Freundschaft und Fürsorge - Leseprobe

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Janosch Schobin

Freundschaft undFürsorge

Bericht über eine Sozialformim Wandel

Hamburger Edition

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Auf dem Weg zur fürsorglichen Freundschaft?

Freundschaft ist im öffentlichen Diskurs um die Zukunft der bundes-republikanischen Gesellschaft zum Fluchtpunkt sozialer Hoffnun-gen geworden. Wer das einfache Gedankenexperiment durchspielt,wie sich die Verwandtschaftssysteme einer Gesellschaft verändern,deren totale Fertilitätsrate weit unter der Bevölkerungserhaltungs-grenze und deren Scheidungsquote um die 50 % liegt, muss zu demSchluss kommen, dass Familie und Verwandtschaft in Zukunftknappe Güter werden. Zwangsläufig entstehen in den Stammbäumenjede Menge toter Enden und lichter Äste. Das partnerlose Einzelkindzweier Einzelkinder hat einfach keinen Partner, keine Geschwister,keine Tanten, keine Onkel, keine Cousins und Cousinen. Seine ein-zigen familialen Bezugspersonen sind Eltern und Großeltern – undhier kommt die Freundschaft ins Spiel. Gedankenexperimentell liegtfolgender Ausweg nahe: Menschen, denen Partner und Kinder nichtzur Verfügung stehen, sollten sich auf ihre Freunde besinnen, denndie werden auch bei niedrigen Geburtenraten und instabilen Part-nerschaften nicht knapp. Warum sollten also nicht Freunde unsereNächsten sein, wenn es um unsere Bedürfnisse nach sozialer Unter-stützung geht?

Wer den öffentlichen Diskurs zur Freundschaft in den letzten Jah-ren verfolgt hat, wird der Aussage zustimmen, dass zumindest ander diskursiven Plausibilität der Alternative Freundschaft gearbeitetworden ist. Das Fernsehen zeigt vermehrt Sendungen, in denenFreunde einander die wichtigsten Bezugspersonen sind. Man verglei-che etwa die Cosby-Show mit Friends oder Sex and the City. Dasöffentliche Bild der Freundschaft hat sich verschoben. Besondersaufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Betrachtung derFreundschaftsratgeberliteratur. Der normative Freundschaftsdiskursim Ratgebergenre hat sich im Zeitraum von 1990 bis 2006 tiefgreifendverändert.1 Ein neues Freundschaftsideal hat sich etabliert. Die femi-nine Freundschaft ist zur kanonischen Form der Freundschaft aufge-

1 Beschreibungen der Samples und der verwendeten Datensätze sowie weitereBerechnungen (methodologischer Anhang) finden Sie als Download unterwww.hamburger-edition.de.

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stiegen. Heute liegt die Deutungsmacht im Freundschaftsdiskurs beiden Frauen und der Fokus des Freundschaftsdiskurses auf Freundin-nen und der Freundschaft zwischen Frauen. Die Autoren (daraufdeuten zumindest ihre Pseudonyme und öffentlich einsehbaren Pro-file hin) sind heute meistens weiblichen Geschlechts, während sienoch Anfang der 1990er fast ausschließlich männlichen Geschlechtswaren. Die Geschichten der Ratgeber berichten heute üblicherweisevon Frauen in engen und intimen Beziehungen und nicht mehrvon Männern, die versuchen, Erfolg in der Welt des Berufs oder öf-fentlichen Angelegenheiten zu haben. Ein als weiblich deklariertesFreundschaftsideal mit einer wertenden Semantik ist entstanden.Männliche Freundschaften werden offen für schwächer gehalten alsihr weibliches Pendant, und das nicht nur von Frauen: »Beim Mannpflegen sich die Freundschaften in der Regel weniger differenziertund darum harmloser zu entwickeln.«2 Im Kielwasser der Feminisie-rung fährt dabei die Verfürsorglichung des Freundschaftsideals. Daskann man etwa an den Erklärungsweisen gebotener Handlungen derSelbsthilfebücher erkennen: Noch Anfang der 1990er-Jahre war esüblich, Freundschaftspraktiken aufgrund potenzieller Erfolge in derArbeitswelt oder des Zuwachses an persönlichem Glück zu empfeh-len. Freundschaft war der »Weg zu Erfolg, Glück und Einfluss«3.Dagegen werden Freundschaftsregeln heute vor allem kontextsensi-tiv und beziehungszentriert – also fürsorgeethisch – und nicht mehrinstrumentell und universell – also zweck- oder wertrational – be-gründet. »Weil wir Freundinnen sind«4, lautet die neue Losung. Ihrzugrunde liegendes Prinzip ist die Sorge um die Andere: »›UnterFreunden ist das so, […] zur Stelle sein, wenn man gebraucht wird,auch wenn es einen selbst zerreißt‹«.5 Es geht nicht mehr um Ego undwas Ego im Leben erreichen will, sondern um die je besondere Be-ziehung und wie in dieser für die Andere zu sorgen ist: »Was ich fürsie tun kann, ist nur bitterwenig. Aber was ich tun kann, das tue icheben.«6 Anfang der 1990er-Jahre erzählten die Ratgeber hingegen vorallem moralisierte Lehrgeschichten, in denen meist Männer die Pa-

2 Beer, Außenkontakte, S. 7.3 Ryborz, Freundschaft.4 Kerl, Freundinnen … und andere Biester.5 Boso, Freundschaft, S. 137.6 Ebenda, S. 137.

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thologie ihres Verhaltens vorführten: »Zunächst blühte das Geschäft,ebenso wie ihre Freundschaft.«7 Oder sie berichteten von den Er-folgsrezepten wichtiger oder prominenter Männer: »Wie sagte schonder kluge Ben Franklin: […]«8 Den Rest der Geschichten mag sichder Leser denken.

