Worte und Taten2014

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111 Worte und Taten. Politische Motive bei Platon und Thukydides Von Chiara Colli Staude Wer eine gewisse Unmittelbarkeit des Verständnisses von Platons Philoso phie zumindest beabsichtigt, sollte versuchen, sie vor dem geistigen Hinter grund seiner Zeitgenossen und Vorläufer, einschließlich der »Historiker« und der Tragiker, hervorzuheben. Diese Herangehensweise verhilft dazu, tiefer in das Verständnis der Bedeutung und auch der Aktualität dieser Phi losophie vorzudringen. deshalb ist hier, da der ethischpolitische Aspekt, ein vergleich mit Thukydides angebracht, Dies bedeutet, neben Platons En gagement für die Erziehung der Jugend, neben seinen Theorien und Uto pien, 1 hauptsächlich seine konkrete Haltung gegenüber der Praxis zu be leuchten, wovon der Siebente Brief (die einzige Schrift in der Platon im ei genen Namen spricht) ein spätes und sehnsüchtiges Zeugnis ablegt. Platon gleicht einer zweiköpfigen Herme: Für jedes, das er aufdeckt, ver birgt er etwas anderes. Als Philosoph sucht er, wie Parmenides, etwas Wah res, Festes; aber Widersprüche schrecken ihn nicht. Eines seiner Gesichter wendet sich den antiken Weisen und ihrer Weltanschauung zu, das andere überträgt durch das eigene philosophische und literarische Werk seine Ge danken in Richtung des »Neuen«. Sein Erscheinen bezeichnet einen neural gischen Übergang. Hinter ihm steht das große Ereignis des von Athen verlo renen Krieges, der Untergang eines »Mythos«. Er spricht nie direkt davon, 2 aber das ist sein politisches Schlüsselerlebnis – und das gilt umso mehr für Diese Studie ist erschienen in: Gregor Fitzi (Hrsg): Platon im Diskurs. Beiträge des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2006, S. 111146. In der vorliegenden Transkription wurden die OriginalSeitenzahlen beibehalten. 1 Es ist bekannt, dass K. R. Popper, vor allem in seinem Werk The Open Society and its Ennemies (1945), neben seiner Kritik an faschistischen und marxistischen Überzeugungen, sich haupt sächlich mit Platons »autoritären Herrschaftsgedanken« im Staat und mit seiner anwachsenden Abneigung gegen den Individualismus« auseinandersetzt. Popper meint, in einem Staat wie dem von Platon hätte es Sokrates noch schwerer gehabt. Das Ganze gibt viel zu denken, man darf aber nicht vergessen, dass vieles in Platons Politeía ein Gedankenexperiment und eine dramati sche Zuspitzung der Argumente ist. Schon Aristoteles im 2. Buch der Politik ist vielen Aspekten ist vielen Aspekten der Politeía Platons gegenüber kritisch, z. B. was die Relation FamilieStaat Einzelner anbelangt. 2 Andeutungen an den Krieg finden sich in Platons Staat, 2, 365d366a (diese Stelle scheint die Lektüre von Thukydides 8, 54 und 8, 66 vorauszusetzen), sowie in 373de und weiter im Timaios, 19a20e, und in den Gesetzen, 626b627c.

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Worte  und  Taten.  Politische  Motive  bei  Platon  und  Thukydides  

Von  Chiara  Colli  Staude  ∗    

Wer  eine  gewisse  Unmittelbarkeit  des  Verständnisses  von  Platons  Philoso-­‐phie  zumindest  beabsichtigt,  sollte  versuchen,  sie  vor  dem  geistigen  Hinter-­‐grund   seiner   Zeitgenossen   und   Vorläufer,   einschließlich   der   »Historiker«  und   der   Tragiker,   hervorzuheben.   Diese   Herangehensweise   verhilft   dazu,  tiefer  in  das  Verständnis  der  Bedeutung  und  auch  der  Aktualität  dieser  Phi-­‐losophie   vorzudringen.   deshalb   ist   hier,   da   der   ethisch-­‐politische   Aspekt,  ein  vergleich  mit  Thukydides  angebracht,  Dies  bedeutet,  neben  Platons  En-­‐gagement   für   die   Erziehung   der   Jugend,   neben   seinen   Theorien   und   Uto-­‐pien,1   hauptsächlich   seine   konkrete   Haltung   gegenüber   der   Praxis   zu   be-­‐leuchten,  wovon  der  Siebente  Brief  (die  einzige  Schrift  in  der  Platon  im  ei-­‐genen  Namen  spricht)  ein  spätes  und  sehnsüchtiges  Zeugnis  ablegt.  Platon  gleicht  einer  zweiköpfigen  Herme:  Für  jedes,  das  er  aufdeckt,  ver-­‐

birgt  er  etwas  anderes.  Als  Philosoph  sucht  er,  wie  Parmenides,  etwas  Wah-­‐res,  Festes;  aber  Widersprüche  schrecken  ihn  nicht.  Eines  seiner  Gesichter  wendet  sich  den  antiken  Weisen  und  ihrer  Weltanschauung  zu,  das  andere  überträgt  durch  das  eigene  philosophische  und  literarische  Werk  seine  Ge-­‐danken  in  Richtung  des  »Neuen«.  Sein  Erscheinen  bezeichnet  einen  neural-­‐gischen  Übergang.  Hinter  ihm  steht  das  große  Ereignis  des  von  Athen  verlo-­‐renen  Krieges,  der  Untergang  eines  »Mythos«.  Er  spricht  nie  direkt  davon,2  aber  das  ist  sein  politisches  Schlüsselerlebnis  –  und  das  gilt  umso  mehr  für  

                                                                                                               ∗   Diese   Studie   ist   erschienen   in:   Gregor   Fitzi   (Hrsg):   Platon   im   Diskurs.   Beiträge   des   Istituto  Italiano  per  gli   Studi  Filosofici.  Universitätsverlag  Winter,  Heidelberg  2006,   S.   111-­‐146.   In  der  vorliegenden  Transkription  wurden  die  Original-­‐Seitenzahlen  beibehalten.  1  Es  ist  bekannt,  dass  K.  R.  Popper,  vor  allem  in  seinem  Werk  The  Open  Society  and  its  Ennemies  (1945),   neben   seiner   Kritik   an   faschistischen   und   marxistischen   Überzeugungen,   sich   haupt-­‐sächlich  mit  Platons  »autoritären  Herrschaftsgedanken«  im  Staat  und  mit  seiner  anwachsenden  Abneigung  gegen  den  Individualismus«  auseinandersetzt.  Popper  meint,  in  einem  Staat  wie  dem  von   Platon   hätte   es   Sokrates   noch   schwerer   gehabt.   Das   Ganze   gibt   viel   zu   denken,  man   darf  aber  nicht  vergessen,  dass  vieles  in  Platons  Politeía  ein  Gedankenexperiment  und  eine  dramati-­‐sche  Zuspitzung  der  Argumente  ist.  Schon  Aristoteles  im  2.  Buch  der  Politik  ist  vielen  Aspekten  ist  vielen  Aspekten  der  Politeía  Platons  gegenüber  kritisch,  z.  B.  was  die  Relation  Familie-­‐Staat-­‐  Einzelner  anbelangt.  2  Andeutungen  an  den  Krieg  finden  sich  in  Platons  Staat,  2,  365d-­‐366a  (diese  Stelle  scheint  die  Lektüre   von   Thukydides   8,   54   und   8,   66   vorauszusetzen),   sowie   in   373d-­‐e   und   weiter   im  Timaios,  19a-­‐20e,  und  in  den  Gesetzen,  626b-­‐627c.    

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den   keine   dreißig   Jahre   älteren   Thukydides,   der   aktiv   am   Krieg   teilnahm  und  ihn  zum  Gegenstand  seiner  Untersuchungen  machte.  Platons  ethisch-­‐moralische  Spekulation  der  sokratischen  Dialoge  und  der  

ersten  Bücher  des  Staates   ist  auch  eine  Reaktion  auf  dieses  Erlebnis.  Es  ist  die  menschliche  Seele,   lässt  Platon  den  Sokrates  sagen,  die,  da  sie  verdor-­‐ben  war,  zusammen  mit  der  korrupten  Stadt  zugrunde  ging  und  mit  ihr  zu  neuer  Ordnung  zu  erziehen  ist.3  Die  tiefgreifenden  Umwälzungen  jenes  pa-­‐radigmatischen  Krieges  –  »des  größten  jemals  geschehenen«  –  wurden  da-­‐gegen  von  Thukydides  auf  objektive  Art,  man  kann  sagen  mit  beinahe  wis-­‐senschaftlicher   Absicht,   analysiert.   Thukydides   war   ein   den   Ereignissen  verpflichteter  Historiker,  der   jedoch   in  gewissem  Sinne  auch  eine  philoso-­‐phische  Erkenntnis  suchte:  die  Fixierung  bleibender,  wahrhaftiger  werte  in  den  Phänomenen.  In  den  Jahrzehnten  des  Übergangs  von  5.  zum  4.  jahrhundert  festigt  sich  

eine   Zäsur   im   Denken,   ein   Bruch   zwischen   den   Generationen.4   Mit   der  wachsenden   Zahl   der   »Sophisten«   5   und   Logographen   lässt   sich   auch   die  Kluft   zwischen  Denken  und  Handeln   immer   schwieriger  überbrücken.  Die  Großartigkeit  von  Politikern,  die  unmittelbar  aus  dem  Denken  heraus  han-­‐delten,   verschwindet   beinahe.   Es   beginnt   ein   umfassendes   theoretisches  Überdenken   der   Vergangenheit   und   die   Suche   nach   absoluten  Maßstäben  zu   ihrer  Beurteilung.   Juristische  Formeln  werden   fixiert,   es  wird  über  die  Verfassungsform   spekuliert.   Einerseits   beginnt   eine   moralistische   Suche  nach   Sündenböcken,   andererseits  wird  die  Vergangenheit   verklärt.   Sokra-­‐tes  hatte  sich  noch  als   tapferer  Krieger  verhalten  und  war   in  seiner  Art   in  mancherlei   Hinsicht   den   alten   Weisen   (sophoí)   ähnlich,   auch   wenn   Aris-­‐tophanes   ihn   als   sophistés   sieht.   Er   hat   außerdem  wahrscheinlich  deshalb  kein  Wort  geschrieben,  weil  er  der  Kultur  der  Mündlichkeit  noch  verbun-­‐  

                                                                                                               3    Über  die  »üppige  Stadt«  vergleiche  Platons  Staat  2,  372d-­‐373c.  4    Der  thukydidäische  Perikles  in  der  Grabrede  spricht  noch  am  Anfang  des  Krieges  von  der  Kon-­‐tinuität  dreier  Generationen  (Thuk.  2.  36)  5    Sophistés  ist  ein  vielseitiger  und  verschwommener  Begriff.  Die  meisten  Sophisten  kommen  von  außen  nach  Athen  in  der  Zeit  seiner  Blüte.  Es  gibt  zwei  Generationen  von  Sophisten  Der  ersten  gehörten  Persönlichkeiten  wie  Protagoras  und  Gorgias  an,  die  humanistische  Fähigkeiten,  eine  starke  dialektische  und  rhetorische  Begabung  und  ein  großes  Talent  zur  Kommunikation  besit-­‐zen  –  wenn  auch  gegen  Geld.  Die  zweite  Generation,  mit  der  Platon  hauptsächlich  zu  tun  hatte,  zeigt  eher  schwache  Seiten.  Man  kann  die  Sophisten  nicht   in  einer  einheitlichen  Schule  zusam-­‐menfassen.   Ziemlich   einheitlich   und   negativ  wurden   sie   dagegen   von   Platon  wahrgenommen,  der   sie   aus  der  Philosophie  ausschließen  wollte.   (Andererseits  wissen  wir   sehr  viel   von   ihnen  gerade  durch  Platon.)  Vgl.  auch  B.  H.  F.  Taureck,  Die  Sophisten.  Junius  Verlag,  Hamburg  1995,  S.  12.  

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den  war.  Mit  Platon  dagegen  kann  man  die  »moderne«,  mittelbare  und  viel-­‐schichtige   Kultur   beginnen   lassen,   die   auf   dem   geschriebenen   Wort   ge-­‐gründet  ist.  Mit  der  genialen  Erfindung  seiner  Dialoge  beginnt  die  Philoso-­‐phie  –  und  sie  beginnt  als  Literatur.6  Das  Problem  des  menschlichen  Handelns,  der  vita  activa,  das  nach  Han-­‐

nah  Arendt  und  Heidegger  7  noch  tiefgehender  untersucht  werden  sollte,  ist  bereits   das   zentrale,   wenn   auch   wahrscheinlich   unlösbare   Problem   des  Thukydides.   Mit   dem   Handeln   und   dem   Verhalten   des   Menschen   ist   die  Wertung  von  Gut  und  Böse,  die  Frage  der  Gerechtigkeit  verbunden.  Ist  dies  ein  Problem  der  Menschen  allein,  oder  auch  der  Götter?  Nach  Nietzsche  gibt  es  gar  keine  moralischen  Phänomene.  8  Mit  anderen  Worten:  Das  Problem  der  Moral   hat   keinen   »metaphysischen«  Ursprung.  Damit   scheint  Heraklit  übereinzustimmen,  wenn  er  sagt:  »Schön  vor  dem  Gott  sind  alle  Dinge,  aber  die  Menschen  haben  einige  gerecht  geheißen,  andere  ungerecht«.9  Alles,  was   heute   in   philosophischem  Kontext   üblicherweise   als   ethisch-­‐

politische   Frage   bezeichnet  wird,   ist   jedenfalls   keine   plötzliche   Erfindung  von   Sokrates   oder   Platon.   Vielmehr   bildet   sich   diese   Frage   aus   und   ver-­‐zweigt  sich  bereits   in  den  vorangehenden  Jahrhunderten.  Es  wäre  interes-­‐sant  zu  untersuchen,  worin  sich  die  Ethik  (oder  Moral)  der  Philosophen  von  

                                                                                                               6    Auch  Isokrates,  der  seine  Lógoi  aus  äußerlichen  Gründen  zu  schreiben  anfing,  nennt  die  eher  praktischen  als   theoretischen  Bemühungen  und  politisch-­‐panhellenischen   Ideale   seiner  Schule  »philosophía«  (15,  160  ff.,  270  ff.).  Außerdem  gab  es  neben  Platon  viele  andere  »Sokratiker«,  wie  z.   B.   Xenophon,   Aischines   und   Anthistenes,   die   mit   sokratischen   Dialogen   auf   das   Nicht-­‐Schreiben   des   Sokrates   reagierten.   Über   Philosophie   vgl.   G.   Colli,   Die   Geburt   der   Philosophie,  Frankfurt  a.  M.  1990.  Darüber  auch:  die  Mündlichkeit  der  sophía  und  die  Schriftlichkeit  der  Phi-­‐losophie  vgl.  G.  Colli,  Die  Geburt  der  Philosophie,  Frankfurt  a.  M.  1990.  Darüber  auch:  E.  Havelock,  Preface  to  Platon,  Cambridge  1963.  7     »Wir   bedenken   das  Wesen   des   Handelns   noch   lange   nicht   entschieden   genug«:   Heidegger,  Brief  über  den  Humanismus,   1946.  Motto  des  Buches  Geschichtsprozesse  und  Handlungsnormen  von  R.  Bubner,  Frankfurt  1984.  8    Nietzsche,  Werke,  Kritische  Gesamtausgabe  (G.  Colli,  M.  Montinari,  Hrsg.),  W.  De  Gruyter,  Ber-­‐lin.  VI.  2,  JGB,  108,  S.  92,  VII,  2,  25[522]:  »Die  Welt  des  Guten  und  Bösen  ist  nur  scheinbar«,  IV,  1,  3[49],  MA  I,  92.  9    Auch  G.  Colli,  La  sapienza  greca   III,  Adelphi,  Milano  1980:  SG  14[A  119].  Ich  gebe  hier  meine  deutsche  Übersetzung  des  Fragmentes   an  und   ziehe  diese  Überlieferung  des   textes   vor.   (Aber  vgl.  auch  H.  Diels,  Die  Fragmente  der  Vorsokratiker,  hrsg.  von  W.  Kranz,  3  Bde.,  VIII.  Aufl.,  Berlin  1956:  DK  22  B  102:  »Für  Gott  ist  alles  schön  und  gut  und  gerecht;  die  Menschen  aber  haben  das  eine  als  ungerecht,  das  andere  als  gerecht  angenommen«.  

