'Von Schwindel Befallen' – Enthusiasmus, Inszenierung und Chaos im stalinistischen Aufbau am...

33
Draft of “’Von Schwindel Befallen’ – Enthusiasmus, Inszenierung und Chaos im stalinistischen Aufbau am Beispiel der Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft 1952-3,” in: Rausch und Diktatur, eds., Arpad von Klimo, Malte Rolf. Campus: Frankfurt, New York 2006, pp. 219-238. Todd H. Weir. 1 Die Photographien bewegter Massen haben das Bildgedächtnis von den europäischen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts stark geprägt. Solche Szenen kollektiven Enthusiasmus waren natürlich nicht nur Äußerung einer inneren Beteiligung an revolutionären Ereignissen. Sie waren auch notwendige Bestandteile für die Entfaltung von dynamischen Prozessen, die zur Durchsetzungsstrategie und zum Selbstverständnis totalitärer Herrschaft gehörten. Ob in Begleitung von Gewaltakten oder während Akklamationsritualen wurde der demonstrative Enthusiasmus zu einem erheblichen Maß vom Staat geplant und produziert. Wo eigentlicher Enthusiasmus fehlte, wurde er durch die staatlichen Medien und in der Öffentlichkeit inszeniert. Einen besonders drastischen Beispiel hierfür liefert die Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft, die im Juli 1952 als Teil des “Aufbaus des Sozialismus” ausgerufen wurde. Dargestellt auf dem II. 1 Dieser Aufsatz ergänzt einen früheren Artikel: Todd Weir, “Der Rausch im Plan: Ursachen und Folgen der Inszenierung von ‘Klassenkampf’ in der Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft 1952–1953“ Deutschland Archiv, Heft 2, 2004, S. 253-63. An dieser Stelle bedankt sich der Verfasser bei Prof. Ludolf Herbst und PD Dr. Arnd Bauerkämper für die großzügige Unterstützung und die hilfreichen Kritiken dieser Arbeit. Auch Jens Schöne verdanke ich wichtige Hinweise. Stipendien von der Berliner Lüftbrückendankstiftung und der Harriman Institute an der Columbia University 1997 bzw. 1999 haben die nötigen archivarischen Forschungen ermöglicht. 1

Transcript of 'Von Schwindel Befallen' – Enthusiasmus, Inszenierung und Chaos im stalinistischen Aufbau am...

Draft of “’Von Schwindel Befallen’ – Enthusiasmus, Inszenierungund Chaos im stalinistischen Aufbau am Beispiel derKollektivierung der DDR-Landwirtschaft 1952-3,” in: Rausch undDiktatur, eds., Arpad von Klimo, Malte Rolf. Campus: Frankfurt, NewYork 2006, pp. 219-238.

Todd H. Weir. 1

Die Photographien bewegter Massen haben das Bildgedächtnis

von den europäischen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts

stark geprägt. Solche Szenen kollektiven Enthusiasmus waren

natürlich nicht nur Äußerung einer inneren Beteiligung an

revolutionären Ereignissen. Sie waren auch notwendige

Bestandteile für die Entfaltung von dynamischen Prozessen, die

zur Durchsetzungsstrategie und zum Selbstverständnis

totalitärer Herrschaft gehörten. Ob in Begleitung von

Gewaltakten oder während Akklamationsritualen wurde der

demonstrative Enthusiasmus zu einem erheblichen Maß vom Staat

geplant und produziert. Wo eigentlicher Enthusiasmus fehlte,

wurde er durch die staatlichen Medien und in der

Öffentlichkeit inszeniert. Einen besonders drastischen

Beispiel hierfür liefert die Kollektivierung der ostdeutschen

Landwirtschaft, die im Juli 1952 als Teil des “Aufbaus des

Sozialismus” ausgerufen wurde. Dargestellt auf dem II.

1 Dieser Aufsatz ergänzt einen früheren Artikel: Todd Weir, “Der Rausch im Plan: Ursachen und Folgen der Inszenierung von ‘Klassenkampf’ in der Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft 1952–1953“ Deutschland Archiv, Heft 2, 2004, S. 253-63. An dieser Stelle bedankt sich der Verfasser bei Prof. Ludolf Herbst und PD Dr. Arnd Bauerkämper für die großzügige Unterstützung und die hilfreichen Kritiken dieser Arbeit. Auch Jens Schöne verdanke ich wichtige Hinweise. Stipendien von der Berliner Lüftbrückendankstiftung und der Harriman Institute an der Columbia University 1997 bzw. 1999 haben die nötigen archivarischen Forschungen ermöglicht.

1

Parteikongreß der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands

(SED) als staatliche Anerkennung der Forderungen

klassenbewußter “werktätigen” Bauern lief die Entscheidung für

die Kollektivierung in der Tat andersrum. Bäuerliche Stimmen

wurden im voraus ausgewählt, vorbereitet und geprobt, um dann

nach dem Tempo und Plan der höchsten Parteigremien in den

staatlichen Medien gezielt eingesetzt.2

Diese und weitere Inszenierungen dienten der Legitimation

einer zentral gesteuerten und oft brutalen Kampagne der

Enteignung, Repression und Reorganisation. Gerade weil die

Kollektivierung nach Plan erfolgte, ist es verblüffend, dass

sie schnell zu einer Krise führte, die beinah den Kollaps des

SED-Regimes mit sich brachte. Bereits im März 1953, also zum

Zeitpunkt als Stalin starb, hatten willkürliche Verhaftung,

staatliche Missmanagement, und die massive Flucht von Bauern

von Ost- nach Westdeutschland zu einer Chaotisierung der

Landwirtschaft geführt. Die drohende Missernte war eine

Hauptfaktor hinter der Entscheidung der neuen sowjetischen

Führung, die Kollektivierung zu bremsen und der SED zu einem

vorläufigen Rückzug zu zwingen. Die Bekanntmachung dieser

Beschlüsse im “Neuen Kurs” vom 9. Juni stellte die Weichen für

2 In einem Grundsatzreferat am 4. Juni 1952 leitete SED-Generalsekretär Walter Ulbricht die anwesenden Parteisekretären an, Bauern zu finden, etwa aus „Mecklenburg dort oben in dieser Ecke“, die die Gründung eigener LPGs von der Regierung fordern wurden, damit die am Tag zuvor von der Parteispitze beschlossene Kollektivierung als Reaktion auf bäuerliche Forderungen erscheinen wurde. Er spielte dies den Parteisekretären auch vor: „Wir geben also keine Erklärung irgendwie ab. Wenn Genossen kommen undfragen: Ja, wie stellt ihr euch nun dazu? […] Dann werden wir sagen: LieberGenosse! Wie du aus der Presse ersiehst, ist die Zweite Parteikonferenz derSED einberufen. Dort werden wir schon auf diese Fragen eine Antwort geben.“Zit. Jens Schöne, Die Kollektivierung der Landwirtschaft, S. 78-79.

2

den Aufstand am 17. Juni, der, wäre es nicht für die

Intervention der Roten Armee, höchstwahrscheinlich das Ende

der SED-Herrschaft bedeutet hätte.

Merkwürdig an diesem katastrophalen Ausgang ist, dass er

in vielen Hinsichten den Verlauf der ersten Phase der

Kollektivierung in der UdSSR widerspiegelte. Diese begann 1928

und erreichte Anfang 1930 seinen Höhepunkt in einer

staatlichen Gewaltorgie gegen die Bauernschaft, die Stalin

durch seine Erklärung einer “Politik der Liquidierung des

Kulakentums [Großbauern] als Klasse” ausgelöst hatte. Die

Ausmassen dieser Gewalt lassen sich zum Teil an die Widerstand

der Bauern messen. Nach Erhebungen der sowjetischen

Geheimpolizei nahmen über 1,7 Millionen Menschen an

Protestaktionen in den ersten drei Monaten von 1930 teil. In

manchen Regionen nahmen diese Unruhen einen

bürgerkriegähnlichen Charakter an.3 Angst vor einer Kollaps der

landwirtschaftlichen Produktion zwang die Kommunistische

Partei zu einem Rückzug, den Stalin am 2. März 1930 mit der

Erklärung in Prawda verkündete, daß manche Parteimitglieder

"vor Erfolgen von Schwindel befallen" wurden.4

3 Stalin erklärte die “Offensive” gegen die “Kulaken” in seiner Rede auf der Konferenz marxistischer Agrarwissenschaftler am 27. Dezember 1929 (die im Prawda abgedruckte Version vom 29. Januar 1929 in Stalin Werke, Berlin 1959, Bd. 12, S. 77-91.) Ausführlich zum bäuerlichen Widerstandskampf sieheLynne Viola, Peasant Rebels under Stalin: Collectivization and the Culture of Peasant Resistance,New York, Oxford 1996. Siehe auch den Falluntersuchung von Tracy McDonald, “A Peasant Rebellion in Stalin’s Russia: The Pitelinskii Uprising, Riazan, 1930”, in: Lynne Viola (Hg.), Contending with Stalinism: Soviet Power and Popular Resistance in the 1930s. Ithaca, London 2002, S. 84-108.4 Abgedruckt in: Josef Stalin, "Vor Erfolgen von Schwindel befallen: zu denFragen der kollektivwirtschaftlichen Bewegung," in Werke, Berlin 1959, Bd. 12, S. 102-105.