Aber nicht nur der Diskurs der Freundschaftsratgeber zeigt, dassder Begriff der Freundschaft tatsächlich wieder die bedeutsame poli-tische Frage nach der kollektiven Lebensgestaltung berührt. Be-stimmte Veränderungen der Sozialgesetzgebung legen den gleichenSchluss nahe. So gibt es etwa innerhalb der neuen Gesetzgebung zumArbeitslosengeld 2 (SGB II) seit 2005 einen Begriff, der die geltendeOrdnung der sozialen Fürsorge in Deutschland gehörig umgekrem-pelt hat: den der Bedarfsgemeinschaft. Zu ihr gehört nicht nur derEhepartner und das eigene Kind, sondern auch »eine Person, die mitdem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen Haus-halt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wech-selseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tra-gen und füreinander einzustehen«.9

Der rechtliche Terminus technicus, dessen instrumentelles Zieldarin besteht, Ehepaare und eingetragene Partnerschaften nicht ge-genüber informellen Partnerschaften zu benachteiligen, greift weiter,als es ursprünglich die Absicht war. Die begriffliche Weichzeichnungvon Ehe und Familie hat unvorhergesehene Nebenwirkungen. Bisdato wohlfahrtsstaatlich irrelevante Beziehungsformen sehen sichseit den Hartz-Reformen mit fürsorglichen Ansprüchen konfron-tiert. Um in Verdacht zu geraten zu einer Bedarfsgemeinschaft zu ge-hören, reicht es nämlich laut Gesetzestext aus, mehr als ein Jahr zu-sammenzuwohnen.10 Leben auch noch Kinder in der gemeinsamenWohnung, wird es schwer dem Amt zu beweisen, dass es sich nur umeine harmlose Wohngemeinschaft handelt. Es kann daher geschehen,dass man schlicht in einer Haushaltsgemeinschaft zusammenlebt undplötzlich vor dem Staat füreinander verantwortlich ist – sexuellerVerkehr oder Verwandtschaft hin oder her. Der deutsche Staat stelltdie Mitglieder einer Wohngemeinschaft, oft Freunde oder gute Be-

7 Rubin, Beziehungsfallen erkennen – Freunde gewinnen, S. 84.8 Carnegie, Wie man Freunde gewinnt (1937), S. 154.9 SGB II, § 7 (3) 3g.

10 Vgl. SGB II, § 7 (3a).

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kannte, unter den Verdacht, die Nächsten seiner Bedürftigen zusein. Unter der Hand hat damit das Duo aus kohabitativer Partner-schaft und Familie sein Monopol als Ansprechpartner des Staatesin der Frage subsidiärer sozialer Unterstützungsleistungen verloren.Die schwammige Formulierung des SGB II, § 7 vom wechselseitigenWillen zur Verantwortung macht es möglich. Die Semantik der freienGegenseitigkeit tritt ebenbürtig neben die von Abstammung undEhe. Zumindest auf der Seite der Pflichten ist damit die Freundschaftimplizit zu einer rechtlich ansprechbaren, fürsorglichen Sozialformunter anderen geworden. Der stille Wandel vollzog sich unter derHand als Nebenergebnis bestimmter begrifflicher Bestimmungen.Wenn staatliche Organe ihre Kategorien verändern, ist das meist keindummer Zufall. Laurent Thévenot und Luc Boltanski weisen daraufhin, dass solche Erhebungen zu Allgemeinheitsbegriffen mit einerVeränderung der Rechtfertigungsordnung korrespondieren.11 Demetablierten Dreiklang der ideellen Ordnung der Fürsorge – Partner-schaft, Familie, Wohlfahrtsstaat – ist ein Unterton hinzugetreten:Das Freundschaftsähnliche ist aufgerückt in die Reihe von Begriffen,die im Hinblick auf das Gemeinwohl verwendet werden, weil sichdas Eheähnliche mittlerweile zur einen Seite hin zum Freundschafts-ähnlichen auflöst.

Die Hoffnungen in die Freundschaft als fürsorgliche Lebensformhaben also bereits den Horizont einer folgerichtigen Spekulationverlassen. Sie sind unter der Hand ein öffentliches Ideal und einerechtliche Pflicht geworden. Dass Ideale und Pflichten aber oft querzu den realen Möglichkeiten ihrer Träger stehen, ist eine soziologi-sche Binsenweisheit. Es stellt sich daher die Frage, ob der Bewegungim Diskurs auch eine Bewegung in der Praxis entspricht.

Wird Freundschaft tatsächlich auch in der Praxis zu einer fürsorg-licheren Sozialform, und wenn ja, in welchem Ausmaß? Zunächststellt sich natürlich die Frage, woran dies festzumachen wäre. Zu-mindest als wichtigen Anhaltspunkt kann man die Veränderung derpersönlichen Unterstützungsnetzwerke Erwachsener nehmen.12 Hierwerden Freunde tatsächlich etwas wichtiger. Der Trend äußert sich

11 Vgl. Boltanski/Thévenot, Über die Rechtfertigung.12 Unter einem persönlichen Unterstützungsnetzwerk versteht man den Kreis je-

ner Personen, die Ego aufgrund einer persönlichen Bindung helfen, wichtigepsychophysische und soziale Bedürfnisse zu erfüllen.

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in kleinen Veränderungen. So lässt sich etwa nachweisen, dass im-mer mehr Menschen zwischen 18 und 55 Jahren mindestens einenFreund/eine Freundin haben, mit dem/der sie Wichtiges besprechen(siehe Abbildung 1).

Auch haben immer mehr Menschen der Altersgruppe 18 bis 55zumindest einen Freund oder eine Freundin, zu dem/der sie eine ge-fühlsmäßige Bindung haben. Gaben 1988 nur ca. 11,3 % der Befrag-ten eine solche Freundschaft an, waren es im Jahr 2000 bereits ca.17,5 %.13 Zu einem »ordentlichen« persönlichen Unterstützungs-netzwerk gehört heute folglich immer häufiger zumindest eine emo-

13 Die Angaben beziehen sich auf Daten des DJI-Familiensurveys. Vgl. Schobin,»Sorgende Freunde: Fragen an eine andere Lebensform«, S. 29. Aufgrund me-thodischer Veränderungen des betreffenden Surveys stehen neuere Daten hierleider nicht zur Verfügung. Da Namensgeneratoren, die nach intimen Bindun-gen fragen, weniger weit verbreitet und weniger standardisiert sind als Burtge-neratoren, konnte ich hier leider auch nicht auf methodisch vergleichbare Un-tersuchungen ausweichen.

Abbildung 1: Prozentsatz der Befragten zwischen 18 u.55 Jahren, die mindestens eine/n Freund/in nennen, mit dem/der persönliche Dinge besprochen werden. Balken repräsentie-ren designbasierte 95 %-Konfidenzintervalle.

