Pragmatistische Bedeutungstheorien und das Prinzip der Autonomie der Bedeutung

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Erscheint in: Die Gegenwart des Pragmatismus, hg. v. M. Hartmann, J. Liptow u. M. Willaschek, Berlin: Suhrkamp 2013, 166-192 1 Pragmatistische Bedeutungstheorien und das Prinzip der Autonomie der Bedeutung Jasper Liptow Ziel dieses Aufsatzes ist die Kritik einer bestimmten Form pragmatistischen Denkens in der gegenwärtigen Sprachphilosophie, die man als pragmatistische Bedeutungstheoriebezeichnen kann. Robert Brandom kommt das Verdienst zu, einen Ansatz dieser Art nicht nur im Detail ausgearbeitet, sondern auch eine Vielzahl der methodischen Implikationen ausdrücklich ins philosophische Bewusstsein gehoben zu haben. Die folgenden Überlegungen sind daher primär in Auseinandersetzung mit Gedanken und Überlegungen Brandoms entstanden. Ziel ist es aber, einen allgemeinen sprachphilosophischen Ansatz zu kritisieren, eine Form sprachphilosophischen Denkens, von der Brandoms Theorie nur eine Variante darstellt. Grob gesprochen handelt es sich bei einer pragmatistischen Bedeutungstheorie um den Versuch, die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke im Rahmen einer philosophischen Erklärung auf eine bestimmte Form ihres Gebrauchs zurückzuführen. Es geht mir dabei nicht darum, eine Binsenweisheit anzuzweifeln. Dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke konstitutiv von ihrem Gebrauch durch Sprecherinnen und Sprecher abhängt, möchte ich nicht bestreiten. Es geht darum, eine bestimmte Form von Sprachphilosophie zu kritisieren. Denn aus der genannten Binsenweisheit folgt natürlich nicht, dass sprachliche Bedeutung im Rahmen einer philosophischen Erklärung auf den Gebrauch sprachlicher Ausdrücke zurückgeführt werden kann. Ich werde ein zentrales Problem für Ansätze dieser Art präsentieren und argumentieren, dass die Aussichten, dieses Problem zu umgehen, düster sind. Das Problem kann man wiederum grob wie folgt formulieren: Es gehört zu unserem alltäglichen Begriff der Sprache, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke gegenüber ihrer Verwendung zur Verwirklichung bestimmter Zwecke in einem bestimmten Sinn autonom ist. Donald Davidson hat behauptet, dass dieses Prinzip der Autonomie der Bedeutungwie er es nennt ein wesentlicher Zug menschlicher Sprache ist. Ich werde zeigen, dass erstens diese Behauptung gerechtfertigt ist und dass zweitens dieses Prinzip bei näherer Betrachtung strikt inkompatibel mit der Art von Erklärung sprachlicher Bedeutung ist, durch die sich das Unternehmen einer pragmatistischen Bedeutungstheorie definiert. Ich gehe dabei folgendermaßen vor: Im ersten Abschnitt erläutere ich das Unternehmen einer pragmatistischen Bedeutungstheorie, indem ich seine grundlegenden theoretischen

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Pragmatistische Bedeutungstheorien und das

Prinzip der Autonomie der Bedeutung

Jasper Liptow

Ziel dieses Aufsatzes ist die Kritik einer bestimmten Form pragmatistischen Denkens in der

gegenwärtigen Sprachphilosophie, die man als „pragmatistische Bedeutungstheorie“

bezeichnen kann. Robert Brandom kommt das Verdienst zu, einen Ansatz dieser Art nicht nur

im Detail ausgearbeitet, sondern auch eine Vielzahl der methodischen Implikationen

ausdrücklich ins philosophische Bewusstsein gehoben zu haben. Die folgenden Überlegungen

sind daher primär in Auseinandersetzung mit Gedanken und Überlegungen Brandoms

entstanden. Ziel ist es aber, einen allgemeinen sprachphilosophischen Ansatz zu kritisieren,

eine Form sprachphilosophischen Denkens, von der Brandoms Theorie nur eine Variante

darstellt. Grob gesprochen handelt es sich bei einer pragmatistischen Bedeutungstheorie um

den Versuch, die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke im Rahmen einer philosophischen

Erklärung auf eine bestimmte Form ihres Gebrauchs zurückzuführen.