3

Dieser Aufsatz nimmt das Wort „Schwindel“ als

Ausgangspunkt für eine Untersuchung von Prozesses, die zur

Entfaltung der Kollektivierung beitrugen: dem inszenierten

Enthusiasmus sowie der Chaotisierung wirtschaftlichen,

sozialen und auch staatlichen Strukturen. In welchem

Verhältnis standen diese Varianten des “Schwindels”

zueinander? Ein transhistorischer Vergleich zeigt, dass eine

passende Antwort auf diese Frage nicht allein in den

kontigenten Faktoren der frühen sowjetischen Geschichte

gesucht werden kann. Der gleiche Muster wiederholte sich

Anfang der 1950er Jahre in den sog. „Volksdemokratien“ und ab

1958 in China, wo Mao Zedongs “Großer Sprung nach vorn” mit

dem Hungertod von über 20 Millionen Bauern endete. Diese

Wiederholung deutet daraufhin, dass eine Antwort in den

Strukturen des kommunistischen Entwicklungsmodell gesucht

werden muss. Indem dieser Aufsatz einen funktionellen Modell

des “Schwindels” in der DDR-Kollektivierung bietet, kann er

also einen konzeptionellen Beitrag zur internationalen

Geschichte des sozialistischen “Aufbaus” leisten. Dabei wird

er auch die analytische Reichweite des in diesem Band

thematisierten Begriffes “Rausch” ausdehnen.

Lesarten des stalinistischen “Schwindels”Eine Untersuchung des stalinistischen “Schwindels” wird

die funktionalistische Erklärungen ergänzen und z.T.

revidieren müssen, die zur jetzt herrschenden Interpretation

des “Großen Umschwungs” von 1929 gehören. Diese sieht in den

überstürzten Anfang der Kollektivierungskampagne

4

gewissermassen eine “Flucht nach vorn” von der Parteielite,

die sich mit Versorgungskrisen, Ängste um eine ausländische

Invasion, und parteiinterne Druck für eine beschleunigte

Industrialisierung konfrontiert sah.5 Einige Historiker haben

ähnliche Handlungszwänge im Vorfeld der ostdeutschen

Kollektivierung festgestellt.6

Diese Darstellung der Genese der Kollektivierung bleibt

aber für die adäquate Erklärung ihres weiteren selbst

zerstörerischen Verlaufs ungenügend, weil viele Historiker

ideologische Aspekten in ihre funktionellen Modellen nicht

einbeziehen. Dass dieser Schritt nicht getan wurde, liegt m.E.

in dem Beharren auf einem dualistischen Verständnis von

Ideologie und Staatsmacht. „Ideology was handmaiden to the

state,“ behauptet Lynne Viola, Verfasserin von wichtigen

Studien zur sowjetischen Kollektivierung. Dementsprechend

charakterisiert sie die vom Staat ausgesprochene Begründung

dieser Politik, zum Beispiel als Revolution, Emanzipation und

Klassenkampf, als Kulisse, hinter der die Bauernschaft mittels

Manipulation und Terror enteignet und „kolonisiert“ wurde.7

5 Die funktionalistische Erklärung der Kollektivierung wurde zuletzt wiederholt in Lynne Viola, V. P. Danilov, N.A. Ivnitskii, and Denis Kozlov,(Hsgr.) The War Against the Peasantry, 1927-1930: The Tragedy of the Soviet Countryside, New Haven und London, 2005, pp. 7-168. Vgl. auch R.W. Davies, The Socialist Offensive:The Collectivisation of Soviet Agriculture, 1929-30. Cambridge, Mass. 1980; James Hughes,Stalinism in a Russian Province: Collectivization and Dekulakization in Siberia. London 1996. Eine einflussreiche funktionale Erklärung der Säuberungen der späten 30er Jahren lieferte J. Arch Getty. Origins of the Great Purges: The Soviet Communist Party Reconsidered, 1933-1938. Cambridge 1988.6 Arnd Bauerkämper, Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur: Zwangsmodernisierung und Tradition in Brandenburg 1945–1963. Köln, Weimar, Wien 2002;Dieter Schulz, Der Weg in die Krise 1953. Berlin 1993. 7 Viola nannte „[t]he public transcript on collectivization [...] a facade covering another, hidden transcript that revealed the great transformation to be a struggle over economic resources and culture.“ Lynne Viola, Peasant

5

Viele Studien zur Geschichte des „Aufbaus des Sozialismus“ in

der DDR betonen ebenfalls den betrügerischen, zynischen

Charakter der SED-Führung, die eine „Politik des Kaschierens“

oder eine „Taktik mit Augenzwinkern“ verfolgte.8 Der

Schlußfolgerung liegt nah, dass Historiker, die sich als

Vertreter der zahlreichen Opfern stalinistischer Gewalt

verstehen, einen solchen Dualismus aufrechterhalten mussen, um

die Schuld für diese Gewalt bei Individuen und nicht in

unpersönlichen Strukturen zu finden. Sieht man aber in der

Ideologie – und hierzu gehört auch der inszenierte Rausch –

hauptsächlich eine Verblendungswerk für die Öffentlichkeit,

kann man nur schwer ihre Rolle bei der Chaotisierung von

Prozessen, wie sie im Aufbau des Sozialismus vorfielen,

hinreichend erklären.9

Rebels under Stalin, wie in Anm. 2, S. 14. Vgl. auch dies. The Best Sons of the Fatherland: Workers in the Vanguard of Soviet Collectivization. Oxford 1989.8 Wolfgang Bell fasste die Ziele der Strukturveränderungen in der Landwirtschaft vor und nach Mai 1952 dahingehend zusammen, „dass es offenbar in Verwirklichung eines ideologischen Leitbildes nur um die Sicherung der Macht der SED … ging.“ [Hervorh. – T.W.] Wolfgang Bell, Enteignungen in der Landwirtschaft der DDR nach 1949 und deren politische Hintergründe: Analyse und Dokumentation, Münster-Hiltrup 1992, S. 13. Obige Zitate in Falco Werktentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 49, und Armin Mitter, „'Am 17.6.1953 haben die Arbeiter gestreikt, jetzt aber streiken wir Bauern'. Die Bauern und der Sozialismus“, in: Der Tag X – 17. Juni 1953. Die „Innere Staatsgründung“ der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Stefan Kowalczuk u.a. (Hg.), Berlin 1995, S. 75–128, Zitat S. 97, 99.9 In einem Aufsatz von 1997 verknüpfte Stefan Wolle zwar die beiden Ebenen der Machtausübung und Ideologie in seiner Erklärung des Untergangs der DDR,jedoch anscheinend widerwillig. Statt diese Erklärung systematisch in seiner Analyse einzubeziehen, ließ Wolle folgendes wichtiges Zitat nur am Schluß und gehüllt in einer Reihe von ironischen Metaphern fallen: „An der Spitze der SED standen vierzig Jahre lang zynische Pragmatiker der Machtausübung, deren Äußerungen an Verlogenheit kaum zu überbieten sind. Dennoch blieben sie sich auf ihre Art stets treu. Niemals vermochten diese angeblichen Hohenpriester der reinen Lehre über ihren ideologischen Schatten zu springen. Die Ideologie war frei nach Marx das Opium der Herrschenden. Die Rattenfänger berauschten sich an den eigenen Melodien und

6

Sicherlich war die Rede von der „freiwilligen“

Kollektivierung ein betrügerischer Schwindel. Es gab jedoch

mehr zum Stalins Gebrauch des Wortes „Schwindel“ in seinem

Prawda-Artikel vom 1930, als nur Betrug. Eine Untersuchung

dieses Begriffes, der seinem Wortverwandeten „Rausch“ in

instruktiver Vieldeutigkeit ähnelt, kann helfen, um zu einem

funktionalistischen Modell von Chaotisierung durchzubrechen.10

In seinem Artikel verglich und dadurch verknüpfte Stalin

“Schwindel” mit dem idealen Enthusiasmus, die ebenfalls durch

die “Erfolge” der Kollektivierungskampagne produziert wurde.

Die “Erfolge” haben eine “gewaltige Bedeutung für das innere

Leben der Partei.” Sie “flößen unserer Partei Mut und Glauben

an ihre Kräfte ein,” und “erfüllen die Arbeiterklasse mit dem

Glauben and den Sieg unserer Sache.” Dieser Enthusiasmus habe

aber eine “Schattenseite”. Manche Parteimitglieder wurden

“trunken” und “verlier[t]en das Gefühl für das richtige Maß,

verlier[t]en die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu verstehen.”11

Durch die Gegenüberstellung vom nüchternen Enthusiasmus,

den Stalin mit Planung und Realitätssinn assoziierte, und dem

zogen an der Spitze ihrer Anhängerschaft dem Untergang entgegen.“ Wolle, „Herrschaft und Alltag: Die Zeitgeschichtsforschung auf der Suche nach der wahren DDR“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 26/97, S. 34. Eine ählich bittereIronie findet sich bei Lynne Viola, z. B in ihrer Behauptung, dass für die kommunistische Partei „hypocrisy and delusion may be conveniently and mutually reinforcing“. Viola, Peasant Rebels, siehe Anm. 3, S. 14.10 Wie der amerikanischen Historiker Steven Kotkin betonte, können Untersuchungen des sowjetischen Systems einen hilfreichen Wink von der NS-Forschung nehmen, wo eine Zusammenführung von funktionalistischen und intentionalistischen Modellen stattfindet. Vgl. Steven Kotkin, „1991 and the Russian Revolution: Sources, Conceptual Categories, Analytical Frameworks“, Journal of Modern History (Juni 1998) S. 384–425. Ein instruktives Beispiel hierfür liefert Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945: Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, Frankfurt, 1996. 11 Stalin, “Durch Erfolge vom Schwindel befallen”, siehe Anm. 4.

