Post on 24-Jan-2023
Draft of “’Von Schwindel Befallen’ – Enthusiasmus, Inszenierungund Chaos im stalinistischen Aufbau am Beispiel derKollektivierung der DDR-Landwirtschaft 1952-3,” in: Rausch undDiktatur, eds., Arpad von Klimo, Malte Rolf. Campus: Frankfurt, NewYork 2006, pp. 219-238.
Todd H. Weir. 1
Die Photographien bewegter Massen haben das Bildgedächtnis
von den europäischen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts
stark geprägt. Solche Szenen kollektiven Enthusiasmus waren
natürlich nicht nur Äußerung einer inneren Beteiligung an
revolutionären Ereignissen. Sie waren auch notwendige
Bestandteile für die Entfaltung von dynamischen Prozessen, die
zur Durchsetzungsstrategie und zum Selbstverständnis
totalitärer Herrschaft gehörten. Ob in Begleitung von
Gewaltakten oder während Akklamationsritualen wurde der
demonstrative Enthusiasmus zu einem erheblichen Maß vom Staat
geplant und produziert. Wo eigentlicher Enthusiasmus fehlte,
wurde er durch die staatlichen Medien und in der
Öffentlichkeit inszeniert. Einen besonders drastischen
Beispiel hierfür liefert die Kollektivierung der ostdeutschen
Landwirtschaft, die im Juli 1952 als Teil des “Aufbaus des
Sozialismus” ausgerufen wurde. Dargestellt auf dem II.
1 Dieser Aufsatz ergänzt einen früheren Artikel: Todd Weir, “Der Rausch im Plan: Ursachen und Folgen der Inszenierung von ‘Klassenkampf’ in der Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft 1952–1953“ Deutschland Archiv, Heft 2, 2004, S. 253-63. An dieser Stelle bedankt sich der Verfasser bei Prof. Ludolf Herbst und PD Dr. Arnd Bauerkämper für die großzügige Unterstützung und die hilfreichen Kritiken dieser Arbeit. Auch Jens Schöne verdanke ich wichtige Hinweise. Stipendien von der Berliner Lüftbrückendankstiftung und der Harriman Institute an der Columbia University 1997 bzw. 1999 haben die nötigen archivarischen Forschungen ermöglicht.
1
Parteikongreß der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands
(SED) als staatliche Anerkennung der Forderungen
klassenbewußter “werktätigen” Bauern lief die Entscheidung für
die Kollektivierung in der Tat andersrum. Bäuerliche Stimmen
wurden im voraus ausgewählt, vorbereitet und geprobt, um dann
nach dem Tempo und Plan der höchsten Parteigremien in den
staatlichen Medien gezielt eingesetzt.2
Diese und weitere Inszenierungen dienten der Legitimation
einer zentral gesteuerten und oft brutalen Kampagne der
Enteignung, Repression und Reorganisation. Gerade weil die
Kollektivierung nach Plan erfolgte, ist es verblüffend, dass
sie schnell zu einer Krise führte, die beinah den Kollaps des
SED-Regimes mit sich brachte. Bereits im März 1953, also zum
Zeitpunkt als Stalin starb, hatten willkürliche Verhaftung,
staatliche Missmanagement, und die massive Flucht von Bauern
von Ost- nach Westdeutschland zu einer Chaotisierung der
Landwirtschaft geführt. Die drohende Missernte war eine
Hauptfaktor hinter der Entscheidung der neuen sowjetischen
Führung, die Kollektivierung zu bremsen und der SED zu einem
vorläufigen Rückzug zu zwingen. Die Bekanntmachung dieser
Beschlüsse im “Neuen Kurs” vom 9. Juni stellte die Weichen für
2 In einem Grundsatzreferat am 4. Juni 1952 leitete SED-Generalsekretär Walter Ulbricht die anwesenden Parteisekretären an, Bauern zu finden, etwa aus „Mecklenburg dort oben in dieser Ecke“, die die Gründung eigener LPGs von der Regierung fordern wurden, damit die am Tag zuvor von der Parteispitze beschlossene Kollektivierung als Reaktion auf bäuerliche Forderungen erscheinen wurde. Er spielte dies den Parteisekretären auch vor: „Wir geben also keine Erklärung irgendwie ab. Wenn Genossen kommen undfragen: Ja, wie stellt ihr euch nun dazu? […] Dann werden wir sagen: LieberGenosse! Wie du aus der Presse ersiehst, ist die Zweite Parteikonferenz derSED einberufen. Dort werden wir schon auf diese Fragen eine Antwort geben.“Zit. Jens Schöne, Die Kollektivierung der Landwirtschaft, S. 78-79.
2
den Aufstand am 17. Juni, der, wäre es nicht für die
Intervention der Roten Armee, höchstwahrscheinlich das Ende
der SED-Herrschaft bedeutet hätte.
Merkwürdig an diesem katastrophalen Ausgang ist, dass er
in vielen Hinsichten den Verlauf der ersten Phase der
Kollektivierung in der UdSSR widerspiegelte. Diese begann 1928
und erreichte Anfang 1930 seinen Höhepunkt in einer
staatlichen Gewaltorgie gegen die Bauernschaft, die Stalin
durch seine Erklärung einer “Politik der Liquidierung des
Kulakentums [Großbauern] als Klasse” ausgelöst hatte. Die
Ausmassen dieser Gewalt lassen sich zum Teil an die Widerstand
der Bauern messen. Nach Erhebungen der sowjetischen
Geheimpolizei nahmen über 1,7 Millionen Menschen an
Protestaktionen in den ersten drei Monaten von 1930 teil. In
manchen Regionen nahmen diese Unruhen einen
bürgerkriegähnlichen Charakter an.3 Angst vor einer Kollaps der
landwirtschaftlichen Produktion zwang die Kommunistische
Partei zu einem Rückzug, den Stalin am 2. März 1930 mit der
Erklärung in Prawda verkündete, daß manche Parteimitglieder
"vor Erfolgen von Schwindel befallen" wurden.4
3 Stalin erklärte die “Offensive” gegen die “Kulaken” in seiner Rede auf der Konferenz marxistischer Agrarwissenschaftler am 27. Dezember 1929 (die im Prawda abgedruckte Version vom 29. Januar 1929 in Stalin Werke, Berlin 1959, Bd. 12, S. 77-91.) Ausführlich zum bäuerlichen Widerstandskampf sieheLynne Viola, Peasant Rebels under Stalin: Collectivization and the Culture of Peasant Resistance,New York, Oxford 1996. Siehe auch den Falluntersuchung von Tracy McDonald, “A Peasant Rebellion in Stalin’s Russia: The Pitelinskii Uprising, Riazan, 1930”, in: Lynne Viola (Hg.), Contending with Stalinism: Soviet Power and Popular Resistance in the 1930s. Ithaca, London 2002, S. 84-108.4 Abgedruckt in: Josef Stalin, "Vor Erfolgen von Schwindel befallen: zu denFragen der kollektivwirtschaftlichen Bewegung," in Werke, Berlin 1959, Bd. 12, S. 102-105.
3
Dieser Aufsatz nimmt das Wort „Schwindel“ als
Ausgangspunkt für eine Untersuchung von Prozesses, die zur
Entfaltung der Kollektivierung beitrugen: dem inszenierten
Enthusiasmus sowie der Chaotisierung wirtschaftlichen,
sozialen und auch staatlichen Strukturen. In welchem
Verhältnis standen diese Varianten des “Schwindels”
zueinander? Ein transhistorischer Vergleich zeigt, dass eine
passende Antwort auf diese Frage nicht allein in den
kontigenten Faktoren der frühen sowjetischen Geschichte
gesucht werden kann. Der gleiche Muster wiederholte sich
Anfang der 1950er Jahre in den sog. „Volksdemokratien“ und ab
1958 in China, wo Mao Zedongs “Großer Sprung nach vorn” mit
dem Hungertod von über 20 Millionen Bauern endete. Diese
Wiederholung deutet daraufhin, dass eine Antwort in den
Strukturen des kommunistischen Entwicklungsmodell gesucht
werden muss. Indem dieser Aufsatz einen funktionellen Modell
des “Schwindels” in der DDR-Kollektivierung bietet, kann er
also einen konzeptionellen Beitrag zur internationalen
Geschichte des sozialistischen “Aufbaus” leisten. Dabei wird
er auch die analytische Reichweite des in diesem Band
thematisierten Begriffes “Rausch” ausdehnen.