Datenquelle: DJI-Familiensurvey 1988, 1994 u. 2000, replika-tiver Survey, SOEP 2006, alle Daten querschnittsgewichtet

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tionale, vertraute Freundschaft. Darüber hinaus gewinnen Freundein persönlichen Unterstützungsnetzwerken insgesamt etwas an Ge-wicht. Die Zahl dominant freundschaftszentrierter Unterstützungs-netzwerke ist in den meisten mittleren Alterslagen zwischen demJahr 1988 und dem Jahr 2000 in Westdeutschland gestiegen (siehe Ab-bildung 2).14

Es deutet sich demnach an, dass den großen Umwälzungen im Dis-kurs zumindest kleinere Veränderungen in der Praxis entsprechen. Esbleibt die Frage, was man daraus schließen soll. Reichen die hier knappangedeuteten Veränderungen aus, um der Freundschaft die großeRolle der fürsorglichen Lebensform der Zukunft zuzusprechen?

14 Die Kategorie der »dominanten Freundschaftszentrierung« versucht relativzu anderen Personensegmenten (in diesem Fall Partner und Familie) den Um-stand zu erfassen, dass Freunde im Vergleich die wichtigste Quelle sozialerUnterstützung einer Person sind. [Zu Inhalt und Operationalisierung des Kon-zepts siehe methodologischer Anhang als Download unter www.hamburger-edition.de].

Abbildung 2: Wahrscheinlichkeit der Zentrierung des persönlichen Unterstützungs-netzwerks (1988 u. 2000) in Abhängigkeit vom Alter, gleitende Durchschnitte,(Normalverteilungskern), Glättungsbandbreite durch least-squares cross-validation, geschätzt an 20 %-Zufallsstichprobe.

Datenquelle: DJI-Familiensurvey, 1988, 2000, replikativer Survey,alte Bundesländer, ungewichtet

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I Zwischen Diskurs und Praxis:Freundschaft und Fürsorge alssoziologisches Problem

Wie wirkt sich das neue Ideal der fürsorglichen Freundschaft auf dieChance der Durchsetzung fürsorglicher Praktiken in tatsächlichenFreundschaften aus? Begünstigt das Ideal sie? Hat der Diskurs wo-möglich keinen Einfluss auf die Fürsorglichkeit der Freunde, oderhemmt er sie gar? Die Differenzierung von Diskurs und Praxis ge-hört zu den grundlegenden Einsichten der Soziologie. Das zeigt sichbei Durkheim: Sein soziologischer Grundbegriff war der fait social,der soziale Tatbestand.15 Ein solcher ist immer schon eine Art Hy-brid aus diskursiv gehandelten Handlungsmöglichkeiten und prakti-schen Vollzügen. Denn ein sozialer Tatbestand besteht darin, dasses objektive Möglichkeiten gibt, deren Realisierung faktisch einge-schränkt ist.16 Der Einzelne könnte anders handeln, denken oderfühlen, aber er wird es niemals tun. Ein seltsamer, externer Zwanghindert ihn. Die Evidenz der Unmöglichkeit des objektiv Möglichen,das ist der fait social. Nichts anderes meint die unter Soziologen gän-gige Wendung von der »Wirklichkeit der Moral«. Bei Durkheim istnun das wissenschaftlich Mögliche noch den sozialen Bedürfnissennachgebildet.17 Überspitzt gesagt: Selbst das Bedürfnis, Kausalitätenzu erkennen, kommt aus der Verkettung von Tat und Strafe, selbstdie Vorstellung der Naturgesetze stammt von den Hausregeln ab,

15 Vgl. Durkheim, Die Regeln (1895), S. 105.16 Ich setze hier die webersche Kategorie der objektiven Möglichkeit an. Vgl. We-

ber, »Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischenKausalbetrachtung (1906)«. Die entsprechende durkheimsche Definition für diesozialen Tatbestände lautet: »… sie bestehen in besonderen Arten des Handelns,Denkens und Fühlens, die außerhalb des Einzelnen stehen und mit zwingenderGewalt ausgestattet sind, kraft deren sie sich ihnen aufdrängen.« Durkheim, DieRegeln, S. 107.

17 Vgl. Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, S. 144.

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messen an einem solchen Begriff haben die meisten Menschen inDeutschland keine Freunde, und die meisten Menschen, die sie alsFreunde bezeichnen, sind keine. Geht man den umgekehrten Wegund versucht, über die Weise, wie die Sprecher Freundschaft fest-stellen, auf die zwar kontextabhängigen, aber dennoch notwendigenEigenschaften der Freundschaft zu schließen, gerät man in ähnlicheSchwierigkeiten: Wie oben dargestellt werden mit dem Wort Freund-schaft oft vollkommen disparate Sozialformen referenziert. Ein Fli-ckenteppich, der sie alle umfasst, kann nur schwer in eine trenn-scharfe, exklusive Kategorie gepresst werden.22 Man ist logisch stetsgezwungen, widersprüchliche Eigenschaften aus der Beschreibungder Kategorie zu löschen. Am Ende verbleibt nur eine Art Minimal-beschreibung wie: »Freundschaft ist eine freiwillige Beziehung, diestets kündbar ist.« Der Begriff ist dann nicht zu eng, sondern zu weit.Er bezeichnet auf einmal alles Mögliche. Auf den ersten Blick ent-zieht sich Freundschaft daher der präzisen begrifflichen Bestimm-barkeit und damit auch des wissenschaftlichen Zugangs. Über Für-sorge in Freundschaften zu sprechen ist daher müßig, weil mannicht sinnvoll von Freundschaft sprechen kann. Dieses Argumentwird im Folgenden zu widerlegen sein.

Freundschaft: Ein abstrakter Familienbegriff

Eines der Grundprobleme des Freundschaftsbegriffs ist taxonomi-scher Natur. In logischen Termini gesprochen: Freundschaft ist eherder Deckname einer abstrakten Familie als die Referenz einer kon-kreten Kategorie. Das Wort bezeichnet nicht einfach eine bestimmteBeziehungsart mit feststellbaren Eigenschaften, sondern eine Familie

ländern wie Deutschland, Norwegen und Großbritannien beträgt der Anteilder Verwandten an den besten engen Freunden über 15 %. In »traditionelleren«Ländern wie Japan oder den USA schnellt dieser Anteil schnell auf 30 % undmehr. ISSP 2001, eigene Berechnung.