7

“Eigendünkel” und der “Überheblichkeit” des betrunkenen

Schwindels versuchte Stalin bei den subjektiven „Fehlern“ der

mittleren Staatsfunktionären die Schuld für die Ekzessen der

Kollektivierung zu finden. Dabei verstärkte er das normative

Verständnis vom Enthusiasmus als eine besonders nüchterne Form

der Entgrenzung in der kommunistischen Kultur.12 Stalins

Wortgebrauch erlaubt aber eine weitere Lesart des

“Schwindels”, nämlich dass die Schaffung einer neuen

sozialistischen Ordnung notwendigerweise eine Chaotisierung

bedürfte. Unter anderem wegen der regulativen Funktion des

sozialistischen Geschichtsverständnisses und des Voluntarismus

konnte der Übergang zum Sozialismus nicht einfach durch das

Erlassen von Gesetzen herbeigeführt werden. Er sollte durch

ein zweifaches “Schwindel” herbeigeführt werden: die

Inszenierung revolutionäres Enthusiasmus und die riskante

Chaotisierung sozialen, wirtschaftlichen aber auch staatlichen

Strukturen. In anderen Worten waren radikale Transformation,

eminenter Kollaps und Exaltiertheit ineinander geflochten.

Dabei konnte die Partei schwer in die Chaotisierung

eingreifen, weil ihre Nachrichtensammlung, Planung und

Öffentlichkeit zwischen diese Arten des Rausches nicht

säuberlich unterteilen konnte. Sie litt gewissermassen selbst

an “Schwindel” und verlor z.T. “die Fähigkeit, die

Wirklichkeit zu verstehen.”

Ziel dieses Aufsatzes ist es, zu untersuchen, wie drei

Dimensionen von “Schwindel” – als inszenierter Enthusiasmus,

12 Zum Problem der Entgrenzung in der Sowjetunion siehe die Diskussion in der Einleitung dieses Bandes.

8

als Transformation/Chaos und als staatliche Verkennung – in

der Entfaltung dynamischer Prozessen während der ostdeutschen

Kollektivierung miteinander verknüpft wurden. Dabei wird das

uns hier interessierende Konzept von Rausch über seine

massenpsychologischen oder diskursiven Dimensionen hinaus

eingesetzt, um auf einer funktionaler Ebene zu zeigen, wie

Rausch, als die verkörperte Darstellung revolutionärer

Enthusiasmus, notwendig war, um Bewegung in die

“Bewegungsphase” des stalinistischen Systems zu bringen.

Gerade weil dieser Rausch in der DDR-Kollektivierung

weitgehend inszeniert werden mußte, ist der Fall besonders

geeignet, um diese Dynamik offenzulegen. Entgrenzung als

subjektiven Erlebnis wurde inszeniert, um eine Entgrenzung auf

der Ebene sozialen Strukturen auszulösen.

Dieser Aufsatz geht in fünf Schritten vor. Erstens wird

gezeigt, wie der SED-Staat bereits vor der Kollektivierung an

die Grenzen bäuerlicher Akzeptanz angelangt war und deswegen

Gewalt anwenden mußte, um die Landwirtschaft zum gewollten

Tempo umzugestalten. Zweitens wird die Verbindung dieser

Gewalt mit der Inszenierung revolutionäres Enthusiasmus am

Fallbeispiel eines Schauprozesses in einem brandenburgischen

Dorf in September 1952 aufgezeichnet. Drittens sollen die

unmittelbaren Auswirkungen solcher Inszenierungen bei der

Bevölkerung untersucht werden, um dann, viertens, ihre

dynamischen Auswirkungen innerhalb des Staates zu analysieren.

Zum Schluss wird, fünftens, die These belegt, dass sowohl die

Effekten wie die Inszenierungen selber in die Ökonomie des

Enthusiasmus wieder aufgenommen wurden. Durch die

9

Rückkoppelung wurde die Chaotisierung vorantrieben, die erst

mit der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 ein

Ende fand.

Der fehlende Enthusiasmus: Intervention und Gewalt beim Übergang zur Planwirtschaft

Nach der Enteignung des Großgrundbesitzes im Herbst 1945

hatten die sowjetische Militäradministration und die

Kommunistische Partei Deutschlands (ab 1946 die SED) zunächst

eine Reihe von Fördermaßnahmen ergriffen, um den Wiederaufbau

der Landwirtschaft und die Gewinnung der politischen Loyalität

der Bauern zu erreichen. 13 Die Einführung der „Partei neuen

Typs“ und der Planwirtschaft, die mit der Verschärfung des

Kalten Krieges von 1948 einherging, brachte eine Zunahme an

staatlichen Interventionen auch auf dem Land. Die

systematische Zerstörung der politischen und wirtschaftlichen

Macht der so genannten „Großbauern“ (Bauern mit über zwanzig

Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche) wurde zum

Hauptmechanismus, um lokale Machtstrukturen gleichzuschalten.14

Die Ablieferungsverpflichtungen (Soll) der Großbauern wurden

drastisch erhöht mit dem Resultat, dass spätestens 1952 weite

Teile der Großbauern wegen ihrer Lieferungs-Rückstände jeder

13 Grundlegend zur Ausführung der Agrarpolitik der SED/KPD in der SBZ/DDR als eine „Zwangsmodernisierung“ vgl. Bauerkämper, Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur, Anm. 6.14 Paul Merker, Mitglied des Politbüros und später Staatssekretär für Landwirtschaft, verkündete im April 1948 die neue Linie: „Wir stützen uns auf die Klein- and Mittelbauern. Das ist für uns die politische Linie, und hier lassen wir keine Differenzierung zu. Wir brauchen natürlich die Mittelbauern; sie sind unsere wichtige Basis ... auf der anderen Seite stehen die Großbauern.“ Zit. Joachim Piskol, „Zur sozialökonomischen Entwicklung der Großbauern in der DDR 1945 bis 1960“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 39 (1991) Heft I, S. 419–433, hier S. 423.

10

Zeit bestraft werden konnten.15 Als eine schwierigere Aufgabe

erwies sich die politische Entmachtung der Großbauern. Unter

der Losung der „Demokratisierung des Dorfes“ wurden die

Genossenschaftswahlen der Vereinigung der gegenseitigen

Bauernhilfe (VdgB) 1951 mit einem großen Propagandaaufwand

gegen die Großbauern geführt. Der Versuch, etwaige

Ressentiments gegen diese Dorfelite zu mobilisieren, schlug

fehl, wie die Ergebnisse im Land Brandenburg zeigen. Gegen die

Empfehlungen der SED-beherrschten Leitungen der

Genossenschaften weigerten sich die Genossenschaftsmitglieder,

alle Großbauern von ihren Funktionen in den örtlichen VdgB-

Gremien abzuwählen. Unzufrieden mit dem Wahlergebnis

verordnete die SED statutenwidrige Neuwahlen der Vorstände im

Frühjahr 1952. Der Versuch missglückte, und statt eine

Steigerung von SED-Mitgliedern in diesen Gremien fiel ihr

Anteil zum ersten Mal, was auf die Wachstumsgrenzen der SED in

der ländlichen Bevölkerung unter freiwilligen Bedingungen

hinwies.16 15 Weil Privatbetriebe nur Gewinn erwirtschaften konnten, wenn sie über ihrSoll hinaus über zusätzliche Produktion verfügten, die sie zu den erhöhten Preisen der „freien Spitzen“ verkaufen konnten, gerieten die Großbauern auch in finanzielle Schwierigkeiten. Diese wurden wiederum durch die vom Staat forcierte Steigerung der Lohnkosten von Landarbeitern weiter verschärft. Das Resultat war, dass viele Betreibe ihre eigene Produktion und Infrastruktur nicht aufrecht erhalten konnten und deswegen als „devastiert“ galten. Zur Zuspitzung der Ablieferungspflichten der Großbauern infolge der Einführung der Planwirtschaft, vgl. Friederike Sattler, Wirtschaftsordnung im Übergang: Politik, Organisation und Funktion der KPD/SED im Land Brandenburg bei der Etablierung der zentralen Planwirtschaft in der SBZ/DDR 1945—52, Münster 2002, Teilbd. 1, S. 423—556.16 Bei den Wahlen Anfang 1952 schmälerte sich der Prozentsatz der SED Mitglieder in den VdgB-Vorständen in Brandenburg um 3,7% im Vergleich zum Vorjahr. Hauptnutznießer dieses Verlusts waren die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) und die Parteilosen. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Rep. 332, Nr. 667, unpag. (29.3.1952).