Lesarten des stalinistischen “Schwindels”Eine Untersuchung des stalinistischen “Schwindels” wird
die funktionalistische Erklärungen ergänzen und z.T.
revidieren müssen, die zur jetzt herrschenden Interpretation
des “Großen Umschwungs” von 1929 gehören. Diese sieht in den
überstürzten Anfang der Kollektivierungskampagne
4
gewissermassen eine “Flucht nach vorn” von der Parteielite,
die sich mit Versorgungskrisen, Ängste um eine ausländische
Invasion, und parteiinterne Druck für eine beschleunigte
Industrialisierung konfrontiert sah.5 Einige Historiker haben
ähnliche Handlungszwänge im Vorfeld der ostdeutschen
Kollektivierung festgestellt.6
Diese Darstellung der Genese der Kollektivierung bleibt
aber für die adäquate Erklärung ihres weiteren selbst
zerstörerischen Verlaufs ungenügend, weil viele Historiker
ideologische Aspekten in ihre funktionellen Modellen nicht
einbeziehen. Dass dieser Schritt nicht getan wurde, liegt m.E.
in dem Beharren auf einem dualistischen Verständnis von
Ideologie und Staatsmacht. „Ideology was handmaiden to the
state,“ behauptet Lynne Viola, Verfasserin von wichtigen
Studien zur sowjetischen Kollektivierung. Dementsprechend
charakterisiert sie die vom Staat ausgesprochene Begründung
dieser Politik, zum Beispiel als Revolution, Emanzipation und
Klassenkampf, als Kulisse, hinter der die Bauernschaft mittels
Manipulation und Terror enteignet und „kolonisiert“ wurde.7
5 Die funktionalistische Erklärung der Kollektivierung wurde zuletzt wiederholt in Lynne Viola, V. P. Danilov, N.A. Ivnitskii, and Denis Kozlov,(Hsgr.) The War Against the Peasantry, 1927-1930: The Tragedy of the Soviet Countryside, New Haven und London, 2005, pp. 7-168. Vgl. auch R.W. Davies, The Socialist Offensive:The Collectivisation of Soviet Agriculture, 1929-30. Cambridge, Mass. 1980; James Hughes,Stalinism in a Russian Province: Collectivization and Dekulakization in Siberia. London 1996. Eine einflussreiche funktionale Erklärung der Säuberungen der späten 30er Jahren lieferte J. Arch Getty. Origins of the Great Purges: The Soviet Communist Party Reconsidered, 1933-1938. Cambridge 1988.6 Arnd Bauerkämper, Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur: Zwangsmodernisierung und Tradition in Brandenburg 1945–1963. Köln, Weimar, Wien 2002;Dieter Schulz, Der Weg in die Krise 1953. Berlin 1993. 7 Viola nannte „[t]he public transcript on collectivization [...] a facade covering another, hidden transcript that revealed the great transformation to be a struggle over economic resources and culture.“ Lynne Viola, Peasant
5
Viele Studien zur Geschichte des „Aufbaus des Sozialismus“ in
der DDR betonen ebenfalls den betrügerischen, zynischen
Charakter der SED-Führung, die eine „Politik des Kaschierens“
oder eine „Taktik mit Augenzwinkern“ verfolgte.8 Der
Schlußfolgerung liegt nah, dass Historiker, die sich als
Vertreter der zahlreichen Opfern stalinistischer Gewalt
verstehen, einen solchen Dualismus aufrechterhalten mussen, um
die Schuld für diese Gewalt bei Individuen und nicht in
unpersönlichen Strukturen zu finden. Sieht man aber in der
Ideologie – und hierzu gehört auch der inszenierte Rausch –
hauptsächlich eine Verblendungswerk für die Öffentlichkeit,
kann man nur schwer ihre Rolle bei der Chaotisierung von
Prozessen, wie sie im Aufbau des Sozialismus vorfielen,
hinreichend erklären.9
Rebels under Stalin, wie in Anm. 2, S. 14. Vgl. auch dies. The Best Sons of the Fatherland: Workers in the Vanguard of Soviet Collectivization. Oxford 1989.8 Wolfgang Bell fasste die Ziele der Strukturveränderungen in der Landwirtschaft vor und nach Mai 1952 dahingehend zusammen, „dass es offenbar in Verwirklichung eines ideologischen Leitbildes nur um die Sicherung der Macht der SED … ging.“ [Hervorh. – T.W.] Wolfgang Bell, Enteignungen in der Landwirtschaft der DDR nach 1949 und deren politische Hintergründe: Analyse und Dokumentation, Münster-Hiltrup 1992, S. 13. Obige Zitate in Falco Werktentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 49, und Armin Mitter, „'Am 17.6.1953 haben die Arbeiter gestreikt, jetzt aber streiken wir Bauern'. Die Bauern und der Sozialismus“, in: Der Tag X – 17. Juni 1953. Die „Innere Staatsgründung“ der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Stefan Kowalczuk u.a. (Hg.), Berlin 1995, S. 75–128, Zitat S. 97, 99.9 In einem Aufsatz von 1997 verknüpfte Stefan Wolle zwar die beiden Ebenen der Machtausübung und Ideologie in seiner Erklärung des Untergangs der DDR,jedoch anscheinend widerwillig. Statt diese Erklärung systematisch in seiner Analyse einzubeziehen, ließ Wolle folgendes wichtiges Zitat nur am Schluß und gehüllt in einer Reihe von ironischen Metaphern fallen: „An der Spitze der SED standen vierzig Jahre lang zynische Pragmatiker der Machtausübung, deren Äußerungen an Verlogenheit kaum zu überbieten sind. Dennoch blieben sie sich auf ihre Art stets treu. Niemals vermochten diese angeblichen Hohenpriester der reinen Lehre über ihren ideologischen Schatten zu springen. Die Ideologie war frei nach Marx das Opium der Herrschenden. Die Rattenfänger berauschten sich an den eigenen Melodien und
6
Sicherlich war die Rede von der „freiwilligen“
Kollektivierung ein betrügerischer Schwindel. Es gab jedoch
mehr zum Stalins Gebrauch des Wortes „Schwindel“ in seinem
Prawda-Artikel vom 1930, als nur Betrug. Eine Untersuchung
dieses Begriffes, der seinem Wortverwandeten „Rausch“ in
instruktiver Vieldeutigkeit ähnelt, kann helfen, um zu einem
funktionalistischen Modell von Chaotisierung durchzubrechen.10
In seinem Artikel verglich und dadurch verknüpfte Stalin
“Schwindel” mit dem idealen Enthusiasmus, die ebenfalls durch
die “Erfolge” der Kollektivierungskampagne produziert wurde.
Die “Erfolge” haben eine “gewaltige Bedeutung für das innere
Leben der Partei.” Sie “flößen unserer Partei Mut und Glauben
an ihre Kräfte ein,” und “erfüllen die Arbeiterklasse mit dem
Glauben and den Sieg unserer Sache.” Dieser Enthusiasmus habe
aber eine “Schattenseite”. Manche Parteimitglieder wurden
“trunken” und “verlier[t]en das Gefühl für das richtige Maß,
verlier[t]en die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu verstehen.”11
Durch die Gegenüberstellung vom nüchternen Enthusiasmus,
den Stalin mit Planung und Realitätssinn assoziierte, und dem
zogen an der Spitze ihrer Anhängerschaft dem Untergang entgegen.“ Wolle, „Herrschaft und Alltag: Die Zeitgeschichtsforschung auf der Suche nach der wahren DDR“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 26/97, S. 34. Eine ählich bittereIronie findet sich bei Lynne Viola, z. B in ihrer Behauptung, dass für die kommunistische Partei „hypocrisy and delusion may be conveniently and mutually reinforcing“. Viola, Peasant Rebels, siehe Anm. 3, S. 14.10 Wie der amerikanischen Historiker Steven Kotkin betonte, können Untersuchungen des sowjetischen Systems einen hilfreichen Wink von der NS-Forschung nehmen, wo eine Zusammenführung von funktionalistischen und intentionalistischen Modellen stattfindet. Vgl. Steven Kotkin, „1991 and the Russian Revolution: Sources, Conceptual Categories, Analytical Frameworks“, Journal of Modern History (Juni 1998) S. 384–425. Ein instruktives Beispiel hierfür liefert Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945: Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, Frankfurt, 1996. 11 Stalin, “Durch Erfolge vom Schwindel befallen”, siehe Anm. 4.
7
“Eigendünkel” und der “Überheblichkeit” des betrunkenen
Schwindels versuchte Stalin bei den subjektiven „Fehlern“ der
mittleren Staatsfunktionären die Schuld für die Ekzessen der
Kollektivierung zu finden. Dabei verstärkte er das normative
Verständnis vom Enthusiasmus als eine besonders nüchterne Form
der Entgrenzung in der kommunistischen Kultur.12 Stalins
Wortgebrauch erlaubt aber eine weitere Lesart des
“Schwindels”, nämlich dass die Schaffung einer neuen
sozialistischen Ordnung notwendigerweise eine Chaotisierung
bedürfte. Unter anderem wegen der regulativen Funktion des
sozialistischen Geschichtsverständnisses und des Voluntarismus
konnte der Übergang zum Sozialismus nicht einfach durch das
Erlassen von Gesetzen herbeigeführt werden. Er sollte durch
ein zweifaches “Schwindel” herbeigeführt werden: die
Inszenierung revolutionäres Enthusiasmus und die riskante
Chaotisierung sozialen, wirtschaftlichen aber auch staatlichen
Strukturen. In anderen Worten waren radikale Transformation,
eminenter Kollaps und Exaltiertheit ineinander geflochten.
