Tanz, Wahnsinn und Gesetz: Eine kritische relecture von Pierre Legendre und Daniel Sibony

6

Transcript of Tanz, Wahnsinn und Gesetz: Eine kritische relecture von Pierre Legendre und Daniel Sibony

110 Aura Cumita

Hoyer, Timo, „Höherbildung des ganzen Leibes. Friedrich Nietzsches Vorstellungen zur Körpererziehung,“ Nietzsche-Studien, Band 32, Berlin, New York , 2003, S. 59–77.

Kunicki, Wojciech „Über den Seiltänzer“, Kopij, Marta/Kunicki, Wojciech (Hg.), Nietzsche und Schopenhauer: Rezeptionsphänomene der Wendezeiten, Leipzig 2006, S 223–236.

Nietzsche-Handbuch, Ottmann, Henning (Hg.), Stuttgart, Weimar 2000.Waldenfels, Bernhard, „Sichbewegen“, Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph (Hg.), An-

thropologie des Tanzes, München 2007, S. 14–30.Walsdorf Hanna, „Die Tanzdielerienen“, Burkhard, Helga/Walsdorf Hanna (Hg.), Tanz

vermittelt – tanz vermitteln, Leipzig 2010, S. 13–25.

Alexander Schwan

Tanz, Wahnsinn und Gesetz.

Eine kritische relecture von Pierre Legendre und

Daniel Sibony

„Mother says I was a dancer before I could walk.“ (ABBA, „Thank you for the Music“, 1983)

1. Ausschließen

Unwillkürliche Zuckungen des Körpers, Spasmen und Krämpfe als tänze-rische Bewegungen zu lesen widerspricht dem Common Sense. Sich im Wahn auf dem Boden zu wälzen, um sich schlagen, andere und womöglich sich selbst zu verletzen, gilt gemeinhin nicht als Tanz. Zwar machen zeitge-nössische Choreographie und Contact Improvisation Gebrauch vom Kont-rollverlust, lassen jede Bewegung des Körpers zu oder arbeiten bewusst mit Instabilitäten, Deformationen und ungerichteten Bewegungsimpulsen. Vergessen wird dabei jedoch nicht selten, dass dieser Kontrollverlust gezielt eingesetzt wird und die Bewegung, so es die Tänzerin oder der Tänzer will, auch wieder geordnet ausgeführt und bewusst geleitet werden kann.

Warum aber gilt der Tremor nicht als Tanz? Warum scheut noch die avantgardistische Ausweitung des Choreographiebegriffs davor zurück, neurotische Tics und psychotische Anfälle als tänzerisches Schreiben im Raum zu begreifen, als eine écriture corporelle, die in diesen Fällen einer unkontrollierten écriture automatique gleicht? Warum ist Tanz so sehr an Impulskontrolle und Körperbeherrschung gebunden, dass all diejenigen, denen diese Machtausübung über den eigenen Körper versagt ist, per se als Nicht-Tanzende klassifi ziert werden? Der ABBA-Song „Thank you for the Music“ legt es nahe, das Strampeln eines Babys als Tanz zu begreifen, un-abhängig von der Kontrolle des Kleinkindes über seine Beine. Warum dies nicht ausweiten auf alle Bewegungen des Körpers, auch das manische Um-sich-schlagen, das verrückte Sich-winden, den angeblich kranken Krampf?

Die Bindung des Tanzes an Vorstellungen von Kontrolle, Beherrschung und Vollbesitz der Kräfte lässt sich mit dem Begriff des „Nomismus“ ge-nauer fassen. Abgeleitet vom griechischen Wort „nomos“ (Gesetz), kann von einer nomistischen Restriktion des Tanzes durch ein allgemeines Gesetz gesprochen werden, das sich in einer Vielzahl ungeschriebener Vorschrif-ten und Körpernormen manifestiert. Von besonderem Reiz ist es, dieses Gesetz des Tanzes so umfassend zu denken, dass es in jeweils unterschied-

in: Johannes Birringer/Josephine Fenger (Hg.): Tanz & WahnSinn/ Dance & ChoreoMania, Jahrbuch Tanzforschung Bd. 21, Leipzig: Henschel, 2011, S. 111-119.