11

Es ist deshalb nicht überraschend, dass nachdem im Juli

1952 auf der 2. Parteikonferenz der SED die Kollektivierung

ausgerufen wurde, nur eine kleine Minderheit der Bauern sich

bereit zeigten, einer LPG beizutreten, trotz der Propaganda-

Kampagne und der Bereitstellung von finanziellen Vorteilen.17

Für eine schnelle Übergang zur sozialistischen Landwirtschaft

fehlte offensichtlich das notwendige Maß an bäuerlichem

Enthusiasmus.

Nach dem Historiker Dieter Schulz wäre es über steuerliche

Vergünstigungen und die Ausbildung eines professionellen LPG-

Managerkaders der SED wahrscheinlich möglich gewesen, die

Ziele der Kollektivierung über zwanzig oder vierzig Jahre ohne

Gewalt zu erreichen. Dies war jedoch keine Option für die SED

Stimmungsberichte aus der Zeit zeugen von einem wachsenden Misstrauen der Bauern gegenüber dem SED-Staat, wie im folgenden Zitat eines anonymen Bauern aus dem Herbst 1951: „Bald ist die Zeit da, höchstens bis zum Frühjahr, dann gibt es Krieg. Die Regierung macht nicht mehr lange, überallstinkt es, der Zusammenbruch steht vor der Tür, deshalb solche Hetze bei der Ablieferung und Bestellung. Die Bauern wollen keine Bevormundung bei Anwendung neuer Arbeitsmethoden, wir wissen, wie wir zu arbeiten haben.“ BLHA Rep. 401, Nr. 5623, unpag. (10.11.1951). Eine Vorlage an das Zentralkomitee zu den erfolgten Wahlen zu den Grundorganisationen der SED von Mai 1952 bestätigte, dass es nicht gelungen war, „entscheidenden Einfluss auf das Leben im Dorf zu nehmen und die führende Rolle der Partei zu verwirklichen.“ Zit. nach Jens Schöne, „ ,Wir sind dafür, dass über diese Fragen keine Berichterstattung erfolgt.’ Die Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR 1952/53“, in: Falco Werkentin (Hg.) Der Aufbau der „Grundlagen des Sozialismus“ in der DDR 1952/53, Berlin 2002, S. 71–94, hier 76. Vgl.auch ders., Genossenschaftswesen und Agrarpolitik in der SBZ/DDR 1945–1950/51, Stuttgart2000.17 Neue LPGs hatten bevorzugten Zugang zu den staatlichen Maschinenstationen und Kreditanstalten, ein niedrigeres Ablieferungssoll und Steuerfreiheit für zwei Jahre. Neue Mitglieder erhielten auch einen Steuernachlass von 25 Prozent, staatliche Hilfe mit privaten Gärten und einen Erlass der aus der Landreform stammenden Schulden. Vgl. „Bekanntmachung des Beschlusses über die Vergünstigungen für die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und ihre Mitglieder, vom 24. Juli 1952“, in: Volker Beuthien (Hg.) Materialien zur Genossenschaftsgesetz, Göttingen 1997, Bd. 5, S. 345–349.

12

im Sommer 1952. Das Scheitern der Deutschlandnoten Stalins im

Frühjahr und die Vorbereitung auf einen möglichen Krieg mit

dem Westen stellten die Weichen für die volle Integration der

DDR in das sowjetische System, die u.a. den beschleunigten

Aufbau des Sozialismus bedeutete.18

Weil die Planziele so hoch angesetzt und andauernd vom

Zentrum nach oben korrigiert wurden, konnten lokale

Funktionäre den Plan für die Erfassung, die Kollektivierung

und die politische Gleichschaltung der ländlichen

Institutionen nur durch massive Intervention und zentrale

Steuerung erreichen. Das Warten auf die bäuerliche Reaktion

auf das staatliche Angebot und das Wirkenslassen von

finanziellen Reizen wurden zunehmend pejorativ als

"Selbstlauf" bezeichnet. Eine Sozialisierung von Eigentum auf

Befehl kam auch nicht in Frage, da sie womöglich offenen

Widerstand verursacht und auf jeden Fall dem voluntaristischen

Prinzip des Sozialismus widersprochen hätte. Statt dessen kam

es zur Inszenierung von Staatsgewalt als Revolution, einer

Inszenierung, die nicht nur die Gewalt rechtfertigte, sondern

auch weitere dynamische, also revolutionäre, Effekte erzeugte.

Fallbeispiel einer Inszenierung: Ein Schauprozess in Giesendorf

Einen Mikrokosmos dieser Prozesse liefert das besonders

ausführliche Protokoll einer Tagung des „Beirats des Ernte-

und Erfassungsaktivs“ des Bezirks Potsdam in einem Dorf ein

18 Dieter Schulz, „Kapitalische Länder überflügeln“: Die DDR-Bauern in der SED-Politik des ökonomischen Wettbewerbs mit der Bundesrepublik von 1956 bis 1961, Berlin 1994. Vgl. auch die Beiträge in: Falco Werkentin (Hg.) Der Aufbau der „Grundlagen des Sozialismus“ in der DDR 1952/53, Berlin 2002.

13

Paar Kilometer außerhalb der brandenburgischen Kleinstadt

Pritzwalk am 11.9.1952.19 An jenem Samstag morgen fuhr eine

kleine Gruppe von leitenden Funktionären (delegiert aus der

SED, den Blockparteien und Massenorganisationen) von der

Bezirkshauptstadt Potsdam in die Prignitz und traf sich vor

Ort mit Funktionären der Kreisebene. In kleineren Brigaden

schwärmten sie in vier nahe liegenden Dörfern aus und machten

– gewappnet mit Informationen über den jeweiligen

Erfüllungsstand der dort ansässigen Bauern – „Hofbesuche“. Sie

forderten die Bauern zur Lieferung auf, suchten nach

verborgenen Gütern und verhängten Strafen „auf der Stelle.“ Am

Abend wurde in Giesendorf eine große Versammlung der

Dorfeinwohner und zugereisten „Arbeiter“ aus Pritzwalk

zusammengerufen, um die Befunde der Brigaden auszuwerten.

Nachdem die im Bullendorf entstandene LPG gelobt und die

säumigen Ablieferer und die laxen Gemeindevertretungen aller

Dörfer gerügt worden waren, formulierten die Leiter der

Versammlung eine vernichtende Kritik über den Großbauern P.

aus Giesendorf. Der Vorsitzende des Rates des Kreises und

Verfasser des Protokolls forderte die anwesenden „Werktätigen

der Gemeinde und die anwesenden Kollegen aus den Pritzwalker

Betrieben“ dazu auf, zu entscheiden, „was in diesem Falle mit

der Wirtschaft P. geschehen soll.“ Er betonte: „wir … werden

nicht dulden, dass unser Aufbauwerk bewusst sabotiert wird.“

Das war der Auftakt zu einem Schauprozess.

19 BLHA, Rep. 401, Nr. 5625, unpag. (20.9.1952). Wenn nicht gesondert notiert, beziehen sich alle folgende Zitate auf dieses Protokoll.

14

Giesendorf und der Großbauer P. wurden von den

„Regisseuren“ dieser Inszenierung ausgesucht, um die Auflagen

des Beschlusses der SED-Bezirksleitung vom 29. August 1952 zu

erfüllen: "In einigen Gemeinden, wo die werktätigen Bauern

ihre Ablieferungspflicht erfüllten, die Großbauern aber die

Ablieferung sabotieren und dadurch die Gemeinde nicht 100%ig

ihr Soll erfüllen kann, sind mit Hilfe der werktätigen Bauern

Beispiele zu schaffen, wo die Großbauern gezwungen werden, die

Gesetze einzuhalten."20

Ein solches Szenario sollte das Hauptargument der

Regierung untermauern, nämlich, dass die schlechte Lieferung

der Großbauern ihrer Klassenzugehörigkeit und nicht dem vom

Staat auferlegten Soll zuzuschreiben war. Weiter hoffte man,

dass die übrigen Bauern auf die Behauptung eingehen würden,

dass es die Großbauern waren, die die ganze Gemeinde nach

unten ziehen würden und deswegen geächtet und bestraft werden

sollten.

Dieser angebliche Klassengegensatz im Dorf sollte durch

die Konfrontation der Klein- und Mittelbauern im Publikum mit

Frau P. (die ihren Mann vertrat) repräsentiert werden. Es

wurden auch sämtliche Herrschaftsverhältnisse im Land durch

ihre korporativen Vertreter räumlich zur Schau gestellt. Dem

„werktätigen“ bäuerlichen Publikum stand ein Tisch gegenüber,

hinter dem die verkörperten Repräsentanten der Gruppen saßen,

die ihnen den Weg weisen sollten: die Fabrikarbeiter, die

Genossenschaftsbauern, und die Partei- und Staatsfunktionäre.

Der „Hauptregisseur“ der Inszenierung, Kenzler, ein 20 BLHA, Rep. 530, Nr. 84, unpag. (29.8.1952).

15

Parteifunktionär aus Potsdam, wurde von Wilhelm Utech, dem

höchsten Staatsfunktionär des Kreises (Vorsitzenden des Rates

des Kreises Pritzwalk) und ebenfalls SED-Mitglied, sekundiert.