Dabei konnte die Partei schwer in die Chaotisierung
eingreifen, weil ihre Nachrichtensammlung, Planung und
Öffentlichkeit zwischen diese Arten des Rausches nicht
säuberlich unterteilen konnte. Sie litt gewissermassen selbst
an “Schwindel” und verlor z.T. “die Fähigkeit, die
Wirklichkeit zu verstehen.”
Ziel dieses Aufsatzes ist es, zu untersuchen, wie drei
Dimensionen von “Schwindel” – als inszenierter Enthusiasmus,
12 Zum Problem der Entgrenzung in der Sowjetunion siehe die Diskussion in der Einleitung dieses Bandes.
8
als Transformation/Chaos und als staatliche Verkennung – in
der Entfaltung dynamischer Prozessen während der ostdeutschen
Kollektivierung miteinander verknüpft wurden. Dabei wird das
uns hier interessierende Konzept von Rausch über seine
massenpsychologischen oder diskursiven Dimensionen hinaus
eingesetzt, um auf einer funktionaler Ebene zu zeigen, wie
Rausch, als die verkörperte Darstellung revolutionärer
Enthusiasmus, notwendig war, um Bewegung in die
“Bewegungsphase” des stalinistischen Systems zu bringen.
Gerade weil dieser Rausch in der DDR-Kollektivierung
weitgehend inszeniert werden mußte, ist der Fall besonders
geeignet, um diese Dynamik offenzulegen. Entgrenzung als
subjektiven Erlebnis wurde inszeniert, um eine Entgrenzung auf
der Ebene sozialen Strukturen auszulösen.
Dieser Aufsatz geht in fünf Schritten vor. Erstens wird
gezeigt, wie der SED-Staat bereits vor der Kollektivierung an
die Grenzen bäuerlicher Akzeptanz angelangt war und deswegen
Gewalt anwenden mußte, um die Landwirtschaft zum gewollten
Tempo umzugestalten. Zweitens wird die Verbindung dieser
Gewalt mit der Inszenierung revolutionäres Enthusiasmus am
Fallbeispiel eines Schauprozesses in einem brandenburgischen
Dorf in September 1952 aufgezeichnet. Drittens sollen die
unmittelbaren Auswirkungen solcher Inszenierungen bei der
Bevölkerung untersucht werden, um dann, viertens, ihre
dynamischen Auswirkungen innerhalb des Staates zu analysieren.
Zum Schluss wird, fünftens, die These belegt, dass sowohl die
Effekten wie die Inszenierungen selber in die Ökonomie des
Enthusiasmus wieder aufgenommen wurden. Durch die
9
Rückkoppelung wurde die Chaotisierung vorantrieben, die erst
mit der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 ein
Ende fand.
Der fehlende Enthusiasmus: Intervention und Gewalt beim Übergang zur Planwirtschaft
Nach der Enteignung des Großgrundbesitzes im Herbst 1945
hatten die sowjetische Militäradministration und die
Kommunistische Partei Deutschlands (ab 1946 die SED) zunächst
eine Reihe von Fördermaßnahmen ergriffen, um den Wiederaufbau
der Landwirtschaft und die Gewinnung der politischen Loyalität
der Bauern zu erreichen. 13 Die Einführung der „Partei neuen
Typs“ und der Planwirtschaft, die mit der Verschärfung des
Kalten Krieges von 1948 einherging, brachte eine Zunahme an
staatlichen Interventionen auch auf dem Land. Die
systematische Zerstörung der politischen und wirtschaftlichen
Macht der so genannten „Großbauern“ (Bauern mit über zwanzig
Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche) wurde zum
Hauptmechanismus, um lokale Machtstrukturen gleichzuschalten.14
Die Ablieferungsverpflichtungen (Soll) der Großbauern wurden
drastisch erhöht mit dem Resultat, dass spätestens 1952 weite
Teile der Großbauern wegen ihrer Lieferungs-Rückstände jeder
13 Grundlegend zur Ausführung der Agrarpolitik der SED/KPD in der SBZ/DDR als eine „Zwangsmodernisierung“ vgl. Bauerkämper, Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur, Anm. 6.14 Paul Merker, Mitglied des Politbüros und später Staatssekretär für Landwirtschaft, verkündete im April 1948 die neue Linie: „Wir stützen uns auf die Klein- and Mittelbauern. Das ist für uns die politische Linie, und hier lassen wir keine Differenzierung zu. Wir brauchen natürlich die Mittelbauern; sie sind unsere wichtige Basis ... auf der anderen Seite stehen die Großbauern.“ Zit. Joachim Piskol, „Zur sozialökonomischen Entwicklung der Großbauern in der DDR 1945 bis 1960“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 39 (1991) Heft I, S. 419–433, hier S. 423.
10
Zeit bestraft werden konnten.15 Als eine schwierigere Aufgabe
erwies sich die politische Entmachtung der Großbauern. Unter
der Losung der „Demokratisierung des Dorfes“ wurden die
Genossenschaftswahlen der Vereinigung der gegenseitigen
Bauernhilfe (VdgB) 1951 mit einem großen Propagandaaufwand
gegen die Großbauern geführt. Der Versuch, etwaige
Ressentiments gegen diese Dorfelite zu mobilisieren, schlug
fehl, wie die Ergebnisse im Land Brandenburg zeigen. Gegen die
Empfehlungen der SED-beherrschten Leitungen der
Genossenschaften weigerten sich die Genossenschaftsmitglieder,
alle Großbauern von ihren Funktionen in den örtlichen VdgB-
Gremien abzuwählen. Unzufrieden mit dem Wahlergebnis
verordnete die SED statutenwidrige Neuwahlen der Vorstände im
Frühjahr 1952. Der Versuch missglückte, und statt eine
Steigerung von SED-Mitgliedern in diesen Gremien fiel ihr
Anteil zum ersten Mal, was auf die Wachstumsgrenzen der SED in
der ländlichen Bevölkerung unter freiwilligen Bedingungen
hinwies.16 15 Weil Privatbetriebe nur Gewinn erwirtschaften konnten, wenn sie über ihrSoll hinaus über zusätzliche Produktion verfügten, die sie zu den erhöhten Preisen der „freien Spitzen“ verkaufen konnten, gerieten die Großbauern auch in finanzielle Schwierigkeiten. Diese wurden wiederum durch die vom Staat forcierte Steigerung der Lohnkosten von Landarbeitern weiter verschärft. Das Resultat war, dass viele Betreibe ihre eigene Produktion und Infrastruktur nicht aufrecht erhalten konnten und deswegen als „devastiert“ galten. Zur Zuspitzung der Ablieferungspflichten der Großbauern infolge der Einführung der Planwirtschaft, vgl. Friederike Sattler, Wirtschaftsordnung im Übergang: Politik, Organisation und Funktion der KPD/SED im Land Brandenburg bei der Etablierung der zentralen Planwirtschaft in der SBZ/DDR 1945—52, Münster 2002, Teilbd. 1, S. 423—556.16 Bei den Wahlen Anfang 1952 schmälerte sich der Prozentsatz der SED Mitglieder in den VdgB-Vorständen in Brandenburg um 3,7% im Vergleich zum Vorjahr. Hauptnutznießer dieses Verlusts waren die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) und die Parteilosen. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Rep. 332, Nr. 667, unpag. (29.3.1952).
11
Es ist deshalb nicht überraschend, dass nachdem im Juli
1952 auf der 2. Parteikonferenz der SED die Kollektivierung
ausgerufen wurde, nur eine kleine Minderheit der Bauern sich
bereit zeigten, einer LPG beizutreten, trotz der Propaganda-
Kampagne und der Bereitstellung von finanziellen Vorteilen.17
Für eine schnelle Übergang zur sozialistischen Landwirtschaft
fehlte offensichtlich das notwendige Maß an bäuerlichem
Enthusiasmus.