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einer   vorphilosophischen   Ethik   unterscheidet.10   Schon   Hesiod,   Solon,  Aischylos   11   sprachen   von  Gerechtigkeit,   und  Theognides  bot   traditionelle  gnómoi  über  das  menschliche  Verhalten.  Die  olympische  »Religion«,  die,  wenn  auch  zusammen  mit  anderen  Kom-­‐

ponenten,  in  wesentlichen  Zügen  noch  bis  ins  5.  Jahrhundert  gültig  blieb,12  war   in   gewissem   Sinne   der   Ausdruck   einer   Harmonie   zwischen   der  menschlichen  Natur  und  der  Gerechtigkeit,  dem  Gesetz.13  Solche  Harmonie  sollte  aber  nicht  von  Dauer  sein,.  Die  Betonung  des  Individuums,  die  Ratio-­‐nalität,  die  entweder  nur  zerstören,  oder  nur  retten  will,  das  zerfallen  der  Sakralen   Werte,   führt   zu   einem   offenen   Konflikt   zwischen   physis   und  nómos.14  Dieser  Konflikt  ist  im  Keim  schon  in  der  aufgeklärten  Welt  des  Pe-­‐rikles  vorhanden,  auch  wenn  Perikles  die  menschliche  Natur  nicht  über  die  Gesetze  und  die  Tradition  erheben  wollte.  In  jener  Epoche  kann  man  beina-­‐he  von  einer  Staatsreligion   reden,   aber  die  gesetze  werden  zu  Fesseln   für  den,  der,  wie  der  Sophist  Antiphon,  die  menschliche  Natur  als   frei  erklärt.  Was  aber  ist  unter  der  »menschlichen  Natur«  zu  verstehen?  Noch   kurz   zur   Religiosität,   oder   besser   Sakralität:   Keiner   der   griechi-­‐

schen  Götter,   nicht   einmal   Zeus   oder  Apoll,   ist   im   Sinne   der  monotheisti-­‐schen  Religionen  unfehlbar  oder  vollkommen  gut   (eine  Tendenz   in  dieser  Richtung  besteht  eher   für  den  »Gott  der  Philosophen«,  angefangen  bei  Xe-­‐nophanes).  Es  gab  keine  religiösen  Gebote,  kein  Dogma,  keine  Offenbarung,  und  das  Verhältnis  Gott-­‐Mensch  war  relativ  frei.  der  Mensch  wird  von  dem  Gott   in   Bezug   auf   die   Erkenntnis   herausgefordert,   zum   Beispiel   mit   dem  Orakel  oder  mit  dem  Rätsel  (ainígma).  Solche  Herausforderung  setzt  sich  in  Form   des   echten,   nicht   fingierten   Diskurses,   der   Dialektik,   zwischen   den  sophoí   fort.  Nach  der   Interpretation  des   italienischen  Philosophen  Giorgio  Colli   ist  der   lógos  ursprünglich  der  Ausdruck  einer  komplementären  Intui-­‐tion.  Nur  wenn  diese  Komplementarität  ausfällt,  wird  die  Rationalität  (mit  Gorgias)   nihilistisch,   und   dann,   im   Gegensatz   dazu,   nur   optimistisch.   Das  

                                                                                                               10    O.  Gigon,  Aristoteles,  Die  Nikomachäische  Ethik.  Einführung,  S.  55  ff..  dtv,  München  1991.  11    Die  einzige  von  Aischylos  erhaltene  Trilogie,  die  Orestie,  ist  oft  als  Theodizee  mit  politischen  Implikationen  interpretiert  worden.    12    Über  religiöse  Aspekte  der  zeit  vgl.  W.  D.  Furley,  Andokides  and  the  Herms.  A  Study  of  Crisis  in  Fifth-­‐century  Athenian  Religion.  Inst.  of  Class.  Studies,  School  of  Advanced  Studies,  London  1996,  Kap.  5,  S.  74  ff..  13    Es  würde  zu  weit  führen,  wollten  wir  das  Thema  hier  vertiefen  und  die  verschiedenen  Bedeu-­‐tungen  verfolgen,  welche  das  Wort  nómoi  (die  Gesetze  der  pólis),  oder  nómos   (das  ungeschrie-­‐bene  Gesetz),  oder  Pindars  nómos  basiléus  –  der  sich  mit  Zeus  identifiziert  –  annehmen  kann,  bis  es  schließlich  als  rein  moralisches  Gesetz  empfunden  wird.  14    Die  Frage  des  Verhältnisses   zwischen  physis   und  nómos  wird   schließlich   von  Aristoteles   in  seiner  Nikomachischen  Ethik  aufgenommen  und  systematisiert.  

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Verhältnis  Gott-­‐Mensch  wurde  dann  von  den  Tragikern  jedes  Mal  aufs  Neue  aufgestellt,  indem  man  die  Vielfalt  der  Mythen  und  Symbole  in  verschiede-­‐ner  Weise  akzentuierte.15  Man  könnte  also  in  der  vorplatonischen  Zeit  –  was  die  Ethik  betrifft  –  e-­‐

her  von  einer  unreflektierten  Selbstverständlichkeit  als  von  einer  bewuss-­‐ten  Problematik  oder  einem  rationalistisch  begründeten  System  reden.  Die-­‐se  Selbstverständlichkeit  war  mit  dem  Begriff  der  areté  verbunden,  solange  die  areté  nicht  nur  moralische  Tugend  bedeutete,  sondern  eher  natürliche  Exzellenz,  die  sich  in  Taten  äußert.16  Langsam  wird  aber  die  areté  verinner-­‐licht,   bis   sie   die  moralische   Bedeutung,   die   Platon   Sokrates   in   den  Mund  legt,   annimmt.   In   Platons  Dialogen   lassen   sich   die   Stufen   einer   hedonisti-­‐schen,   »sophistischen«   Ethik   und   einer   Ethik   des   Stärkeren,   die   an   eine  mächtigen  Individualismus  anknüpft,  verfolgen,  und,  dem  entgegengesetzt,  die   Reaktion   des   Sokrates,   der   nach   einem   Guten   und   gerechten   strebt.17  Aber   auch  unter   den   Sophisten,   von  denen  Platon   einige   so  negativ   beur-­‐teilt,   hatte   ein   ähnlicher   Prozess   begonnen.   Der   Ausdruck   des   tragischen  Sinns  des  Daseins  geht  verloren.  Das  Gerechte  identifiziert  sich  mit  dem  gu-­‐ten,  und  auf  dieser  Basis  wird  das  Verhältnis  zwischen  physis  und  nómos  ein  moralisches  –  die  menschliche  physis  wird  gut.18  

                                                                                                               15    Neben  der  traditionellen  Religion  gab  es  auch  Initiationen,  Mysterien,  die  ihre  Wurzeln  zum  Teil  in  der  orientalischen  Welt  hatten.  Einige  davon,  wie  die  dionysischen  oder  die  eleusinischen,  stellten  für  die  Menschen  eine  freie  Möglichkeit  dar,  das  Göttliche  in  sich  selbst  –  in  diesem  leben  oder  nach  dem  Tode  –  zu  erfahren.  16    O.  Gigon,  Aristoteles,  Die  Nikomachische  Äthik,  dtv,  München  1991,  Einführung,  S.  61  ff..  17    Nach  O.  Gigon,  a.  a.  O.,  S.  65,  würde  Platon,  z.  B.   im  Gorgias,   »nicht  ohne  Gewaltsamkeit  die  beiden   sophistischen   Formen   der   Ethik   zusammenraffen,   um   sie   zu   bekämpfen…   Aristoteles  dagegen  versucht,  sie  zu  domestizieren.«  Vgl.  auch  K.  Popper,  Contro  Platone,  Roma,  2001,  S.  58-­‐62:  Popper  meint,  Platon  würde  im  Gorgias,  482c-­‐484a  und  in  der  Politeía,  358e  ff.,  die  These  der  «protektionistischen«  Ethik   sehr   forcieren.   (Solche   »Ethik«   betrachtet   den  Nutzen   eines  Kom-­‐promisses,  um  sich  nicht  gegenseitig  Unrecht  zu  tun.  das  Ganze  gehört  zu  der  Problematik  der  Spannung  zwischen  physis  und  nómos.  Vgl.  Arist.  Pol.  III,  1280  b.)  18    Vgl.  C.  Colli  Staude,  Alcibiade  e  Atene  nel  411.  Tesi  di  laurea,  Università  degli  Studi  di  Firenze,  Faciltà   di   Lettere   Antiche   (Relatore:   Prof.   P.   Treves).   Typoskript,   Firenze   1971,   S.   131   ff.   In  Prodikos  und  vor  allem  in  Hippias  und  Antiphon  kann  man  solche  Gedanken  über  den  Wert  des  natürlichen  Rechts  finden.  Es  wäre  plausibel,  eine  Parallele  zwischen  der  politischen  Problema-­‐tik  der  Zeit,  Ende  des  5.  –  Anfang  des  4.   Jh.  v.  Chr.,  mit  der  zersetzenden  Wirkung  des  Krieges,  und  der   ähnlichen  Problematik  der  Soziologie  und  Anthropologie  der   ersten  Hälfte  des  20.   Jh.  (Spannung  zwischen  Natur  und  Konvention,  von  Max  Weber  bis  Eric  Vögelin  und  Leo  Strauss)  zu  ziehen.  Vgl.  dazu  M.  Sattler,  Naturrecht  und  Geschichte  –  Hans  Kelsen,  Leo  Strauss  und  Eric  Vöge-­‐lin.  In:  W.  Leidhold  (Hrsg.),  Politik  und  Politeia.  Festgabe  für  J.  Gebhardt.  Würzburg  2000.  

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Es   ist  also  nicht  angebracht,  die  Sophisten  nur  negativ  zu  bewerten:  Sie  zeigen   einerseits   zunächst   große   dialektische   Fähigkeiten,   andererseits  stellen   sie   bereits   solche   ethisch-­‐politischen   Fragen,   und   Thukydides   und  Platon   haben   beide   an   dieser   Bewegung   teil,   auch   wenn   sie   zu   eigenen  Antworten  kommen.  Thukydides  hat,  noch  stärker  als  Platon,  alle  Nuancen  des  Streits  zwischen  physis  und  nómos,  zwischen  Gerecht  und  Nützlich,  zwi-­‐schen   Schwach   und   Stark   direkt  miterlebt.   Seine   Art   der   Darstellung  will  aber   objektiv   bleiben:   Wie   weit   entsprechen   die   Taten   den   Worten?   Er  schildert  und  inszeniert  in  seinen  Reden  ,  ohne  daraus  ein  System  zu  bauen  (wie   es   später   geschehen  wird),   diese   Entwicklung,   die   schließlich   in   die  Niederlage   des   Stärkeren   –   Athens   –   mündet.   So   begründet   Thukydides  durch  die  Erfassung  und  Deutung  des  Geschehens  aus   seinen   inneren  Be-­‐dingungen  und  aus  den  Charakteren  der  Handlung  heraus  die  pragmatische  Geschichtsschreibung  und   liefert   gleichzeitig  die  Grundzüge  einer  Anthro-­‐pologie.   Platon   kannte   höchst   wahrscheinlich   das   Werk   des   Thukydides,  auch  wenn  er  dies  nicht  offen  erklärt,  und  Thukydides  zu  kennen   ist  auch  für  das  Verständnis  Platons  wesentlich.    

1    Nach   dieser   Prämisse   sollen   nun   zwei   berühmte   thukydideische   Stellen  eingeführt   werden,   die   die   oben   vorgestellte   Problematik   verdeutlichen:  der   rhetorische   Epitaphios   des   Perikles   für   die   Gefallenen   des   ersten  Kriegsjahres   (431),   der   eigentlich   ein   Bild   des   demokratischen   Lebens  Athens   und   seines   Regierenden   bietet,   und   das   fiktive   Gespräch   über   das  Schicksal  der  Stadt  Melos  im  Jahre  416,  das  in  den  »entsetzlichen«  Melier-­‐Dialog   (so  nennt   ihn  Nietzsche)19  mündet.  Dieser  Dialog   enthält   eine   selt-­‐same  Dialektik,  weil  das  Ergebnis  von  Anfang  an  fest  steht:  entweder  Skla-­‐verei  oder  Ausrottung  der  Melier!  Und  trotzdem  haftet  den  beiden  sehr  ver-­‐schiedenen  Argumentationen  –  die  eine  der  Macht,  die  andere  der  Gerech-­‐tigkeit,  der  Moral  –  eine  tragische  Spannung  an.  Es  handelt  sich  um  zwei  

                                                                                                               19    F.  Nietzsche.  Werke,  W.  de  Gruyter,  Berlin,  IV/1,  6[32],  und  IV/2,  MA  I,  92:  »in  dem  furchtbaren  Gespräche«.  

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strittige  Stellen  –  beide  sind  spät  datierbar,  wahrscheinlich  später  als  404  v.  Chr.,  und  beide  sind  auf  sehr  verschiedene  Weise  interpretiert  worden.  Au-­‐ßerdem  fügt  sich  bei  dem  Historiker  Thukydides  jedes  Detail  in  ein  umfas-­‐senderes   Gewebe   ein,   das   letztlich   eine   Vollständigkeit   anstrebt,   die   aber  erst  durch  die  Kenntnis  des  gesamten  (wenn  auch  nicht  abgeschlossenen)  Werkes  deutlich  wird.  Grundsätzlich  besteht  die  Frage,  ob  Thukydides  eine  komplementäre  Rol-­‐

le  zu  Platon  spielen  kann.  Für  Nietzsche  ist  Thukydides  als  Gegenmittel  zum  Platonismus  und  zu  einer  zu  starken  Idealisierung  Platons  geeignet.20  Durch  Thukydides  erfahren  wir  konkrete  Details  über  die  Figuren  aus  der  zeit  des  peloponnesischen  Krieges  (wie  z.  B.  Perikles  und  Alkibiades),  die  auch  Pla-­‐ton  sehr  beschäftigen.  Platon  lässt  Trasymachos  im  ersten  Buch  des  Staates  und   Kallikles   im   Gorgias   Argumente   vortragen,   die   wir   schon   im   Melier-­‐Dialog  am  Werk  sehen.  Die   sophoí   und   die   ersten   Sophisten   (und   später   auch   noch   die   ersten  

Philosophen)   waren   vielseitig.   Solche   Vielseitigkeit   bezieht   sich   anschei-­‐nend   auf   etwas   ursprünglich   Einheitliches:   Privatleben,   politisches   Han-­‐deln,  Interesse  für  die  physischen  Phänomene  und  geistiges  Wirken  waren  bei  ihnen  nicht  so  klar  getrennt  wie  in  späterer  Zeit.  Beispiel  dafür  sind  So-­‐lon,   Gesetzgeber   und   Reisender   zugleich,   Parmenides,21   auch   als   physikós  bezeichnet,   Empedokles,   der   die   Macht,   die   ihm   die   Agrigenter   anbieten,  ablehnt,  oder  auch  der  schon  »aufgeklärte«  Anaxagoras  (der  Ratgeber  des  Perikles)  und  Protagoras.  Dennoch  leben  Thukydides  22  und  Platon  am  En-­‐de  dieser  Zeit,  und  ihre  Gedankenwelt  hat  vieles  gemeinsam.  Beide  leben  in  der  aufregenden  Welt  der  Sophistik:  Selten  ging  es  in  der  Geschichte  so  sehr  um   den   Menschen   wie   in   diesen   Jahrzehnten.   Nach   Protagoras   ist   der  Mensch  das  Maß  aller  Dinge  –  Protagoras  schrieb  auch  eine  Verfassung  für  die  Stadt  Thourioi  in  Süditalien  und  beschäftigte  sich  mit  dem  problem  des  Regierenden.  Der   Begriff   sophistés   hat   am   Anfang   nur   die   Bedeutung   von   „kenntnis-­‐

reich,  erfahren“.  Für  Herodot  23  bedeutet  sophistés  das  gleiche  wie  sophós  in    

                                                                                                               20    Vgl.  F.  Nietzsche,  Werke,  VI,  3:  Götzendämmerung,  2,  S.  150:  »Meine  Erholung,  meine  Vorliebe,  meine  Kur  vor  allem  Platonismus  war  zu   jeder  Zeit  Thukydides.  Thukydides  und  vielleicht  der  Principe  Machiavells  sind  mir  selber  am  meisten  verwandt  durch  den  unbedingten  Willen,  sich  nichts  vorzumachen  und  die  Vernunft  in  der  Realität  zu  sehen,  nicht  in  der  „Vernunft“,  noch  we-­‐niger  in  der  „Moral“…«  21    Auch  Parmenides  ist  anscheinend  gesetzgeberisch  tätig  gewesen.  (Diog.  Laert.  23)  22    Thukydides  wurde  um  460  oder  45  v.  Chr.  geboren  und  starb  nach  404  v.  Chr..  23    Apud  Aelius  Aristides,  II,  407,  Dindorf.  