Es waren Kenzler und Utech, die abwechselnd die verschiedenen

Zeugen zur Aussage aufriefen. Auch wenn einem Brauerei-

Arbeiter die Aufgabe zufiel, eine Strafe des Großbauern P. in

Höhe von 3.000 Mark zu fordern, standen diese beiden Herren im

Mittelpunkt. Ihre Leitrolle sollte nicht kaschiert werden,

denn das Publikum sollte auch wissen, wer die Fäden in der

Hand hatte, die Partei und ihr Staat.

Diese Mise-en-scène der Revolution diente der

Visualisierung der Macht. Wie Manifestationen,

Zeitungsberichten und Plastiken, liessen solche Schauprozesse

die Herrschaftsverhältnisse in einer idealisierten Form

wiedergegeben, die sie attraktiv und zugleich drohend wirken

liessen. Der Schauprozess in Giesendorf unterschied sich

jedoch grundlegend von inszenierten Massenritualen wie

beispielsweise die Umzüge zum 1. Mai, die nur repräsentativ

wirkten.21 Er unterschied sich auch von den berühmten

21 In der neueren Forschung zur Rolle von Inszenierung im sowjetischen Herrschaftssystem wird oft in Anlehnung an Habermas’ Theorie der repräsentativen Macht im Ancien Regime behauptet, dass auch die modernen autoritären Staaten ein besonderes Maß an repräsentativer Öffentlichkeit bedürfen. Besonders aufschlussreich zum Phänomen der Machtvisualisierung sind die Essays in dem Sammelband: Sabine Arnold et al. (Hg.): Politische Inszenierungen im 20. Jahrhundert: zur Sinnlichkeit der Macht, Wien; Köln; Weimar 1998. Für Beispiele vgl. auch Birgit Sauer: „Politische Inszenierung und die Visualisierung von Macht“, in: Andreas Pribersky und Berthold Unfried (Hg.): Symbole und Rituale des Politischen. Ost- und Westeuropa im Vergleich, Frankfurt/Main, 1999, 75–101; und Malte Rolf, „Feste der Einheit und Schauspiele der Partizipation – Die Inszenierung von Öffentlichkeit in der Sowjetunion während des Ersten Fünfjahresplanes“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 2 (2002), S. 163–171.

16

Schauprozessen wie etwa den Slansky-Prozessen, die ohne die

Partizipation eines Publikums ablaufen konnten.22 Trotz des

Vorhandenseins kontrollierter Umstände und eines

abgesprochenen „Drehbuchs“ wurde in Giesendorf der

risikoreiche Versuch unternommen, einen revolutionären Vorgang

vor Ort und mit vorher nicht eingeweihten Akteuren

herbeizuführen.23

Das Risiko dieser Inszenierung wurde manifest, als die

Gemeindemitglieder, der Bürgermeister und lokale Funktionäre

sich weigerten, ihre Rolle zu spielen. Nach und nach verließen

die Anwesenden den Saal. Das Resultat war, dass die

„Regisseure“ Kenzler und Utech nicht nur die Rolle des

„Anwalts“, sondern zum Teil auch die des „Zeugen“ und

„Anklägers“ übernehmen mussten.

Der große Rückstand des Großbauern P. bei seiner

Sollerfüllung (statt 2175 kg Rindfleisch nur 385 geliefert,

statt 6275 Eier nur 4250, usw.) wurde von Kenzler als Sabotage

22 Zu den Slansky-Prozessen vgl. George Hodos, Schauprozesse: Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948–54, Berlin 1990.23 Es gibt mittlerweile eine ganze kulturwissenschaftliche Literatur zum Zusammenhang zwischen Ästhetik und Macht in der Sowjetunion. Gegen Walter Benjamins berühmten Satz, Faschismus betreibe die Ästhetisierung der Politik, worauf der Kommunismus mit der Politisierung der Ästhetik antworte, untersucht diese Literatur die Schuld der Avantgarde an die Ästhetisierung der Politik und die Politisierung der Ästhetik in der frühenSowjetunion. Vgl. Boris Groys, „The Birth of Socialist Realism from the Spirit of the Russian Avantgarde“, in: Hans Gunther (Hg.), The Culture of the Stalin Period, New York 1990, S. 122–144; Katerina Clark, Petersburg: Crucible of the Revolution, Cambridge 1995; Boris Gasparov, „Development or Rebuilding: Views of Academician T. D. Lysenko in the Context of the Late Avant Garde“ in: John Bowlt und Olga Mattich (Hg.), Laboratory of Dreams: the Russian Avantgarde and Cultural Experiment, Stanford 1996; Sheila Fitzpatrick, (Hg.), Cultural Revolution in Russia 1928–1931, Bloomington, Indiana 1978. Zum Zusammenhang von Inszenierungen von Schauprozessen und Filmtechnik: Julie Cassiday, The Enemyon Trial: Early Soviet Courts on Stage and Screen, Illinois 2001.

17

des Planes dargestellt, denn „er stellt sich bewusst gegen das

Gesetz.“ Durch das Protokoll wird jedoch deutlich, dass P.

wahrscheinlich schon durch die systematische Benachteiligung

der Großbauern so getroffen wurde, dass er nicht einmal die

Rohstoffe für seine Tierhaltung bekam.24 Beim Hofbesuch soll er

sich trotzig-resignierend geäußert haben: „Nach uns die

Sintflut“ und „Nehmt doch hin das Vieh, ich habe sowieso kein

Futter.“ Früher hatte P. viel mehr geliefert, er sagte, „es

wäre eine Kleinigkeit für ihn gewesen. Heute nun kann er das

nicht mehr, obwohl sein Land dasselbe geblieben ist wie zu

damaliger Zeit. Es tritt demzufolge klar zu Tage“, schloss

Kenzler daraus, „dass diese Bauern mit unserer Regierung und

unseren Maßnahmen nicht einverstanden sind. Sie stellen sich

gegen unsere Pläne und treiben bewusst Sabotage.“

Wie in dieser Passage wechselte die Beweisführung gegen P.

dauernd zwischen Singular und Plural. Dadurch wurde P. für

seine angebliche Klasse stellvertretend und diese Klasse für

ihn. Sein Verbrechen gewann dadurch die historische Dimension,

die eine entsprechend harte Strafe rechtfertigte.

Als das Publikum aufgefordert wurde, für diese Bestrafung

zu votieren, erhoben sich viele der noch anwesenden Bauern und

„verließen trotz Aufforderung doch im Saal zu verbleiben den

Raum.“ Da es keine Gegenstimmen gab, erklärte Kenzler die

Strafe für angenommen, auch weil „Frau P. durch ihr Verlassen

des Saales ebenfalls zum Ausdruck brachte, dass sie mit der

24 Die schlechte Ernte im Herbst 1951 führte dazu, dass viele Bauern ihr Soll für Kartoffeln nicht erfüllten. Trotz ihrer Proteste wurden oft ihre Saatkartoffeln oder Futterreserve vom staatlichen Erfassungsbetrieb beschlagnahmt. Vgl. BLHA Rep. 401, Nr. 5623.

18

Bestrafung einverstanden ist.“ Dem vermutlich halbleeren Saal

gegenüber erklärte daraufhin Kenzler den Tag deswegen zum

Erfolg, weil „heute der demokratische Staatsapparat mit den

Werktätigen zusammen beschlossen und getagt hat und uns

gezeigt wurde, wie man kämpfen muss um alle die Dinge, die uns

enthalten werden sollten. Wir wollen uns ganz mit aller Kraft

einsetzen für den Aufbau des Sozialismus. Koll[ege] K[enzler]

schloss seine Ausführungen mit Worten aus dem Werk Ostrowskis

‘Wie der Stahl gehärtet wurde.‘“25

Die Effekten des Schauprozesses unter den BauernDas klägliche Ende des Schauprozesses in Giesendorf

verdeutlicht die Widersprüche einer geplanten Revolution. Ganz

offensichtlich ging es darum, wie in jedem Schauspiel, ein

Rausch im Publikum zu verursachen. Die Inszenierung sollte

überzeugen, bekehren, zu Taten aufmuntern. Als Beispiel der

transformierenden Macht eines Bekenntnisses zum Sozialismus

pries Kenzler die anwesenden LPG-Mitglieder als „Menschen

neuen Schlages…, die … ihre Pflicht dem Staat gegenüber

erfüllen und mit aller Kraft den Aufbau des Sozialismus

unterstützen und herbeiführen.“ Auch wenn das Protokoll kein

Zeichen vom erwünschten Enthusiasmus aufweist, bat der Staat

Identifikationsmöglichkeiten für eine neue Elite, die an die

Stelle der zerschlagenen Dorfelite treten sollten.

Es wäre jedoch falsch, der Schauprozess einen Mißerfolg zu

nennen, nur weil es nicht die Gunst des Publikums fand. Nicht

dieser Enthusiasmus war das entscheidende um die

25 Wie der Stahl gehärtet wurde (1934) war ein Klassiker unter den sowjetischen Aufbau-Romans.

19

Kollektivierung voranzutreiben. Der Prozess wurde zu Ende

geführt, um andere Funktionen zu entfalten, die sich in

direkte und indirekte oder dynamisch Effekten unterteilen

lassen.

