu beschreiben, beinhaltet also auch Denk- und Arbeitsweisen. In Physik bietet sich zur Erfassung des Vorwissens die Verwendung der freigegeben TIMSS-Items an, die je nach Bedarf und Inhalt zusammengestellt werden und durch eigenen Aufgaben ergänzt werden können.

20 21 Auf Wissen aufbauen - kumulatives Lernen in Chemie und Physik

4. Wie eingangs erwähnt beeinflusst der Grad der Vernetzung bzw. die Passung zwischen Angebot und Nutzung ebenfalls die Schüler-leistung. Eine höhere Leistung (z.B. mit einem Test gemessen) be-steht in unserem Modell aus drei Aspekten: größerer Umfang an Wissen, höherwertige Qualität der Struktur des Wissens und schnel-lere Verfügbarkeit in passenden Situationen. Bei Konzentration auf Fachwissen besteht ein größerer Umfang des Wissens in einer größe-ren Anzahl von Fakten, Zusammenhängen, Prozeduren und überge-ordneten Konzepten. Höherwertige Qualität der Wissensstruktur bezieht sich in Analogie zu den Vernetzungsniveaus vertikaler Ver-netzung auf eine Beschreibung des Wissens unter dem Aspekt der Verknüpftheit einzelner Elemente.

Vernetzung und Passung beeinflussen die Schülerleistung

„Bessere“ Leistung bezieht sich in jedem Fall darauf, in entspre-chenden Tests einen höheren Messwertwert zu erzielen. Die Refe-renz zu einem solchen Messwert kann sowohl in einem eigenen Vortestergebnis bestehen, wie auch in dem Gesamtmittelwert oder in Testleistungen einer Vergleichsgruppe oder Vergleichsperson. Je nach Aufgabenstellung im Leistungstest werden verschiedene der oben beschriebenen Aspekte von Wissen relevant: Im „klassischen“ Faktenwissenstest kann der Umfang des Wissens bestimmt werden, in Concept Maps kann die Struktur des Wissens erfasst werden, in ei-nem zeitbegrenzten Leistungstest mit Problemlöseaufgaben wird auch die Anwendbarkeit des Wissens beurteilbar. Im Leistungstest werden die Punkte nach einem Testmodell vergeben. Als „bessere“ Leistung in Folge vertikaler Vernetzung im Unterricht sind demnach bessere Kennwerte in Concept Maps und höhere Punktwerte im Leistungstest mit Problemlöseaufgaben zu erwarten.

21.7 Implikationen für Unterricht

Der Zusammenhang zwischen der im Unterricht sichtbaren vertika-len Vernetzung und dem Wissen der Schülerinnen und Schüler einer Klasse ist durch die Beziehung zwischen neuem und altem Wissen beeinflusst: Ist das neue Wissen extrem verschieden vom mittleren Vorwissen, so ist es schwer, diese beiden miteinander zu verbinden. Das Ziel der Vernetzungsaktivität, sei es Erinnern, Strukturieren oder Explorieren, wird nicht erreicht, eine Erweiterung oder Festigung der Wissensstruktur findet nicht statt. Ist das Angebot schon bekannt, findet bestenfalls eine Festigung, aber keine Erweiterung statt.

Unterricht muss übergeordnete Konzepte nutzbar machen

Das Lehrerangebot neuen Wissens sollte nach Vygotsky (1978) des-halb geringfügig komplexer sein als das Vorwissen. Die Lehrerinnen

21.7 Implikationen für Unterricht 21

und Lehrer sollten also ihr Angebot idealerweise auf zwei Ebenen adaptieren: Das angebotene Vernetzungsniveau sollte zum Niveau passen, auf dem die Schülerinnen und Schüler einer Klasse im Mittel operieren können und das Niveau sollte im Verlauf einer Unterrichts-stunde bzw. einer Unterrichtseinheit angehoben werden (ohne die Differenz zwischen Lehrer und Schüler zu vergrößern).

Auch wenn die genaue Art des Zusammenhangs zwischen vertikaler Vernetzung und Wissen auf Grundlage empirischer Daten bisher nicht aufgeklärt werden kann, so kann dennoch ein Zusammenhang grundsätzlich nachgewiesen werden. Daher ist eine Implementation in den Unterricht sinnvoll. Ihr Sinn ergibt sich aus zwei Gründen:

1. Vertikale Vernetzung ermöglicht die Umsetzung der in den Bil-dungsstandards für den mittleren Schulabschluss geforderten Vernetzung mittels Basiskonzepten, indem diese als übergeord-nete Konzepte in die Strukturierung der Inhalte einfließen und

2. vertikale Vernetzung führt zu einer strukturierten Wissensbasis, die in einem größeren Umfang an Wissen, besserer Verknüpfung von Wissen und schnellerer Anwendbarkeit des Wissens besteht und die Voraussetzung für lebenslanges kumulatives Lernen sein kann.

Für den Unterricht ergibt sich daraus die Notwendigkeit, übergeord-nete Konzepte konsequent zu nutzen und sie unter dem Aspekt der Passung einzufühern. Schülerinnen und Schüler können dann unter Beachtung der schrittweisen Steigerung des Vernetzungsniveaus zum übergeordneten Konzept geführt werden. Dabei ist besonders die Diagnosekompetenz der Lehrerin und des Lehrers gefragt, die Fä-higkeit der Schülerinnen und Schüler hinsichtlich vertikaler Vernet-zung richtig einzuschätzen. Dies kann zum einen mit Leistungstests oder Concept Maps erfolgen, zum anderen muss das Niveu auch im Unterricht spontan erkannt und adaptiert werden.

Diagnosekompetenz im Sinne des Erkennens der Lernprozesse ihrer Schülerinnen und Schüler versetzt Lehrerinnen und Lehrer in die Lage, angemessen zu reagieren und den Unterricht erfolgreicher zu gestalten, was ebenfalls an Hand von Videoanalysen bestätigt werden konnte. Genauso bedeutend wie die Diagnose ist deshalb das Gestal-ten passender Lernsituationen. Die Anwendung gut strukturierten Wissens erfordert entsprechend komplexe Situationen: Einfaches Aufsagen gelingt ohne strukturierte Wissensbasis, das Lösen kom-plexer Probleme jedoch nicht.

22 21 Auf Wissen aufbauen - kumulatives Lernen in Chemie und Physik

Unter dem Aspekt lebenslangen Lernens kommt den Vernetzungsak-tivitäten eine weitere wichtige Rolle zu. Das bewusste Umgehen und auch das Hervorheben unterschiedlicher Aktivitäten durch den Leh-rer oder die Lehrerin, kann Schülerinnen und Schülern helfen ihr eigenes Lernen zu beobachten und zu gestalten. Dem Lehrer und der Lehrerin kann dieses Wissen über die Vernetzungsaktivitäten helfen das Angebot im Unterricht transparent, klar und effektiv zu organi-sieren.

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