Nach dem Historiker Dieter Schulz wäre es über steuerliche
Vergünstigungen und die Ausbildung eines professionellen LPG-
Managerkaders der SED wahrscheinlich möglich gewesen, die
Ziele der Kollektivierung über zwanzig oder vierzig Jahre ohne
Gewalt zu erreichen. Dies war jedoch keine Option für die SED
Stimmungsberichte aus der Zeit zeugen von einem wachsenden Misstrauen der Bauern gegenüber dem SED-Staat, wie im folgenden Zitat eines anonymen Bauern aus dem Herbst 1951: „Bald ist die Zeit da, höchstens bis zum Frühjahr, dann gibt es Krieg. Die Regierung macht nicht mehr lange, überallstinkt es, der Zusammenbruch steht vor der Tür, deshalb solche Hetze bei der Ablieferung und Bestellung. Die Bauern wollen keine Bevormundung bei Anwendung neuer Arbeitsmethoden, wir wissen, wie wir zu arbeiten haben.“ BLHA Rep. 401, Nr. 5623, unpag. (10.11.1951). Eine Vorlage an das Zentralkomitee zu den erfolgten Wahlen zu den Grundorganisationen der SED von Mai 1952 bestätigte, dass es nicht gelungen war, „entscheidenden Einfluss auf das Leben im Dorf zu nehmen und die führende Rolle der Partei zu verwirklichen.“ Zit. nach Jens Schöne, „ ,Wir sind dafür, dass über diese Fragen keine Berichterstattung erfolgt.’ Die Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR 1952/53“, in: Falco Werkentin (Hg.) Der Aufbau der „Grundlagen des Sozialismus“ in der DDR 1952/53, Berlin 2002, S. 71–94, hier 76. Vgl.auch ders., Genossenschaftswesen und Agrarpolitik in der SBZ/DDR 1945–1950/51, Stuttgart2000.17 Neue LPGs hatten bevorzugten Zugang zu den staatlichen Maschinenstationen und Kreditanstalten, ein niedrigeres Ablieferungssoll und Steuerfreiheit für zwei Jahre. Neue Mitglieder erhielten auch einen Steuernachlass von 25 Prozent, staatliche Hilfe mit privaten Gärten und einen Erlass der aus der Landreform stammenden Schulden. Vgl. „Bekanntmachung des Beschlusses über die Vergünstigungen für die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und ihre Mitglieder, vom 24. Juli 1952“, in: Volker Beuthien (Hg.) Materialien zur Genossenschaftsgesetz, Göttingen 1997, Bd. 5, S. 345–349.
12
im Sommer 1952. Das Scheitern der Deutschlandnoten Stalins im
Frühjahr und die Vorbereitung auf einen möglichen Krieg mit
dem Westen stellten die Weichen für die volle Integration der
DDR in das sowjetische System, die u.a. den beschleunigten
Aufbau des Sozialismus bedeutete.18
Weil die Planziele so hoch angesetzt und andauernd vom
Zentrum nach oben korrigiert wurden, konnten lokale
Funktionäre den Plan für die Erfassung, die Kollektivierung
und die politische Gleichschaltung der ländlichen
Institutionen nur durch massive Intervention und zentrale
Steuerung erreichen. Das Warten auf die bäuerliche Reaktion
auf das staatliche Angebot und das Wirkenslassen von
finanziellen Reizen wurden zunehmend pejorativ als
"Selbstlauf" bezeichnet. Eine Sozialisierung von Eigentum auf
Befehl kam auch nicht in Frage, da sie womöglich offenen
Widerstand verursacht und auf jeden Fall dem voluntaristischen
Prinzip des Sozialismus widersprochen hätte. Statt dessen kam
es zur Inszenierung von Staatsgewalt als Revolution, einer
Inszenierung, die nicht nur die Gewalt rechtfertigte, sondern
auch weitere dynamische, also revolutionäre, Effekte erzeugte.
Fallbeispiel einer Inszenierung: Ein Schauprozess in Giesendorf
Einen Mikrokosmos dieser Prozesse liefert das besonders
ausführliche Protokoll einer Tagung des „Beirats des Ernte-
und Erfassungsaktivs“ des Bezirks Potsdam in einem Dorf ein
18 Dieter Schulz, „Kapitalische Länder überflügeln“: Die DDR-Bauern in der SED-Politik des ökonomischen Wettbewerbs mit der Bundesrepublik von 1956 bis 1961, Berlin 1994. Vgl. auch die Beiträge in: Falco Werkentin (Hg.) Der Aufbau der „Grundlagen des Sozialismus“ in der DDR 1952/53, Berlin 2002.
13
Paar Kilometer außerhalb der brandenburgischen Kleinstadt
Pritzwalk am 11.9.1952.19 An jenem Samstag morgen fuhr eine
kleine Gruppe von leitenden Funktionären (delegiert aus der
SED, den Blockparteien und Massenorganisationen) von der
Bezirkshauptstadt Potsdam in die Prignitz und traf sich vor
Ort mit Funktionären der Kreisebene. In kleineren Brigaden
schwärmten sie in vier nahe liegenden Dörfern aus und machten
– gewappnet mit Informationen über den jeweiligen
Erfüllungsstand der dort ansässigen Bauern – „Hofbesuche“. Sie
forderten die Bauern zur Lieferung auf, suchten nach
verborgenen Gütern und verhängten Strafen „auf der Stelle.“ Am
Abend wurde in Giesendorf eine große Versammlung der
Dorfeinwohner und zugereisten „Arbeiter“ aus Pritzwalk
zusammengerufen, um die Befunde der Brigaden auszuwerten.
Nachdem die im Bullendorf entstandene LPG gelobt und die
säumigen Ablieferer und die laxen Gemeindevertretungen aller
Dörfer gerügt worden waren, formulierten die Leiter der
Versammlung eine vernichtende Kritik über den Großbauern P.
aus Giesendorf. Der Vorsitzende des Rates des Kreises und
Verfasser des Protokolls forderte die anwesenden „Werktätigen
der Gemeinde und die anwesenden Kollegen aus den Pritzwalker
Betrieben“ dazu auf, zu entscheiden, „was in diesem Falle mit
der Wirtschaft P. geschehen soll.“ Er betonte: „wir … werden
nicht dulden, dass unser Aufbauwerk bewusst sabotiert wird.“
Das war der Auftakt zu einem Schauprozess.
19 BLHA, Rep. 401, Nr. 5625, unpag. (20.9.1952). Wenn nicht gesondert notiert, beziehen sich alle folgende Zitate auf dieses Protokoll.
14
Giesendorf und der Großbauer P. wurden von den
„Regisseuren“ dieser Inszenierung ausgesucht, um die Auflagen
des Beschlusses der SED-Bezirksleitung vom 29. August 1952 zu
erfüllen: "In einigen Gemeinden, wo die werktätigen Bauern
ihre Ablieferungspflicht erfüllten, die Großbauern aber die
Ablieferung sabotieren und dadurch die Gemeinde nicht 100%ig
ihr Soll erfüllen kann, sind mit Hilfe der werktätigen Bauern
Beispiele zu schaffen, wo die Großbauern gezwungen werden, die
Gesetze einzuhalten."20
Ein solches Szenario sollte das Hauptargument der
Regierung untermauern, nämlich, dass die schlechte Lieferung
der Großbauern ihrer Klassenzugehörigkeit und nicht dem vom
Staat auferlegten Soll zuzuschreiben war. Weiter hoffte man,
dass die übrigen Bauern auf die Behauptung eingehen würden,
dass es die Großbauern waren, die die ganze Gemeinde nach
unten ziehen würden und deswegen geächtet und bestraft werden
sollten.
Dieser angebliche Klassengegensatz im Dorf sollte durch
die Konfrontation der Klein- und Mittelbauern im Publikum mit
Frau P. (die ihren Mann vertrat) repräsentiert werden. Es
wurden auch sämtliche Herrschaftsverhältnisse im Land durch
ihre korporativen Vertreter räumlich zur Schau gestellt. Dem
„werktätigen“ bäuerlichen Publikum stand ein Tisch gegenüber,
hinter dem die verkörperten Repräsentanten der Gruppen saßen,
die ihnen den Weg weisen sollten: die Fabrikarbeiter, die
Genossenschaftsbauern, und die Partei- und Staatsfunktionäre.
Der „Hauptregisseur“ der Inszenierung, Kenzler, ein 20 BLHA, Rep. 530, Nr. 84, unpag. (29.8.1952).
15
Parteifunktionär aus Potsdam, wurde von Wilhelm Utech, dem
höchsten Staatsfunktionär des Kreises (Vorsitzenden des Rates
des Kreises Pritzwalk) und ebenfalls SED-Mitglied, sekundiert.
Es waren Kenzler und Utech, die abwechselnd die verschiedenen
Zeugen zur Aussage aufriefen. Auch wenn einem Brauerei-
Arbeiter die Aufgabe zufiel, eine Strafe des Großbauern P. in
Höhe von 3.000 Mark zu fordern, standen diese beiden Herren im
Mittelpunkt. Ihre Leitrolle sollte nicht kaschiert werden,
denn das Publikum sollte auch wissen, wer die Fäden in der
Hand hatte, die Partei und ihr Staat.