Zunächst war das Ereignis in Giesendorf in der Tat ein

Prozeß, d.h. eine ritualisierte Form notwendig, um staatlichen

Gewalt gegen den Bauern P. zu legitimieren. Jedoch, weil die

Anklage und Strafe eigentlich nicht auf sein angebliche

Verbrechen als Person sondern als Stellvertreter für eine

„Klasse“ bezogen war, kann man den Schauprozess als einen

Legitimitätsprozess für die Gewalt verstehen, die der Aufbau

des Sozialismus erforderte. Jeder Gewaltakt musste als

Klassenkampf gelten, nur so war er mit den humanistischen

Werten des Marxismus vereinbar. Dabei wurden zwei

Rechtsauffassungen miteinander konfrontiert und

welthistorisches Recht über bürokratisches und bürgerliches

Recht gestellt. Paradoxerweise also wurde der Gerichtsprozess

als Genre gewählt, um den Rechtsstaat auszuhebeln und

bürgerliches Recht im Interesse der Partei zum Teil außer

Kraft zu setzen. Als der verzweifelte Bürgermeister von

Giesendorf den Schauprozess aufzuhalten versuchte, indem er

sich auf die Kompetenzen der Gemeindevertretung berief, wurde

dies durch Kenzler mit der Erklärung abgelehnt, „dass der Plan

Gesetz ist, dass von dem Plan das Leben aller abhängt und dass

bei Nichterfüllung des Planes das Leben der Werktätigen in

Gefahr gebracht wird.“

Eine zweite direkte Funktion des Schauprozesses war es,

allen Beteiligten, ob als Akteur, Zuschauer, Zeitungsleser,

20

Berichtleser oder Angeklagte, ein Lehrstück der Revolution zu

bieten. Darum wich die Beweisführung von Kenzler und Utech

andauernd von dem angeblichen Tatvorgang ab. Über Exkurse zur

Roten Armee, zur Planwirtschaft, zur Tätigkeit der LPG-Bauern,

der Industriearbeiter und der Staatsfunktionäre wurde eine

Totalität der geschichtlichen Umwälzung konstruiert, die alles

auf einen Punkt brachte, die Notwendigkeit der Erfüllung des

Plans. Die Inszenierung kann als die Verdichtung der

Propagandaflut der Zeitungen und des Radios verstanden werden,

die durch die Gewalt der Strafverhängung vor Ort in Giesendorf

verankert wurde. Die Wiederholung, die Wahl des Prozesses als

Genre, die Eindringlichkeit der Beweisführung und die Gewalt

waren Techniken, die die Paradoxien der stalinistischen

Diktatur plausibel erscheinen ließen, und die Sprache und

Erklärungsnarrativ des Staates zu einer Monopolstellung in der

Öffentlichkeit erhoben.

Dieses geschlossene, machtgestützte Erklärungsmodell

beraubte einer Gegenmeinung die Sprache und ließ die Bauern

lediglich die Wahl zwischen Identifikation und Schweigen. Das

Protokoll des Schauprozesses zeigt deutlich, wie, als der

Staat für die Bauern sprach, er sie zum Schweigen brachte. Ein

Staatsfunktionär forderte die Anwesenden auf: „Hier müssen die

werktätigen Bauern der Gemeinde entscheiden, was mit diesen

Saboteuren geschehen soll, eine andere Sprache ist nun nicht

mehr möglich.“ Dies kann auch wörtlich so verstanden werden.

Durch solche Inszenierung wurden den Anwesenden eingeprägt,

dass in der politischen Öffentlichkeit eine andere Sprache nun

nicht mehr möglich war.

21

Dementsprechend erfolgte bäuerliche Widerstand in

Giesendorf sprachlos durch das Verlassen des Saales, oder

kleinlaut, wie im Falle des Vorsitzenden der örtlichen VdgB,

der sich der Aufforderung eine letzte Anklage gegen P. zu

erheben, mit der Erklärung weigerte, „dass ja jetzt alle Tage

gedroschen würde, das war alles was er zu sagen hatte.“ Hier

drückte er seine Unmut über die Zeitverschwendung während der

Ernte durch staatliche, fachfremde Einmischung aus und

verwendete den vom Staat positiv konnotierten Begriff der

„Arbeit“, um eine implizite Gleichsetzung und Solidarität

aller Arbeitsleistenden sowie des Großbauern P. zu

konstatieren. Er vermied es jedoch, der Sprache des Staates

direkt zu widersprechen.

Gewalt und Inszenierung bei der Entfaltung dynamischer

Prozesse

Der Schauprozeß produzierte auch indirekte, dynamische

Effekte, die sich über Zeit entfaltete. Der diskursiven

„Rausch“, der die Gewalt einen Sinn gab, setzte Prozesse in

Gang, die ein „Rauschen“ im Sinne einer Rückkopplung

produzierte.26 Denn die Effekten des Schauprozesses Giesendorf

– ob in Form von Menschen- oder Eigentumsbewegungen oder

Informationen – wurden in die Prozessen wieder eingeführt, die

sie produziert hatte. Dabei führten sie zu neuen Effekten. Dem

26 Interessante Zusammenhänge zwischen “Rausch” und “Rauschen” ergeben sichaus folgende Definition von “Rauschen” als “ein Störeffekt bei der elektronischen Nachrichtenübertragung. […] Das Rausch am Ausgang eines Empfängers oder Verstärkers setzt sich aus dem Eigen-Rausch des Empfängers oder Verstärkers und dem Rausch der Signalquelle zusammen.“ In: Brockhaus: DieEnzyklopädie in zwanzig Bänden, 17. Aufl. Wiesbaden 1972, Bd. 14, S. 466–67.

22

akustischen „feedback“ ähnlich, das gleichzeitig eine

Steigerung von Lautstärke und von Distortion produziert, wenn

der Sound-Output wieder in den Verstärker geleitet wird, waren

die dynamischen Prozessen der Kollektivierungskampagne sowohl

systemerweiternd wie systemdestabilisierend. Dabei weist

„Rauschen“ die gleichen Ambivalenzen wie der Begriff „Rausch“

auf. Die Bewertung des geometrischen Wachstums und seiner

Chaotisierung hing von dem Zeitpunkt seiner Betrachtung ab.

Vieles, was im Herbst 1952 revolutionär erschein, wurde im

Sommer 1953 als „Fehler“ betrachtet.

Als die Parteileitung des Bezirkes Potsdam bereits im

August 1952 eine Strafverfolgung „mit der vollsten Härte“ für

die geplanten Ernte-Aktivs ankündigte, zielte sie auf gewisse

dynamische Effekte.27 Denn die Bestrafung oder Enteignung der

so genannten Großbauern diente der Erhöhung der

Getreidelieferung, aber auch der Gewinnung vom

„sozialistischen Eigentum.“ Damit förderte sie auch die

Attraktivität der LPGs, die aus den großbäuerlichen Betrieben

die oft fehlenden Komponenten für eine großflächige Produktion

erhielten: Traktoren, Pferde, Maschinen, Ackerland und auch

Wohnraum. 27 In dem Text des Beschlusses der Bezirksleitung der SED zur Schaffung derErnteaktivs vom 9. August 1952 hieß es wie folgt: „Unter Anwendung des MR [Ministerrates der DDR, T.W.] Beschlusses 17/52 vom 4.4.52 sind in engster Verbindung mit den Organen des Staatsapparates und der Erfassungsaktivs in den Kreisen und Gemeinden und unter vollster Anwendung der demokratischen Kontrolle die eingetretenen Rückstände in der Erfüllung der Ernte- und Ablieferungspläne aufzuholen. Hierbei ist der Mobilisierung des Apparates der VEAB [Volkseigene Erfassungs- und Aufkaufbetrieb] besonderes Augenmerk zu schenken. Gegen bewusste Schädlinge und Agenten, die die Gesetze unsererRegierung mißachten, ist mit der vollsten Härte unter Anwendung der Gesetzeund Verordnungen unserer Regierung vorzugehen.“ Vgl. BLHA Rep. 530, Nr. 1493, 9.8.1952.

23

Die Rückkopplung dieser zwei gewünschten Prozesse mit der

Eliminierung der Großbauern war geplant. Stalin hatte die

sowjetische Erfahrung in seinem „Kurzen Lehrgang“

foglendermassen erklärt und damit kodifiziert: „Die Partei

wußte wohl: ... solange nicht das Kulackentum [Großbauerntum]

in offenem Kampfe vor den Augen der Bauernschaft geschlagen

sein wird, werden die Arbeiterklasse und die Rote Armee

Brotmangel leiden und wird die Kollektivierungsbewegung der

Bauern keinen Massencharakter annehmen können.“28 Auch wenn er

die genauen Mechanismen dieser wunderbaren Produktion von Brot

und Kolchosebauern verschwieg, hat Stalin die dynamisierenden

Effekte der Liquidierung dieser „Klasse“ erkannt.

Ein weiterer dynamisierender Effekt war, dass eine

gewaltsame Inszenierung von Klassenkampf oft „echten“

Widerstand hervorrief, der wiederum neue staatliche

Interventionen ermöglichte. Ein Beispiel hierfür liefert der

Vorfall, der sich nach dem Schauprozess in der Gaststätte von

Giesendorf ereignete. Dort wurde der höchste Staatsfunktionär

des Kreises Pritzwalk, Utech, von den dort trinkenden

Giesendorfern mit Gewalt bedroht, nachdem diese erfuhren, dass

Frau P. nach der Versammlung verhaftet worden war. Dieser

offene Widerstand wird Utech und den Lesern seines Berichtes

vielleicht Mut gemacht und ihnen bestätigt haben, dass sie

trotz der blamablen Inszenierung doch auf dem richtigen Weg

waren und dass das Dorf tatsächlich von „Klassenkampf“

brodelte.