112 Alexander Schwan Tanz, Wahnsinn und Gesetz 113

licher Konkretisierung alle Formen von Tanz umfasst. In dieser weiten Sicht auf den Nomismus tänzerischer Bewegung wird das Gesetz des Tanzes zur Instanz, die all die Formen von Bewegung ausschließt, die einer Tanzde-fi nition widersprechen.

Dabei konstruiert das Gesetz die Tanzdefi nition nicht selbst, sondern greift auf eine Vielzahl bereits vorhandener Defi nitionen zurück. Das Ge-setz benutzt die jeweils ausgesprochenen oder unausgesprochenen Ein-schränkungen des Tanzartigen und scheidet auf dieser Grundlage den legi-timen vom illegitimen Tanz. Im Fall der Gleichsetzung des Tanzes mit einer weitgehenden Kontrolle über den eigenen Körper, verbannt das Gesetz so die unkontrollierte Bewegung aus dem Bereich des Tanzartigen und deklas-siert sie als unnormal, krank und verrückt.

Die Refl exion der Eingebundenheit des Tanzes in eine allgemeine Ge-setzlichkeit fi ndet sich als Denkfi gur bei zwei französischen Theoretikern, die jeweils aus dem Blickwinkel einer an Jacques Lacan geschulten Psycho-analyse auf das Phänomen des Tanzes blicken. Pierre Legendre1 sieht den Tanz in der Gefangenschaft eines Gesetzes und macht für diese Gefangen-schaft umfassende gesellschaftliche und weltanschauliche Muster geltend. Daniel Sibonys2 Auffassung des Gesetzes ist dagegen neutraler und um-fasst neben der Ebene des Verbots und der Tabuisierung von Bewegung auch die Funktion der Ermöglichung und Hervorbringung von Tanz.

Von kurzen Paraphrasierungen abgesehen3 ist Legendres und Sibonys Denken bisher kaum im deutschsprachigen Bereich der Tanzwissenschaft rezipiert worden. Eine genaue relecture dieser Gedanken im Hinblick auf das besondere Verhältnis von Wahnsinn, Tanz und Gesetz wird daher hier erstmalig zusammen mit einer Kritik der Grundannahmen und Konse-quenzen erarbeitet. Im Vordergrund steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen normativ legitimer Tanzbewegung und dem, was nach der Defi -nition des Common Sense nicht als Tanz gilt. Wie kommt diese Common-Sense-Defi nition zustande und wodurch wird sie aufrechterhalten? Ist das Klassische Ballett auf der Bühne verbunden mit den Zuckungen in der psy-chiatrischen Anstalt? Und vor allem: gibt es theoretische Alternativen zu einer rein negativen Sicht auf das Gesetz des Tanzes?

1 Legendre 1978.

2 Sibony 1995.

3 Siegmund 2006, hier zu Sibony vgl. S. 42 f; zu Legendre vgl. S. 151 ff. Während Sibony, Le corps et sa danse bisher nur im französischen Original existiert,

liegen von Legendre, La passion d´être un autre. Étude pour la danse kurze Aus züge in deutscher und englischer Übersetzung vor. Vgl. Legendre 1997; Legendre 2001.