Es geht mir dabei nicht darum, eine Binsenweisheit anzuzweifeln. Dass die Bedeutung

sprachlicher Ausdrücke konstitutiv von ihrem Gebrauch durch Sprecherinnen und Sprecher

abhängt, möchte ich nicht bestreiten. Es geht darum, eine bestimmte Form von

Sprachphilosophie zu kritisieren. Denn aus der genannten Binsenweisheit folgt natürlich

nicht, dass sprachliche Bedeutung im Rahmen einer philosophischen Erklärung auf den

Gebrauch sprachlicher Ausdrücke zurückgeführt werden kann.

Ich werde ein zentrales Problem für Ansätze dieser Art präsentieren und argumentieren, dass

die Aussichten, dieses Problem zu umgehen, düster sind. Das Problem kann man – wiederum

grob – wie folgt formulieren: Es gehört zu unserem alltäglichen Begriff der Sprache, dass die

Bedeutung sprachlicher Ausdrücke gegenüber ihrer Verwendung zur Verwirklichung

bestimmter Zwecke in einem bestimmten Sinn autonom ist. Donald Davidson hat behauptet,

dass dieses „Prinzip der Autonomie der Bedeutung“ – wie er es nennt – ein wesentlicher Zug

menschlicher Sprache ist. Ich werde zeigen, dass erstens diese Behauptung gerechtfertigt ist

und dass zweitens dieses Prinzip bei näherer Betrachtung strikt inkompatibel mit der Art von

Erklärung sprachlicher Bedeutung ist, durch die sich das Unternehmen einer pragmatistischen

Bedeutungstheorie definiert.

Ich gehe dabei folgendermaßen vor: Im ersten Abschnitt erläutere ich das Unternehmen einer

pragmatistischen Bedeutungstheorie, indem ich seine grundlegenden theoretischen

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Festlegungen mit Bezug auf den Zusammenhang von Bedeutung und Gebrauch darlege. Im

zweiten Abschnitt verweise ich auf einige pragmatische Phänomene, die diesen Festlegungen

zuwiderzulaufen scheinen und identifiziere zwei mögliche Strategien, wie eine

pragmatistische Bedeutungstheorie mit diesen Phänomenen umgehen kann. Im dritten

Abschnitt rekonstruiere ich Davidsons Prinzip der Autonomie sprachlicher Bedeutung in

seiner Anwendung auf einen bestimmten Fall und zeige, warum dieses Prinzip ein

Wesensmerkmal unserer sprachlichen Praxis darstellt. Abschließend weise ich nach, dass die

beiden Strategien daran scheitern, dass sie mit dem Prinzip der Autonomie entweder direkt

oder zusammen mit einer grundlegenden theoretischen Festlegung pragmatistischer

Bedeutungstheorien unvereinbar sind.

1. Was ist eine pragmatistische Bedeutungstheorie?

Die Rede von einer pragmatistischen Bedeutungstheorie, wie sie sich in den letzten

Jahrzehnten vor allem durch die Arbeiten Robert Brandoms etabliert hat, ist sicherlich

erklärungsbedürftig. In diesem Abschnitt möchte ich Grundzüge dieses Unternehmens in

einer Weise herausarbeiten, die einerseits allgemein genug sein soll, um eine große Klasse

von konkreten Vorschlägen abzudecken, andererseits spezifisch genug, um Angriffsflächen

für eine substanzielle Kritik zu bieten.