22 Studien, die mittels statistischer Erhebungen Kategorien zu ermitteln versu-chen – wie etwa die von Fischer –, kommen zu sehr unbrauchbaren Resultaten,etwa, dass Freundschaft eine Restkategorie sei. Vgl. Fischer, »What Do WeMean By ›Friend‹?«, S. 300ff. Dem kann man nicht zustimmen. Personen ver-wenden den Begriff »Freund« nicht nur, wenn sie keine andere Kategorie parathaben, sondern auch auf allerlei andere Weise. Fischer sitzt dem Irrtum auf, dieSemantik eines Begriffs über die statistische Erhebung seiner üblichen Verwen-dungsweisen klären zu wollen.

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abstrakter Beziehungsformen. Der Begriff hat so aufgefasst zweiEigenarten, die ihn von üblichen soziologischen Kategorien unter-scheidet: Erstens referiert er konzeptuell auf ein Geflecht graduellmiteinander verwandter Sozialformen. Das hat folgende Konse-quenz: Da man unter Freundschaft implizit eine Gruppe von So-zialformen versteht, die oft nur durch eine intermediäre Kette mit-einander verwandt sind, gibt es nicht notwendigerweise irgendeineEigenschaft, die allen gemein ist. Dieser Umstand erklärt hinrei-chend, warum Definitionsversuche über das aristotelische VerfahrenGenus proximum et differentia specifica zwangsläufig scheitern. Diezweite Bestimmung des Begriffs erzeugt einen weiteren, in der So-ziologie durch die traditionelle Verwendung von Idealtypen jedochüblicheren Sachverhalt. Das Attribut abstrakt soll andeuten, dass essich bei Freundschaft um eine Tatsache handelt, die niemals als sieselbst, also in »voller Reinheit« beobachtbar ist. Sie muss sich im Me-dium einer anderen sozialen Tatsache artikulieren. Das Phänomen istunselbstständig im husserlschen Sinn des Wortes.23 Es muss etwashinzutreten, damit die besonderen Strukturen der Freundschaftsichtbar werden. Für die Freundschaftsforschung hat das eine gravie-rende Konsequenz. Freundschaft erforscht man prinzipiell unterdem Gesichtspunkt eines Aspekts. Freundschaft als solche zu erfor-schen, ist, als ob man versuchte, Farben ohne einen Gegenstand zusehen, an dem sich das Licht bricht. Man kann also Freundschaft nurerforschen, wenn man einen Aspekt – etwa Fürsorge – an sie heran-trägt.

Normatives Gepäck: Freundschaftsideal undFreundschaftsbezeichnung

Neben der falschen Beurteilung der Begriffsart gibt es eine weiteretraditionelle Schwierigkeit mit dem Freundschaftsbegriff, die schonin das Problemfeld des Zusammenspiels von Diskurs und Praxis fällt.Der Begriff trägt schweres normatives Gepäck, und das gleich dop-pelt: Freundschaft bezeichnet nämlich zugleich ein diskursives Idealund eine strategische Bezeichnungspraxis. Die Eigenschaft, ein Idealzu benennen, erzeugt in der Feldforschung ein gravierendes Pro-

23 Zu Husserls Unterscheidung zwischen Konkretem und Abstraktem, die er vonCarl Stumpf abgeleitet hat, vgl. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologieund phänomenologischen Philosophie, S. 35ff.

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blem. Setzt etwa eine befragte Person Freundschaft als Ideal an, ent-steht das forschungslogische Ärgernis, dass er alle seine Beziehungennur in Distanz zu diesem Vorbild einschätzt. Personen, die ein uner-reichbares Muster dieser Art anlegen, kennen dann oft höchstens ein,zwei Bekannte, die den hohen Erwartungen annähernd entsprechen,aber keine Freunde. Ebenso problematisch ist für die Feldforschungdie Verwendung des Freundschaftsbegriffs als eine Art strategischeBezeichnungspraxis. Durch das Wort Freundschaft werden traditio-nell unstatthafte, unorthodoxe und untypische Beziehungen einge-kleidet, etwa zwischen Politikern und Lobbyisten, zwischen Liebha-bern oder schlicht zwischen unerwarteten Sozialpartnern. Besondersauf der Ebene der Camouflage homosexueller Beziehungen hat dasWort Freundschaft traditionell die besagte Funktion erfüllt, da dasantike, durchaus fleischliche Ideal der Freundschaft, ausgehend vonAugustinus, über den heiligen Thomas bis hin zur protestantischenMystik, in der christlichen Theologie zu einer reinen Liebe derForm geworden war.24 Die Verwendung des idealisierten und zudemdurch Jahrhunderte der Entsexualisierung unverdächtigen Begriffsder Freundschaft als Code, um über Homosexualität zu sprechen,hat Heinrich Detering in seiner Studie »Das offene Geheimnis« imDetail belegt.25 Der Begriff der Freundschaft erfüllt, gerade weil ermit einem System starker Ideale assoziert wird, besonders gut dieAufgabe, subversive, alternative und präzedenzlose Beziehungeneinzukleiden. Nun wäre es bestimmt vermessen, an dieser Stelle zubehaupten, dass all die unbotmäßigen Verwendungen des Freund-schaftsbegriffs zur Bezeichnung neu- und andersartiger Beziehungeneinfach nur sprachliche Fehler oder Täuschungsversuche seien. DieBezeichnung als Freundschaft überführt eine ansonsten unbenenn-bare, strafbare oder unerwünschte Beziehung in eine respektableForm. Ein Soziologe kann untersuchen, wann und unter welchenBedingungen ein solcher Versuch gelingt oder misslingt. Selbst ent-scheiden darf er das natürlich nicht. Dessen ungeachtet bleibt dasProblem bestehen, dass der Freundschaftsbegriff eine Tendenz zuspontanen Wucherungen hat. So gibt es in Deutschland etwa Tier-freunde aller Art, und internetbasierte soziale Netzwerke wie Face-book haben dem Wort Freundschaft jüngst zu ganz neuen Reich-

24 Vgl. Nötzoldt-Linden, Freundschaft, S. 46–50.25 Detering, Das offene Geheimnis.

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weiten verholfen. Der Begriff hat eine Tendenz zum Uferlosen,besonders dort, wo es Interessen einzukleiden, Leidenschaften zuverkleiden und Namenloses zu benennen gilt.