Diese Mise-en-scène der Revolution diente der
Visualisierung der Macht. Wie Manifestationen,
Zeitungsberichten und Plastiken, liessen solche Schauprozesse
die Herrschaftsverhältnisse in einer idealisierten Form
wiedergegeben, die sie attraktiv und zugleich drohend wirken
liessen. Der Schauprozess in Giesendorf unterschied sich
jedoch grundlegend von inszenierten Massenritualen wie
beispielsweise die Umzüge zum 1. Mai, die nur repräsentativ
wirkten.21 Er unterschied sich auch von den berühmten
21 In der neueren Forschung zur Rolle von Inszenierung im sowjetischen Herrschaftssystem wird oft in Anlehnung an Habermas’ Theorie der repräsentativen Macht im Ancien Regime behauptet, dass auch die modernen autoritären Staaten ein besonderes Maß an repräsentativer Öffentlichkeit bedürfen. Besonders aufschlussreich zum Phänomen der Machtvisualisierung sind die Essays in dem Sammelband: Sabine Arnold et al. (Hg.): Politische Inszenierungen im 20. Jahrhundert: zur Sinnlichkeit der Macht, Wien; Köln; Weimar 1998. Für Beispiele vgl. auch Birgit Sauer: „Politische Inszenierung und die Visualisierung von Macht“, in: Andreas Pribersky und Berthold Unfried (Hg.): Symbole und Rituale des Politischen. Ost- und Westeuropa im Vergleich, Frankfurt/Main, 1999, 75–101; und Malte Rolf, „Feste der Einheit und Schauspiele der Partizipation – Die Inszenierung von Öffentlichkeit in der Sowjetunion während des Ersten Fünfjahresplanes“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 2 (2002), S. 163–171.
16
Schauprozessen wie etwa den Slansky-Prozessen, die ohne die
Partizipation eines Publikums ablaufen konnten.22 Trotz des
Vorhandenseins kontrollierter Umstände und eines
abgesprochenen „Drehbuchs“ wurde in Giesendorf der
risikoreiche Versuch unternommen, einen revolutionären Vorgang
vor Ort und mit vorher nicht eingeweihten Akteuren
herbeizuführen.23
Das Risiko dieser Inszenierung wurde manifest, als die
Gemeindemitglieder, der Bürgermeister und lokale Funktionäre
sich weigerten, ihre Rolle zu spielen. Nach und nach verließen
die Anwesenden den Saal. Das Resultat war, dass die
„Regisseure“ Kenzler und Utech nicht nur die Rolle des
„Anwalts“, sondern zum Teil auch die des „Zeugen“ und
„Anklägers“ übernehmen mussten.
Der große Rückstand des Großbauern P. bei seiner
Sollerfüllung (statt 2175 kg Rindfleisch nur 385 geliefert,
statt 6275 Eier nur 4250, usw.) wurde von Kenzler als Sabotage
22 Zu den Slansky-Prozessen vgl. George Hodos, Schauprozesse: Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948–54, Berlin 1990.23 Es gibt mittlerweile eine ganze kulturwissenschaftliche Literatur zum Zusammenhang zwischen Ästhetik und Macht in der Sowjetunion. Gegen Walter Benjamins berühmten Satz, Faschismus betreibe die Ästhetisierung der Politik, worauf der Kommunismus mit der Politisierung der Ästhetik antworte, untersucht diese Literatur die Schuld der Avantgarde an die Ästhetisierung der Politik und die Politisierung der Ästhetik in der frühenSowjetunion. Vgl. Boris Groys, „The Birth of Socialist Realism from the Spirit of the Russian Avantgarde“, in: Hans Gunther (Hg.), The Culture of the Stalin Period, New York 1990, S. 122–144; Katerina Clark, Petersburg: Crucible of the Revolution, Cambridge 1995; Boris Gasparov, „Development or Rebuilding: Views of Academician T. D. Lysenko in the Context of the Late Avant Garde“ in: John Bowlt und Olga Mattich (Hg.), Laboratory of Dreams: the Russian Avantgarde and Cultural Experiment, Stanford 1996; Sheila Fitzpatrick, (Hg.), Cultural Revolution in Russia 1928–1931, Bloomington, Indiana 1978. Zum Zusammenhang von Inszenierungen von Schauprozessen und Filmtechnik: Julie Cassiday, The Enemyon Trial: Early Soviet Courts on Stage and Screen, Illinois 2001.
17
des Planes dargestellt, denn „er stellt sich bewusst gegen das
Gesetz.“ Durch das Protokoll wird jedoch deutlich, dass P.
wahrscheinlich schon durch die systematische Benachteiligung
der Großbauern so getroffen wurde, dass er nicht einmal die
Rohstoffe für seine Tierhaltung bekam.24 Beim Hofbesuch soll er
sich trotzig-resignierend geäußert haben: „Nach uns die
Sintflut“ und „Nehmt doch hin das Vieh, ich habe sowieso kein
Futter.“ Früher hatte P. viel mehr geliefert, er sagte, „es
wäre eine Kleinigkeit für ihn gewesen. Heute nun kann er das
nicht mehr, obwohl sein Land dasselbe geblieben ist wie zu
damaliger Zeit. Es tritt demzufolge klar zu Tage“, schloss
Kenzler daraus, „dass diese Bauern mit unserer Regierung und
unseren Maßnahmen nicht einverstanden sind. Sie stellen sich
gegen unsere Pläne und treiben bewusst Sabotage.“
Wie in dieser Passage wechselte die Beweisführung gegen P.
dauernd zwischen Singular und Plural. Dadurch wurde P. für
seine angebliche Klasse stellvertretend und diese Klasse für
ihn. Sein Verbrechen gewann dadurch die historische Dimension,
die eine entsprechend harte Strafe rechtfertigte.
Als das Publikum aufgefordert wurde, für diese Bestrafung
zu votieren, erhoben sich viele der noch anwesenden Bauern und
„verließen trotz Aufforderung doch im Saal zu verbleiben den
Raum.“ Da es keine Gegenstimmen gab, erklärte Kenzler die
Strafe für angenommen, auch weil „Frau P. durch ihr Verlassen
des Saales ebenfalls zum Ausdruck brachte, dass sie mit der
24 Die schlechte Ernte im Herbst 1951 führte dazu, dass viele Bauern ihr Soll für Kartoffeln nicht erfüllten. Trotz ihrer Proteste wurden oft ihre Saatkartoffeln oder Futterreserve vom staatlichen Erfassungsbetrieb beschlagnahmt. Vgl. BLHA Rep. 401, Nr. 5623.
18
Bestrafung einverstanden ist.“ Dem vermutlich halbleeren Saal
gegenüber erklärte daraufhin Kenzler den Tag deswegen zum
Erfolg, weil „heute der demokratische Staatsapparat mit den
Werktätigen zusammen beschlossen und getagt hat und uns
gezeigt wurde, wie man kämpfen muss um alle die Dinge, die uns
enthalten werden sollten. Wir wollen uns ganz mit aller Kraft
einsetzen für den Aufbau des Sozialismus. Koll[ege] K[enzler]
schloss seine Ausführungen mit Worten aus dem Werk Ostrowskis
‘Wie der Stahl gehärtet wurde.‘“25
Die Effekten des Schauprozesses unter den BauernDas klägliche Ende des Schauprozesses in Giesendorf
verdeutlicht die Widersprüche einer geplanten Revolution. Ganz
offensichtlich ging es darum, wie in jedem Schauspiel, ein
Rausch im Publikum zu verursachen. Die Inszenierung sollte
überzeugen, bekehren, zu Taten aufmuntern. Als Beispiel der
transformierenden Macht eines Bekenntnisses zum Sozialismus
pries Kenzler die anwesenden LPG-Mitglieder als „Menschen
neuen Schlages…, die … ihre Pflicht dem Staat gegenüber
erfüllen und mit aller Kraft den Aufbau des Sozialismus
unterstützen und herbeiführen.“ Auch wenn das Protokoll kein
Zeichen vom erwünschten Enthusiasmus aufweist, bat der Staat
Identifikationsmöglichkeiten für eine neue Elite, die an die
Stelle der zerschlagenen Dorfelite treten sollten.
Es wäre jedoch falsch, der Schauprozess einen Mißerfolg zu
nennen, nur weil es nicht die Gunst des Publikums fand. Nicht
dieser Enthusiasmus war das entscheidende um die
25 Wie der Stahl gehärtet wurde (1934) war ein Klassiker unter den sowjetischen Aufbau-Romans.
19
Kollektivierung voranzutreiben. Der Prozess wurde zu Ende
geführt, um andere Funktionen zu entfalten, die sich in
direkte und indirekte oder dynamisch Effekten unterteilen
lassen.