2. Aufrichten

Der französische Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre konzentriert sich auf die Disziplinierung des Körpers „in der Zivilisation des Westens“4, den er mit dieser nicht unproblematischen Formulierung vom einem nicht näher defi nierten wilden unzivilisierten Tanz abgrenzt.5 In einem gleichsam invertierten Orientalismus, der weniger vom fremden exotischen Anderen schwärmt als vielmehr den Tanz der eigenen Kultur höchstkritisch analysiert, trifft er eine folgenreiche Behauptung über tänze-rische Bewegung und ihr Reglement. Tanz, so Legendre im Zeitgeist der späten 1970er Jahre, ist die animalischste und konvulsivischste Form von Kunst.6 Im Kulturkreis des Westens ist diese Kunst, die Legendre dann in den konventionellen Klassifi kationen von Bühnentanz, Gesellschaftstanz und Volkstanz belässt, unaufl öslich eingeschnürt, ja geradezu gefesselt in den Bindungen dessen, was er als Gesetz oder Text bezeichnet.7

Das Gesetz des Tanzes ist für Legendre ein allgemeiner, umfassender Zusammenhang von Vorgaben, Normen und Disziplinierungen: die sym-bolische Ordnung, die einen idealen Körper produziert und an diesem Ideal alle realen Körper und ihre Bewegungen misst.8 Über das Fortleben des römischen Rechts und die Bekräftigung durch eine von ihm als christ-lich identifi zierte Moral wird diese symbolische Ordnung aufrechterhalten. Die gesetzliche Einengung des Körpers ist dabei älter als die christliche Moral und geht über sie hinaus; sie setzt sich auch in Kontexten einer säku-larisierten und industrialisierten Gesellschaft fort, wie etwa in den Körper-normierungen des show business und dem Drill des Militärs.

Eine zentrale Rolle nimmt dabei die Vorliebe des Gesetzes für die auf-rechte Körperhaltung der Tanzenden ein.9 Legendre wird nicht müde, diese Präferenz der Vertikalen und die damit verbundene Abwertung der Horizontalen religionsphilosophisch zu konnotieren. Mit jeder senkrech-ten Aufrichtung des Körpers richten sich die Tanzenden nach dem Himmel aus und negieren die mit Schmutz, Sexualität und Schwäche besetzte Wa-gerechte der Erde. Das Gesetz stiisiert dabei den aufrechten Tanzkörper zu einem phallusartigen Fetischobjekt und verlangt von allen Tanzenden, Männer wie Frauen, sich dieser Phalluspuppe mimetisch anzugleichen.10

4 Legendre, S. 7 f.

5 Vgl. a. a. O., S. 66.

6 Vgl. a. a. O., S. 7.

7 Vgl. a. a. O., 216.

8 Vgl. hierzu insbesondere: a. a. O., S. 75 f.

9 Vgl. dazu im Folgenden a. a. O., 37 f.

10 Vgl. a. a. O., S. 39.

114 Alexander Schwan Tanz, Wahnsinn und Gesetz 115

Die willige Ausrichtung an der ästhetischen Norm dieses aufrechten, kon-trollierten Körpers bekräftigt so im Tanzkonzept des Abendlandes eine um-fassende Kallokratie: eine Vorherrschaft des Schönen, Senkrechten und über die Schwerkraft Erhabenen.

Diese Idealisierung sieht Legendre im Verbund mit einem Ausschluss des Hässlichen, Nicht-Orthonomen.11 Was nicht sein darf – das Sich-Wäl-zen von Körpern auf dem Boden, der Genuss der Horizontalen, der Kont-rollverlust der Ekstase – wird in der westlichen Zivilisation als Symptom von Krankheit und Wahnsinn diffamiert. Dabei, so könnte über Legendre hinaus gedacht werden, ist das Gesetz auf versteckte Weise der Produzent des Ausgeschlossenen, indem das Verrückte durch den Ausschluss zualler-erst hervorgebracht wird. Denn das gesetzeskonforme Ballett auf der Bühne und die Zuckungen in der Psychiatrie stehen in einem wechsel-seitigen Zusammenhang: Nur weil die Körperbilder des Zappelns und Zit-terns, der Tics und wilden Ausbrüche in der Psychiatrie konzentriert und weggesperrt werden, ist die Feier des Schönen und vorgeblich Gesunden, Nicht-Wahnsinnigen möglich.