Von den begrifflichen zu den methodischen Problemen

Der Begriff von Freundschaft ist also schwer zu fassen. Er referen-ziert eine abstrakte Begriffsfamilie, deren Verwendungspraxis nor-mativ extrem vielschichtig ist und die nur im Zusammenhang mitkonkreten sozialen Sachverhalten verstanden werden kann. Man istdaher stets unsicher, welches Familienmitglied gerade gemeint wirdund in welcher Situation und mit welcher Absicht es der Sprecheraufruft. Entschieden werden kann, was der sperrige Begriff meint,meist erst nach einer ausführlichen Analyse, die den pragmatischenKontext der Äußerung und die soziale Position des Sprechers be-rücksichtigt.26 Die begrifflichen Probleme sind also handhabbar,

26 An dieser Stelle bietet es sich natürlich an, eine erschließende (aber nicht er-schöpfende) Typologie üblicher Freundschaftsfigurationen zu bringen. Durcheinfache rollen- und netzwerktheoretische Konzepte lassen sich meines Erach-tens vier Mitglieder der Freundschaftsfamilie unterscheiden, die heute beson-ders verbreitet sind: 1. Asymmetrische Diaden. Diese Form steht in der Genea-logie der Freundschaft zwischen Herr und Knecht. Das formale Grundthemader asymmetrischen Freundschaftsdiade ist ein kooperatives Rollenarrange-ment zweier Akteure mit verschiedenen Ressourcen, Interessen und Macht-mitteln bei bestehender wechselseitiger Abhängigkeit in einem komplexenBeziehungsnetzwerk. 2. Symmetrische Diaden. Das formale Grundthema dersymmetrischen Freundschaftsdiade sind zwei soziale Akteure, die sozialstruk-turell äquivalente Positionen in einem Beziehungsgeflecht einnehmen und de-ren Rollen spiegelbildlich zueinander aufgebaut sind. Zum Grundthema dieserFreundschaftsart gehört das Problem der Herstellung grundloser Gegenseitig-keit, weil sozialstrukturelle Äquivalente in der Regel natürliche Konkurrentenim sozialen Feld sind. 3. Symmetrische Vielheiten. Das formale Grundthemader Freundschaft als symmetrischer Vielheit ist eine Gruppe von Akteuren insozialstrukturell äquivalenten Positionen und einem System von symmetri-schen Rollen zwischen jedem Akteur und der gesamten Gruppe. Jeder verhältsich zum Ganzen der Gruppe wie das Ganze zu ihm. Symmetrische Multitudenkomponieren sich in der Regel aus sozialstrukturell äquivalenten Akteuren,deren soziale Positionen provisorisch, prekär oder deklassiert sind. 4. Supple-mentäre Freundschaft auf komplexen Beziehungsnetzwerken. Der BegriffFreundschaft umfasst implizit auch eine Figuration, die entsteht, weil auf einem

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doch bei den begrifflichen Problemen enden die Schwierigkeitennicht.

Die begrenzte Möglichkeit von Beobachtungen erster Ordnung

Methodisch ist die Sache besonders deshalb kompliziert, weilFreundschaften hier nicht unter irgendeinem, sondern unter demAspekt der Fürsorge untersucht wird. Viele prominente Freund-schaftsformen – besonders jene, deren Grundfiguration eine Zweier-beziehung von Personen gleicher Achtung, gleicher Rechte und glei-cher Pflichten ist – folgen Montaignes altem Spruch: »Weil er es war,weil ich es war.«27 Freunde dieser Art schulden nur einander Recht-fertigung über die Sorge, die sie füreinander tragen. Dieser Sachver-halt ist so lange kein methodisches Problem, wie die fürsorglichenPraktiken nicht mit einem Tabu belegt sind. Einer geselligen Rundeetwa darf man mit etwas Glück gelegentlich beiwohnen. An anderenzentralen fürsorglichen Praktiken darf der Forscher aber definitions-gemäß nicht teilhaben. So verhält es sich zum Beispiel mit dem ver-trauten Gespräch, das – so viel kann aus den Ratgebern und denStatistiken bereits geschlossen werden – eine besonders wichtige für-sorgliche Praxis in Freundschaften ist. Wie man sich den Freundenals Forscher auch nähert, man bleibt außen vor, weil die Beobach-tung eben die soziale Tatsache zerstören würde, die man zu beob-achten hofft. Daraus folgt, dass Freundschaftsbeobachtungen ersterOrdnung unter dem Aspekt der Fürsorge oft systematisch nichtmöglich sind; sie erfassen zentrale Fürsorgemedien häufig nicht.Ergo verbleiben dem Forscher oft nur Berichte, und damit Diskurseüber Praktiken. Das birgt einige Schwierigkeiten. Natürlich kannman sich vertrauenswürdige Informanten besorgen und sie nach ih-ren Freundschaftspraktiken und ihrer Geschichte befragen. Mankann also zumindest versuchen, Beobachtungen von Beobachtun-gen erster Ordnung zu machen. Das allein ist schon ein Problem fürsich, weil es Vertrauen zwischen dem Forscher und seinem Ge-

komplexen solidarischen Beziehungsgefüge eine positionierende Unterschei-dung gemacht werden muss, die in der Logik des primären Beziehungsnetzesnicht vorgesehen ist. Freundschaft kommt – als in diesem Sinn zusätzliche Be-ziehung – vor allem in zwei Sorten vor: als Hervorhebung und als Neutralitäts-verhältnis.

27 de Montaigne, Über die Freundschaft, S. 18.

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sprächspartner voraussetzt, das man nicht einklagen und nur mitGlück durch eine gute Performanz herstellen kann. Aber selbstwenn dies gelingt, sind die Probleme noch lange nicht gelöst. Nie-mand versichert einem, dass das Tabu sich nicht auch auf den Be-richt über die Praxis erstreckt. Es ist folglich keine triviale Aufgabe,aus Erlebnisberichten und biografischen Schilderungen etwas überdie alltäglichen fürsorglichen Praktiken der Freundschaft herauszu-finden.