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den   verschiedenen   Sphären,   von   der   Physik   bis   zur   Politik   und   zur   logi-­‐schen   Ausdrucksfähigkeit,   er   nennt   sowohl   Solon   als   auch   Pythagoras   so-­‐phistés.  Erst   in  den  Wolken  des  Aristophanes  (423),  und  später  in  den  pla-­‐tonischen  Dialogen   und   bei   Xenophon   und  Aristoteles,24   kommen   andere.  eher  negative  Merkmale  ans  Licht.25  Im  Jahre  427,  während  der  Große  Gor-­‐gias   aus   Leontinoi,   Dialektiker   und   Rhetoriker   zugleich,   der   auch,   wie  Zenon,  ein  Schüler  des  Parmenides  war,  Athen  besucht,  findet  in  der  Volks-­‐versammlung  die  Debatte  über  das  Schicksal  der  Mytilener  statt;  und  in  den  Worten,  die  Thukydides  dem  Kleon  bei  seiner  Rede  vor  der  Volksversamm-­‐lung   in  den  Mund   legt,  werden  die  Sophisten  auch  als  ästhetisierende  Sit-­‐tenverderber   erwähnt.   Die   Bürger   werden   apostrophiert   als   »Zuschauer  von   Reden   und   Zuhörer   von   Fakten«   und   als   »Bewunderer   von  Wander-­‐rednern  (sophistôn  theataîs  eoikótes)«.26  Viele   der   Sophisten   benutzen   eine   raffinierte   Rhetorik,   die   überzeugen  

will.   Sie   schreiben   auch   fiktive  Reden.   Sie   sind   von  der  Politik   beeinflusst  und   umgekehrt   beeinflussen   sie,   mit   ihren   Reden,   die   Politik.   Eines   der  größten  Probleme  des  Thukydides  ist  die  Frage,  ob  die  Fakten  (prágmata)  den  Reden  (lógoi)  entsprechen,  oder  nicht.  Thukydides  kritisiert  den  Miss-­‐brauch  der  Verführung  und  Überzeugungskraft,  andererseits  verwendet  er  rhetorische   Stilmittel   in   seinem   Werk.   Diesen   Zwiespalt   stellt   er   in   dem  ágon,  in  dem  Kleon  und  Diodotos  sich  um  die  Bestrafung  Mytilenes  streiten,  dar.  Manche   Sophisten  meistern   auch   die   ursprüngliche  Dialektik,   die   auf  die  Eleaten  zurückgeht  und  ganz  anders  ist  als  die  spätere  dialektische  Be-­‐lehrung   Platons.27   Diese   Art   des   Denkens   kann   sehr   aufrichtig,   skeptisch  und  kritisch  sein  und  absoluten  Werten,  Ideologien  und  falscher  Heuchelei    

                                                                                                               24    Xenoph.  Cyn.  13.8;  Aristoteles,  Soph.  el.  165  a21.  Vgl.  G.  Colli,  Gorgia  e  Parmenide,  posthum  erschienen,  Milano  2003,  S.  32.  25    Nach  M.   J.  Finley,  Das  politische  Leben   in  der  antiken  Welt,  München  1986,  S.  158,   ist  haupt-­‐sächlich  Platon  für  die  historische  Unwahrheit,  die  den  Sophisten  noch  heute  als  Makel  anhaftet,  verantwortlich.  26    Thuk.  3,  38.4-­‐7;  vgl.  auch  den  Prolog  der  Acharner  des  Aristophanes.    27    Vgl.  G.  Colli,  Zenone  di  Elea,  posthum  erschienen,  Milano  1998,  S.  2-­‐23,  S.  27  ff.  (über  antike  und   moderne   Dialektik,   z.   B.   über   Dialektik   bei   Aristoteles,   Fsn.   11,   S.   154),   und   Gorgia   e  Parmenide,  a.  a.  O.,  S.  21-­‐50.  Bei  Platon  betreffen  z.  B.  die  folgenden  Stellen  die  sophistische,  dia-­‐lektische  Rhetorik   über   die   synagogé   und  die  diaíresis:  Gorgias,   517a;  Phaidros   277b5-­‐c6,   und  Phaidros  265b3-­‐5.  J.  Jung  in  ihrem  Manuskript  Thukydides  und  die  Rhetorik  seiner  zeit  im  Melier-­‐Dialog,  Heidelberg  2003,  S.  15,  nennt  die  verschiedenen   tópoi,  die  man   in  der  Rhetorik  an  Ale-­‐xander  (IV.  Jh.  v.  Chr.)  und  in  Aristoteles,  vor  allem  in  seiner  Rhetorik,  wiederfindet.    

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gegenüber   befreiend   –   und   davon   hat   Thukydides   viel   aufgenommen.   So-­‐phisten   wie   Antiphon   sind   menschlich   und   psychologisch   sehr   subtil.   Er  versucht  mit  seiner  téchne  alypía  die  Schmerzen  der  Seele  zu  heilen.28  Die  Sophisten   haben   den   Göttern   gegenüber   im   allgemeinen   eine   agnostische  Position.  Einige  von   ihnen,  nicht  alle,  zeigen  einen  ethischen  Relativismus;  die  Relation   zwischen  physis  und  nómos   ist   ihr  permanentes  Problem;  die  physis   ist   an   sich   doppeldeutig,   und   es   hängt   davon   ab,  wie  man   sie   defi-­‐niert.   Sie   vertreten   auch   kühne   Thesen   über   die   physis   des   Menschen.  Thukydides  hat  einiges  mit  ihnen  gemeinsam,  vor  allem  in  den  Themen  und  im   Stil   seiner   Reden,   und   auch   Platon,   wie   gesagt,   lässt   Kallikles   und  Trasymachos29  –  die  er  trotz  allem  ernst  nimmt  –  diese  Thesen  vorführen.  Aber   das   verhältnis   beider   zu   den   Sophisten   ist   von   ganz   individueller  

Art.  Dasselbe  gilt   für   ihre   teilnahme  an  dem  moralisierenden  Prozess,  den  die  zäsur  des  Kriegsendes  im  politischen  denken  der  Besiegten  auslöste.    

2    Platon  ist  der  erste  Philosoph  im  eigentlichen  Sinne,30  während  Thukydides  und  Herodot   die   ersten   eigentlichen  Historiker   sind,   d.   h.   nicht   nur   Logo-­‐graphen  (und  das,  auch  wenn  Thukydides  nicht  das  Wort  Historie  benutzt,  sondern   xyngraphé   –   Aufzeichnung).   Beide,   Thukydides   und   Platon,   über-­‐geben  ihr  Werk  bewusst  der  Schrift,  für  ein  Publikum,  nicht  von  Zuhörern,  sondern  von  Lesern,  und  das  trotz  der  berühmten  Klage  Platons  gegen  die  Schrift.31  Beide  stellen  sich  uns  als  Literaten  vor  und  in  diesem  Sinne  kann    

                                                                                                               28    W.  D.  Furley,  »Antiphon  der  Athener:  ein  Sophist  als  Psychotherapeut«.  Rheinisches  Museum  für  Klassische  Philologie,  135,  1992,  S.  198-­‐216.  29    Kallikles   ist  eine  der  Hauptfigurenm  im  Gorgias,  vgl.  481c  ff..   In  482e-­‐484  wird  die  Relation  zwischen  physis   und  nómos   debattiert.   Trasymachos   spielt   eine  wichtige  Rolle   im  ersten  Buch  des   Staates.   Platon   bezeichnet   seine   techné   als   sehr   raffiniert,   aber   er   kritisiert   sie   (Phaidros  269d).  Trasymachos  ist  mit  Sicherheit  eine  historische  Figur  (Aristoteles,  Soph.  el.  183  b34).      30    Im  ersten  teil  der  Politeía  (Buch  VI)  zeigt  sich  Platon  der  angeblichen  ethisch-­‐philosophischen  Spekulation  des  Sokrates  näher,  während  er  im  zweiten  Teil  eher  kontemplative  Eigenschaften,  des  Philosophemn,  der  als  Liebender  der  sophía  definiert  wird,  aufweist.  31    Platon,  Phaídros  274e-­‐276b;  Siebter  Brief,  344c-­‐d.  In  seinen  schriftlich  fixierten  exoterischen  Dialogen  stellt  platon  die  verschiedenen  Weltanschauungen  seiner  weisen  Vorläufer  der  Öffent-­‐lichkeit   vor,  während   er,   anders   als   Aristoteles,   dem   gesprochenen  Wort   die   esoterischen   ge-­‐spräche  unter  Freunden  anvertraut.  Vgl.  G.  W.  Most,  »Pltons  exoterische  Mythen«,  S.  15,   in:  M.  Janka  und  C.  Schäfer  (Hrsg.),  Platon  als  Mythologe.  Darmstadt  2002.  

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sich  jeder  von  uns  zu  ihnen  –  durch  ihre  Schriften  –  noch  einen  eigenen  Be-­‐zug  verschaffen.  Dennoch  ist  das,  was  sie  am  meisten  verbindet  gerade  das  politische  Element.32  Beide  liebten,  zumindest  in  ihrer  Jugend,  das  menschliche  Tun  in  der  em-­‐

pirischen  Welt,   in   der   gegebenen  Realität.   Auch   Sokrates   hatte   prinzipiell  nichts   gegen   das   politische  Handeln   der   jungen   Leute.33   Erst   später,   nach  seinem   Tode,   beginnt   von   Seiten   der   Sokratiker   die   Bemühung   um   seine  totale  Entpolitisierung;  und  seine  Freundschaft  mit  Kritias  und  Alkibiades,  die   teilweise   dämonisiert   wurden,   spielte   dabei   sicherlich   eine   Rolle.   Am  Anfang  des  Siebten  Briefes  34  erzählt  Platon  in  seinen  alten  Jahren  von  sich,  als   er   noch   jung   und   voll   unmittelbaren   Selbstvertrauens   war,   und   das  drückt  er  so  aus:  »Als  ich  noch  jung  war,  ging  es  mir,  wie  es  wirklich  vielen  zu  gehen  pflegt:  Ich  glaubte,  ich  würde  mich,  sobald  ich  volljährig  geworden  sei,  sofort  auf  die  Politik  werfen«.  Auch  als  der  aristokratische  Kritias,  Pla-­‐tons  Onkel,   am  Ende  des  Krieges  mit   den  Dreißig  Tyrannen   an  die  Macht  kam,  war  Platon  immer  noch  voller  Hoffnung:  »Darum  verfolgte  ich  ihr  Tun  mit  gespannter  Aufmerksamkeit«.  (Platon,  7.  Brief,  324d)    Und  auch  nach  der  Einführung  der  neuen  Demokratie  kann  man  in  dem  

Dialog  Protagoras   eine   gewisse   Selbstsicherheit   der   Praxis   gegenüber   er-­‐kennen.  Erst  die  Verurteilung  des  Sokrates  zum  Tode  (300  v.  Chr.)  gab  ihm  mehr  zu  denken:  »Als  ich  die  politischen  Menschen  und  die  Gesetze  erkann-­‐te,   kam   es  mir   um   so   schwieriger   vor,   ein   Staatswesen   richtig   zu   führen.  Denn  ohne  Freunde  und  zuverlässige  Mitarbeiter  schien  mir  dies  unmöglich  zu  sein«.  So  kam  er  zu  dem  Schluss,  dass  nur  die  Gerechtigkeit  und  die  Phi-­‐losophie   dabei   helfen   können:   daher   sollen   entweder   die   Philosophen   zu  politischen  regierenden  werden,  oder  die  regierenden  zu  Philosophen!  (Pla-­‐ton,  7.  Brief,  326a-­‐b)  Dann  folgen  alle  seine  reisen,  Sizilien  –  wo  noch  weise    

                                                                                                               32    Für  J.  P.  Vermant,  Die  Entstehung  des  griechischen  Denkens,  Frankfurt  a.  M.  1982,  vor  allem  S.  132-­‐135,   ist  das  politische  Handeln  schon  sehr  früh  die  hauptsächliche  Arena  des  griechischen  Denkens.  33    In  Platons  Gorgias,  521d,  bezeichnet  sich  Sokrates  als  den  einzig  möglichen  »Politiker«  unter  den  Athenern.      34    Zur  Authentizität  und  Bedeutung  des  7.  Briefes  vgl.  G.  Colli,  »Lo  sviluppo  del  pensiero  politico  di  Platone«,  in:  Nuova  Rivista  Storica  XXIII,  1939,  p.  169-­‐192;  K.  v.  Fritz,  Platon  in  Sizilien,  Berlin  1968,  S.  35-­‐62;  H.-­‐G.  Gadamer,  »Platos  Denken  in  Utopien«,  in:  Wege  zu  Plato,  Stuttgart  2001,  S.  106  ff.,  auch  in:  Gesammelte  Werke,  Bd.  7,  Mohr  (Siebeck),  Tübingen  1991,  S.  278  f..  

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Menschen,   meist   in   der   pythagoräischen   Tradition,   einige   wenige   Städte  regieren  –,  seine  erzieherischen  Bemühungen  um  die  mächtigen  Tyrannen  in  Syrakus,  die  Suche  nach  dem  aufgeklärten  Monarchen,  die  Gründung  der  Akademie  in  Athen:  Enttäuschungen  und  immer  wieder  der  Mut  von  Neuem  anzufangen,  bis  er  schließlich  in  den  Nómoi  nicht  mehr  an  die  »Ideen«,  son-­‐dern  wieder  an  die  Tradition  der  alten  Götter,  Gesetze  und  Bräuche  und  an  den  Gott  mit  dem  goldenen  faden  anknüpft.35  Einen   analogen  Prozess  weist  Thukydides   als   typisch   für   die  Menschen  

nach:  Er  stellt  fest,  dass  den  Menschen  eben  das  immer  am  wichtigsten  er-­‐scheint,  was  sie   im  Augenblick  erleben  (in  diesem  Fall:  der  Krieg),  um  da-­‐nach  wieder  die  Vergangenheit  zu  bewundern.  (I,  21.2)    

3    

Die   ersten   Worte   im   Werk   des   Thukydides   drücken   jedenfalls   noch   ein  starkes   jugendliches   Selbstbewusstsein   aus:   »Thukydides   aus   Athen   hat  den   Krieg   zwischen   den   Peloponnesiern   und   den   Athenern   beschrieben,  wie   sie   ihn   gegeneinander   geführt   haben.   Er   hat   damit   gleich   bei   seinem  Ausbruch   angefangen   in   der   Erwartung,   er  werde   größer   sein   und   denk-­‐würdiger  als  alle  vorangegangenen«.  (Thuk.  1,  1)  Geboren   in   eine   konservative   Familie,   der   auch   Kimon   angehört,   aber  

Bewunderer  des  Perikles,  handelt  Thukydides  früh,  wird  Stratege,  und  ver-­‐folgt  dann,  seit  424  im  Exil,  die  Handlung  aus  der  Ferne.36  Er  will  das  politi-­‐sche  Handeln   in  der  Geschichte  erkennen  und  die  menschliche  Natur  ver-­‐stehen,  Platon  dagegen  die  menschliche  Seele,  und,  trotz  seiner  philosophi-­‐schen  Distanz,  mit   der   Erziehung   zur   Gerechtigkeit,   zum  Guten   –  mit   der  paideía  –  auf  das  Politische  wirken.  der  Historiker  bleibt   in  der  Immanenz  der   dóxa   und   sucht   dort   die   Wahrheit:   Die   Realität   ist   nicht   etwas,   das  schon  a  priori  gegeben  ist  –  man  soll  sie  erschließen,  ergründen,  und  auch  das  kann  –  auch  bei  dem  Historiker  –  fast  »metaphysische«  Züge  aufdecken.      

 

                                                                                                               35    Vgl.  Nómoi,  644d-­‐645c:  Der  Mensch  wird  hier  metaphorisch  wie  eine  Drahtpuppe  in  der  Hand  des  Gottes  gesehen.  Er  wird  von  verschiedenen  Fäden  hin  und  her  gerissen.  Aber  der  göttliche,  goldene  Faden  ist  der  einzige,  dem  der  Mensch  nachgeben  soll.  36    Es  wird  von  den  meisten  Kritikern  angenommen,  dass  Thukydides  erst  nach  Ende  des  Krieges  (404  v.   Chr.)   nach  Athen   zurückgekehrt   sei.   L.   Canfora   liefert   in   vielen   seiner   Schriften   starke  Argumente  für  eine  frühere  Rückkehr  des  Thukydides  (411  v.  Chr.).  Er  stützt  sich  dabei  auf  ein  Zeugnis  des  Aristoteles.  Vgl.  L.  Canfora,  Il  mistero  di  Tucidide.  Milano  1992,  S.  38.  

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Schließlich  verbindet  die  beiden  auch  der  künstlerische  Ausdruck.  Beide  polemisieren  gegen  die  Dichter,37   aber   sie  wirken  selbst  als  Künstler:  Pla-­‐ton,  wenn  er  seine  Gedanken  inszeniert,  wenn  er  neue  allegorische  Mythen  erfindet   oder   Weltanschauungen   anderer   Denker   (sophoí)   präsentiert,  Thukydides,  wenn  er  den  krieg,  die  kínesis  (Aufruhr)  mit  Mitteln  der  Tragö-­‐die  plastisch  in  Szene  setzt.  Edgar  Wind  meint,38  dass  Platons  Schriften,  ge-­‐rade  wegen   ihrer  Kunst,  allen  versuchen,   sie  als  System  zu   interpretieren,  widerstanden   haben.   Teil   dieser   künstlerischen,   dichterischen   Natur   ist  auch  das  gewicht,  das  Platon  in  seinen  noch  jugendlichen  Dialogen,  vor  al-­‐lem  im  Symposion  und  im  Phaídros,  dem  erotischen  Element  und  der  göttli-­‐chen   Inspiration   beimisst.39   Eros   schlägt   eine   Brücke   über   die   Kluft   zwi-­‐schen  real  und  Ideal.  Aber  weder  Platon,  noch  Thukydides  haben  einen  unmittelbaren,  »politi-­‐

schen«  Erfolg.  Das  Werk  des  Thukydides  wird  zwar  von  Xenophon  und  Kra-­‐tippos  fortgesetzt,  er  wird  aber  eher  für  seinen  Stil  geschätzt,  und  auch  die  lateinischen   Historiker   schätzen   ihn   später   hauptsächlich   dafür.   Aus   Pla-­‐tons  Akademie  gingen  eher  Wissenschaftler  als  echte  Politiker  hervor.  es  ist  wahr,   auch   das   vielschichtige   Denken   selbst   kann   eine   »Realität«   entwi-­‐ckeln,  und  die  Akademie  hat  ein  langes  Leben  gehabt,  aber  die  Unmittelbar-­‐keit   des   Handelns  wird   immer  mehr   zur   Illusion:   Im  Mittelalter  wird   die  Philosophie  oft  als  eine  nachdenkliche,  alleinstehende  Frau  dargestellt.  Ma-­‐chiavelli   ist  der  erste,  der  die  gedankenlinie  des  Thukydides   in   ihrer  Sub-­‐stanz  wieder   aufnimmt.   Auf   einer   ähnlichen   Linie   stehen  Hobbes,   Clause-­‐witz  und  Ranke.    