3. Einschnüren

Aus der Gefangenschaft im Gesetz und der Vorstrukturierung durch den Text gibt es für Legendre keine Befreiung.12 Jeder Versuch, sich der Einbin-dung in die Tanznormierung zu entziehen, wird von ihm als weiterer Ver-rat an der unwiederbringlich verlorenen Freiheit des Körpers gewertet. Wer meint, sich tanzend aus der umfassenden Reglementierung des Körpers befreien zu können, etwa durch Improvisation und vermeintlich freien Tanz, fällt umso stärker in den Verblendungszusammenhang des west-lichen Körperkonzeptes zurück, das ja gerade von seiner Gesetzesgebun-denheit ablenken möchte und die Konstruktion des aufrechten, kontrollier-ten Körpers als Natürlichkeit tarnt.13

Legendres pessimistische Sichtweise paart mit sich so mit einem unbe-gründeten, quasi-metaphysischen Gesetzesverständnis und einer ahistori-schen Perspektive. Er bezieht Beispiele aus der Entwicklung des Balletts und des Modernen Tanzes ein, benutzt sie aber nur als Belege für seine Grund these einer radikalen Gesetzesgefangenschaft des Tanzes. Eine gra-duelle Differenzierung in mehr oder weniger reglementierte Bewegungs-konzepte und eine genaue historische Herleitung der zweifelsohne vorhan-

11 Vgl. a. a. O., S. 77.

12 Vgl. a. a. O., S. 25.

13 vgl. a. a. O., S. 318 f.

denen Normen sucht man bei ihm vergebens. So ist gerade das Axiom einer einheitlichen christlichen Moral, das in seiner Argumentation eine entscheidende Rolle einnimmt, im höchsten Maße problematisch.14 Er begreift als Monolithen, was doch nur in einer Vielzahl sich historisch ver-ändernder Normen und konfessioneller Differenzierungen existiert und operiert bis in seine Wortwahl hinein mit einer unrefl ektierten katholisch-theologischen Engführung.15

Legendre formuliert seine Analyse als Kritik an christlicher Moralität und Gesetzlichkeit und übernimmt dabei seinerseits fatale Denkmuster christ-licher Theologie, die er unrefl ektiert auf den Tanz überträgt. Zwar bedient er keine Dichotymie von einem gefangen nehmenden Gesetz und einer positiven Gegenfolie der Erlösung oder Befreiung, scheint aber das Idyll eines gesetzesfreien Urstands zu konstruieren, der von dem Sündenfall abendländischer Körpernormierung zerstört wird. Sein radikaler Antino-mismus, die negative Konnotation des Gesetzes, ist dabei eine gut sichtbare Widerspiegelung christlicher Diffamierung der jüdischen Thora, und so nolens volens eine problematische Einschreibung antijudaistischer Axiome in die Tanzwissenschaft.

Die Ausweglosigkeit der Tanzrestriktion bringt Legende dazu, an der scharfen Trennung von Tanzenden und Nicht-Tanzenden festzuhalten und alle Versuche abzulehnen, diese Grenze etwa über die phänomenologische Annäherung an den Tanz aufzulösen.16 Solche Versuche werden von Le-gendre als beschönigende Ablenkung von der qua Gesetz konstituierten Differenz zwischen normengerechtem Tanz und normabweichendem Nicht-Tanz gewertet. Im Hinblick auf die Wahrnehmung von als nicht-tän-zerisch konnotierten Bewegungen des Kontrollverlustes hieße dies: sie wä-ren, dem Gedankengang Legendres folgend, kein Tanz, weil der Text oder das Gesetz des Westens eine solche Ausdiffundierung des Tanzverständnis-ses nicht vorsieht. Die Möglichkeit, dieses Tanzverständnis gleichwohl zu unterminieren und über begriffl iche Neudefi nitionen eine das System des Gesetzes verändernde Dynamik in Gang zusetzen, rückt hier noch nicht in den Blick.

14 Vgl. Andresen 1961 zum Verhältnis von Tanz und Norm im frühen Christentum. Diese Studie ist nach wie vor maßgeblich und wird auch von Legendre rezipiert. allerdings im Sinne seines Vorverständnisses.