Alte Kleider

Forschungspraktisch erschwerend kommt hinzu, dass auf der So-zialform der Freundschaft ein jahrtausendealter Diskurs lastet. DerBegriff der Freundschaft ist in seiner sozialtheoretischen Funktion inetwa so alt wie der Begriff der Geschichte. Er diente schon lange zurBeschreibung und zur Erklärung des sozialen Kosmos, bevor der so-ziologische Grundbegriff der Vergesellschaftung überhaupt gedachtwurde. Der alte tugendethische Diskurs legt sich über das alltäglicheWissen der Freunde um die Freundschaft. Damit wird es nicht nurproblematisch, den Leuten ihre Erzählungen zu glauben, es wirdsogar zweifelhaft, ob die normativen Postulate und konstruiertenNotwendigkeiten, mit denen die behaupteten Verhaltensweisen ge-rechtfertigt werden, tatsächlich dem entsprechen, was die Sprechervon der Freundschaft zu wissen glauben. Mit anderen Worten: Nichtnur den Erzählungen über erlebte Freundschaft, sondern auch demin öffentlichen Diskursen kolportierten Wissen von der Freund-schaft muss man systematisch misstrauen.

Das heuristische Untersuchungsprogramm

Die einzige Chance, den besagten methodischen Schwierigkeitenunter diesen Bedingungen beizukommen, besteht darin, die Stand-punkte geschickt gegeneinander zu variieren. Es bedarf eines heuris-tischen Verfahrens, um die Praktiken durch Beobachtungen von Be-obachtungen zu ermitteln.28 Die Aussagen der Befragten müssen aufihre innere Konsistenz überprüft, nach Möglichkeit intersubjektiv

28 Zur Methodik der heuristischen Sozialforschung vgl. Kleining, Qualitative So-zialforschung, S. 178ff.

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trianguliert und mit bekannten Sachverhalten kontrastiert werden.Mit den öffentlichen Diskursen kann auf analoge Weise verfahrenwerden. Die nackten Praktiken und die nackten Diskurse könnenaber nicht das Ziel der Untersuchung sein. Es geht schließlich darum,die soziale Tatsache der Fürsorge in Freundschaften zu begreifen.Warum gelten bestimmte fürsorgliche Praktiken wie das Verleihenund Verschenken von Geld als freundschaftsgefährdend und findentrotzdem häufig statt? Warum ist körperliche Pflege kein prominen-tes Thema, wenn die Hoffnung in die Freundschaft doch gerade lau-tet, dass die Freunde sich im Alter beistehen sollen? Ist die Sorge umden Leib der Freunde tabu? Was hat es mit all dem Geben und Neh-men auf sich, auf das angeblich zu achten ist, wenn am Ende die meis-ten stolz sind, keine Gegenleistung für ihre Hilfen zu erwarten?Warum gilt das Gespräch als derart wichtig und ist gleichzeitig voneiner Aura der Geheimhaltung umgeben? Wer freundschaftlicheFürsorge als fait social begreifen will, muss die Diskurse an den Prak-tiken und die Praktiken an den Diskursen messen. Nur so lässt sichder Bruchpunkt finden, an dem ein diskursiver Wirklichkeitsan-spruch seine Grammatik, also seinen Zusammenhang mit einer be-stimmten Praxis, preisgibt. Mit einer Grammatik ist hier salopp dasbegleitende Korsett aus gewussten Regeln, Rechtfertigungssystemenund normativen Einstellungen gemeint, die einem bestimmten En-semble von kollektiv geteilten Handlungsweisen Notwendigkeitverleihen. In foucaultschen Worten reformuliert: Es gilt das Dispo-sitiv aufzufinden, das den Zusammenhang zwischen Wirklichkeits-anspruch qua Erzählung und dem Wirklichen qua Handlung ver-deutlicht, das im Diskurs über Praktiken und dem Diskurs überdie Notwendigkeiten bestimmter Handlungsweisen mitartikuliertwird.29 Mit etwas Glück kann man also in den Worten eine Archäo-logie der fürsorglichen Praxis in Freundschaften betreiben, wennman die Beobachterperspektive so variiert, dass man an vorgescho-benen Begründungen und unerzählten Auslassungen vorbeisehenkann. Letztendlich gilt es also, ein Interferenzmuster zu erzeugen,an dem sich die Widersprüche, die Kommunalitäten, die Disparitätenund die Parallelitäten von Diskurs und Praxis ablesen lassen.

29 Zum Begriff des Dispositivs vgl. Foucault, Dispositive der Macht.

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Fürsorge als heuristisches Forschungsgebiet

Aber wie genau soll das im vorliegenden Fall geschehen? Fürsorge istein weites Feld. Oberflächlich betrachtet fasst der Begriff die Vielfaltsozialer Praktiken, deren Ziel die Befriedigung elementarer psycho-physischer und sozialer Bedürfnisse eines Anderen ist. In der Regelversteht man darunter diverse Haushalts-, Erziehungs-, Pflege- undBetreuungstätigkeiten, ebenso wie viele erbauliche Aktivitäten (etwaZärtlichkeiten und Gespräche) und die vielgestaltige Welt der prakti-schen Gefälligkeiten. Erschöpfend auflisten lassen sich die fürsorg-lichen Tätigkeiten jedoch nicht. Psychophysische und soziale Bedürf-nisse werden nämlich in der Regel nicht direkt, sondern durchsogenannte sekundäre Zwischengüter befriedigt.30 Beispielsweise es-sen die meisten Menschen nicht einfach irgendetwas, das sie zufälligfinden: Sie arbeiten, um Geld zu haben, mit dem sie Essen kaufen kön-nen. Man kann also jemandem Geld geben oder eine Arbeit besorgenund so dafür sorgen, dass sein Hunger aufhört. Die Welt solcher se-kundären Zwischengüter ist in unseren komplexen Gesellschaftennahezu endlos. Man kann also kaum alle Weisen, für jemanden zu sor-gen, erfassen oder gar vorhersehen. Der Begriff der Fürsorge adressiertbei genauer Betrachtung daher auch nicht eine benennbare Menge vonTätigkeiten, sondern eine bestimmte Vollzugslogik: Tätigkeiten, die Xvornimmt um Y direkt oder indirekt die Befriedigung seiner/ihrer Be-dürfnisse zu ermöglichen.31 Aber was genau soll man untersuchen?Gibt es besonders wichtige fürsorgliche Tätigkeiten? Und woran sollman das bemessen? An den Statistiken, an den Aussagen der Befragtenoder doch an den Lieblingsthemen öffentlicher Diskurse?