Zunächst war das Ereignis in Giesendorf in der Tat ein
Prozeß, d.h. eine ritualisierte Form notwendig, um staatlichen
Gewalt gegen den Bauern P. zu legitimieren. Jedoch, weil die
Anklage und Strafe eigentlich nicht auf sein angebliche
Verbrechen als Person sondern als Stellvertreter für eine
„Klasse“ bezogen war, kann man den Schauprozess als einen
Legitimitätsprozess für die Gewalt verstehen, die der Aufbau
des Sozialismus erforderte. Jeder Gewaltakt musste als
Klassenkampf gelten, nur so war er mit den humanistischen
Werten des Marxismus vereinbar. Dabei wurden zwei
Rechtsauffassungen miteinander konfrontiert und
welthistorisches Recht über bürokratisches und bürgerliches
Recht gestellt. Paradoxerweise also wurde der Gerichtsprozess
als Genre gewählt, um den Rechtsstaat auszuhebeln und
bürgerliches Recht im Interesse der Partei zum Teil außer
Kraft zu setzen. Als der verzweifelte Bürgermeister von
Giesendorf den Schauprozess aufzuhalten versuchte, indem er
sich auf die Kompetenzen der Gemeindevertretung berief, wurde
dies durch Kenzler mit der Erklärung abgelehnt, „dass der Plan
Gesetz ist, dass von dem Plan das Leben aller abhängt und dass
bei Nichterfüllung des Planes das Leben der Werktätigen in
Gefahr gebracht wird.“
Eine zweite direkte Funktion des Schauprozesses war es,
allen Beteiligten, ob als Akteur, Zuschauer, Zeitungsleser,
20
Berichtleser oder Angeklagte, ein Lehrstück der Revolution zu
bieten. Darum wich die Beweisführung von Kenzler und Utech
andauernd von dem angeblichen Tatvorgang ab. Über Exkurse zur
Roten Armee, zur Planwirtschaft, zur Tätigkeit der LPG-Bauern,
der Industriearbeiter und der Staatsfunktionäre wurde eine
Totalität der geschichtlichen Umwälzung konstruiert, die alles
auf einen Punkt brachte, die Notwendigkeit der Erfüllung des
Plans. Die Inszenierung kann als die Verdichtung der
Propagandaflut der Zeitungen und des Radios verstanden werden,
die durch die Gewalt der Strafverhängung vor Ort in Giesendorf
verankert wurde. Die Wiederholung, die Wahl des Prozesses als
Genre, die Eindringlichkeit der Beweisführung und die Gewalt
waren Techniken, die die Paradoxien der stalinistischen
Diktatur plausibel erscheinen ließen, und die Sprache und
Erklärungsnarrativ des Staates zu einer Monopolstellung in der
Öffentlichkeit erhoben.
Dieses geschlossene, machtgestützte Erklärungsmodell
beraubte einer Gegenmeinung die Sprache und ließ die Bauern
lediglich die Wahl zwischen Identifikation und Schweigen. Das
Protokoll des Schauprozesses zeigt deutlich, wie, als der
Staat für die Bauern sprach, er sie zum Schweigen brachte. Ein
Staatsfunktionär forderte die Anwesenden auf: „Hier müssen die
werktätigen Bauern der Gemeinde entscheiden, was mit diesen
Saboteuren geschehen soll, eine andere Sprache ist nun nicht
mehr möglich.“ Dies kann auch wörtlich so verstanden werden.
Durch solche Inszenierung wurden den Anwesenden eingeprägt,
dass in der politischen Öffentlichkeit eine andere Sprache nun
nicht mehr möglich war.
21
Dementsprechend erfolgte bäuerliche Widerstand in
Giesendorf sprachlos durch das Verlassen des Saales, oder
kleinlaut, wie im Falle des Vorsitzenden der örtlichen VdgB,
der sich der Aufforderung eine letzte Anklage gegen P. zu
erheben, mit der Erklärung weigerte, „dass ja jetzt alle Tage
gedroschen würde, das war alles was er zu sagen hatte.“ Hier
drückte er seine Unmut über die Zeitverschwendung während der
Ernte durch staatliche, fachfremde Einmischung aus und
verwendete den vom Staat positiv konnotierten Begriff der
„Arbeit“, um eine implizite Gleichsetzung und Solidarität
aller Arbeitsleistenden sowie des Großbauern P. zu
konstatieren. Er vermied es jedoch, der Sprache des Staates
direkt zu widersprechen.
Gewalt und Inszenierung bei der Entfaltung dynamischer
Prozesse
Der Schauprozeß produzierte auch indirekte, dynamische
Effekte, die sich über Zeit entfaltete. Der diskursiven
„Rausch“, der die Gewalt einen Sinn gab, setzte Prozesse in
Gang, die ein „Rauschen“ im Sinne einer Rückkopplung
produzierte.26 Denn die Effekten des Schauprozesses Giesendorf
– ob in Form von Menschen- oder Eigentumsbewegungen oder
Informationen – wurden in die Prozessen wieder eingeführt, die
sie produziert hatte. Dabei führten sie zu neuen Effekten. Dem
26 Interessante Zusammenhänge zwischen “Rausch” und “Rauschen” ergeben sichaus folgende Definition von “Rauschen” als “ein Störeffekt bei der elektronischen Nachrichtenübertragung. […] Das Rausch am Ausgang eines Empfängers oder Verstärkers setzt sich aus dem Eigen-Rausch des Empfängers oder Verstärkers und dem Rausch der Signalquelle zusammen.“ In: Brockhaus: DieEnzyklopädie in zwanzig Bänden, 17. Aufl. Wiesbaden 1972, Bd. 14, S. 466–67.
22
akustischen „feedback“ ähnlich, das gleichzeitig eine
Steigerung von Lautstärke und von Distortion produziert, wenn
der Sound-Output wieder in den Verstärker geleitet wird, waren
die dynamischen Prozessen der Kollektivierungskampagne sowohl
systemerweiternd wie systemdestabilisierend. Dabei weist
„Rauschen“ die gleichen Ambivalenzen wie der Begriff „Rausch“
auf. Die Bewertung des geometrischen Wachstums und seiner
Chaotisierung hing von dem Zeitpunkt seiner Betrachtung ab.
Vieles, was im Herbst 1952 revolutionär erschein, wurde im
Sommer 1953 als „Fehler“ betrachtet.
Als die Parteileitung des Bezirkes Potsdam bereits im
August 1952 eine Strafverfolgung „mit der vollsten Härte“ für
die geplanten Ernte-Aktivs ankündigte, zielte sie auf gewisse
dynamische Effekte.27 Denn die Bestrafung oder Enteignung der
so genannten Großbauern diente der Erhöhung der
Getreidelieferung, aber auch der Gewinnung vom
„sozialistischen Eigentum.“ Damit förderte sie auch die
Attraktivität der LPGs, die aus den großbäuerlichen Betrieben
die oft fehlenden Komponenten für eine großflächige Produktion
erhielten: Traktoren, Pferde, Maschinen, Ackerland und auch
Wohnraum. 27 In dem Text des Beschlusses der Bezirksleitung der SED zur Schaffung derErnteaktivs vom 9. August 1952 hieß es wie folgt: „Unter Anwendung des MR [Ministerrates der DDR, T.W.] Beschlusses 17/52 vom 4.4.52 sind in engster Verbindung mit den Organen des Staatsapparates und der Erfassungsaktivs in den Kreisen und Gemeinden und unter vollster Anwendung der demokratischen Kontrolle die eingetretenen Rückstände in der Erfüllung der Ernte- und Ablieferungspläne aufzuholen. Hierbei ist der Mobilisierung des Apparates der VEAB [Volkseigene Erfassungs- und Aufkaufbetrieb] besonderes Augenmerk zu schenken. Gegen bewusste Schädlinge und Agenten, die die Gesetze unsererRegierung mißachten, ist mit der vollsten Härte unter Anwendung der Gesetzeund Verordnungen unserer Regierung vorzugehen.“ Vgl. BLHA Rep. 530, Nr. 1493, 9.8.1952.
23
Die Rückkopplung dieser zwei gewünschten Prozesse mit der
Eliminierung der Großbauern war geplant. Stalin hatte die
sowjetische Erfahrung in seinem „Kurzen Lehrgang“
foglendermassen erklärt und damit kodifiziert: „Die Partei
wußte wohl: ... solange nicht das Kulackentum [Großbauerntum]
in offenem Kampfe vor den Augen der Bauernschaft geschlagen
sein wird, werden die Arbeiterklasse und die Rote Armee
Brotmangel leiden und wird die Kollektivierungsbewegung der
Bauern keinen Massencharakter annehmen können.“28 Auch wenn er
die genauen Mechanismen dieser wunderbaren Produktion von Brot
und Kolchosebauern verschwieg, hat Stalin die dynamisierenden
Effekte der Liquidierung dieser „Klasse“ erkannt.
Ein weiterer dynamisierender Effekt war, dass eine
gewaltsame Inszenierung von Klassenkampf oft „echten“
Widerstand hervorrief, der wiederum neue staatliche
Interventionen ermöglichte. Ein Beispiel hierfür liefert der
Vorfall, der sich nach dem Schauprozess in der Gaststätte von
Giesendorf ereignete. Dort wurde der höchste Staatsfunktionär
des Kreises Pritzwalk, Utech, von den dort trinkenden
Giesendorfern mit Gewalt bedroht, nachdem diese erfuhren, dass
Frau P. nach der Versammlung verhaftet worden war. Dieser
offene Widerstand wird Utech und den Lesern seines Berichtes
vielleicht Mut gemacht und ihnen bestätigt haben, dass sie
trotz der blamablen Inszenierung doch auf dem richtigen Weg
waren und dass das Dorf tatsächlich von „Klassenkampf“
brodelte.
28 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), Kurzer Lehrgang, Verlag der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Berlin 1946, S. 353.
24
Das Beispiel-System und die Inszenierung von Institutionen innerhalb des Staates.