1.1 Der Gedanke der Zurückführung von Bedeutung auf Gebrauch

Wer bei den klassischen Pragmatisten nach Ansichten sucht, die sich als Vorläufer einer

pragmatistischen Bedeutungstheorie in dem von mir intendierten Sinn interpretieren lassen,

kann sich an die Konzeption des Gehalts mentaler Akte und Zustände halten, die Charles

Sanders Peirce im Gewand einer Auffassung des Wesens von Überzeugungen (beliefs)

entwickelt und die William James seiner Auffassung des Pragmatismus zugrunde legt. In der

berühmten Passage, in der Peirce die „pragmatische Maxime“ zur Klärung unserer Ideen

formuliert, gründet er diese auf folgende Auffassung von Überzeugungen:

Das Wesen der Überzeugung ist die Einrichtung einer Verhaltensweise, und verschiedene

Überzeugungen unterscheiden sich durch die verschiedene Art der Handlungen, die sie

hervorbringen. Wenn Überzeugungen sich in dieser Hinsicht nicht unterscheiden, wenn sie

denselben Zweifel zur Ruhe bringen, indem sie dieselbe Regel des Handelns erzeugen, dann

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können keine bloßen Unterschiede in der Art des Bewußtseins von ihnen sie zu verschiedenen

Überzeugungen machen […].1

Diese Passage enthält offenbar eine These über die Individuierung von Überzeugungen: Was

eine Überzeugung zu der Überzeugung macht, die sie ist, so der Gedanke, ist die „Art der

Handlungen“, (mode of action), „Regel des Handelns“ (rule of action) oder, wie Peirce meist

sagt, „Verhaltensweise“ (habit), die sie hervorbringt. Die Allgemeinheit, die in der Rede von

„Arten“, „Regeln“ oder „Weisen“ liegt, ist dabei entscheidend. Wenn zwei Überzeugungen

bereits dann identisch wären, wenn sie faktisch dasselbe Verhalten hervorbringen, müssten

etwa alle Überzeugungen, die sich niemals in unserem Verhalten manifestieren, miteinander

identisch sein. Das, was Peirce als „Verhaltensweise“ bezeichnet, ist dagegen (oder beinhaltet

zumindest) eine Verhaltensdisposition. Diese ist aber selbst kein Verhalten, sondern, eher die

Ursache von Verhalten, und zwar eine Ursachen von Verhalten, die dadurch bestimmt ist, in

welcher Art von Verhalten sie sich unter welcher Art von (aktualen oder bloß möglichen)

Umständen manifestiert.2 Zwei Überzeugungen sind Peirce zufolge also genau dann identisch,

wenn sie uns dazu disponieren, unter genau denselben (faktischen und kontrafaktischen)

Umständen genau dasselbe Verhalten an den Tag zu legen.

Nun sind die Überzeugungen einer Person auch durch ihre Gehalte individuiert. Was eine

Überzeugung zu der Überzeugung macht, die sie ist, ist ihr Gehalt, das also, was wir in Sätzen

der Form „S glaubt, dass p“ durch den Ausdruck angeben, für den „p“ steht. Wir können

daher die Peirce’sche These über die Individuierung von Überzeugungen als folgende These

über den Gehalt von Überzeugungen lesen: Zwei Überzeugungen haben genau dann

denselben Gehalt, wenn sie uns dazu disponieren, unter denselben (faktischen und

1 Charles Sanders Peirce, „Wie unsere Ideen zu klären sind“, in: Schriften zum Pragmatismus und

Pragmatizismus, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1976, S. 182-209, hier S. 191 (CP 5.398). Das Verhältnis zwischen

diesem Gedanken und der pragmatischen Maxime ist nicht völlig durchsichtig. Peirce und James legen beide

dieselbe verwirrende Tendenz an den Tag, kommentarlos von dem Gedanken, dass der Gehalt eines Begriffs

durch diejenigen Konsequenzen für unser Handeln bestimmt ist, die wir dadurch an den Tag legen, dass wir

diesen Begriff anwenden, zu dem ganz anderen Gedanken überzugehen, dass der Gehalt eines Begriffs durch

diejenigen Konsequenzen für unser Handeln bestimmt ist, die (unserer Auffassung zufolge) die Gegenstände

an den Tag legen, die unter diesen Begriff fallen. James etwa referiert zunächst den im Text rekonstruierten