30 Diese Überlegung zum Zusammenhang von sozialer Unterstützung und per-sönlichem Wohlbefinden stammt aus der Theorie sozialer Produktionsfunktio-nen. Vgl. Ormel u.a., »Subjective Well-being and Social Production Functions«,S. 61–90.

31 Fürsorge als Vollzugslogik zu begreifen, geht auf Heidegger zurück. Dieser un-terschied in Sein und Zeit zwei Modalitäten der Fürsorge, die Teil des Existen-zials des Mitseins ist: die einspringende und die vorausspringende Fürsorge. Inder einspringenden Fürsorge ersetzt das eine Dasein das andere. Es übernimmtdessen Seinsmöglichkeiten. Der Eine vertritt den Anderen, handelt an dessenStelle. In der zweiten Modalität schafft der Eine dem Anderen eine Stelle in derWelt. Er ermöglicht das Sein des anderen Daseienden, indem er ihm/ihr Mög-lichkeiten eröffnet. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit (1927), S. 117; 121ff; Theunis-sen, Der Andere, S. 180f.

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Dass empirische Befunde als Anhaltspunkt für die Auswahljener Tatsachen dienen, die genauer erforscht werden sollen, ent-spricht dem methodischen Selbstverständnis heuristischer Sozialfor-schung.32 Damit ist aber nur geklärt, woran das Auswahlkriterium zuprüfen ist, aber nicht, wie das Kriterium lautet. Zwei teils konkurrie-rende Ansätze bieten sich an: Der erste besagt, dass ein Bericht überdas fürsorgliche Potenzial der Freundschaft möglichst vollständig zuerfassen habe, was an Fürsorge unter Freunden geschieht. Es stelltsich schließlich die berechtigte Frage, auf welchem Nährboden er-probter Handlungsweisen die Praxis der fürsorglichen Freundschaftgedeihen soll. In diesem Fall müsste man die betrachteten Tätigkeits-felder so wählen, dass sie eine besonders große Bandbreite üblicherfürsorglicher Praktiken einfangen. Der zweite Ansatz besteht darin,die Fürsorge in Freundschaften an Prüfsteinen zu reiben. Er folgt derErkenntnis, dass Fürsorge ein Vollzugschema und nicht eine Summevon Tätigkeiten ist. Die forschungsleitende Frage lautet in diesemFall, welche Bedingungen fürsorgliche Vollzüge stören und welchesie stabilisieren. Es wären demnach solche Tätigkeitsfelder zu unter-suchen, die in Freundschaften als besonders schwierig gelten.

Beide Kriterien haben ihre Gültigkeit: Eine Arbeit, die nur übersehr seltene Sonderpraktiken spricht, kann kaum einen aussagekräf-tigen Eindruck des fürsorglichen Potenzials der Freundschaft ver-mitteln – auch wenn sie dazu in der Lage ist, Bedingungen zu benen-nen unter denen die Fürsorglichkeit der Freunde zusammenbrichtoder gegen Widrigkeiten besteht. Umgekehrt wäre die Beschau alljener üblichen Tätigkeiten, die stets erwartet werden und stets ge-lingen, bedeutungslos. Es geht hier schließlich um die Frage, ob dieFreundschaft zusehends zu einer tragfähigen Sozialform wird. DieErwartungen des öffentlichen Diskurses der Freundschaft sind nichtgering. Aus einer Beziehung der Freiheit aus Freiheit soll eine Bezie-hung verbindlicher Fürsorglichkeit werden. Es geht um eine Trans-formation, die mitunter verlangt, dass Freunde neue Tätigkeitsfelderfür sich entdecken und alte ausbauen.

Wenn beide Kriterien beachtet werden sollen, muss ein Kompro-miss gefunden werden. Was als besonders relevante Praktiken inFreundschaften gilt, ist ebenso zu untersuchen wie das, was als con-ditio sine qua non einer sozial tragfähigen Beziehung zu gelten hat.

32 Vgl. Kleining, Qualitative Sozialforschung, S. 178.

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Da nicht alles untersucht werden kann, was untersuchenswert wäre,müssen an dieser Stelle Entscheidungen getroffen werden. Die vierTätigkeitsfelder, die hier in den Blick genommen werden, sind dasGeld, die Taten, die Sorge um den Leib und das Gespräch. Sie set-zen die fürsorgliche Freundschaft möglichst schweren Belastungs-proben aus, erfassen aber zugleich zentrale fürsorgliche Praktiken.Bei finanzieller Fürsorge ist dieser Gedankengang besonders ein-fach nachzuvollziehen, heißt es doch im Volksmund: »Bei Geld hörtdie Freundschaft auf.« Es steht daher zu erwarten, dass Fürsorge imunpersönlichen Medium des Geldes einen besonders schweren,aber auch besonders aussagekräftigen Test für die These von der so-zial tragfähigen Freundschaft darstellt. Geld ist in modernen Gesell-schaften bekanntlich ein sehr vielseitig einsetzbares Zwischengut.In der Regel nicht monetär für Freunde sorgen zu können, wäreein schwerer Hemmschuh für eine tragende Sozialform in spe. Kapi-tel II befasst sich daher mit der Frage der finanziellen Fürsorge unterFreunden.

Ebenso ist die Fürsorge angesichts knapper Ressourcen undzeitaufwendiger, irreversibler und einseitiger Handlungen eine be-sonders schwere und gewichtige Probe für die These fürsorglicheFreundschaft. Besonders unter erschwerten Bedingungen herrschthinsichtlich der Verlässlichkeit der Freunde im tätigen Leben Skep-sis. »Freunde in der Not gehen tausend auf ein Lot«, lautet dasgeläufige Urteil. Wie unter den Bedingungen von Knappheit inFreundeskreisen fürsorgliche Unterstützungsleistungen organisiertwerden, berührt zudem eine extrem relevante Frage: Wie ist Arbeits-teilung in offenen Gebilden wie Freundeskreisen möglich? Sollte sichherausstellen, dass sich unter Freunden in der Regel keine gelingendeArbeitsteilung entwickelt, wäre an der Realisierbarkeit des fürsorg-lichen Freundschaftsideals erheblicher Zweifel anzubringen. Kapi-tel III untersucht daher die Frage der Fürsorge unter Freunden imtätigen Leben.