Die wichtigste dynamische Effekte des Schauprozesses in
Giesendorf entfalteten sich nicht unter den Bauern, sondern im
Staat selber. Trotz der Offenlegung seiner Künstlichkeit durch
das Abrücken der Bauern mußte der Schauprozess auch deswegen
zu Ende geführt werden, damit er als „Beispiel“ dienen konnte.
Kennzeichnend für stalinistische Transformationsprozesse war,
dass untergeordneten Funktionäre sämtliche zu einer Kampagne
gehörenden Verhaltensregeln, Rhetorik, Planziele, und
Gewaltanwendung durch ausgewählte und aufwendig inszenierte
„Beispiele“ vorgeführt wurden. Nach diesem Modell sollten die
Inszenierungen als Lehrstücke funktionieren und von anderen
Staatsfunktionären auf untergeordneten Ebenen nachgeahmt
werden. Das Zentrum gab detaillierte Anweisungen über
Häufigkeit, Zeitpunkt, Vorbedingungen, Ablauf und Ergebnisse
dieser Inszenierungen zweiter Ordnung.29
Weil die Revolution als normative Regulative des Aufbaus
galt, war die Entfaltung des Beispiel-Systems als dynamisch
konzipiert. Das erste Beispiel sollte der Katalysator für
weitere Beispiele dienen, die dann eine Kettenreaktion vom
Klassenkampf in einer als reif für soziale Transformation
geltenden Gesellschaft auslösen sollten.30
29 Eine Untersuchung des Beispiel-Systems bei der Entwicklung des „sozialistischen Dorfes“ 1950–52 bietet jetzt Andreas Dix, „Freies Land“ Siedlungsplanung im ländlichen Raum der SBZ und früheren DDR 1945 – 1955, Köln 2002, S. 350–380. 30 Stalin bediente sich diesem Topos in seiner Rede an die Agrarexperten der Partei vom 27. Dezember 1929, als er die vom Staat initierte Kollektivierungkampagne als eine “den Kulaken feindlichen Lawine” charakterisiert, “auf ihrem Wege den Widerstand des Kulaken hinwegfegt, das Kulakentum zu Boden wirft und den Weg für einen umfassenden sozialistischen Aufbau im Dorfe bahnt.” Stalin, wie in Anm. 4, S. 77.
25
Eine Eigendynamik wurde erreicht, jedoch nicht gemäß dem
in den Anweisungen intendierten Ideal einer Diffusion von
hochwertigen Inszenierungen. Wie bei anderen Kampagnen setzte
fast sofort eine Degenerierung der Beispiele ein. Weil die
Mittel dazu fehlten, blieben die ersten aufwendigen
Inszenierungen Inseln der Kohärenz in einem Meer der Mankos.
Sogar auf den höchsten Ebenen des Bezirks, wo Ressourcen und
Überzeugung konzentriert waren, konnten die Inszenierungen
nicht aufrecht erhalten werden. Da die Kampagnen sich in
dieser Zeit der permanenten Mobilisierung überlappten, mussten
Funktionäre dort reagieren, wo der Druck von oben am stärksten
war. Daher schliefen Kampagnen schnell ein. Die Entwicklung
des Ernteaktivs war hierfür charakteristisch. Nach den
anfänglichen Tagungen sank die Anwesenheitsquote der von
Potsdam ausfahrenden Leitfunktionäre um 25 Prozent, und es kam
vor, dass die Transportwagen am Morgen nicht auftauchten, weil
sie inzwischen woanders hingeleitet wurden.31
Weil das Zentrum nicht selber überall intervenieren
konnte, versuchte das Zentrum seinen Ressourcenmangel dadurch
zu überwinden, dass es einen Überlebenskampf unter den
mittleren Staatsfunktionären anstiftete. Es richtete seinen
Blick auf die eifrigsten und langsamsten einer
Verwaltungsebene und machte aus ihnen „gute“ und „schlechte“
Beispiele mit einer entsprechenden Belohnung oder Bestrafung.
31 BLHA Rep. 401, Nr. 5625, 5.9.1952 and 8.10.1952 (unpag.). Auch der Zeitaufwand der Berichterstattung wurde durch die Häufung der Kampagnen dementsprechend vervielfacht, so dass ausführliche Berichte, wie das Protokoll über Giesendorf, nur am Anfang einer Kampagne geschrieben worden waren.
26
Sowie der Bauer P. nach diesem Muster ausgesucht wurde, wurde
auch innerhalb des Staates die Opfer von Säuberungen
ausgewählt. Im Frühjahr 1953 beschäftigte sich das Zentrum
weniger mit der Schaffung von negativen Beispielen unter den
Großbauern, als mit der Schaffung von solchen Beispielen unter
den Staatstsorganen, die den Großbauern verfolgten. Am 13.
Februar gab die SED-Bezirksleitung die Regierung vom Bezirk
Potsdam nur zwölf Tage, um den folgenden Beschluss
auszuführen: „Die 2 zurückgebliebensten Kreise in der
Erfassung sind vom Bezirksrat zu überprüfen, und die
Schuldigen an der schlechten Erfassung [gemeint sind die
Staatsfunktionäre, T.W.] zur Verantwortung zu ziehen. Wo
Sabotage festgestellt wird, sind die Betreffenden zur
Verantwortung zu ziehen bezw. vor Gericht zu stellen.“32 Das
Höhepunkt der Kollektivierungswelle im Frühjahr 1953 fiel mit
massiven Säuberungen innerhalb den Justiz- und
Landwirtschaftsministerien zusammen, d.h. die Behörden, die
für die Verfolgung der „Großbauer“ verantwortlich waren.33
Das Beispiel-System zielte auf die mittleren und kleinen
Staatsfunktionäre und machte sie für die Erfüllung eines
Kollektivierungsplanes verantwortlich. Es war diese Schicht,
die den klaffende Spalt zwischen dem fehlenden Enthusiasmus
bei der Bevölkerung, der revolutionären Massgaben der
Parteipresse und den Planzielen ausfüllen musste. Dass dadurch
„Taktiken“ zum Einsatz kamen, die nicht mit der „Strategie“
übereinstimmte, war für die alten Stalinisten in der SED-32 BLHA Rep. 530, Nr. 88, Bl. 114 (13.2.1953). 33 Vgl. Armin Mitter, „Die Bauern und der Sozialismus“, wie in Anm. 8, S. 94.
27
Führung nicht unbekannt. Sie hatten bereits einen
systemeigenen Begriff für den Ausweg aus dieser Klemme:
„operative Arbeit“. „Operativ“ bedeutete einerseits das
Überschreiten von bürokratischen oder bürgerlichen Rechtswegen
und Funktionen. Man wurde ganz Parteifunktionär, verließ die
Enge seiner staatlichen Funktion und der bürokratischen
Befehlskette und „leitete“ Funktionäre und Bürger in anderen
Bereichen, anderen Gegenden. Andererseits diente „operative
Arbeit“ als Codewort für die Aufforderung zur Gewalt und
außergerichtlichen Bestrafung, die nicht in der Öffentlichkeit
näher beschrieben werden sollten. Aus dieser Sicht dienten die
aufwendigen Inszenierungen von revolutionärem Klassenkampf wie
in Geisendorf in der Tat als Kulisse, hinter der Willkür und
Gewalt herrschen konnten.
Weil es unmöglich war, die im Plan vorgesehenen Beispiele
zweiter oder dritter Ordnung so zu gestalten wie im ersten
Beispiel, kam es nicht nur zur „operativen“ Arbeit, sondern
auch zu folgenlosen Inszenierungen. Diese hatten den Zweck,
den Staat selbst zu täuschen, damit die untergeordneten
Funktionäre selbst nicht negativ auffielen. Dies lag auch in
der Logik des Beispielssystems. Je tiefer man in die
Peripherie des Staates drang, desto mehr nahmen die lokalen
Institutionen den Charakter von Inszenierungen an. Viele
Gemeindevertretungen, örtliche Parteiorganisationen, usw.
existierten hauptsächlich auf Papier. Ein Zweck der Tagung in
Giesendorf war es, solche Inszenierungen zu entlarven. In
seiner Analyse der Entwicklung von benachbartem Kuhsdorf
bezeichnete ein Funktionär aus Potsdam „die Zusammensetzung
28
der Gemeindevertretung als gut,“ d.h. die Blockparteien und
die SED waren stark vertreten und die Großbauern
‘zurückgedrängt’. „Aber was nützt eine gute Vertretung,“
fragte er „wenn eine schlechte Zusammenarbeit auf der anderen
Seite zu verzeichnen ist? Es ist nicht angängig, dass man seit
dem Mai d. Js. keine Zusammenkunft mehr durchgeführt hat, dass
man am 5. August erst kurz über den Druschplan diskutiert und
so fort.“
Inszenierung und Plan waren also zwei Seiten derselben
Medaille. Institutionen wie die LPGs konnten nur in den Mengen
produziert werden, die im Plan vorgesehen waren, wenn sie
inszeniert wurden. Die Kreise konkurrierten untereinander, um
den höchsten Prozentsatz von Bauern in den LPGs aufzuweisen.