Als eine mögliche Differenzierung innerhalb des berechtigten Diskurses über die Körper- und Tanzfeindlichkeit des Christentums sei darauf verwiesen, dass der christ lichen Religion in der Antike gerade umgekehrt eine übertriebene Körperbe-zogenheit vorgeworfen wurde. Vgl. dazu Chadwick 1998, S. 75.

15 Vgl. a. a. O., S. 135 f.

16 Vgl. a. a. O., S. 318 f.

116 Alexander Schwan Tanz, Wahnsinn und Gesetz 117

4. Ermangeln

Im Unterschied zu Legendres antinomistischer und gleichzeitig affi rma-tiver Sicht auf die Regulation von Tanz und Bewegung sieht der Psychoana-lytiker Daniel Sibony das Gesetz in einer umfassenderen Paradoxalität. Neben der Bindung und Verhinderung wilder Körperlichkeit ist es ihm auch die Ermöglichung von Subjektivität, ja von Bewegung überhaupt.17 Tanz vollzieht sich immer vor dem Gesetz, das heißt in Beziehung auf all das, was Bewegung anstößt, stützt und stört. Die nomistische Dimension des Tanzes ist somit keine rein prohibitive, sondern gleicht einer transzen-dentalen Dependenzrelation: Der Körper fi ndet sich vor in dem immer schon gegebenen Bezug zu einem heteronomen, von außen kommenden Gesetz, das seine Bewegung strukturiert, motiviert, begrenzt und ermög-licht.18

Dieses Gesetz geht über eine symbolische Ordnung hinaus und bedarf keiner Institution, um aufrechterhalten zu werden.19 So umfasst es auch para-institutionelle Nomismen wie Naturgesetze oder die Mobilitätsbe-schränkung eines menschlichen Körpers. Dass dessen Muskelstruktur, Knochenbau und neuronale Vernetzung Bewegung ermöglicht und gleich-zeitig andere denkbare Bewegungen verhindert, ist damit Teil der Verfasst-heit des Tanzes als Tanz vor dem Gesetz. Nicht jede Bewegung ist von je-dem Körper ausführbar und ein Körperglied – ein Arm, ein Bein – nicht in allen Winkeln und allen Geschwindigkeiten bewegbar. Ferner ist die Ge-setzmäßigkeit, der alle Körper unterliegen und gegen die sie allesamt in ihren Bewegungen opponieren, das Naturgesetz der Schwerkraft: Noch ohne Kontrolle taumelnd, fallend und schließlich stürzend tanzen die Kör-per vor dem Gesetz.20

Entsprechend weitgefasst ist Sibonys Begriff vom Tanz, der für ihn all die Bewegungen eines physikalischen Körpers umfasst, mit denen dieser sich selbst schreibt.21 Tanz ist so eine radikal gedachte écriture corporelle, die so-wohl die anthropologische Begrenzung auf den Tanz des Menschen im Ge-gensatz zum angeblich nicht-tanzenden Tier hinter sich lässt als auch die Exklusion der Bewegungen aufhebt, die dem Common Sense und dem rest-riktiven Gesetz Legendres als nicht-tänzerisch gelten. Zuckungen, Zittern, Instabilitäten und Kontrollverluste sind daher ebenfalls Tanz als eine ephe-märe Selbsteinschreibung von Körpern im Raum.