Eine besonders schwere Prüfung stellt in Freundschaften mitSicherheit die Fürsorge des Leibes dar. Zwar gehört sie von ihrerProblematik her ebenso zu den zeitaufwendigen, irreversiblen undeinseitigen Tätigkeiten. Zur Sorge um den Leib des Anderen tretenindes noch zusätzliche erschwerende Bedingungen dazu: das Begeh-ren und der Ekel. Moralisch gelöst wurde diese Problematik bis-her durch ein Diktum, das Aristoteles zugeschrieben wird: »Eine

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Freundschaft ist eine Seele in zwei Leibern wohnend.« Aber über-zeugt diese esoterisch anmutende Lehre im 21. Jahrhundert in eineralternden Gesellschaft noch? Wenn die Freunde nicht zur Pflege desLeibes fähig sind, wäre darin ein schweres Hindernis für die fürsorg-liche Freundschaft zu sehen. Kapitel IV fragt daher nach dem für-sorglichen Leibesbezug der Freundschaft.

Das Gespräch in die Liste der Prüfsteine aufzunehmen mageingangs befremden, gilt es doch als eine der großen Stärken derFreundschaft. Ihre soziale Wertschätzung beruht nicht zuletzt auf er-baulichen Gesprächen und guten Ratschlägen. Dennoch ist geradedie vertraute Unterredung auch als eine gefährliche Praxis einzustu-fen. Die Spannung zwischen dem Gebot zu genauer und der Gefahrübermäßiger Wahrhaftigkeit gehört zum moralischen Haushalt derFreundschaft. Aber kann man sich auf eine Beziehung verlassen, dieunter Umständen ständig droht, an ihrem eigenen Wahrheitsregimezu scheitern? Kapitel V ist daher dem Gespräch in Freundschaftengewidmet.33

33 Die Materialien, anhand derer versucht wurde, das Interferenzmuster von Dis-kursen und Praktiken zu erzeugen, sind öffentlich zugängliche sozialstatisti-sche Daten (DJI-Familiensurvey, ISSP-Studie, SOEP), die in deutscher Spra-che erschienenen Freundschaftsratgeber der Jahre 1990–1993 sowie der Jahre2002–2006, eine Serie qualitativer Netzwerkinterviews, die ich in den Jahren2007 und 2008 durchgeführt habe, und der Briefwechsel von Hannah Arendtund Mary McCarthy der Jahre 1949–1975. Methodisch wird mit den Materialienwie folgt verfahren: Deskriptive statistische Analysen geben Aufschluss überdie Verbreitung fürsorglicher Praktiken und von Fürsorgeerwartungen, dieDiskursanalyse der Ratgeber legt den Stand des öffentlich gehandelten Wissensin Sachen Freundschaft und Fürsorge offen, die qualitativen Netzwerkanalysender Interviews nehmen die fürsorgliche Lebenspraxis der konkreten Menschenund ihre Freundschaftsideale in den Blick. Die hermeneutische Inhaltsanalyseder Briefe gibt einen Einblick in die Praxis des Gesprächs in Freundschaften.

Inhalt

Hinführungen 7

Auf dem Weg zur fürsorglichen Freundschaft? 9I Zwischen Diskurs und Praxis: Freundschaft und Fürsorge

als soziologisches Problem 15Der Begriff der Freundschaft: Eine Versuchsanordnung 17Von den begrifflichen zu den methodischen Problemen 21Das heuristische Untersuchungsprogramm 23

Prüfsteine der fürsorglichen Freundschaft 29

II Finanzielle Fürsorge: Das Geld der Freunde 31Hört bei Geld die Freundschaft auf? 31Im Diskurs: Das praxeologische Dilemma des Geldes 33In der Praxis: Freundschaft und Geld 42Zwischen Diskurs und Praxis: Das Geldverbot alsSimulacrum 57

III Fürsorge im tätigen Leben: Die Freunde, die Arbeitsteilungund die Not 69Die doppelte Ordnung der tätigen Fürsorge 69Die Ordnung des Alltags I: Im Diskurs – Reziprozitäts-erwartungen und Komplementaritätsarrangements 75Die Ordnung des Alltags II: In der Praxis –von der Notwendigkeit des Zusätzlichen 79Die Ordnung der Prüfung I: Im Diskurs –die symbolischen Prüfungen der Freundschaft 102Die Ordnung der Prüfung II: In der Praxis –von der Zusätzlichkeit des Notwendigen 109Zwischen Diskurs und Praxis:Die Heuristiken der tätigen Sorge 118

IV Fürsorge am Leib: Sterben und Begehren der Freunde 122Die Leibessorgemotive der Einseelenlehre 123Im Diskurs: Sex, Krankheit und Tod in der Ratgeber-literatur 129In der Praxis: Freundschaft, Sex, Altern und Tod –das historische Experiment der 68er 144

Zwischen Diskurs und Praxis: Konvergenzen,illegitime Referenzen und Disjunktionen 180

V Fürsorge im Gespräch: Die Geheimnisse der Freunde 186Das Gespräch als camouflierter Soziolekt 187Im Diskurs: Das Mantra von der identitätsstiftendenFreundschaft 192In der Praxis: Die Methoden der Geheimniscodierungvertraulicher Mitteilungen 206Zwischen Diskurs und Praxis: Das stille Wissenvon der sozialen Freiheit 235

Abschluss 243

VI Die Grenzen der fürsorglichen Freundschaft 245Die Verfreundschaftlichung der Fürsorge 246Die Verfürsorglichung der Freundschaft 247Das Freundschaftswissens und seine Grenzen 247Die Dehnbarkeit der fürsorglichen Praktiken 249Der Horizont des durchschnittlich Möglichen 252

Danksagung 254Literaturverzeichnis 255

Zum Autor:

Dr. Janosch Schobin, Studium der Soziologie, Mathematik und Hispa-nistik an der Universität Kassel; von 2006 bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbHMittelweg 3620148 Hamburgwww.hamburger-edition.de

© 2013 by Hamburger EditionVerlag des Hamburger Instituts für SozialforschungDer Text basiert auf der gleichnamigen Dissertation,vorgelegt an der Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften(Abschluss des Promotionsverfahrens am 31. August 2011).Umschlaggestaltung: Wilfried GandrasTypografie und Herstellung: Jan und Elke EnnsSatz aus der Stempel Garamondvon Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung: Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-86854-266-01. Auflage September 2013