4    

Wenn  wir  mehr  ins  Detail  gehen,  finden  wir  auch  gemeinsame  Themen,  wie  z.  B.  das  Naturgesetz  des  Stärkeren.  (In  den  Thesen  des  Kallikles  ist  wahr-­‐scheinlich  eine  gedankliche  Gemeinschaft  mit  Alkibiades  zu  sehen,  während  die  Argumente  der  Athener  auf  melos  anonym  bleiben.)  Die  Natur  des  Stär-­‐keren  behauptet  sich,  als  ob  sie  ein  Gesetz  wäre.  Physis  bekommt  im  Laufe  

                                                                                                               37    Thuk  I,  21.1;  Platon,  Staat,  Buch  2,  376e-­‐383c  und,  mit  entfremdenden  Tönen,  Buch  10,  602c-­‐608b.  38    E.  Wind,  L’eloquenza  dei  simboli  (The  Eloquence  of  Symbols:  Studies  of  Humanist  Art),  it.  Übers.  von  E.  Colli,  Milano  1992,  p.  9-­‐37.    39     Im  Phaídros,   265b-­‐c,   redet  Sokrates  von  vier  Formen  der  göttlichen  manía:  die  apollinisch-­‐prophetische,  die  dionysisch-­‐mysterische,  die  poetische  (die  Musen)  und  die  erotische  (Eros  und  Aphrodite).  

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des   Peloponnesischen  Krieges   eine   einseitige  Bedeutung:   sie  wird   zu   blo-­‐ßem   Egoismus,   Durchsetzung   von   Gewalt,   und   das   vor   allem   wegen   der  Zwänge,  die  sich  aus  der  Außenpolitik  ergeben.  In  der  perikleischen  Grab-­‐rede   scheint  noch  Hochachtung  vor  den  Gesetzen  zu  herrschen,   vor  allem  was   das   Leben   der   Stadt   anbelangt.   »Gut«   und   »Böse«   sind   dann   in   den  Menschen  nicht  so  weit  auseinander:  Man  denke  an  die  berühmte  Chorpar-­‐tie  des  Sophokles:  »Nichts  ist  so  ungeheuer  wie  der  Mensch.  In  dem  Erfin-­‐derischen   der   Kunst   eine   nie   erhoffte   Gewalt   besitzend,   schreitet   er   bald  zum  Bösen,  bald  zum  Guten.«  40  Das  andere  gemeinsame  Thema  ist  der  Staatsmann,  der  regierende  in  ei-­‐

nem  Staat.  Im  8.Buch  der  Politeía  und  vor  allem  im  Politikós  beschäftigt  sich  Platon   damit:   Er   spricht   von   der  Herde   und   vom  Hirten,   vom  Arzt   u.s.w..  Das  Urteil  Platons  über  Perikles  ist  nicht  immer  gleich,  und  manchmal,  wie  im  Gorgias,  sehr  negativ,  während  Thukydides  in  Perikles  einen  echten  re-­‐gierenden  sieht,  der  mitten  in  den  Wellen  des  Geschehens  und  in  der  masse  fest   (asphalés)   bleibt   und   sein   demokratisches   Athen   darstellt.   Wenn  Thukydides  explizit   im  eigenen  Namen  darüber  spricht,  sagt  er:  »Dem  Na-­‐men  nach  gab  es  in  Athen  eine  Demokratie,  aber  tatsächlich  lag  die  Macht  in  den  Händen  des  ersten  Bürgers  (prótos  anér)«.  (Thuk.  2,  65.9-­‐10)  Und  ein  weiteres  Detail:  Es  gibt  noch  Platons  Menéxenos,   der  eine   frap-­‐

pierende  Nähe   zur  perikleischen  Grabrede  des  Thukydides   zeigt.41   In  die-­‐sem   Dialog   –   die   Gradation   der   sokratischen   Ironie   ist   hier   besonders  schwer  abzuschätzen  –   lässt  Platon  den  Sokrates  eine  Grabrede  sprechen,  die  von  Aspasia  suggeriert  wurde.  Diese  Rede  spielt  direkt  auf  Thukydides’  Epitaphios  und  das  demokratische  Athen  an,  gibt  davon  auch  eine  eigene,  eher  aristokratische  Interpretation,  und  setzt  sich  mit  der  Problematik  des  Urteils  über  die  Politik  des  Perikles  auseinander,  die  im  Laufe  der  Jahrzehn-­‐te,  vor  allem  nach  dem  Krieg  immer  wieder,  mehr  oder  weniger  versteckt  

                                                                                                               40     Sophokles,  Antigone,   332.   Vgl.   die  Grabrede   des   Perikles,   Thuk.   2,   41,4:   »…  Nein,   zu   jedem  Meer  und  Land  haben  wir  uns  durch  unseren  Wagemut  Zutritt  verschafft,  überall  haben  wir  mit  unseren  Siedlungen  unvergängliche  Denkmäler  unseres  Wirkens  im  Bösen  wie  im  Guten  hinter-­‐lassen  (mnemeîa  kakôn  te  kaí  agathôn  oídia)«.  So  liest  auch  F.  Nietzsche:  »im  Guten  und  Schlim-­‐men«.  Vgl.  Nietzsche,  Werke  VI,  2,  Zur  Genealogie  der  Moral,  1.  Abh.,  11,  S.  289.  Es  gibt  aber  auch  andere  Lesarten  dieser  Stelle,  vgl.  L.  Canfora,  Il  dialogo  dei  Melii  e  degli  Ateniesi,  Venezia  1991,  S.  11  ff..    41    Platon,  Menéxenos  (238c-­‐d).  Platon  gilt  bekanntlich,  viel  mehr  als  Thukydides,  als  ein  Gegner  der  Demokratie  und  ihrer  historischen  Erscheinungen.  Vgl.  I.  Labriola,  »Tucidide  e  Platone  sulla  democrazia  ateniese«.  Quaderni  di  Storia  VI.  Bari  1990,  und  K.  Popper  a.  a.  O..  

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hochkam.42   In   dem   platonischen   Dialog   wird   der   peloponnesische   Krieg  sehr  oberflächlich  und  nicht  als  eine  Einheit  betrachtet,  und  die  vergangene  herrschaftspolitik  Athens  wird  a   posteriori   gerechtfertigt.   Außerdem  wird  explizit  auch  ein  anderer  Epitaphienschreiber  erwähnt,  der  Schüler  des  An-­‐tiphon,  das  heißt:  Thukydides!  Also  kannte  Platon  Thukydides’  Werk,  auch  wenn  er  es  nie  explizit  zugibt  (wie  übrigens  auch  Aristoteles,  zum  Beispiel  in  der  berühmten  Stelle  der  Poetik,  1451a36-­‐b32,  in  der  von  Dichtung  und  Geschichte  die  Rede   ist).   Es   ist   immer  die  Art  der   antiken  Autoren,  mitei-­‐nander  zu  wetteifern,  ohne  es  direkt  zu  sagen  –  so  Platon  mit  Thukydides,  und  genau  so  auch  Thukydides  mit  Herodot.      

5    Es   wird   überliefert,   dass   Thukydides   während   der   beliebten   öffentlichen  Lesung   des  Herodot   in   Tränen   ausgebrochen   sei.43   –   Von  Anfang   an   setzt  sich  Thukydides  von  Herodot  und   seiner  Methode  ab  und  erklärt,   dass   er  die   mythische,   fabulierende   Darstellungsweise   –   tó   mythodés   –   niemals  verwenden  wird  (Thuk.  1,  22.4),  während  Herodot  noch  an  die  mythischen  Strukturen  des  Epos  gebunden  ist.  Herodot  glaubt  an  die  traditionellen  Göt-­‐ter,   ist  sehr   interessiert  an  fremden  Religionen,  zeigt  eine  archaische,  pes-­‐simistische  Weltauffassung,  nimmt  Apollon  und  das  delphische  Orakel  sehr  ernst,  ohne  aber  dabei  rationalistische  Argumente  zu  vernachlässigen:  Auch  er  benutzt  die  Reden  –  die  sicher  nicht  so  komplex  wie  die  des  Thukydides  sind  –  als  Stilmittel,  sucht  nach  Gründen  und  verwendet  Analogieschlüsse.  Thukydides   bleibt   agnostisch,  was   die   Götter   betrifft,   er   spricht   auch   von  Orakeln,   aber   eher   im  Hinblick   auf   ihre  möglichen  Konsequenzen   für   das  politische   Geschehen.   Das   delphische   Orakel   nimmt   jedoch   auch   er   im  Grunde  ernst.  Und  auch  seine  Art,  die  Vergangenheit  zu  untersuchenum  ei-­‐ne  Prognose   für  die  Zukunft  zu  gewinnen,  hat   irgendwie  etwas  Orakelhaf-­‐tes.  Herodot   steht   der  mündlichen  Tradition   noch   nahe.   Zu   Lebzeiten   hatte  

er,   wie   andere   Logographen   auch,   eine   unmittelbare,   breite   Hörerschaft,  und  wahrscheinlich   sind   seine  Schriften  erst  nach   seinem  Tode  veröffent-­‐licht  und  überliefert  worden.  Thukydides  dagegen  hat  auf  ein  so  breites    

                                                                                                               42    Das  historische  Resumé  über  die  Außenpolitik  der  zweiten  Hälfte  des  5.  Jh.  scheint  mehr  von  der   neoimperialistischen   Propaganda   des   Isokrates   als   von   Thukydides’   Werk   beeinflusst   zu  sein.  43    Marcellinus,  Leben  des  Thukydides,  54.  

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Publikum   anscheinend   ziemlich   bald   verzichtet.   Mit   Stolz   meint   er,   sein  Werk  sei  kein  Wettkampf  für  den  Augenblick  (agónisma  ès  tò  parachréma:  1,  22.4),  und  sein  Besitz  (ktéma),  den  er  schließlich  den  Lesern  anvertraut,  sei  für  die  Ewigkeit.  In  Herodots  Stil   spürt  man  die   ionische  Erzählkunst,  während  Thukydi-­‐

des  sich  einerseits  der  sophistischen  Rhetorik  bedient,  meistens  für  die  Re-­‐den,  andererseits  einer  schwierigen,  dichten  und  manchmal  wie  gebroche-­‐nen  Prosa.  Oft  kommt  er  auf  einen  Satz  zurück,  als  wollte  er   ihn  zerlegen.  All   das   aus   der   Unmöglichkeit   heraus,   die   ganze   Vielfalt   der  Wirklichkeit  auszudrücken  und  darzustellen.  Thukydides  hat  länger  als  fünfundzwanzig  Jahre  an  seinem  unvollendet  gebliebenen  Werk  gearbeitet.  daher  auch  seine  Vielschichtigkeit.  Das  geistige  Hinterland  der  beiden  ist  sehr  verschieden.  Herodot  knüpft  

an  den  ionischen  Geist,  und  erst  während  seines  Exils  trifft  er  auf  die  Welt  Athens  in  ihrer  Blüte.  Im  Jahr  444  ist  er  Bürger  der  panhellenischen  Kolonie  Thouroi  und  kennt  den  perikleischen  Kreis.  Er  gibt  uns  ein  Bild  der  orienta-­‐lischen  Welt  und  zeigt,  wie  viel  die  Hellenen  dieser  Welt  schuldig  sind.  Er  ist  ein  Reisender  (von  Ägypten  bis  zum  Skytenland),  ein  Ethnologe.   In  seinen  Historien  ist  der  Perserkrieg  nur  die  Spitze  eines  Eisbergs  mit  weit  ausge-­‐dehnter  Basis.   Insofern   ist   es   eher  Herodot,   der  die   europäische  Historio-­‐graphie  begründet.    

6    

Thukydides  dagegen  ist  an  die  athenische  Welt  gebunden.  Sein  Feld  ist  eng:  Es  beschränkt  sich  auf  das  politische  Geschehen  (kínesis),  das  der  Pelopon-­‐nesische  Krieg  verursacht  hat.  Er  glaubt  hier  den  Schlüssel  zum  Verständnis  all  der  Phänomene  zu  finden,  die  sich  beim  Umgang  der  menschlichen  Na-­‐tur  (tó  anthrópinon)  mit  der  Macht  (dynamis)  einstellen.  Und  das  schon  am  Anfang  seines  Werkes,  in  der  »Archäologie«,  in  der  Thukydides  die  Indizien  (tekméria)  der  Vergangenheit  untersucht:  Nicht  Helena,  sondern  die  große  Macht  des  Agamemnon  war  der  Grund  des  Trojanischen  Krieges!  44  Er   sieht   alles   aus   der   Nähe,   geht   in   die   Tiefe   mit   einer   Intensität,   die  

manchmal  an  Heraklit  erinnert,  sucht  die  versteckten  Kräfte,  die  unsichtba-­‐ren  psychologischen  Gründe,  die  in  den  Leidenschaften,  in  den  Urtrieben    

                                                                                                               44    Thuk.  1,  8.3-­‐4.  Und  noch  wichtiger,  auch  für  einen  Vergleich  mit  Melos,  ist  die  Stelle  der  »Ar-­‐chäologie«  (Thuk.  1,  8.4):  »Um  des  Vorteils  willen  ertrugen  die  Schwächeren  die  politische  Ab-­‐hängigkeit  von  den  Stärkeren…«.  

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 ihren  Ursprung  haben  –  das  sind  die  orgaí,  wie  Furcht  (phóbos),  Egoismus  (pleonexía),   Ehrgeiz   (philotimía),   Hoffnung   (elpís),   und   Verlangen   (éros),  und   zugleich   die   rationalen   Prinzipien,   die   das  menschliche   Verhalten   re-­‐geln:  Mehr  als  dreihundert  mal  benutzt  er  das  Wort  gnóme  (ratio).  Er  ist  oft  als  Realist,   als  Wissenschaftler   gesehen  worden.  Aber  was   für   einer?  Man  darf   ihn   nicht   zu   positivistisch   interpretieren:   Er  weiß   selbst,   dass   es   un-­‐möglich  ist,  das  geschehen  zu  erfassen,  »wie  es  wirklich  gewesen  ist«.45  Ma-­‐chiavelli   hat   ihn  aus   lateinischen  Übersetzungen  gekannt.  Hobbes,  der  die  naturwissenschaftlichen   Gesetze   auf   das   menschliche   Handeln   anwenden  wollte,  hat   ihn  übersetzt  und  sehr  geschätzt.  Seltsamerweise   ist  diese  spä-­‐tere  politisch-­‐anthropologische  Linie  oft  als  »modern«  bezeichnet  worden,  wahrscheinlich  im  Gegensatz  zu  der  »klassischen«  von  Platon  und  Aristote-­‐les.  Aber  Thukydides  war  schon  früher  »modern«.  Thukydides,  es  ist  wahr,  deckt  schon  eine  gewisse  Notwendigkeit  in  den  

historischen   Prozessen   auf,   aber   er   wird   nie   apodiktisch.   Seine   Methode  steht  der  dialektischen,  empirischen  Methode  einiger  Sophisten,  und  auch  einiger  Denker  wie  Anaxagoras  und  Demokrit  (der  so  genannten  physikoí)  und   der   medizinischen   Schule   des   Hippokrates   näher.   Er   betrachtet   und  analysiert  Athens  kínesis  wie  eine  Krankheit.46   In  der  Episode  der  Pest   (2,  50)  ist  es,  als  ob  die  Pest  ein  Symbol  darstellen  würde:  Thukydides  benutzt  das  Wort  »eídos«,  und  gleich  danach  »idéa«  (2,  51).  Die  Tatsache,  dass  auch  Platon,  auf  seiner  Suche  nach  der  »Idee«,  solche  Begriffe  benutzt,  zeigt,  wie  komplex  im  5.  Jahrhundert  das  Methodenproblem  war.47  Jedenfalls   steht   das   Denken   des   Thukydides   seinem   Wesen   nach   den  

physikoí   (die   auch   zu   den   sophoí   zu   zählen   sind)   am   nächsten.   Von  Anaxagoras,   der   anscheinend  Kontakte  mit   anderen  physikoí,   z.B.  mir  De-­‐mokrit,    

                                                                                                               45    Berühmter  Satz  von  L.  von  Ranke.  46    Allerdings  entlud  sich  für  die  medizinische  Schule,  anders  als  für  Thukydides,  der  Impuls  zur  Erkenntnis  in  die  Therapie.  Lukrez,  der  an  der  epikureischen  Philosophie  anknüpft,  beendet  sein  Werk  De  rerum  natura  (Ende  des  6.  Buches)  mit  einem  erschreckenden  und  grandiosen  Bild  der  Pest,  das  klarer  Weise  auf  Thukydides  zurückgeht.  47  In  diesem  Punkt  zeigt  E.  Voegelin  interessante  Parallelen  zu  Platon  auf:  »Wenn  die  Methode  von   Thukydides   –   die   auch   eng  mit   der   sophistischen   Psychologie   verwandt  war   –   zur   Suche  nach  dem  eídos  oder  der  idéa  führen  konnte,  muss  Platons  Suche  nach  der  Idee  der  empirischen  Methode  der  Sophisten  mehr  verdankt  haben,  als  gemeinhin  zugegeben  wird.«  Aus:  E.  Voegelin,  Die  Welt  der  Polis,  Kap.  7:  »Macht  und  Gecshichte«.  Übers.  G.  v.  Sievers-­‐Sattler,  München  2005,  S.  209-­‐256.  