Als sich der Kreislauf von Enteignung, Flucht und
Kollektivierung im Frühjahr 1953 weiter beschleunigte, war die
Formierung von LPGs meistens nur noch Scheinkonstruktionen.
Funktionäre sammelten die in der Regel eher erfolglosen Bauern
einer Ort, gaben ihnen das Land und die Geräte von enteigneten
oder geflüchteten Groß-, Mittel- und auch Kleinbauern, und
ernannten ein Mitglied der SED oder einer der sog.
„Blockparteien“ zum Vorsitzende. Viele der ersten LPGs
dämmerten vor sich hin in Apathie, Missmanagement und Chaos.
Ihre Schöpfer wiederum waren oft zu sehr mit den vielen
Kampagnen auf dem Land beschäftigt, als dass sie sich um die
neuen LPGs kümmern konnten.34
34 Ein Beispiel für den Effekt der Kampagnen auf das Management staatlicherBetriebe ist das Protestschreiben eines Kreditgenossenschaftsleiters von 1954. Er stritt seine Schuld am finanziellen Missmanagement der Genossenschaft 1952–53 ab, da er zu dieser Zeit Weiterbildungskurse
29
Der Plan forderte Inszenierungen, und die Berichte dieser
Inszenierungen galten als Wechsel, die im
Informationskreislauf des Staates akzeptiert wurden.
Einerseits wird man behaupten können, dass dies eine
unerwünschte Folge der Planwirtschaft war, die auf der
Unmöglichkeit einer totalen Überwachung der Gesellschaft
beruhte und zum bekannten Problem führte, dass die
Planwirtschaft nur grob quantitativ, aber nicht qualitativ
messen konnte. Anderseits aber hätte ein richtiges Verständnis
von der Lage bremsend auf die dynamische Entwicklung der
„Revolution“ gewirkt. Die Selbsttäuschung war insofern für den
„planmäßigen“ Rausch des Aufbaus notwendig.
Die Folgen dieser Selbsttäuschung wirkten auch nach
Stalins Tod im März 1953 fort, als die SED und ihr Staat
anfingen, sich mit den Unzulänglichkeiten der forcierten
Kollektivierung auseinanderzusetzen. Auf den Versammlungen,
die abgehalten wurden, um die steigende „Republikflucht“ unter
den Klein- und Mittelbauern entgegenzuwirken, wurden nur neue
Anschuldigungen gegen die Großbauern und den Westen erhoben.
Damit wurden die Parolen des Klassenkampfes weiderholt, die
auf Bauern abstoßend wirkten. Ein weiteres Beweis für die
Selbstreferentialität der SED, die ihr das Verstehen der
Bauern erschwerte, liefern die Statistiken zur steigenden
„Republikflucht“ von LPG-Mitgliedern, die von der
Bezirksleitung der SED Potsdam ab Mai 1953 angefordert wurden.
besuchte und beim Aufbau des Sozialismus tätig war. In dieser Zeit hatte der Kreisverband Rathenow drei verschiedene Vertreter für seine Position und vier Buchhalter nacheinander eingesetzt. BLHA Rep. 431, Nr. 666 Brandenburg Land, unpag. (20.10.1954).
30
Als Ursache für die „Republikflucht“ wurden neben „Grund
unbekannt“ am häufigsten Klassenkampferklärungen angegeben,
wie „Verhetzung“ oder „Einfluss des Klassengegners“.35
Plausible Erklärungen in der Sprache der Bauern kamen gar
nicht vor. Diese Selbstreferentialität hinderte eine
angemessene Reaktion auf die unbestellten Feldern und auf die
anhaltende „Republikflucht.“
Die vorauszusehende Katastrophe bei der Ernte bot der
neuen Führung der Sowjetunion einen wichtigen Anlass, um einen
Kurswechsel einzuleiten, den so genannten „Neuen Kurs“ vom 9.
Juni 1953. Mit dieser Umkehrung wurde „operative“ Arbeit
umgemünzt und als „Überspitzung“ bezeichnet, die wiederum
subjektiven Fehlern zugeschrieben wurden. Es wurde auch
„administrativ“ genannt, ein Adjektiv, das in
Revolutionszeiten eigentlich das Antonym von „operativ“ war,
d.h. leidenschaftsloses, bürokratisches Verhalten.36 Diese
Umkehrung diente, wie 1930 in der Sowjetunion, der Schutz der
Parteielite und ihrer Generallinie. Der revolutionäre
Enthusiasmus wurde von dem zu ihm gehörenden „Schwindel“
35 Vgl. BLHA Rep. 401, Nr. 962.36 Die „Selbstkritik“ eines Abteilungsleiters im Potsdamer Ministerium fürLandwirtschaft nach dem 17. Juni liefert ein Zeugnis des Zusammenspiels vonDruck und „operativer“ Anleitung von oben und schlechter „administrativer“ Arbeit in der Ausführung: „Die Kritik an mir von Seiten der Bezirksleitung war nicht helfend sondern zerschmetternd. Die Folge war, ich habe auch nachunten geknüppelt. Ich habe versäumt, die Kritik der Bezirksleitung, bezw. des Operativstabes und der anderen Genossen, in unserer Abteilung auszuwerten. Ich habe mich selbst gleich wieder auf die neue Arbeit gestürzt. Ich hatte sehr oftmals Angst vor der nächsten Sitzung. Meine falschen Anweisungen, die immer administrativ waren, habe ich hinterher ofteingesehen, hatte aber nicht den Mut gefunden, das zu revidieren.“ BLHA Rep. 530, Nr. 92, Bl. 254 (Sekretariatsvorlage zur Sitzung der Bezirksleitung vom 14.7.1953).
31
getrennt; dieser sollte mit der Aufopferung von mittleren
Funktionären wie eine Schlacke von der unfehlbaren Partei
abfallen.
ErgebnisDieser Aufsatz hatte die Feststellung zum Ausgangspunkt,
dass auf dem Land 1952/53 der revolutionäre Enthusiasmus nicht
hauptsächlich dort zu finden war, wo das Drehbuch der
Revolution ihn plazierte, nämlich in den Köpfen der
„Werktätigen“. Dies soll nicht heißen, dass neben vielen
Arbeitern und Mitgliedern der SED nicht auch manche Bauern ein
Rauscherlebnis des Enthusiasmus während des Aufbaus des
Sozialismus empfunden haben. Dieser „echte“ Enthusiasmus
reichte aber für die Rückkopplungsmechanismen des
revolutionären Aufbaus nicht aus. Der Bedarf an Rausch in
seinen verschiedenen Deutungen wurde durch Gewalt und eine
Reihe von Inszenierungen (in der Form von Ereignissen,
Berichten und Institutionen) gedeckt, die einen Rauschen der
Transformationsprozessen ermöglichten. Ohne die Intervention
der sowjetischen Armee wäre die DDR im Juni 1953
höchstwahrscheinlich an diesem Rausch zugrunde gegangen. Wie
Stalins postfaktische Stilisierung dieses Rausches zu einem
„Schwindel“ mittleren Staatsfunktionäre war die Rede von
„administrativen“ Fehlern irreführend. Die Chaotisierung der
Kollektivierung und die Verkennung dieses Chaos wurden dadurch
subjektiviert.
32
Gegen die maßgebende Historiographie zur stalinistischen
Kollektivierung haben wir Stalins Rede vom „Schwindel“
insofern ernst genommen, daß wir den Begriff als Kern unseres
Plädoyers für eine Erweiterung des funktionalen Modells dieser
Kampagnen machten. Nicht nur Menschen-, Eigentums- und
Getreidebewegungen kommen als Inputs in funktionalen
Erklärungen dynamischer Vorgänge in Frage. Dazu gehören auch
die ideologischen Produkten einer inszenierter Revolution, wie
im Fall des Schauprozesses in Giesendorf.
Es wurde gezeigt, daß die Produktion von „Rausch“, als
verkörperter Repräsentation revolutionären Enthusiasmus, und
von „Rauschen“, als inflationär steigendem Aufbautempo, sich
gegenseitig bedingte. „Schwindel“ ist ein passender Ausdruck
für die Chaotisierungsprozessen der DDR-Kollektivierung und
den mit ihnen rückgekoppelten Informationskreislauf des SED-
Regimes. Um dynamischen Wirkungen zu entfalten, musste das
Regime echten und inszenierten Informationen von der
Peripherie gleichermaßen in seinem Plan aufnehmen. Die zwei
Folgen dieses Vorgangs waren einerseits die Chaotisierung der
DDR-Landwirtschaft und andererseits eine halbe Blindheit für
diese Chaotisierung. Halb blind waren nicht nur die alten
Kader, die sich an den eigenen Inszenierungen der lang
erwarteten Revolution berauscht hatten, sondern – und dies
soll nachdrucklich betont werden – auch der Staat als Ganzes.
--- Ende ---
33