17 Vgl. Sibony 1995, S. 53.

18 Vgl. a. a. O., S. 113.

19 Vgl. a. a. O., S. 113.

20 Vgl. a. a. O., S. 110 f.

21 Vgl. a. a. O., S. 175.

In einer midraschartigen Auslegung von 2 Sam 6, 14–23 differenziert Sibony die Bezogenheit auf das Gesetz des Tanzes und entwickelt die Denk-fi gur eines Gesetzes, das sich dem Körper entzieht und für ihn vor allem in der Weise der Ermangelung existiert.22 So bewegt sich König David vor der Bundeslade mit den darin befi ndlichen Gesetzestafeln und tanzt buchstäb-lich vor dem Gesetz. Gleichzeitig bewegt sich auch die Bundeslade, die auf ihrem Wagen gezogen wird und sich so von David entfernt. Damit existiert zwischen dem Gesetz und dem sich ihm nähernden König eine Spannung, die unaufgelöst bleibt, denn beide, König und Gesetz, treffen nie aufeinan-der. In der Verallgemeinerung dieser Situation steht nach Sibony jeder tan-zende Körper in Bezug zu einem sich entziehenden Gesetz und sucht so tanzend die Erfahrung des Mangels von Struktur und Determinierung zu überwinden.

5. Verrücken

Der Versuch, den Mangel des Gesetzes zu überwinden, ist dabei nach Si-bony immer auch durch eine gewisse Transgression dieses Gesetzes ge-kennzeichnet, ein Opponieren gegen die Übermacht des Heteronomen.23 Dies gilt nicht nur für den geplanten Entzug von determinierenden Bewe-gungsvorgaben wie in zeitgenössischen Improvisationsverfahren, die über ihre Regeln und Absprachen ja ihrerseits eine nomistische Dimension auf-weisen, sondern auch und besonders für das strikte Präskript einer Choreo-graphie, etwa im Klassischen Ballett. Noch im Versuch, dessen vorgegebene Ordnung akkurat zu erfüllen, ereignet sich ein unwillkürliches Verschrei-ben der Bewegung, mischen sich in die Akkuratesse Momente der Unge-nauigkeit, der Unentscheidbarkeit und des minimalen Kontrollverlustes: Tanzend wird das Gesetz des Tanzes überschritten.24

Auch die Bewegungen des scheinbar zu Gänze beherrschten Körpers der Ballerina sind so nur graduell von den kontrolllosen Bewegungen der Ma-nie unterschieden. Und wiederum beziehen sich auch die Zuckungen und Spasmen, so unintentional sie erscheinen mögen, auf das Gesetz des Tan-zes, das sich ihnen als Ordnungsmacht entzieht, sie aber gleichwohl den Gesetzmäßigkeiten von Schwerkraft und Körperbeschränkung unterwirft. Beide Körper, der der Ballerina auf der Bühne des Klassischen Balletts, und

22 Vgl. hierzu im Folgenden insbesondere a. a. O., S. 41–53.

23 Vgl. a. a. O., S. 118 f.

24 Dabei ist das Verhältnis von Tanz und Choreographie nicht darauf zu reduzieren, dass im Tanz der nomos einer choreographischen Vorschrift überschritten wird. Zur Konzentration auf den Gedanken, dass sich Tanz an der Vorgabe der Choreo-graphie reibt und sie so überschreitet, vgl. dagegen Siegmund 2010.

118 Alexander Schwan Tanz, Wahnsinn und Gesetz 119

der zeitgleich weggesperrte und aus der Öffentlichkeit ausgeschlossene Körper des psychisch Kranken partizipieren am gleichen Gesetz des Tan-zes – einem Gesetz, dessen sie ermangeln und das sie überschreiten. Beide Körper zucken, und beide Körper tanzen.

Anknüpfend an diese Verwobenheit von Ordnung und Nicht-Ordnung ist es Sibony möglich, sich explizit dem Verhältnis von Tanz und Wahnsinn zu nähern und dieser Relation ein eigenes Kapitel seines Buches zu wid-men.25 Aus der Fülle der hier eröffneten Bezüge und Gedanken sei die Zuspitzung herausgegriffen, dass der Tanz der Wahnsinnigen („la danse des fous“26), mithin die Imitation des Kontrollverlustes, nur den Nicht-Wahn-sinnigen möglich ist. Die Verrückten tanzen, aber sie tanzen nicht verrückt, sondern fi nden sich tanzend in ihrer Verrücktheit vor, ohne die Möglichkeit zu haben, den Kontrollmangel ihrer Bewegungen künstlich zu verstärken. Umgekehrt gibt sich, wer bewusst den Kontrollmangel sucht und sich so das scheinbar Unnormierte verrückter Bewegungen zueigen macht, dem Wahnsinn des Tanzes hin, der für Sibony eine spezifi sche Form von Ver-rücktheit ist.27