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und  auch  mit  Zenon  hatte,  48  stammt  der  Satz:  »Sicht  des  Nicht-­‐offenbaren:  das   Erscheinende«   49   –   und   Demokrit   bemerkt:   »Es   gibt   überhaupt   keine  Wahrheit,   oder   sie   ist   uns   verborgen.«   50   Dieses   Pathos   des   Verborgenen  war   auch   Thukydides   eigen.   In   diesem   Sinne   meint   er,   die   alethéstate  próphasis,  die  wahrste  und  am  wenigsten  offensichtliche  Ursache  des  Krie-­‐ges,   sei   die   Furcht   Spartas   vor   der   Machtergreifung   Athens   gewesen.   (1,  23.6)  51  Thukydides  folgt  den  Ereignissen,  den  Kriegsjahren,  eins  nach  dem  ande-­‐

ren,  wie  ein  Chronist.  Hegel  sieht  sowohl  Herodot  als  auch  Thukydides  als  Vertreter   der   »Ursprünglichen   Geschichtsschreibung«.   Vielleicht   denkt   er  an  die  aristotelische  Stelle  über  Geschichte  und  Poesie,   in  welcher  der  Ge-­‐schichtsschreiber  das  Wirkliche  mitteilt,  der  Dichter  dagegen  das  Mögliche.  Aber  für  die  Reden  des  Thukydides  ist  die  Sache  deutlich  komplexer.52    

7    Gleich  zu  Anfang  erklärt  Herodot  seine  Absicht,  während  Thukydides  sie  an  vielen   Stellen   verstreut.   So   beginnt   Herodot:   »Dies   ist   die   Darlegung   der  Nachforschung   (historíes   apódeixis)   des   Herodot   von   Halikarnassos,   die  dem   Zweck   dienen   soll,   dass   die   Geschehnisse   unter   den   Menschen  (genómena   ex   antrópon)   nicht  mit   der   vergehenden   Zeit   in   Vergessenheit  geraten,  große  und  bewundernswerte  Leistungen,  mögen  sie  von  Hellenen  oder  Nicht-­‐Hellenen   (bárbaroi)   vollbracht   sein,   nicht   ohne  Ruhm  bleiben;  und  vor  allem  soll  gezeigt  werden,  aus  welchem  Grunde  (aitíen)  sie  mitei-­‐nander  Krieg   führten«  (Hdt.  1,  1).  Der  Krieg  des  Herodot   ist  der  Krieg  der  Menschheit,   nur   zum   Schluss  wird   er   der   Perserkrieg.   Herodot   glaubt   an  das   Göttliche   in   der   Geschichte.   So   drückt   er   sich   über   den   lauf   der   Ge-­‐schichte  aus  –  die  rota  fortunae:  »Alles  Menschliche  vollzieht  sich  im  Kreis-­‐lauf.  Es  

                                                                                                               48    H.  Diels,  Die  Fragmente  der  Vorsokratiker,  Hamburg  1957:  Anaxagoras’  Lehre.  S.  85  und  fr.  3,  S.  86.  Auch:  Demokrit,  Physik,  Schriften,  fr.  5,  S.  100.  49    H.  Diels,  Die  Fragmente  der  Vorsokratiker,  hrsg.  von  W.  Kranz,  3  Bde.,  VIII  Aufl.,  Berlin  1956:  DK,  59,  B  21a.  50    Aristoteles,  Metaph.  1009  b.  51    Próphasis  ist  ein  Wort  mit  mehreren  Bedeutungen  –  es  heißt  Grund,  Vorwand,  und  auch  Weis-­‐sagung.  52    Aristoteles,  Poetik,  1451  b.  Thukydides  gelingt  vielmehr  eine  Art  Synthese,  da  er  das  ganze  Werk  hindurch  die   besondere   individuelle   Situation   auf   das  Allgemein-­‐Typische  hin   transzen-­‐diert   und   somit   eine   »neue   Art   der   dichterischen,   aber   unerdichteten   Geschichtsschreibung  schafft«.  Vgl.  J.  Jung,  a.  a.  O.,  S.  5.  

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 wandert   herum   und   duldet   nicht,   dass   immer   die   Selben   glücklich   leben  (eutucheín)«   (1,   207.2).   Und   als   eine   Art   Beweis   der   »pessimistischen   le-­‐bensphilosophie«  lässt  herodot  Solon  dem  Kroisos  erklären:  »Wo  ich  doch  weiß,  dass  das  ganze  göttliche  Walten  neidisch  und  unbeständig   ist,   fragst  du  mich  nach  menschlichen  Dingen...?«  (1,  32.1).  Thukydides  will  dagegen,  in  der  menschlichen  Sphäre  bleibend,  gerade  das  menschliche  bestimmen.  Auch  ihre  Methoden,  das  material  zu  sammeln  sind  verschieden:  Herodot  

unterscheidet   nicht   zwischen   den   wirklichen   Dingen   und   der   Rede   von  denselben.   Er   nimmt   sich   vor,   das   ihm   Berichtete   zu   berichten   (légein   ta  legómena),  auch  wenn  er  nicht  alles,  was  er  erzählt,  unbedingt  glaubt.53  Ge-­‐legentlich  stellt  er  mehrere  Versionen  eines  Ereignisses  vor.  Sowohl  Hero-­‐dot   als   auch   Thukydides   greifen   eher   auf   mündliche   als   auf   schriftliche  Quellen  zurück.  Thukydides  zeigt  eine  große  Akribie  im  Sammeln  des  Mate-­‐rials:  Er   sagt,   er  will  nur  behandeln,  was  er   selbst  gesehen  hat   (autopsía),  oder   worüber   er   Augenzeugenberichte   einholen   und   eingehend   prüfen  konnte.  Dabei   ist   ihm  bewusst,  dass  eine  vollständige  Objektivität  niemals  zu  erreichen   ist.  Aber  seine  Methode  bleibt  gültig.  Außerdem  trifft  er  eine  Auswahl   des   Materials   nach   seinem   eigenen   Urteil.   Er   ist   der   wahre   Be-­‐gründer  der  kritischen  Geschichtsschreibung.  Die  Taten,  die  Tatsachen,  meint  er,  sind  wahrhaftiger  als  die  Reden.  Die  

Reden  geben  nur  das  Wahrscheinliche  wieder:  das,  was  hätte  gesagt  wer-­‐den  sollen,  tà  déonta  (1,  22.1),  auch  wenn  in  möglichst  engem  Anschluss  an  den  Gesamtsinn  des   in  Wirklichkeit  Gesagten  (tà  alethôs   lechthénton).  Das  bedeutet  auch,  dass  er  in  den  Reden  seine  eigene  Sicht  zum  Ausdruck  brin-­‐gen  kann.  Selten  gibt  er  expressis  verbis  eigene  Urteile  ab.  Thukydides  will  nicht  unbedingt  große  Taten  vor  dem  Zahn  der  Zeit   retten,  oder  die  Men-­‐schen  ändern.  Er   ist   fest  davon  überzeugt,  dass  die  zeit,  die  er  erlebt,  von  großer   Bedeutung   sei,   weil   hier   zwei   mehr   oder   weniger   gleiche   Mächte  miteinander  ringen.  An  einer  berühmten  Stelle  (1,  22.4)  meint  er,  dass  ge-­‐rade  weil  die  menschliche  Natur  konstant  bleibt,  es  für  ähnliche  zukünftige  Situationen  von  Nutzen  sein  kann,  sie  in  ihren  Modalitäten  zu  untersuchen.  So   ist  die  Vergangenheit  –  wenn  sie  richtig  erforscht  wird,  und  wenn  man  aus   ihr  das  Typische  herauszuholen   fähig   ist  –  mit  der  Zukunft  verknüpft.  (Und  das  hat  nichts  mit  zyklischer  Wiederholung  zu  tun,  wie  zum  Beispiel    

                                                                                                               53    Herodot,  8,  152.3  

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für   Polybius.)  »Ein   Besitz   für   immer   (ktéma   eis   aeí)   soll   mein  Werk   sein,  nicht  eine  Glanzleistung  für  einmaliges  Hören  (agónisma)«.  Konkret   ausgedrückt:   Die   Athener,   die   am  Ende   der   Perserkriege   –   zu-­‐

sammen  mit  den  Spartanern  –  die  Befreier  von  Hellas  waren,  werden  mit  dem   Anwachsen   ihrer  Macht   immer   selbstsüchtiger,   bis   die   tyrannischen  Züge  ihrer  Hegemonie  (arché)  sich  voll  entfalten  und  sie  selbst  sich  für  die  stärksten   halten,   die   Verbündeten   aber   sich   gegen   sie   wenden,   und   das  starke   Athen,   nach   der   sizilischen   Expedition   den   Krieg   verliert.   Nach  Thukydides  scheint  es,  als  hätte  Perikles  diese  Entwicklung  aufhalten  kön-­‐nen,  und  aus  seinem  Werk  kann  man  alle  Etappen  dieser  Entwicklung  re-­‐konstruieren.    

8    

Unter   diesem   Gesichtspunkt   –   der   Macht   Athens   und   ihren   Entwicklung  gemäß   einem   notwendigen   Prozess   –   nimmt   Thukydides   den   gesamten  Krieg  als  eine  Einheit  wahr.  Das  sagt  er  uns  im  zweiten  Prolog  (5,  26)  und  demonstrier   damit   seine   große   Originalität.   Aber   darin   erschöpft   er   sich  nicht.  Er  verfolgt  und  analysiert  die  politische  Handlung  und  sucht  nach  ih-­‐ren  Regeln;  jedoch  zu  diesem  Gesang  bilden  wie  einen  Gegengesang  die  pa-­‐thémata,  die  Leiden  des  Krieges,  die  –  so  sagt  er  –  auch  groß  sind.  Thukydi-­‐des   zeigt   oft,   wenn   auch   nicht   allzu   explizit,   sehr   menschliche   Züge,   und  nicht  nur  den  Athenern  gegenüber.  Er  billigt  die  Gewalt  nicht,  vielmehr  be-­‐richtet   er   gleich   zu   Beginn   diese   Worte   des   spartanischen   Herolds:   »Mit  dem  heutigen  Tag  bricht  großes  Unheil  über  die  Hellenen  herein!«  (2,  12.3).  Bei   Thukydides   besteht   eine   ständige   Spannung   zwischen   dem  Willen,  

das   Spiel   der   Kräfte   klar   zu   erkennen,   ein   rationales   Licht   ins   Dunkel   zu  bringen,  und  der  Absicht,  das  Leiden  der  Menschen  zu  bezeugen,  nicht   in-­‐dem   er   es   kommentiert,   sondern   indem   er   es   darstellt.54   Den   Höhepunkt  davon  bildet  die  Schilderung  der  Pest,  der  Bürgerkriege,  der  sizilianischen  Expedition.  Damit  erweist  er  sich   in  sehr  viel  höherem  Maße  als  Künstler,  als  es  zu  Beginn  seine  Absicht  war.55  Seine  Art  der  Darstellung  ist  tragisch.  Es   hatte   auch   historische   Tragödien   gegeben.   In   der   berühmtesten   von  ihnen,   den  Persern   des   Aischylos   (472   v.   Chr.)  wird   der   Sieg   der   Athener  vom  Standpunkt  der  besiegten  Feinde  aus  betrachtet.  Anders  als  die  Tragi-­‐ker,    

                                                                                                               54    Heute  begegnet  man  einem  ähnlichen  Pathos  in  den  Schilderungen  der  großen  Romane,  z.  B.  von  Manzoni,  Tolstoi  oder  Camus.  55      Vgl.  Thuk.  1,  21.1  und  1,  22.4.  

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scheint   Thukydides   die   menschliche   Sphäre   nicht   zu   überschreiten.   Er  bleibt  seinem  ursprünglich  aufklärerischen  Vorhaben  treu,  aber  er  zeigt  uns  auch  alle  Schatten.  Wie  die  Chöre  der  Tragödie,  so  auch  seine  Reden:  Meist  kommen  sie  paarweise,  sie  stellen  die  beiden  Hörner  eines  Problems  dar,  in  ihrem  Stil  bedienen  sie  sich  der  Rhetorik,  der  Antithesen,  aber   ihr  Aufbau  ist  dichterisch.  Nur  Perikles  hat  in  seinen  Reden  keinen  Gegenspieler.  Wich-­‐tig   ist  auch  seine  Art,   sein  Werk  zu  weben:  wie  äußerliche,  entscheidende  Ereignisse   in  Beziehung   gesetzt  werden   zu   den   inneren  Etappen  der   Ent-­‐wicklung  seiner  Gedanken  (z.  B.  in  der  Bewertung  einzelner  Faktoren  oder  Gestalten  wie  Perikles  oder  Alkibiades).    Oft   stehen  wir   unter   dem   Einfluss   dieser   Art,   das   Geschehen   zu   erfor-­‐

schen,  die   für  einen  Historiker  als  zu  subjektiv  kritisiert  worden   ist.  Es   ist  wahr,  manchmal  scheint  Thukydides  die  Realität  gemäß  der  erkannten  Ty-­‐pen   zu   stilisieren   und   eine   zu   eindeutige   Richtung   einzuschlagen.   Aber  dann,  an  anderen  Stellen  seines  Werkes,  stellt  er  uns  andere  Elemente  be-­‐reit,   aus  denen   jeder  sich  einobjektiveres  Bild  machen  kann.  Man  darf  bei  ihm   nicht   nur   bestimmte   Aspekte   suchen,   vielmehr   muss   man   stets   die  Spannung  und  Komplexität  seines  Werkes  im  Auge  behalten.  Das  Beste  ist  schließlich,  seine  Texte  zu  lesen  und  zu  analysieren.    

9    Auch  die  Rede  des  Perikles  für  die  Gefallenen  und  der  Melier-­‐Dialog  56  sind  kunstvoll   in  den  Kontext  eingefügt.  Dem  glänzenden  Bild  Athens  im  Epita-­‐phion  folgt  der  Absturz  in  die  Finsternis  der  Pest,  der  vollen  Gesundheit  die  Krankheit:  Während  der  pest  werden  die  Toten  nicht  einmal  mehr  begra-­‐ben.   Und   nachdem   die   Athener   an   den  Meliern   das   Gesetz   des   Stärkeren  unerbittlich  vollzogen  haben,  folgt  unmittelbar  die  Expedition  nach  Sizilien,  an  deren  Ende  die  Umkehrung  der  Rolle  Athens  steht.  Im  zweiten  teil  der  Totenrede  häufen  sich  die  dem  Anlass  gemäßen  rhe-­‐

torischen   tópoi   (Heldentum,   das   auch   den   Tod   überwindet,   Tröstung   der  Hinterbliebenen),57  während  der  erste  Teil  uns  eine  Probe  der  rhetorischen  Kunst  ,  nicht  nur  des  Thukydides,  sondern  auch  des  Perikles    

                                                                                                               56  Perikles’  Rede   findet   im   Jahr  431  statt,  der  Melier-­‐Dialog   im   Jahr  416.  Thukydides  hat   aber  beide  Stellen  viel  später  geschrieben.  57  Vgl.  die  rhetorische  Schrift  des  Gorgias  für  die  Gefallenen  (fragm.  DK  82  B6).  