Gedanken von Peirce: „Peirce weist darauf hin, daß unsere Überzeugungen tatsächlich Regeln für unser

Handeln sind, und sagt dann, daß wir, um den Sinn eines Gedankens herauszubekommen, nichts anderes tun

müssen, als die Handlungsweise bestimmen, die dieser Gedanke hervorzurufen geeignet ist. Die

Handlungsweise ist für uns die ganze Bedeutung dieses Gedankens.“ (William James, Der Pragmatismus.

Ein neuer Name für alte Denkmethoden, Hamburg 1977, S. 28) Nur um zwei Sätze weiter daraus die

Schlussfolgerung zu ziehen: „Um so vollkommene Klarheit in unsere Gedanken über einen Gegenstand zu

bringen, müssen wir nur erwägen, welche praktischen Wirkungen dieser Gegenstand in sich enthält, was für

Wahrnehmungen wir zu erwarten und was für Reaktionen wir vorzubereiten haben. Unsere Vorstellung von

diesen Wirkungen, mögen sie unmittelbare oder mittelbare sein, macht dann für uns die ganze Vorstellung

des Gegenstandes aus.“ (ebd., S. 29). 2 Vgl. Peirce, „Wie unsere Ideen zu klären sind“, S. 192f. (CP 5.400).

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kontrafaktischen) Umständen dasselbe Verhalten an den Tag zu legen. Und es liegt nahe,

hieraus folgende Konsequenz für die Konstitution des Gehalts von Überzeugungen zu ziehen:

Der Gehalt einer Überzeugung wird dadurch bestimmt, zu welchem Verhalten sie uns unter

welchen (faktischen und kontrafaktischen) Umständen disponiert.3 Es ist nun nicht schwer,

diesen Gedanken in eine Auffassung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke zu transponieren,

die dann auch „pragmatistisch“ genannt zu werden verdiente. Dieser Auffassung zufolge

würde die Bedeutung eines Aussagesatzes durch die Verhaltens- oder Handlungsdispositionen

bestimmt, die wir haben, wenn wir diesem Satz zustimmen (oder ihn für wahr halten oder

Ähnliches).

Robert Brandom hat darauf hingewiesen, dass diese klassisch-pragmatistische Auffassung des

Gehalts (sei es von Überzeugungen oder von Sätzen) mindestes aus zwei Gründen zu kurz

greift. Erstens bezieht sie nur die praktischen Folgen des Habens einer Überzeugung oder der

Anerkennung eines Satzes ein und nicht auch die Folgen, die sich für den Rest unserer

Überzeugungen oder sprachlichen Dispositionen ergeben. Zweitens beschränkt sie sich auf

die Folgen des Habens von Überzeugungen oder der Anerkennung von Sätzen und

vernachlässigt die Umstände, unter denen wir zu einer Überzeugung oder der Zustimmung zu

einem Satz gelangen.4

Brandom hat aber auch darauf aufmerksam gemacht, dass die klassisch-pragmatistische

Auffassung des Gehalts zu einem Typ von Auffassungen gehört, den man aufgrund

bestimmter Merkmale noch in einem anderen Sinn als „pragmatistisch“ bezeichnen kann,

weshalb das Scheitern der klassisch-pragmatistischen Auffassung nicht bedeutet, dass sich

nicht doch eine Auffassung entwickeln lässt, die zurecht als pragmatistisch gelten kann. Bei

der Auffassung, die Brandom vorschwebt, handelt es sich um eine Erklärung des Gehalts von