Denn der Wahnsinn des Tanzes resultiert, für Wahnsinnige und Nicht-Wahnsinnige nun wiederum gleichermaßen, aus der Konfrontation der Tanzenden mit dem Unbewussten oder dem, was Sibony in heideggeriani-scher Diktion als Sein oder Ursprung bezeichnet.28 Die Unmöglichkeit, trotz dieser Begegnung das Unbewusste ausdrücken oder am Ursprung sein zu können, löst den Wahnsinn des Tanzes aus. Und auch für diesen Wahnsinn gilt: er ereignet sich vor dem Gesetz, insofern als der tanzende Körper eine physische Interpretation des In-der-Welt-Seins ist, jener Vor-fi ndlichkeit, die die Bewegungen des Körpers nicht nur begrenzt, sondern zuallererst ermöglicht.

Weit entfernt von der Engführung auf eine rein prohibitive Funktion des Gesetzes, wie sie sich im problematischen Antinomismus Legendres zeigt, eröffnet Sibony somit Perspektiven auf die Trias von Tanz, Wahnsinn und Gesetz, die bestehende Grenzziehungen verrücken und Ausschließungen unterminieren. Indem das Verhältnis des Tanzes zum Gesetz nicht nur als Restriktion, sondern als Striktion, als Bindung und Distanzbezug gesehen

25 Vgl. dazu im Folgenden a. a. O., S. 265–273. Bezeichnenderweise setzt sich auch Legendre in La passion d´être un autre. Étude

pour la danse in einem eigenen Abschnitt mit dem Verhältnis von Tanz und Psy-chose auseinander und subsumiert sowohl den „psychotischen Körper“ in die sym-bolische Ordnung wie er auch die Körpernormierung durch Choreographie als psychotisch analysiert. Vgl. Legendre 343 ff.

26 Sibony 1995, S. 171.

27 Vgl. a. a. O., S. 173.

28 Vgl. a. a. O.

wird, können die Bewegungen, die der Common Sense aus der vorgeblich hehren Welt kontrollierter Bewegungen ausschließen will, wieder in den Tanz eingeschrieben werden. Zuckungen, Spasmen und Krämpfe sind Tanz: Tanz vor und mit dem Gesetz.

Literatur

Andresen, Carl, „Altkirchliche Kritik am Tanz – ein Ausschnitt aus dem Kampf der alten Kirche gegen heidnische Sitte“, Zeitschrift für Kirchengeschichte 72 (1961), S. 217–262.

Chadwick, Henry, Antike Schriftauslegung. Pagane und christliche Allegorese. Activa und Pas-siva im antiken Umgang mit der Bibel, Berlin/New York 1998.

Legendre, Pierre, La passion d´être un autre. Étude pour la danse, Paris 1978.Ders., „The Dance of Law“, Peter Goodrich (Hg.), Law and the Unconscious. A Legendre

Reader, New York 1997, S. 37–66.Ders., „Der Tanz in der nicht-tanzenden Kultur“, Cornelia Vismann (Hg.), Pierre Legendre.

Historiker, Psychoanalytiker, Jurist (= Tumult. Schriften zu Verkehrswissenschaft Bd. 26), Berlin 2001, S. 33–39.

Sibony, Daniel, Le corps et sa danse, Paris 1995.Siegmund, Gerald, Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe,

Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006. Ders., „Choreographie und Gesetz. Zur Notwendigkeit des Widerstands“, Nicole Haitzin-

ger/Karin Fenböck (Hg.), Denkfi guren – Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfi nden, Festschrift Claudia Jeschke, München 2010, S. 119–129.