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liefert.58   Seine  Rhetorik   ist   beladen,   aber   nicht   schwerfällig.   Eine  Aussage  wird  durch  die  folgende  ausgeglichen,  um  nicht  maßlos  zu  erscheinen.  Zum  Beispiel:  »Wir  lieben  die  Kunst  und  das  Schöne(philokaloûmen)  –  aber  mit  Maßen.  Wir  lieben  das  Wissen,  wir  philosophieren  (philosophoûmen)  –  aber  ohne  schlaffe  Trägheit«  (2,  40.1).  Die  Stelle  beginnt  mit  einer  plastischen  Beschreibung  der  Bestattungsri-­‐

ten   im   Kerameíkon.   Es   geht   um   Tod,   aber   alles   erscheint   im   hellen   Licht  dargestellt  und  teilt  einen  Sinn  für  Haltung  und  ästhetische  Harmonie  mit.  Alle  Bürger  sind  anwesend,  auch  die  Frauen  und  die  Ausländer.  Man  ist  wie  mit  einer  Darstellung  der  bürgerlichen  Tugend  (areté),  die  eine  solche  »au-­‐tarke«   Stadt   erreichen   kann,   konfrontiert.59   Perikles   besteigt   das   Podest  (bêma)  und  erinnert  zuerst  an  die  Kontinuität  der  drei  Generationen  –  der  Vorfahren,  der  Eltern,  und  ganz  besonders  der  gegenwärtigen  Generation  –  in  ihren  Verdiensten  für  die  Erhaltung  der  Stadt  und  ihres  Primats.  Er  lobt  die  athenische  Verfassung  (politeía),  die  Ehrfurcht  der  Bürger  vor  den  ge-­‐setzen,  und  ihre  Gleichheit  vor  ihnen  (isonomía),  die  an  Solon  und  Kleiste-­‐nes   anknüpft,   sowie   ihre   Beteiligung   am   öffentlichen   Leben   gemäß   ihrer  Leistung.   Aber   es   sind   vor   allem  die   freie  Art   des   städtischen   Lebens,   so-­‐wohl   in   der   öffentlichen   als   auch   in   der   privaten   Sphäre,   die   Athen   zur  Schule  Hellas’  macht  (2,  38  ff.),  sowie  die  Liebe  zum  Wagemut  60  und  gleich-­‐zeitig  das  Gleichgewicht  zwischen  handeln  und  Denken,  Taten  und  Worten,  die  es  hervorzuheben  gilt  (2,  40.2).  Interessant  zu  bemerken  ist  dabei,  dass  schon  hier,  noch  vor  Platon,  das  Wort  philosopheín  benutzt  wird.  Es  lohnt  sich,  die  Worte  direkt  anzuführen,  die  Thukydides  dem  perikles  

in  den  Mund  legt:  

                                                                                                               58    Abgesehen  von  den  Reden  bei  Thukydides  und  von  seiner  Vita  des  Plutarch  wissen  wir  über  Perikles   sehr  wenig.   In   der  Moderne   beginnt  mit  Winkelmann,   in   Analogie   zur   Rezeption   der  athenischen   Kunst   und   Architektur,   der   ästhetisierende   »Mythos«   des   Perikles.   Nach   V.   Will,  Perikles,  Hamburg  1955,  ist  die  Ideologisierung  des  Perikles  und  seiner  demokratischen  Ära  zum  großen   Teil   eine   spätere   Konstruktion.   Vgl.   dazu   Thukydides’   sehr   wichtige   Stelle   (1,   10.1-­‐3)  über  das  unterschiedliche  Bild  von  Athen  und  Sparta  (das  äußerliche  der  Größe  und  das  innerli-­‐che  der  Macht).  59    Herodot  dagegen  glaubt  nicht,  dass  Autarkie  eine  absoluten  Wert  bedeuten  kann,  weder  für  ein  Land,  noch  für  einen  einzelnen  Menschen.  Vgl.  Herodot  1,  32.8-­‐9:  »So  erfüllt  auch  der  Mensch  als  einzelnes  Wesen  sich  nicht  selbst  (autarkés  esti)«.  60    Zum  Charakter  der  Athener   in  der  Grabrede  (Leistungsfähigkeit,  Mut,  Lust  zum  Handeln   im  positiven  Sinne)  gibt  es  Parallelen,  eher   im  Negativen,   in  der  Rede  der  Korinther  (Thuk.  1,  69-­‐70).    

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»Die   politische   Verfassung   (politeía),   die   wir   haben,   richtet   sich   nicht  nach   den   Gesetzen   anderer,   viel   eher   sind   wir   selbst   für   manchen   ein  Vorbild  (parádeigma),  als  dass  wir  andere  nachahmten.  Mit  Namen  heißt  sie,  weil  die  Staatsverwaltung  nicht  auf  wenige,  sondern  auf  die  Mehrheit  ausgerichtet   ist,  Demokratie.  Nach  dem  Gesetz  haben   in  den  Streitigkei-­‐ten   der   privaten   Bürger   alle   ihr   gleiches   Recht   (isonomía);   der   Geltung  nach  aber  hat  im  öffentlichen  Wesen  den  Vorzug,  wer  sich  irgendwie  An-­‐sehen  erworben  hat,  nicht  nach  irgend  einer  Zugehörigkeit,  sondern  nach  seinem  Verdienst  (aretê).  Ebenso  wenig  wird  jemand  aus  Armut,  wenn  er  trotzdem   für   die   Stadt   etwas   leisten   könnte,   durch   seine   unscheinbare  Stellung   daran   gehindert.   (2)   Frei   (eleutéros)   leben   wir   als   Bürger   im  Staat,  und  frei  von  gegenseitigem  Misstrauen  des  Alltags…«  (2,  37.1-­‐2).    

Auch  Euripides  lässt  Theseus  in  den  Bittflehenden  ähnliche  Worte  sprechen,  die  mir   dieser   Stelle   in   Verbindung   gebracht  worden   sind.61   Dasselbe   gilt  für  die  bereits  erwähnte  Stelle  des  Menéxenos  Platons.  In  der  Rede  des  Pe-­‐rikles   geht   es   eher  um  die   tatsächliche  Lebensart  der   Stadt  Athen,   als  um  die  Verfassungsfrage   im  Sinne  Platons  und  Aristoteles’.62   Thukydides   ver-­‐sucht  in  der  historischen  Figur  des  Perikles  den  idealen  Regenten  zu  finden,  den  Platon  außerhalb  der  historischen  Sphäre  sucht.  Die  Worte,  die  Thukydides  den  Perikles  sprechen  lässt  sind  schön.  Aber  

diese  ganze  Harmonie  ist  wie  ein  Traum,  der  sich  in   jedem  Moment  auflö-­‐sen   kann.   Was   steckt   hinter   so   vielem   Glanz,   wenn   nicht   der   Drang,   ein  starkes   Entwicklungspotential   zu   verteidigen?  Arché   bedeutet   nicht  mehr  nur  die  Ersten  zu  sein,  sondern  zu  herrschen,  um  nicht  beherrscht  zu  wer-­‐den  (und  das  schon  am  Anfang  des  Krieges,  nach  den  ersten  Schwierigkei-­‐ten).  Dieses  Bild  zeigt  noch  eine  apollinische  Form  innerhalb  der  Stadt.  Etwas  

fehlt  jedoch  in  all  der  Vollkommenheit:  Wo  bleiben  die  Götter?  Schon  in  den  Friesen  des  Parthenons  waren  die  zum  Zuschauen  aus  der  Ferne  verbannt.  Hier  befinden  wir  uns  inmitten  religiöser  Riten  zur  Feier  der  Gefallenen.  Sie  

                                                                                                               61    Euripides,  Die  Bittflehenden.  Übers.  von  E.  Buschor,  Zürich  1979,  v.  230-­‐235:  »Drei  Klassen  Bürger  bilden  einen  Staat...  Das  Volk  der  Mitte  –   jedes  Staates  Glück  –,  das   feste  Ordnung  gibt  und  treu  beschützt...«  62      Die  Diskussion  dieser  Frage  hatte  nach  Herodot  (Hist.  3,  82.24)  bereits  an  den  Höfen  der  io-­‐nischen  Inseln  begonnen.  

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dienen  aber  fast  nur  zum  Vorwand  für  das  zelebrieren  des  demokratischen  Rechtsstaates.  Seine  Gesetze  sind  zu  achten,  auch  die  ungeschriebenen,  und  es   gibt   auch   welche   zum   Schutz   der   Unterdrückten   (2,   37.3).   Alle   Ehren  werden  einer  Stadt  gezollt,  die  heiß  geliebt  werden  soll  (2,  43.1).  Es   gibt   aber   andere   Stellen   bei   Thukydides,   die   ein   anderes   Bild   von  

Athen  geben,  und  auch  andere  Quellen,  wie  zum  Beispiel  die  Athenaíon  poli-­‐teía  des  Pseudo  Xenophon,  die  eine  Gegenstimme  aus  der  Perspektive  der  ausgebeuteten  Verbündeten  darstellen.  Deshalb  hat  man,  was  die  Rede  des  Perikles  betrifft,  von  Ideologie  und  Propaganda  gesprochen  (z.  B.  Straßbur-­‐ger  und  Flashar).  Es  kann  sich  aber  auch  um  eine  gewollte  Idealisierung  von  Seiten  des  Perikles  handeln  (so  denkt  Gaiser  63):  Perikles  projiziauf  ert  die  gegenwärtige   Situation   ein   Idealbild,   das   für   die   Athener   ein   Vorbild  (parádeigma,  2,  37.1)  sein  sollte.  die  Athener  waren  nicht  so,  die  Harmonie  zwischen   dem   Einzelnen   und   der   Gemeinschaft   war   nicht   in   dem   Maße  vorhanden  –  aber  er  wollte  sie  so  haben.  Tatsächlich  ist  es,  als  bleibe  etwas  verschleiert.  (Nietzsche  spricht  von  ei-­‐

ner  gespenstischen  Atmosphäre.64)  Was  ist  es,  das  so  viel  areté  aufrecht  er-­‐hält,   ein   solches  Ausmaß   an  Wohlstand   und  Würde   im   Leben   der   Stadt   –  wenn  nicht  die  Macht  der  Herrschaft,  die  dynamis?  Diese  dynamis  tritt  be-­‐reits   in  der  Grabrede  hervor.   Ihr  wahres  Gesicht  zeigt  sie  noch  viel  deutli-­‐cher  in  der  dritten  rede  des  Perikles,  als,  mit  Beginn  der  Pest,  ein  Zufall  von  außen  (symphorá)  noch  zu  den  Schwierigkeiten  des  Krieges  hinzu  kommt:  Dort   ist  die  Situation  auf  einmal  dramatisch,  und  Perikles  erklärt,  dass  die  Herrschaft,  die  arché,  auf   jeden  Fall  gehalten  werden  muss,  auch  wenn  ihr  Wesen  tyrannisch  ist.65  

                                                                                                               63    K.  Gaise,  Das  Staatsmodell  des  Thukydides,  Heidelberg  1975.  Gaiser  sieht  Thukydides,  als  ob  er  Platon  vorwegnehmen  würde.  Über  Perokles  aber,  und  auch  über  die  Demokratie,  äußert  sich  Platon  oft  negativ.  64    F.  Nietzsche,  Werke,  Kritische  Besamtausgabe,  Berlin.  Nachgelassene  Fragmente.  IV.1,  5[200]:  »Die  Rede   des   Perikles:   ein   großes   optimistisches  Trugbild.  Die  Abendröthe,   bei   der  man  den  schlimmen  tag  vergisst  –  die  Nacht  kommt  hinterdrein«.  65    Thuk.  2,  63.2.  Schon  in  1,  73-­‐78  kündigt  sich  der  Missbrauch  der  athenischen  herrschaft  an.  In  3,  1.2  zeigt  Kleon,  dass  die  Demokratie  unfähig  ist  über  andere  zu  herrschen.  

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10    

In  Melos,  15  Jahre  später,  während  der  Zeit  des  faulen  Nikias-­‐Friedens,  be-­‐finden   wir   uns   im   letzten   Akt   des   Dramas   der   athenischen   Macht.   Es  scheint,   als   gälten   die   Gesetze   zum   Schutze   der   Schwachen   nicht  mehr   –  zumindest  nach  außen  hin.   Ist  das   tatsächlich  eine  Notwendigkeit,  die  der  arché  innewohnt?  Und  müssen  die  Ethik,  die  Moral,  das  heißt  die  Argumen-­‐te  der  Melier  dieser  Notwendigkeit  unterliegen?  66  Diese  fundamentale  Fra-­‐ge  wird  in  den  Tragödien  thematisiert,  und  der  Umstand,  dass  Thukydides  die  Ereignisse  um  Melos  zum  Anlass  nimmt,  dies  alles  wie  im  Rampenlicht  darzustellen,   bedeutet   nicht,   dass   er   es   gutheißt.   Und   es   hat   keinen   Sinn,  sich  zu  fragen,  auf  welcher  Seite  er  steht.  Die   Einwohner   der   kleinen   Insel   Melos,   einer   Kolonie   Spartas,   werden  

von  Thukydides  formal  als  völlig  unschuldig  präsentiert.67  Die  Melier  woll-­‐ten   neutral   bleiben,   aber   das   konnten   die   Athener   nicht   zulassen,  weil   es  ihnen  von  den  Spartanern,  am  Vorabend  der  sizilischen  Expedition  (416  v.  Chr.),  als  Schwäche  ausgelegt  worden  wäre.  Außerdem  war  die  gesamte  Si-­‐tuation  der  Verbündeten  nicht  mehr   so   ruhig,   seitdem  der  Spartaner  Bra-­‐sidas  viele  von  ihnen  mit  der  Parole  »Freiheit«  zum  Aufstand  animiert  hat-­‐te.68  Thukydides  nennt  einige  weniger  bekannte  Strategen,  die  zur  Führung  der  Verhandlungen  nach  Melos   abgesandt  werden.  Die   Persönlichkeit   des  Augenblicks  ist  aber  Alkibiades  mit  seinem  großen  sizilischen  Plan,  den  er  trotz   seiner  Verwicklung   in   den  Hermenfrevel   und   in   die   Profanation  der  eleusinischen  Mysterien,  unmittelbar  nach  der  Melos-­‐Episode  in  die  tat  um-­‐setzt.  In  einem  anfänglichen  Wortgefecht  zeigen  sich  die  Athener  verständnis-­‐

voll  in  Bezug  auf  die  Auswahl  der  Waffen  für  die  Unterredung  (lógos,  5.88):  Es   soll   die   Dialektik,   eher   als   die   Rhetorik   der   langen   Reden,   verwendet  werden,   und   die   Debatte   soll   vor   dem  Rat   der  melier,   nicht   aber   vor   der  Volksversammlung  stattfinden;  außerdem  dürfen  die  Ratsmitglieder    

                                                                                                               66    Auch  wenn  Thukydides  kein  Wort  darüber  sagt,  könnte  man  sich  als  Hintergrund  den  sokrati-­‐schen  Satz  vorstellen:  »Besser  ein  Unrecht  erleiden,  als  es  jemandem  zufügen.«  (Platon,  Gorgias,  486b).  67    Aus  einer  Insvhrift  (K.  v.  Fritz,  Die  griechische  Geschichtsschreibung.  Berlin  1946,  Bd.  1,  S.  715  ff.)   ergibt   sich  dagegen,  dass  Melos  bereits   von  Athen  unterjocht  worden  war  und  auch   schon  eine  Zeitlang  einen  Tribut  bezahlt,  dann  aber  den  Tribut  ausgesetzt  hatte.  daraufhin  hatten  die  Athener  ihre  Truppen  nach  Melos  gesandt.  68     Thuk.   4,   78-­‐84.   Für   ein   anderes   Beispiel   dessen,  was   die   Spartaner   unter   »Freiheit«   (eleu-­‐tería),  diesmal  den  heloten  gegenüber,  verstehen,  vgl.  Thuk.  4,  80.3-­‐4.    