Überzeugungen in Begriffen der Rolle, die sie im Rahmen einer bestimmten Praxis spielen.5

Es ist diese Art von Erklärung mentalen Gehalts oder sprachlicher Bedeutung – eine

Erklärung bestimmter Eigenschaften einer Art von Dingen in Begriffen unseres Gebrauchs

dieser Dinge oder unseres Umgangs mit diesen Dingen –, für die Brandom letztlich das

Etikett „pragmatistisch“ verwendet:

3 Soweit ich sehe, legen sich weder Peirce noch James ausdrücklich auf das Primat des Verhaltens gegenüber

der Überzeugung fest, das in dieser Formulierung steckt. 4 Vgl. Robert B. Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung,

Frankfurt/M. 2000, S. 196. 5 Brandom bezeichnet diese Art von Pragmatismus daher auch als eine Form des Funktionalismus (vgl.

Robert B. Brandom, Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt/M. 2001,

S. 13).

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Ein Pragmatismus mit Blick auf das Begriffliche versucht zu verstehen, was es heißt, explizit zu

sagen oder zu denken, daß etwas der Fall ist, und zwar im Rückgriff auf [in terms of] das implizite

Wissen-wie, das man besitzen muss (also anhand dessen, was man implizit zu tun imstande sein

muss).6

Eine pragmatistische Bedeutungstheorie in diesem Sinn ist also der Versuch einer Erklärung

sprachlicher Bedeutung in Begriffen ihrer Rolle im Rahmen einer Praxis. Etwas genauer

handelt es sich um den Versuch, die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke in Begriffen der

pragmatischen Signifikanz von Äußerungen, die diese Ausdrücke beinhalten, zu erklären.

„Erklären“ von X „in Begriffen“ von Y muss dabei in einem anspruchsvollen Sinn verstanden

werden. Die bloße Auffassung, dass sich sprachliche Bedeutung nicht ohne Bezug auf den

Gebrauch sprachlicher Ausdrücke erklären lässt, impliziert nicht den Gedanken, dass sie sich

in Begriffen des Gebrauchs erklären lässt. „X in Begriffen von Y zu erklären“ bedeutet für

den pragmatistischen Bedeutungstheoretiker, X theoretisch auf Y zurückzuführen.7

Im einfachsten Fall lässt sich ein Vokabular oder eine Theorie auf ein anderes Vokabular oder

eine andere Theorie dadurch zurückführen, dass die grundlegenden Begriffe des ersten

Vokabulars explizit durch Begriffe des zweiten Vokabulars definiert werden können. (Das

scheint zumindest in einigen Fällen auch die Art von theoretischer Zurückführung zu sein, die

Brandom vorschwebt.) Zumindest aber muss eine strikte Korrelation zwischen den

grundlegenden Begriffen des ersten Vokabulars und Begriffen des zweitens Vokabulars in der

Weise hergestellt werden können, dass sich für jeden der grundlegenden Begriffe des ersten

Vokabulars notwendige und hinreichende Bedingungen seines Zutreffens auf Gegenstände

durch Begriffe des zweiten Vokabulars angeben lassen. Für unseren Fall der Zurückführung

von Bedeutung auf Gebrauch handelt es sich bei dem ersten Vokabular um denjenigen

Zusammenhang von Begriffen, mit dem wir sprachlichen Ausdrücken semantische

Eigenschaften zuschreiben, also um Begriffe wie die des Satzes, der Bedeutung, des

propositionalen Gehalts, der Wahrheit, der Bezugnahme, des Zutreffens auf Gegenstände und

so weiter. Das zweite Vokabular ist dasjenige, das von der pragmatistischen

Bedeutungstheorie selbst bereitgestellt wird. Es ergibt sich somit eine erste Bedingung für das

Gelingen dieses Unternehmens:

6 Brandom, Begründen und Begreifen, S. 31. 7 Man kann eine pragmatistische Bedeutungstheorie daher auch als eine „reduktive Bedeutungstheorie“

bezeichnen (vgl. Jasper Liptow, Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur

sprachlicher Praxis, Weilerswist 2004, 52ff., wo auch auf prinzipielle Probleme dieser Art von Theorie

hingewiesen wird, die ich hier nicht diskutiere).