28 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), Kurzer Lehrgang, Verlag der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Berlin 1946, S. 353.

24

Das Beispiel-System und die Inszenierung von Institutionen innerhalb des Staates.

Die wichtigste dynamische Effekte des Schauprozesses in

Giesendorf entfalteten sich nicht unter den Bauern, sondern im

Staat selber. Trotz der Offenlegung seiner Künstlichkeit durch

das Abrücken der Bauern mußte der Schauprozess auch deswegen

zu Ende geführt werden, damit er als „Beispiel“ dienen konnte.

Kennzeichnend für stalinistische Transformationsprozesse war,

dass untergeordneten Funktionäre sämtliche zu einer Kampagne

gehörenden Verhaltensregeln, Rhetorik, Planziele, und

Gewaltanwendung durch ausgewählte und aufwendig inszenierte

„Beispiele“ vorgeführt wurden. Nach diesem Modell sollten die

Inszenierungen als Lehrstücke funktionieren und von anderen

Staatsfunktionären auf untergeordneten Ebenen nachgeahmt

werden. Das Zentrum gab detaillierte Anweisungen über

Häufigkeit, Zeitpunkt, Vorbedingungen, Ablauf und Ergebnisse

dieser Inszenierungen zweiter Ordnung.29

Weil die Revolution als normative Regulative des Aufbaus

galt, war die Entfaltung des Beispiel-Systems als dynamisch

konzipiert. Das erste Beispiel sollte der Katalysator für

weitere Beispiele dienen, die dann eine Kettenreaktion vom

Klassenkampf in einer als reif für soziale Transformation

geltenden Gesellschaft auslösen sollten.30

29 Eine Untersuchung des Beispiel-Systems bei der Entwicklung des „sozialistischen Dorfes“ 1950–52 bietet jetzt Andreas Dix, „Freies Land“ Siedlungsplanung im ländlichen Raum der SBZ und früheren DDR 1945 – 1955, Köln 2002, S. 350–380. 30 Stalin bediente sich diesem Topos in seiner Rede an die Agrarexperten der Partei vom 27. Dezember 1929, als er die vom Staat initierte Kollektivierungkampagne als eine “den Kulaken feindlichen Lawine” charakterisiert, “auf ihrem Wege den Widerstand des Kulaken hinwegfegt, das Kulakentum zu Boden wirft und den Weg für einen umfassenden sozialistischen Aufbau im Dorfe bahnt.” Stalin, wie in Anm. 4, S. 77.

25

Eine Eigendynamik wurde erreicht, jedoch nicht gemäß dem

in den Anweisungen intendierten Ideal einer Diffusion von

hochwertigen Inszenierungen. Wie bei anderen Kampagnen setzte

fast sofort eine Degenerierung der Beispiele ein. Weil die

Mittel dazu fehlten, blieben die ersten aufwendigen

Inszenierungen Inseln der Kohärenz in einem Meer der Mankos.

Sogar auf den höchsten Ebenen des Bezirks, wo Ressourcen und

Überzeugung konzentriert waren, konnten die Inszenierungen

nicht aufrecht erhalten werden. Da die Kampagnen sich in

dieser Zeit der permanenten Mobilisierung überlappten, mussten

Funktionäre dort reagieren, wo der Druck von oben am stärksten

war. Daher schliefen Kampagnen schnell ein. Die Entwicklung

des Ernteaktivs war hierfür charakteristisch. Nach den

anfänglichen Tagungen sank die Anwesenheitsquote der von

Potsdam ausfahrenden Leitfunktionäre um 25 Prozent, und es kam

vor, dass die Transportwagen am Morgen nicht auftauchten, weil

sie inzwischen woanders hingeleitet wurden.31

Weil das Zentrum nicht selber überall intervenieren

konnte, versuchte das Zentrum seinen Ressourcenmangel dadurch

zu überwinden, dass es einen Überlebenskampf unter den

mittleren Staatsfunktionären anstiftete. Es richtete seinen

Blick auf die eifrigsten und langsamsten einer

Verwaltungsebene und machte aus ihnen „gute“ und „schlechte“

Beispiele mit einer entsprechenden Belohnung oder Bestrafung.

31 BLHA Rep. 401, Nr. 5625, 5.9.1952 and 8.10.1952 (unpag.). Auch der Zeitaufwand der Berichterstattung wurde durch die Häufung der Kampagnen dementsprechend vervielfacht, so dass ausführliche Berichte, wie das Protokoll über Giesendorf, nur am Anfang einer Kampagne geschrieben worden waren.

26

Sowie der Bauer P. nach diesem Muster ausgesucht wurde, wurde

auch innerhalb des Staates die Opfer von Säuberungen

ausgewählt. Im Frühjahr 1953 beschäftigte sich das Zentrum

weniger mit der Schaffung von negativen Beispielen unter den

Großbauern, als mit der Schaffung von solchen Beispielen unter

den Staatstsorganen, die den Großbauern verfolgten. Am 13.

Februar gab die SED-Bezirksleitung die Regierung vom Bezirk

Potsdam nur zwölf Tage, um den folgenden Beschluss

auszuführen: „Die 2 zurückgebliebensten Kreise in der

Erfassung sind vom Bezirksrat zu überprüfen, und die

Schuldigen an der schlechten Erfassung [gemeint sind die

Staatsfunktionäre, T.W.] zur Verantwortung zu ziehen. Wo

Sabotage festgestellt wird, sind die Betreffenden zur

Verantwortung zu ziehen bezw. vor Gericht zu stellen.“32 Das

Höhepunkt der Kollektivierungswelle im Frühjahr 1953 fiel mit

massiven Säuberungen innerhalb den Justiz- und

Landwirtschaftsministerien zusammen, d.h. die Behörden, die

für die Verfolgung der „Großbauer“ verantwortlich waren.33

Das Beispiel-System zielte auf die mittleren und kleinen

Staatsfunktionäre und machte sie für die Erfüllung eines

Kollektivierungsplanes verantwortlich. Es war diese Schicht,

die den klaffende Spalt zwischen dem fehlenden Enthusiasmus

bei der Bevölkerung, der revolutionären Massgaben der

Parteipresse und den Planzielen ausfüllen musste. Dass dadurch

„Taktiken“ zum Einsatz kamen, die nicht mit der „Strategie“

übereinstimmte, war für die alten Stalinisten in der SED-32 BLHA Rep. 530, Nr. 88, Bl. 114 (13.2.1953). 33 Vgl. Armin Mitter, „Die Bauern und der Sozialismus“, wie in Anm. 8, S. 94.

27

Führung nicht unbekannt. Sie hatten bereits einen

systemeigenen Begriff für den Ausweg aus dieser Klemme:

„operative Arbeit“. „Operativ“ bedeutete einerseits das

Überschreiten von bürokratischen oder bürgerlichen Rechtswegen

und Funktionen. Man wurde ganz Parteifunktionär, verließ die

Enge seiner staatlichen Funktion und der bürokratischen

Befehlskette und „leitete“ Funktionäre und Bürger in anderen

Bereichen, anderen Gegenden. Andererseits diente „operative

Arbeit“ als Codewort für die Aufforderung zur Gewalt und

außergerichtlichen Bestrafung, die nicht in der Öffentlichkeit

näher beschrieben werden sollten. Aus dieser Sicht dienten die

aufwendigen Inszenierungen von revolutionärem Klassenkampf wie

in Geisendorf in der Tat als Kulisse, hinter der Willkür und

Gewalt herrschen konnten.

Weil es unmöglich war, die im Plan vorgesehenen Beispiele

zweiter oder dritter Ordnung so zu gestalten wie im ersten

Beispiel, kam es nicht nur zur „operativen“ Arbeit, sondern

auch zu folgenlosen Inszenierungen. Diese hatten den Zweck,

den Staat selbst zu täuschen, damit die untergeordneten

Funktionäre selbst nicht negativ auffielen. Dies lag auch in

der Logik des Beispielssystems. Je tiefer man in die

Peripherie des Staates drang, desto mehr nahmen die lokalen

Institutionen den Charakter von Inszenierungen an. Viele

Gemeindevertretungen, örtliche Parteiorganisationen, usw.

existierten hauptsächlich auf Papier. Ein Zweck der Tagung in

Giesendorf war es, solche Inszenierungen zu entlarven. In

seiner Analyse der Entwicklung von benachbartem Kuhsdorf

bezeichnete ein Funktionär aus Potsdam „die Zusammensetzung

28

der Gemeindevertretung als gut,“ d.h. die Blockparteien und

die SED waren stark vertreten und die Großbauern

‘zurückgedrängt’. „Aber was nützt eine gute Vertretung,“

fragte er „wenn eine schlechte Zusammenarbeit auf der anderen

Seite zu verzeichnen ist? Es ist nicht angängig, dass man seit

dem Mai d. Js. keine Zusammenkunft mehr durchgeführt hat, dass

man am 5. August erst kurz über den Druschplan diskutiert und

so fort.“

Inszenierung und Plan waren also zwei Seiten derselben

Medaille. Institutionen wie die LPGs konnten nur in den Mengen

produziert werden, die im Plan vorgesehen waren, wenn sie

inszeniert wurden. Die Kreise konkurrierten untereinander, um

den höchsten Prozentsatz von Bauern in den LPGs aufzuweisen.