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(olígoi)  die  Reden  der  Athener  Punkt   für  Punkt  unterbrechen  –  als  hätten  die  Athener  die  Furcht  der  melier  begriffen,  sie  könnten  mit  ihrer  Rhetorik  das  ganze  Volk  überzeugen,  die  Verfassung  zu  Gunsten  Athens  zu  ändern.69  Allerdings  sind  die  Freiheiten,  die  den  Meliern  von  den  Athenern  angeboten  werden,   nur   scheinbare.  Denn,  wie  die  Melier   gleich   zu  Beginn   feststellen  (5,   86),   sind   die   Athener   gekommen,   nicht   um   in   diesem  Rechtsstreit   die  Urteile  der  Melier  zu  vernehmen,  sondern  als  die  Stärkeren,  um  das  eigene  Urteil  durchzusetzen.  Die  ersten  beiden  Wechselreden  werden  von  Didaskalien  eingeführt.  Da-­‐

nach  setzt  der  eigentliche  Dialog  ein  –  die  Gegner  beginnen  ihre  Reden  wie  auf  der  Bühne,  ohne   jede  Vermittlung  einer  erzählenden  Stimme.  Zweimal  wird  von  den  Athenern  eine  Art  von  Naturgesetz  ausgerufen.  Es  gibt  für  die  Athener  keine  andere  Wahrheit  außer  dem,  was  sie   in   ihrem  engen  politi-­‐schen  Spiel  als  wahr  anerkennen.  Ihre  eiserne  und  unverrückbare  Position  ist  einfach  dadurch  zu  erklären,  dass  man  nur  bei  gleichem  Machtpotential  mit  der  Gerechtigkeit  argumentieren  kann  –  sonst  gilt  der  triebhafte  Zwang  der  Natur.70  Das  erste  Mal  lautet  das  Gebot  der  Athener  so:  »Im  Rahmen  des  von  uns  als  wahr  Erkannten  sucht  das  Mögliche  zu  erreichen,  da  ihr  ebenso  gut  wie  wir  wisst,  dass  Recht  (díkaia)  im  menschlichen  Verkehr  (en  tô  anth-­‐ropeío   lógo)   nur   bei   gleichem   Kräfteverhältnis   (apó   tés   íses   anánkes)   zur  Geltung   kommt,   die   Stärkeren   (oí   proúchontes)   aber   alles   in   ihrer   Macht  stehende   durchsetzen   und   die   Schwächeren   (oí   astheneîs)   sich   fügen«  (5.89).  Die   zweite  Aussage   (5,   105.2)   ist   nicht  bloß  eine  Wiederaufnahme  der  ersten,  wie  der  Kommentator  Dionysos  von  Halikarnassos  unterstellt.71  Es  tritt  etwas  Neues  auf:  Was  für  das  Spiel  der  Kräfte  auf  der  menschlichen  Ebene  gilt,  wird  als  Möglichkeit  geradezu  auf  die  göttliche  Ebene  übertra-­‐gen.  Und  dieses  Gesetz  wird  als  gegebenes  und  ewig  gültiges  proklamiert.  Nicht  viel  anders  argumentieren  die  Sophisten  Trasymachos  und  Kallik-­‐

les  in  den  platonischen  Dialogen  Staat  und  Gorgias.  Dort  geht  es  aber  um    

                                                                                                               69    Das  war  die  übliche  Politik  Athens  nach  dem  Aufstand  Mytilenes.  70    Als  Hesiod  (Werke  und  Tage,  202-­‐212)  das  Fehlen  der  Gerechtigkeit  in  den  menschlichen  An-­‐gelegenheiten  beklagte,  hatte  er  schon  die  älteste  überlieferte  Fabel  erfunden,  die  im  Reich  der  Tiere  ein  Bild  des  Gesetzes  des  Stärkeren  abgibt.  71    Dionysos  von  Halikarnassos,  Über  Thukydides,  5,  37-­‐41.  Vgl.  L.  Canfora,  Il  dialogo  dei  melii  e  degli  Ateniesi,  S.  71  ff..  

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die  Gerechtigkeit  dieses  Naturgesetzes  –  hier  nicht.72  Von  Anfang  an  erklä-­‐ren  die  Athener,  dass  sie  Argumente  der  Nützlichkeit,  und  nicht  der  Gerech-­‐tigkeit   verwenden   wollen.   Die   Melier   versuchen   zunächst,   sich   der  Schlussweise   der   Athener   anzupassen:   Für   die   Athener   sei   es   nützlich  (xympherón),  Milde  walten  zu   lassen  und  die  Neutralität  der  melier  zu  ak-­‐zeptieren.   Im   Fall   Mytilenes   hatten   es   die   auf   das   xympherón   bezogenen  Thesen   des  Diodotos   in   seiner   Antwort   an   Kleon   vermocht,   ein   ähnliches  Massaker   zu   vermeiden   (3,   42-­‐48)   –   jetzt   gelingt   das   nicht   mehr.   Da   die  Athener  dies  nicht  gelten  lassen,  können  die  Melier  nicht  umhin,  ihnen  die  Argumente  der  allgemeinsten  Gerechtigkeit  (tò  koinòn  agathón)  entgegen-­‐zuschleudern  (5,90).  Die  Rekurse  auf  die  universal  gültigen  Prinzipien  der  Moral  (eikóta  kaì  díkaia)  drücken  höchstwahrscheinlich  eher  einen  Rest  der  ethischen  Vergangenheit,   als   bereits   eine   »neue«  moralische  Orientierung  in  Richtung  auf  die  sokratische  oder  platonische  Moral  aus.73  Auf  jeden  Fall  bieten  die  Melier,  auch  nur  auf  der  Ebene  der  Nützlichkeit,  allgemeinere  Ar-­‐gumente  an,  beinahe  eine  Art  Prophezeiung:  Auch  die  Athener  könnten  ei-­‐nes  Tages  auf  die  andere  Seite  gelangen,  und  dann  würden  sie  die  Konse-­‐quenzen  ihres  amoralischen  Beispiels  (parádeigma)  ertragen  müssen.  Die  Berufung  der  Melier  auf  das  Recht  wird  aber  nicht  durch  eine  entspre-­‐chende  Machtposition  gestützt,  deshalb  lassen  die  Athener  die  vernünftigen  Argumente  der  Gegner  nicht  gelten.  Erst  dann  fangen  die  Melier  an,  um  der  Selbsthilfe  willen   irrationale  Kräfte  wie   den  Zufall,   das   Los,   das   Schicksal,  das  »Glück«  (tyche),  die  Hoffnung  (elpís),  das  Göttliche  74  und  die  utopische  Hilfe  von  Seiten  der  Spartaner,75  die  nur  den  Spott  der  Athener  auslöst,  ins  Feld  zu  führen.  Mehrmals  fordern  die  Athener  die  Melier  auf,  sich  an  die  au-­‐genblickliche,  offensichtliche  Situation  zu  halten,  und  nicht  an  unsichtbare  Kräfte.  Die  Athener   apostrophieren  die  Melier   als   blind,  weil   sie  das   enge  athenische   Kraftfeld   nicht   wahrnehmen,   während   die   Athener   selbst   sich  blind  zeigen  für  alles,  was  dieses  Feld  übersteigt.  Außerdem  sind  sie  absolut  

                                                                                                               72    Platon,  Staat,  1.  Buch,  Gorgias,  482e-­‐484.  Wesentlich  für  das  Spiel  zwischen  Gerecht  und  Gut  ist  die  Mytilenische  Debatte.  (Thuk.  3,  42-­‐48).  73    Platon,  Protagoras,  352c  (Wissen  bedeutet  richtiges  Handeln).  74    Thuk.  (5,  104):  »Dennoch  vertrauen  wir,  dass  wir  vom  Schicksal  um  der  Gottheit  willen  nicht  verlassen  werden.«  75    Thukydides  (5,  105)  lässt  die  Athener  über  die  Spartaner  sagen:  »Sie  sind  es,  die  unseres  Wis-­‐sens  am  augenfälligsten  das  Angenehme  für  schön  erklären  und  das  Nützliche  für  gerecht.«  

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überzeugt,  wenn  auch  nicht  ein  für  alle  Mal,  zumindest  in  der  jetzigen  Situa-­‐tion  die  Stärkeren  zu  sein.  Die  tyche  des  Herodot,  als  göttliche  Fügung,  kommt  bei  Thukydides  in  der  

Argumentation  der  Melier  vor,  um  von  den  Athenern  als  inhaltsleeres  Wort  erwiesen  zu  werden.  Was  aber  Thukydides  selbst  darüber  denkt,   ist  nicht  klar.  So  lässt  er  die  Athener  über  tyche  und  Hoffnung  reden:  »Hoffnung  (el-­‐pís),   ein   Trostmittel   in   der   Gefahr,  wird   den   Starken,  wenn   er   sich   an   sie  klammert,   vielleicht   schädigen,   aber  nicht  vernichten.  Wer  aber  alles,  was  er  besitzt,  aufs  Spiel   setzt  –  denn   ihrem  Wesen  nach   ist  die  Hoffnung  ver-­‐schwenderisch  (dápanos)  –,  der  erkennt  sie  erst  nach  seinem  Sturz...  Trach-­‐tet  doch,  dass  es  euch  nicht  so  ergeht,  da  ihr  schwach  (astheneîs)  seid  und  für   euren  Untergang   ein   einziger  Ausschlag  des  Waagenbalkens   genügt...«  (5,  103).  Von  Anfang  an  erklären  die  Athener,  dass  es  um  die  Rettung  (sotería)  der  

Melier   geht   –   und   verstehen  darunter   deren  Unterwerfung.  Und   am  Ende  schließen   sie   die   unterschiedlichen   Argumentationsketten,   die   Schlag   auf  Schlag,  streckenweise  in  der  knappsten  form  der  Stychomytie,  76  aufeinan-­‐der  folgen,  mit  den  selben  Worten  des  Anfangs  kreisförmig  ab.  Auch  für  die  melier  geht  es  um  ihre  Rettung  (sotería)  –  sie  aber  verstehen  darunter  die  Wahrung  der  eigenen  Freiheit.  So  werden  gleich  die  schillernde  Bedeutung  der  Begriffe  und  die  Relativität  der  Gesichtspunkte  klar.  Die  Arten  der  Ar-­‐gumentation  (tópoi)  werden  von  beiden  Seiten  erwähnt  und  jedes  Mal  mit  entgegen   gesetzten   Bedeutungen   benutzt:   Rettung   (sotería:   5,   87-­‐88),   Si-­‐cherheit  (asphaleía:  5,  97-­‐98),  Schande  (aischyne:  5,  100-­‐101),  Geschick  und  Hoffnung  (tyche,  elpís:  5,  102-­‐104).    Aus  der  Schilderung  der  Ereignisse  in  Melos  tritt  keine  einzelne  Persön-­‐

lichkeit  hervor.  Es  ist  allgemein  von  »den  Meliern«  und  »den  Athenern«  die  Rede,  wie   von  Gegnern  ohne  Gesicht.   Es   steht   keine   starke  Persönlichkeit  mehr   im   Vordergrund   –   so   wie   damals   Perikles   als   Garant   der   areté   der  Bürger   Athens   im   Vordergrund   stand.   (Alkibiades   bleibt   im   Schatten   ob-­‐wohl  er  möglicherweise  eine  Rolle  spielte).77  Der  Stil  ist  trocken,  die  

                                                                                                               76    Sophokles  verwendet  die  Stychomytie  schon  in  der  Antigone  im  Jahr  443-­‐440.  77    Es  gibt  bei  Andokides  und  Plutarch  Anekdoten   in  diesem  Sinne.  Merkwürdig  vor  allem,  wie  Euripides  nach  diesem  Ereignis   seine  Meinung  über  Alkibiades  ändert.  Er  hatte  noch  kurz  vor  Melos  ein  Epinikion  für  die  Siege  des  Alkibiades  in  Olympia  komponiert.  M.  Vikers  (»Alkibiades  and  Melos«,  Historia  48.3  [1999],  S.  279)  sieht  in  der  Art  zu  reden  der  Athener  einen  Hinweis  auf  die  Anwesenheit  des  Alkibiades  auf  Melos.  

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Argumente   werden   wie   Bälle   von   einer   Seite   zur   anderen   geworfen   und  dasselbe  Wort  wird  von  der  einen  und  der  anderen  partei  in  entgegengestz-­‐tem  Sinne  verwendet.  Die  Dialektik  scheint  bloß  noch  aus  diesem  formalen  Spiel  zu  bestehen  –  dabei  war  sie  ursprünglich,   in  der  zeit  der  großen  So-­‐phisten,   oder   der   sophoí,   eine   Herausforderung   unter   Weisen,   und   auch  Thukydides,  wenn  er  in  eigenem  Namen  spricht,  verwendet  sie,  in  der  gan-­‐zen   dialektischen  Konstruktion   seines  Werkes,   ohne   den   Inhalt   je   zu   ver-­‐gessen.  Der  Krieg   ist  ein  gewaltsamer  Meister  –   sagt  uns  Thukydides  anlässlich  

des  Bürgerkriegs  in  Korkyra  im  Jahr  427,  als  zum  ersten  Mal,  wie  er  meint,  der  Sinn  der  Worte  verdreht  wird  und  die  Worte  den  Tatsachen  nicht  mehr  entsprechen.78  Die  überheblichen  Worte  der  Athener,  wenn  sogar  von  den  Göttern  auf  beinahe  blasphemische  Weise  die  Rede  ist  (ist  das  Gottlosigkeit,  asébeia?),79  und  das  Gewicht  des  Zufalls,  der  tyche,  nicht  mehr  in  Rechnung  gestellt  wird,  entsprechen  jedoch  den  Tatsachen.  Aber  das  Ergebnis  ist  die  unerbittliche   Tötung   aller   erwachsenen  melier.   Das   Gesetz   des   Stärkeren  hat  sich  behauptet.  Andererseits  behalten  die  Argumente  der  Melier,  die  alte  Ethik,  die  Göt-­‐

ter,  eine  eigene  Gültigkeit.  Thukydides  äußert  sich  nicht  direkt  dazu,  auch  nicht  über  die  Götter.  Vielleicht  ist  seine  Position  die  des  agnostischen  Pro-­‐tagoras,   eher   als   die   der   Tragiker.   Aber   Euripides   selbst   nimmt   teilweise  eine  agnostische  Position  ein,  während  in  ihm  gleichzeitig  eine  ständige  Su-­‐che  nach  dem  Göttlichen  fortbesteht.80  Die  Melier  pochen  auf   tyche  und  Hoffnung.  Machiavelli  kannte  Thukydi-­‐

des  aus  lateinischen  Übersetzungen.  Auch  Machiavelli  ist  betroffen  vom  Be-­‐griff  der  Fortuna  (er  kannte  sie  aus  Polibius,  Livius,  Plutarch:  das  nebulöse,  im  Grunde  metaphysische  Etwas,  das  die  rationalen  Pläne  der  Menschen  so  stört),  und  erfindet  ein  ergreifendes  Bild  für  sie:  »Und  ich  vergleiche  Fortu-­‐na  mit  einem  jener  reißenden  Flüsse,  die,  wenn  sie  im  Zorn  ausbrechen,  das  land   überschwämmen,   die   Bäume   umwerfen   und   die   Häuser   zerstören…  alle   sind   vor   ihnen   auf   der   Flucht,   alle   beugen   sich   ihrer  Gewalt,   und   nir-­‐

                                                                                                               78    Thuk.  3,  82.3.  Allgemein  zur  Relation  zwischen  Worten  und  Tatsachen  vgl.  Platon,  Politeía  8,  560d-­‐e.  79    Die  Athener  behaupten,  das  Gesetz  des  Stärkeren  gelte  wahrscheinlich  auch   für  die  Götter.  Die  Überheblichkeit  dieser  Behauptung  wird  relativiert,  wenn  man  bedenkt,  dass  sie,  wenigstens  für  die  homerischen  Götter,  stimmen  kann.  Vgl.W.  D.  Furley,  Andokides  and  the  Herms.  A  Study  of  Crisis  in  Fifth-­‐century  Athenian  Religion,  S.  77-­‐79.  80  Vgl.  Euripides,  Helena,  1137-­‐43:  »Was  ein  Gott  ist,  ein  Ungott,  ein  Halbgott,  wer  glaubt  noch  es  je  zu  ergründen,  und  wenn  er  es  auch  ganz  bis  zum  Ende  erforscht?…«  

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gends  kann  jemand  widerstehen.«  81  Und  so  schließt  er:  »Ähnliches  gilt  für  Fortuna,   die   ihre  Macht   entfaltet,  wo   keine   geordnete  Tugend   (virtù)   sich  ihr  widersetzt,  und  ihre  Gewalt  dorthin  richtet,  wo  sie  weiß,  dass  es  weder  Dämme  noch  Schutzbauten  gibt,  ihr  zu  widerstehen«.  Auch  die  Stellung  dieses  Dialogs  gerade  in  der  Mitte  des  thukydideischen  

Werkes,  unmittelbar  vor  der  Erzählung  der  sizilischen  Expedition,  gibt  et-­‐was   zu  denken.  Kann  man  das  Ganze  auch  als   ein  Rollenspiel  betrachten?  Gleich   nach   Melos,   während   der   sizilischen   Expedition,   ereignet   sich   die  metabolé,   der  Wechsel  der  Rollen:  Athen  erhält   zum  Schluss  die  Rolle  des  Schwächeren.  Es  ist  wahr,  Thukydides  bleibt  normalerweise  innerhalb  der  menschlichen  Sphäre,  er  redet  kaum  von  Göttern,  und  trotzdem  steht  seine  Art  den  Tragikern  nahe,  vor  allem  in  ihrer  Struktur;  im  zweiten  Teil  seines  Werkes  erwähnt  er  oft  die  tyche.  Am  Ende  vieler  seiner  Tragödien  lässt  Eu-­‐ripides  den  Chor   in  der  Form  eines  festen  Schlusses  die  Feststellung  einer  metabolé  wiederholen.  Sie   lautet  zum  Beispiel:  »Vielfältig  sind  die  Formen  des  Göttlichen,  des  Dämonischen  (tôn  daimoníon).  Viele  unerwartete  Dinge  (aélpos)   führen  die  Götter  aus:  Was  man  erwartet   (tà  doketénta)  verwirk-­‐licht  sich  nicht,   für   jenes  dagegen,  das  unerwartet   ist  (tà  adókenta),   findet  der  Gott  einen  Weg.  So  hat  sich  dieses  Drama  (prágma)  vollendet.«  82  Aber,  wenn  die  tyche  ein  zu  großes  Gewicht  bekommt,  werden  dann  nicht  alle   zufälligen   Faktoren   die   Möglichkeit   verhindern,   das   menschliche   Ge-­‐schehen  zu  verstehen,  zu  rationalisieren,  zu  verdeutlichen  –  und  damit  die  Grundlage   selbst   vereiteln,   auf   der   Thukydides  mit   seiner  Xungraphé   auf-­‐bauen  wollte?  Nein,  die  Bemühung  muss   in  dieser  rationalen,  hellen  Rich-­‐tung  weiter  gehen,  auch  wenn  das  Dunkle  nicht  zu  verschweigen  ist.  In  die-­‐sem  Punkt  sind  sich  Thukydides  und  Machiavelli  ähnlich:  Im  »Fürsten«,  25.  Kapitel,  sagt  Machiavelli  von  denen,  die  an  die  Macht  der  Fortuna  glauben:  »Sie  können  meinen,  dass  es  keinen  Sinn  hat,  sich  um  die  Dinge  zu  bemü-­‐hen,   und   sich   von   den   Ereignissen   treiben   lassen.«   83,   aber   trotzdem   er-­‐kennt  er  an,  dass  Fortuna  zur  Hälfte  das  menschliche  Geschehen  bestimmt.    