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(B1) Für jeden grundlegenden semantischen Begriff S muss eine pragmatistische

Bedeutungstheorie eine (eventuell komplexe) Bedingung P formulieren können,

sodass gilt, dass ein sprachlicher Ausdruck genau dann S ist, wenn eine

Äußerung dieses Ausdrucks P ist.8

Um eine Zurückführung handelt es sich hier allerdings nur, wenn zusätzlich die Bedingung

erfüllt ist, dass die Begriffe, die die pragmatistische Bedeutungstheorie selbst verwendet, um

die pragmatische Signifikanz von Äußerungen zu beschreiben, nicht ihrerseits wieder von

semantischen Begriffen abhängen. Das führt uns zu einer zweiten grundlegenden Bedingung:

(B2) Das theoretische Vokabular, das eine pragmatistische Bedeutungstheorie zur

Beschreibung der pragmatischen Signifikanz von Äußerungen verwendet, muss

ohne jeden Bezug auf semantische Begriffe (und – wegen ihres engen

Zusammenhangs mit diesen – auch ohne jeden Bezug auf intentionale oder

mentale Begriffe) verständlich sein.

1.2. Die pragmatische Signifikanz von Äußerungen und die Bedeutung von Sätzen

Damit die Diskussion beherrschbar wird, werde ich mich im Weiteren auf eine besondere

Klasse von pragmatistischen Bedeutungstheorien beschränken. Diese lässt sich durch die

grundlegende Festlegung abgrenzen, dass die theoretisch grundlegende Form des Gebrauchs

sprachlicher Ausdrücke in der Äußerung vollständiger Sätze besteht.9 Wir klassifizieren

Äußerungen von Sätzen durch Begriffe wie den der Behauptung, der Frage, des Versprechens,

der Bitte, des Befehls usw. Die Beschränkung, die ich vornehmen möchte, lässt sich daher

auch so formulieren, dass die pragmatistischen Bedeutungstheorien, um die es mir geht,

davon ausgehen, dass die theoretisch grundlegenden Formen sprachlicher Praxis, mit Bezug

8 Zwei Kommentare zu (B1), die für das Folgende keine Rolle spielen, sind wichtig, um diese Formel nicht

vorschnell abzulehnen: Zum einen kann eine pragmatistische Bedeutungstheorie mit Bezug auf einige

vorgeblich grundlegende semantische Ausdrücke behaupten, dass diese tatsächlich gar keine grundlegenden

semantischen Begriffe ausdrücken und insofern auch nicht auf pragmatische Begriffe zurückgeführt werden

müssen. Brandom etwa wendet diese Strategie auf die in seinen Augen nur scheinbaren Begriffe der

Wahrheit und der Bezugnahme an (vgl. Brandom, Expressive Vernunft, Kap. 5). Zum anderen muss nicht

verlangt werden, dass sich die semantischen Begriffe einzeln in dieser Weise mit pragmatischen Begriffen in

Beziehung setzen lassen. Eine Reduktion muss sich eventuell auf Mengen von Begriffen oder gar ganze

Vokabulare oder Theorien auf einmal richten (vgl. David Lewis, „Psychophysische und theoretische

Gleichsetzungen“, in: Die Identität von Körper und Geist, Frankfurt/M. 1989, S. 21-38, für einen Vorschlag,

wie das in dem verwandten Fall der Zurückführung mentaler Begriffe aussehen könnte). 9 Das ist keine große Beschränkung, da pragmatistische Bedeutungstheorien typischerweise den Gebrauch von

Sätzen theoretisch privilegieren, aber es ließe sich sicherlich auch für pragmatistische Bedeutungstheorien

ein anderer Ausgangspunkt vorstellen (vgl. Brandom, Begründen und Begreifen, S. 24f.).