Als sich der Kreislauf von Enteignung, Flucht und

Kollektivierung im Frühjahr 1953 weiter beschleunigte, war die

Formierung von LPGs meistens nur noch Scheinkonstruktionen.

Funktionäre sammelten die in der Regel eher erfolglosen Bauern

einer Ort, gaben ihnen das Land und die Geräte von enteigneten

oder geflüchteten Groß-, Mittel- und auch Kleinbauern, und

ernannten ein Mitglied der SED oder einer der sog.

„Blockparteien“ zum Vorsitzende. Viele der ersten LPGs

dämmerten vor sich hin in Apathie, Missmanagement und Chaos.

Ihre Schöpfer wiederum waren oft zu sehr mit den vielen

Kampagnen auf dem Land beschäftigt, als dass sie sich um die

neuen LPGs kümmern konnten.34

34 Ein Beispiel für den Effekt der Kampagnen auf das Management staatlicherBetriebe ist das Protestschreiben eines Kreditgenossenschaftsleiters von 1954. Er stritt seine Schuld am finanziellen Missmanagement der Genossenschaft 1952–53 ab, da er zu dieser Zeit Weiterbildungskurse

29

Der Plan forderte Inszenierungen, und die Berichte dieser

Inszenierungen galten als Wechsel, die im

Informationskreislauf des Staates akzeptiert wurden.

Einerseits wird man behaupten können, dass dies eine

unerwünschte Folge der Planwirtschaft war, die auf der

Unmöglichkeit einer totalen Überwachung der Gesellschaft

beruhte und zum bekannten Problem führte, dass die

Planwirtschaft nur grob quantitativ, aber nicht qualitativ

messen konnte. Anderseits aber hätte ein richtiges Verständnis

von der Lage bremsend auf die dynamische Entwicklung der

„Revolution“ gewirkt. Die Selbsttäuschung war insofern für den

„planmäßigen“ Rausch des Aufbaus notwendig.

Die Folgen dieser Selbsttäuschung wirkten auch nach

Stalins Tod im März 1953 fort, als die SED und ihr Staat

anfingen, sich mit den Unzulänglichkeiten der forcierten

Kollektivierung auseinanderzusetzen. Auf den Versammlungen,

die abgehalten wurden, um die steigende „Republikflucht“ unter

den Klein- und Mittelbauern entgegenzuwirken, wurden nur neue

Anschuldigungen gegen die Großbauern und den Westen erhoben.

Damit wurden die Parolen des Klassenkampfes weiderholt, die

auf Bauern abstoßend wirkten. Ein weiteres Beweis für die

Selbstreferentialität der SED, die ihr das Verstehen der

Bauern erschwerte, liefern die Statistiken zur steigenden

„Republikflucht“ von LPG-Mitgliedern, die von der

Bezirksleitung der SED Potsdam ab Mai 1953 angefordert wurden.

besuchte und beim Aufbau des Sozialismus tätig war. In dieser Zeit hatte der Kreisverband Rathenow drei verschiedene Vertreter für seine Position und vier Buchhalter nacheinander eingesetzt. BLHA Rep. 431, Nr. 666 Brandenburg Land, unpag. (20.10.1954).

30

Als Ursache für die „Republikflucht“ wurden neben „Grund

unbekannt“ am häufigsten Klassenkampferklärungen angegeben,

wie „Verhetzung“ oder „Einfluss des Klassengegners“.35

Plausible Erklärungen in der Sprache der Bauern kamen gar

nicht vor. Diese Selbstreferentialität hinderte eine

angemessene Reaktion auf die unbestellten Feldern und auf die

anhaltende „Republikflucht.“

Die vorauszusehende Katastrophe bei der Ernte bot der

neuen Führung der Sowjetunion einen wichtigen Anlass, um einen

Kurswechsel einzuleiten, den so genannten „Neuen Kurs“ vom 9.

Juni 1953. Mit dieser Umkehrung wurde „operative“ Arbeit

umgemünzt und als „Überspitzung“ bezeichnet, die wiederum

subjektiven Fehlern zugeschrieben wurden. Es wurde auch

„administrativ“ genannt, ein Adjektiv, das in

Revolutionszeiten eigentlich das Antonym von „operativ“ war,

d.h. leidenschaftsloses, bürokratisches Verhalten.36 Diese

Umkehrung diente, wie 1930 in der Sowjetunion, der Schutz der

Parteielite und ihrer Generallinie. Der revolutionäre

Enthusiasmus wurde von dem zu ihm gehörenden „Schwindel“

35 Vgl. BLHA Rep. 401, Nr. 962.36 Die „Selbstkritik“ eines Abteilungsleiters im Potsdamer Ministerium fürLandwirtschaft nach dem 17. Juni liefert ein Zeugnis des Zusammenspiels vonDruck und „operativer“ Anleitung von oben und schlechter „administrativer“ Arbeit in der Ausführung: „Die Kritik an mir von Seiten der Bezirksleitung war nicht helfend sondern zerschmetternd. Die Folge war, ich habe auch nachunten geknüppelt. Ich habe versäumt, die Kritik der Bezirksleitung, bezw. des Operativstabes und der anderen Genossen, in unserer Abteilung auszuwerten. Ich habe mich selbst gleich wieder auf die neue Arbeit gestürzt. Ich hatte sehr oftmals Angst vor der nächsten Sitzung. Meine falschen Anweisungen, die immer administrativ waren, habe ich hinterher ofteingesehen, hatte aber nicht den Mut gefunden, das zu revidieren.“ BLHA Rep. 530, Nr. 92, Bl. 254 (Sekretariatsvorlage zur Sitzung der Bezirksleitung vom 14.7.1953).

31

getrennt; dieser sollte mit der Aufopferung von mittleren

Funktionären wie eine Schlacke von der unfehlbaren Partei

abfallen.

ErgebnisDieser Aufsatz hatte die Feststellung zum Ausgangspunkt,

dass auf dem Land 1952/53 der revolutionäre Enthusiasmus nicht

hauptsächlich dort zu finden war, wo das Drehbuch der

Revolution ihn plazierte, nämlich in den Köpfen der

„Werktätigen“. Dies soll nicht heißen, dass neben vielen

Arbeitern und Mitgliedern der SED nicht auch manche Bauern ein

Rauscherlebnis des Enthusiasmus während des Aufbaus des

Sozialismus empfunden haben. Dieser „echte“ Enthusiasmus

reichte aber für die Rückkopplungsmechanismen des

revolutionären Aufbaus nicht aus. Der Bedarf an Rausch in

seinen verschiedenen Deutungen wurde durch Gewalt und eine

Reihe von Inszenierungen (in der Form von Ereignissen,

Berichten und Institutionen) gedeckt, die einen Rauschen der

Transformationsprozessen ermöglichten. Ohne die Intervention

der sowjetischen Armee wäre die DDR im Juni 1953

höchstwahrscheinlich an diesem Rausch zugrunde gegangen. Wie

Stalins postfaktische Stilisierung dieses Rausches zu einem

„Schwindel“ mittleren Staatsfunktionäre war die Rede von

„administrativen“ Fehlern irreführend. Die Chaotisierung der

Kollektivierung und die Verkennung dieses Chaos wurden dadurch

subjektiviert.

32

Gegen die maßgebende Historiographie zur stalinistischen

Kollektivierung haben wir Stalins Rede vom „Schwindel“

insofern ernst genommen, daß wir den Begriff als Kern unseres

Plädoyers für eine Erweiterung des funktionalen Modells dieser

Kampagnen machten. Nicht nur Menschen-, Eigentums- und

Getreidebewegungen kommen als Inputs in funktionalen

Erklärungen dynamischer Vorgänge in Frage. Dazu gehören auch

die ideologischen Produkten einer inszenierter Revolution, wie

im Fall des Schauprozesses in Giesendorf.

Es wurde gezeigt, daß die Produktion von „Rausch“, als

verkörperter Repräsentation revolutionären Enthusiasmus, und

von „Rauschen“, als inflationär steigendem Aufbautempo, sich

gegenseitig bedingte. „Schwindel“ ist ein passender Ausdruck

für die Chaotisierungsprozessen der DDR-Kollektivierung und

den mit ihnen rückgekoppelten Informationskreislauf des SED-

Regimes. Um dynamischen Wirkungen zu entfalten, musste das

Regime echten und inszenierten Informationen von der

Peripherie gleichermaßen in seinem Plan aufnehmen. Die zwei

Folgen dieses Vorgangs waren einerseits die Chaotisierung der

DDR-Landwirtschaft und andererseits eine halbe Blindheit für

diese Chaotisierung. Halb blind waren nicht nur die alten

Kader, die sich an den eigenen Inszenierungen der lang

erwarteten Revolution berauscht hatten, sondern – und dies

soll nachdrucklich betont werden – auch der Staat als Ganzes.

--- Ende ---

33