                                                                                                               81    Niccolò  Machiavelli,  Il  Principe.  Mursia  1969,  p.  112.  Aristoteles,  Phys.  B.  4,  196b,  spricht  vom  Zufall  (tyche)  als  von  etwas  für  die  menschliche  Vernunft  Undurchdringlichem.  82    Euripides,  Bacch.  1388-­‐1392.  Ähnlich  z.  B.  das  Abzugslied  am  Ende  der  Helena  (1688  ff.).  Inte-­‐ressant,   was   derselbe   Euripides   in   einem   Fragment   der   Hypsípyle   über   die   tyche   sagt:   »Oh,  menschliche  Gedanken,   vergebliches   Irren  der  Menschen,   für  die   gleichzeitig   sowohl  die   tyche  als  auch  die  Götter  existieren!…«.  83    »Potrebbero  indicare  che  non  fussi  da  insudare  nelle  cose,  ma  lasciarsi  governare  dalla  sorte.«  

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Für   Machiavelli   ist   die   Rationalität   im   Vergleich   zu   Thukydides   vielleicht  eher   »Mittel   zum   Zweck«,   auch,  wenn  man   natürlich   unterscheiden  muss  zwischen  Machiavelli   und   dem  Machiavellismus.   Bei   Hobbes,   der   sich   auf  Thukydides  beruft,  findet  sich  eher  eine  mechanistische  Notwendigkeit.  Thukydides  ist  weder  empört  über  die  athenische  Machtpolitik  (wenn  er  

auch  an  anderer  Stelle  die  Tötung  der  Schwachen  bedauert),  noch  ergreift  er   ausschließlich   für   den   Gerechtigkeitsbegriff   der  Melier   Partei.   Für   ihn,  wie  übrigens  auch  für  Machiavelli,  haben  die  beiden  Felder,  der  Politik  und  der  Moral,  des  Nützlichen  und  des  Gerechten,  nur  wenig  gemeinsam.  Aber  es  ist  nicht  gesagt,  dass  das  Nützliche  nur  böse  sein  muss.  Für  beide  ist  die  Gerechtigkeit   eine  Art  Überschuss.   »Lob  verdient«,   sagt  Thukydides,   »wer  entsprechend   der   menschlichen   Natur   zwar   über   andere   herrscht,   dabei  aber   gerechter   vorgeht,   als   er   aufgrund   seiner  Machtstellung  müsste«   (1,  76.3}.  Thukydides   will   kein   explizites   Urteil   aussprechen;   er   will   die   beiden  

Parteien  mit  der  gleichen  Intensität  wieder  aufleben  lassen  und  sich  selbst  so  weit  wie  möglich  in  sie  hinein  versetzen.  genau  darin  besteht  seine  letzte  Objektivität.  Seine  »dialektische«  Art  ist  jener  ähnlich,  in  der  viele  Tragiker  die  handelnden  Personen  und  deren  existenzielle  Probleme  vorstellen:  Sie  bleibt  offen.  Der  Leser  oder  Zuschauer  wird  vor  einem  zu  schnellen  Urteil  zurückgehalten,  und  durch  diese  Relativierung  kann  er  dann  zu  umsichtige-­‐ren  und  nicht  absoluten  Schlüssen  kommen.  Darüber  hinaus   ist  das  Werk  des  Thukydides  unvollendet.  Es  sollte,  wie  

er   selbst   uns   sagt,   mit   dem   Ende   des   krieges   abschließen.   Wenn,   wie   es  möglich  ist,  die  ersten  beiden  Bücher  der  Helleniká  des  Xenophon  auf  Noti-­‐zen  des  Thukydides  beruhen,  sollte  am  Ende  der  Xyngraphé  ein  Gegenstück  zur  Melier-­‐Episode  stehen:  Bei  Xenophon  ist  vom  schlechten  gewissen  der  Athener  den  Meliern  gegenüber   zu   lesen,  und  von   ihrer  großen  Angst  um  sich  selbst:  Die  Prophezeiung  der  Melier  hat  sich  verwirklicht.84  Beide,   Thukydides   und   Machiavelli,   wollen   die   Modalitäten   der   Macht  

begreifen.  Machiavelli  bleibt  »ein  keuscher  Liebhaber  der  Macht«,85  das    

                                                                                                               84    Xenophon,  Helleniká,  1-­‐2,  3.10.  L.  Canfora  vertritt  diese  These  in  mehreren  seiner  Schriften,  z.  B.  in  Tucidide  e  l’oligarchia  imperfetta,  Roma  1988,  S.  104-­‐105.  Die  selbe  These  vertritt  schon  J.  Burckhardt  in  seiner  griechischen  Culturgeschichte,  B.  III,  S.  495,  Basel  2002.  85    V.  Marcu,  Machiavelli,  die  Schule  der  Macht,  München  1994.  Machiavelli  drückt  sich  zur  Macht  manchmal  in  schamanischen  Tönen  aus:  »Macht  ist  die  Speise,  die  mir  allein  gebührt,  für  die  ich  geboren  wurde.«  Vgl.  V.  Marcu,  a.  a.  O.,  S.  67.  

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zeigt  ein  Blick  in  sein  strenges  Arbeitszimmer  in  Sant’Andrea  da  Percussina  noch   heute   deutlich.   Und   auch   für   Thukydides   ist   die  Macht,   vielleicht   in  noch   höherem  Maße,   ein   Objekt   der   Erkenntnis.   Auch  Nietzsche   ist,   trotz  seiner   schrillen,   prophetischen   Töne,   kein   Verherrlicher   des   »Willens   zur  Macht«:  Für   ihn  hat  die  Moral  keinen  metaphysischen  Ursprung.  Die  Star-­‐ken  und  die  Schwachen  sind  dagegen  aneinander  gebunden,  und  diese  Bin-­‐dung   scheint   einen   beinahe  metaphysischen   Sinn   zu   verbergen.86   Könnte  man  solche  Bindungen  im  Sinne  der  Opfer-­‐Täter-­‐Beziehung  in  der  Opferung  deuten?   Für   René   Girard   schafft   die   Opferung   die   Grundlage   des   Tragi-­‐schen.  Das  Symbol  dafür   ist  Dionysos.  Man  denkt  an  die  archaischen  Sym-­‐bole,  welche  die  Giebel  des  ältesten  Tempels  der  Akropolis  schmücken:  Lö-­‐wen,   die   Antilopen   zerreißen   –   Archetypen   des  Machtanspruchs   oder   Er-­‐mahnung  zum  Maßhalten?  Wenn  die  politische  Handlung  ein  Rollenspiel   ist,  dann   ist  es  wichtig  zu  

erkennen,  welche  Rolle  in  dem  richtigen  Moment  zu  spielen  ist.  Die  Athener  der  Melos-­‐Episode  sind  die   selben   (die   selbe  Generation)  wie  die  Athener  des   perikleischen  Epitaphions,   als  Größe  und  Macht   noch  miteinander   im  Gleichgewicht   stehen  konnten.87  Man  kann  eine  Parallele  zu  den  befreien-­‐den  Athenern  des  Perserkrieges  ziehen,  die  Herodot  in  seinem  achten  Buch  beschreibt,  als  alle  hellenen,  Athener  und  Spartaner,  noch  vereint  waren.  Da  waren  es  die  Athener,  damals  die  Befreier  von  Hellas,  die  den  persern  nicht  nachgeben   wollten   –   und   sie   benutzten   Argumente,   die   den   Argumenten  der  Melier   ähnlich  waren.   jetzt   sind  dagegen  die   Spartaner  die  möglichen  Befreier,  dank  der  Politik  des  Brasidas  und  in  der  Hoffnung  der  Melier.  Meiner  Meinung  nach  hat  das  Ganze  noch  heute  für  uns  eine  Bedeutung,  

z.  B.  in  Bezug  auf  die  Außenpolitik  der  Amerikaner,  die  im  Licht  des  Völker-­‐rechts   als   aggressiv   erscheint.   Immer  mehr   vertieft   sich   eine   ideologische  Kluft  zwischen  den  US-­‐Amerikanern  und  den  Europäern,  die,  nachdem  sie    

                                                                                                               86    Vgl.  F.  Nietzsche,  Nachgelassene  Fragmente,  1883,  VII,  1,  12[48]:  »Es  handelt  sich  gar  nicht  um  ein   Recht   des   Stärkeren,   sondern   Stärkere   und   Schwächere   sind   alle   darin   gleich.   Sie   dehnen  ihre  Mach   aus,   so  weit   sie   können.«   Vgl.   auch   Collis  Nachwort   zur  Genealogie   der  Moral,   in   F.  Nietzsche,  Opere,  Adelphi,  Milano,  VI,  2,  S.  374.  87  Zur  Frage  der  Relation  zwischen  Größe  und  Macht  vgl.   J.  Burckhardt,  Weltgeschichtliche  Be-­‐trachtungen,  Leipzig  o.  J.,  Kap.  5,  S.  209-­‐248,  sowie  G.  Colli,  La  ragione  errabonda,  Milano  1982,  S.  147.  

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bis  zur  Mitte  des  letzten  Jahrhunderts  selbst  eine  aggressive  Politik  betrie-­‐ben  hatten,  nun  die  Führerschaft  Amerikas  und  die  Legitimität  seiner  Macht  anzweifeln.   Dabei  waren   die   Amerikaner   doch   vor   nicht   langer   Zeit   noch  unsere   Befreier.   In   der   zeit   des   Kalten   Krieges,   im   Vietnam-­‐Krieg,   war  Thukydides  bei  den  Politikern  eine  beliebte  Lektüre,  um  aggressive  Politik  zu  rechtfertigen.  Auch  neuerdings  erscheint  Thukydides  wieder  im  Feuille-­‐ton.88  Aber  nur  wer  die  Komplexität  seines  Werkes  durchdringt,  kann,  wie  ich   glaube,   etwas  Wertvolles   (ktéma)   von   ihm   aufnehmen,   und   das   wäre  auch  heute  sehr  wichtig.  Die  Macht   ist   an   sich   neutral,   es   gibt   keine   von   Anfang   an   böse  Macht,  

auch  die  Impulse  sind  nach  Freud  als  solche  weder  gut  noch  böse.  Sehr  in-­‐teressant   ist,  was  Hannah  Ahrend   über   die  Macht   behauptet,   und  wie   sie  zwischen   Macht   und   Gewalt   unterscheidet.   Wenn   man   gewalttätig   wird,  meint  sie,  heißt  das,  dass  man  keine  Macht  mehr  besitzt.89  Nach  Todd,  der  die  heutige  Situation  der  Politik  der  USA  untersucht,  wären  die  Amerikaner,  wegen  der  Gewalt,  die  sie  gegenwärtig  ausüben,  nicht  mehr  so  mächtig,  wie  sie  glauben.90  Das  könnte  vielleicht  auch  für  die  Athener  auf  Melos  gelten.  In  Situationen  der  Ungleichheit  müssen  die  Großzügigkeit  des  Starken  und  der  Vorteil  des  Schwachen  übereinstimmen,  damit  eine  Art  Gerechtigkeit  mög-­‐lich  wird.  Das  ist  in  Melos  nicht  geschehen.91    

                                                                                                               88    R.  Kagan  und  andere,  z.  B.  H.  Prantl  in  der  Süddeutschen  Zeitung  vom  5.  10.  2002.  89    H.  Ahrendt,  macht  und  Gewalt,  München  2000,  S.  55-­‐57.  90    Vgl.  E  Todd:  Weltmacht  USA.  Ein  Nachruf.  München  2003.  Für  R.  Kagan  dagegen  sind  die  Ame-­‐rikaner  noch  die  Stärkeren.  Aber  statt,  wie  die  Athener  in  Melos,  das  Gesetz  der  Stärkeren  vor-­‐zuschieben,   sehen  sie  sich  als  »einzige  Garantiemacht  einer  demokratischen  Weltordnung«.  Er  sieht  »eine  philosophisch-­‐metaphysische  Kontroverse  darüber,  wo  die  Menschheit  auf  dem  Kon-­‐tinuum   zwischen   den   Gesetzen   des   Dschungels   und   denen   der   Vernunft   steht.   Anders   als   die  Europäer,   glauben   die   Amerikaner   nicht,   dass   wir   vor   der   Verwirklichung   des   kantischen  Traums  vom  ewigen  Frieden  stehen.«  (R.  Kagan,  Macht  und  Ohnmacht.  Berlin  2003,  S.  107)  91  Alte  Worte  einer  babylonischen  Inschrift  drücken  das  desillusionierende  Misstrauen  gegen  die  menschliche  Natur  so  aus:  »Das  menschliche  Geschlecht  ist  dumm  und  weiß  nichts.  Was  für  ein  wissen  hat   jemand  überhaupt?  Er  weiß  weder,   ob   er   eine   gute,   noch  ob   er   eine   schlechte  Tat  getan   hat.«  Aber,   auch  wenn   es   nicht   so   oft   geschieht,   kann  man   aus   den   Fehlern   doch   etwas  lernen:  Der  indische  Asoka  (III.  Jh.  v.  Chr.)  ,  der  Freund  der  Götter,  empfindet  nach  einer  grässli-­‐chen  Expedition  gegen  die  Völker  in  Kalinga  Reue:  Nach  den  Gräueln  des  Krieges  lässt  er  seine  Verordnungen  für  den  frieden  an  verschiedenen  Orten  in  Stein  meißeln.  Vgl.  G.  Pugliese  Carra-­‐telli  (Hrsg.),  Gli  editti  di  Asoka,  Milano  2003,  S.  66-­‐68.  

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Thukydides   leugnet   nicht   die   Wichtigkeit   der   traditionellen   Gerechtig-­‐keit;  aber  angesichts  der  harten  Wirklichkeit  bricht  solche  Gerechtigkeit  in  sich  zusammen.  Für  Platon   ist  die  Gerechtigkeit,  die  Moral,  etwas  Ideelles,  das  man  durch  Erziehung  erreichen  kann.  Er  kann  sich  über  die  Sphäre  des  Menschlichen  erheben,  und  so  einen  höheren  Standpunkt  einnehmen,  ähn-­‐lich  »wie  der  Fisch,  der  aus  dem  Wasser  auftaucht  und  den  wahren  Himmel  und  das  wahre  Licht  erkennt.«  92  Wäre  also  die  grandiose  plastische  Reali-­‐sierung  des  Thukydides,  die  auf  Empirie  gründet,  für  Platon  nichts  als  dóxa  (Meinung)?  Das  Modell,  das  Thukydides  erreichen  möchte,  soll  der  Vielfalt  der  Realität  gerecht  werden.  Er  versucht,  im  Bewegten  etwas  Festes  zu  fin-­‐den.93  Die  Moral  des  Thukydides  ist  ungeschmückt:  Er  leugnet  den  Schmerz  nicht.  Er  sucht  ein  wahrhaftes  Verhältnis  zum  Wesen  der  Welt.94  Mit  Thukydides  kommt  das  Paradoxon  der  historiographischen  Erkennt-­‐

nis  –  das  heißt,  die  unersättliche  Begierde,  gerade  das  erkennen  zu  wollen,  was  unerkennbar   ist:  das  Unmittelbare  des  menschlichen  Handelns  –  klar  zum   Ausdruck.   In   der   Situation   dieses   Krieges   offenbart   sich   das   ganze  Spektrum   der   menschlichen   Kräfte,   sowohl   der   Rationalität   als   auch   der  Triebe  und  Leidenschaften.  Dieselbe  Mühe,  die  Thukydides  dafür  aufbringt,  diese  Spannung  auszudrücken,  verlangt  er  auch  von  seinem  Leser.      

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                                                                                                               92  Platon,  Phaidon  109e.  93  Vgl.  Heraklit:  »metabállon  anapaúetai  (sich  wandelnd  ruht  es)«.  G.  Colli,  La  Sapienza  greca,  III,  Eraclito,  14  A  34.  Adelphi,  Milano  1980;  vgl.  H.  Diels,  1957,  Heraklit,  84a,  S.  28.    94    Vgl.  F.  Nietzsche,  Jenseits  von  Gut  und  Böse,  225,  und  überhaupt  über  das  Leiden  und  über  das  Pathos   der  Wahrheit.   Eine   ähnliche   philosophische   Linie   findet  man   bei   Dichtern  wie   Lukrez  oder  Leopardi,  oder  bei  Philosophen  wie  Schopenhauer.  

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