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auf deren pragmatische Signifikanz die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke erklärt werden

soll, Akte mindestens einer der genannten Art sind.

Hier ist allerdings bereits Vorsicht geboten. Denn vortheoretisch begreifen wir Behauptungen,

Fragen usw. als absichtliche Handlungen. Und genau diese Annahme macht auch die

Sprechakttheorie im Anschluss an Austin und Searle. Sie konzipiert Äußerungen als Akte, die

mit Gründen und aus Gründen vollzogen werden, wobei diese Gründe in Form von

Überzeugungen, Wünschen und Absichten von Sprecherinnen und Sprechern vorliegen.

Gemäß (B2) steht pragmatistischen Bedeutungstheorien unser alltägliches Verständnis

sprachlicher Äußerungen als absichtliche Handlungen und seine theoretische Ausarbeitung im

Rahmen der Sprachakttheorie aber nicht zur Verfügung. Hieraus folgt zwar nicht, dass eine

pragmatistische Bedeutungstheorie ohne Begriffe wie den der Behauptung oder der Frage

auskommen muss. Aber es folgt, dass sie diese Begriffe in einer unüblichen Weise

interpretieren muss, die nicht bereits mentale oder intentionale Begriffe ins Spiel bringt.

Wenn ich daher im Folgenden den Ausdruck „Sprechakt“ verwende, soll dieser so verstanden

werden, dass nicht bereits impliziert ist, dass es sich bei Sprechakten um absichtliche

Handlungen handelt.

Die Beschränkung auf pragmatistische Bedeutungstheorien, die als die primären sprachlichen

Einheiten Sätze und als die primären Elemente sprachlicher Praxis Sprechakte ansetzen, ist

sinnvoll, weil sich auf diese Weise eine sehr viel genauere Bestimmung der Form und der

Probleme pragmatistischer Bedeutungstheorien vornehmen lässt. Das liegt daran, dass der

Zusammenhang von sprachlicher Bedeutung und pragmatischer Signifikanz von Sprechakten

dem Unternehmen einer pragmatistischen Bedeutungstheorie einige grundlegende

Bedingungen auferlegt. Das möchte ich im Folgenden kurz ausführen.

Betrachten wir die folgenden drei Sätze:

(1) Marlowe wird eine Orange schälen.

(2) Marlowe, schäle eine Orange!

(3) Wird Marlowe eine Orange schälen?

Wie jede plausible Theorie der sprachlichen Bedeutung muss auch eine pragmatistische

Bedeutungstheorie anerkennen, dass zwischen den Sätzen (1) bis (3) in semantischer Hinsicht

eine Gemeinsamkeit besteht. Zum einen darf man annehmen, dass die Bedeutung von

„Marlowe“, „schälen“, „eine“ und „Orange“ in allen drei Fällen dieselbe ist. Aber nicht nur

das, auch der semantische Zusammenhang zwischen diesen Ausdrücken scheint in einem

bestimmten Sinn derselbe zu sein: Es geht in allen drei Fällen um das bevorstehende Schälen

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einer Orange durch Marlowe. Üblicherweise trägt man diesen beiden Tatsachen dadurch

Rechnung, dass man sagt, die drei Äußerungen hätten denselben propositionalen Gehalt,

nämlich, dass Marlowe eine Orange schälen wird. Die Syntax der Sätze (1) bis (3) wird

üblicherweise so aufgefasst, dass dieser semantischen Gemeinsamkeit eine syntaktische

Gemeinsamkeit entspricht. Was die Sätze (1) bis (3) in syntaktischer Hinsicht voneinander

unterscheidet, ist ihr Modus.10 (1) besitzt einen deklarativen, (2) einen imperativen und (3)

einen interrogativen Modus.11 Es ist für meine Zwecke nicht wichtig, in welchen Merkmalen

– Modus des Verbs, Wortstellung, Satzzeichen usw. – sich diese Unterscheidung manifestiert.

Man kann einfach die Gesamtheit der Merkmale eines Satzes, in denen sich sein Modus

manifestiert, unter dem Titel „Modusregler“ zusammenfassen.12 Jeder Satz besteht dann aus

zwei voneinander unabhängigen aber unselbstständigen syntaktischen Einheiten: einem

Modusregler und dem Rest. Der Modusregler enthält alle Elemente oder Aspekte des Satzes,

in denen sich der Satz-Modus manifestiert, aber nichts, was zum Ausdruck des

propositionalen Gehalts des Satzes beiträgt. Der Rest des Satzes, das „Satzradikal“, enthält

alle Elemente oder Aspekte des Satzes, die den propositionalen Gehalt des Satzes zum

Ausdruck bringen, aber nichts, in dem sich der Modus manifestiert.13 Diesem Bild zufolge

haben wir es in (1) bis (3) jeweils mit demselben Satzradikal (und daher mit demselben

propositionalen Gehalt) zu tun, das sich mit einen jeweils unterschiedlichen Modusregler zu

einem vollständigen Satz verbindet. Ich werde im Folgenden voraussetzen, dass dieses Bild

im Wesentlichen zutrifft.14

10 „Modus“ in diesem Sinn bezeichnet also keine Eigenschaft des Verbs (ob es im Indikativ, Imperativ oder

Konjunktiv steht) sondern des Satzes. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist daher gelegentlich

vorgeschlagen worden, hier von „Satztyp“ anstelle von „Modus“ zu reden (vgl. etwa Stephen C. Levinson,

Pragmatics, Cambridge 1983, S. 243. Ich begnüge mich mit dieser Fußnote. 11 Dies sind die fundamentalen Satz-Modi, die in den meisten natürlichen Sprachen vorkommen (vgl.

Levinson, Pragmatics, 242, und die dortigen Verweise). 12 „Modusregler“ ist der Ausdruck, den Davidson (bzw. Davidsons Übersetzer) in Donald Davidson, „Modi

und performative Äußerungen“, in: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 1986, S. 163-180, wählt; in

der Literatur sind noch viele andere Namen im Umlauf. 13 Vgl. Erik Stenuis, Wittgenstein's Tractatus, Oxford 1960, S. 159-164 und Erik Stenuis, „Mood and

Language-Game“, in: Synthese 17 (1967), S. 254-274, wo auch der Ausdruck „Satzradikal“ geprägt wird.

Alternativ kann man den Indikativ theoretisch privilegieren und davon ausgehen, dass der gemeinsame

Kern, der den propositionalen Gehalt zum Ausdruck bringt, in einem indikativischen Satz besteht. Sätze

anderer Modi bestehen dann aus einem indikativischen Kern und einen Modusregler (vgl. Davidson, „Modi

und performative Äußerungen“, S. 177; Gabriel Segal, „In the Mood for a Semantic Theory“, in:

Proceedings of the Aristotelian Society 91 (1990/1991), S. 103-118, hier S. 112. 14 Bisher war nur von der semantischen Funktion des Satzradikals die Rede. Wie sollen wir die semantische

Funktion des Modusreglers verstehen? Hier lassen sich zwei theoretische Traditionen unterscheiden: Zum

einen die Auffassung, dass dem Modusregler keine semantische Funktion zukommt, sondern er allein die

Aufgabe hat, die illokutionäre Kraft der entsprechenden Äußerung festzulegen (vgl. etwa Michael Dummett,

Frege. Philosophy of Language, London 1973, Kap. 10; für weitere Nachweise und eine eingehende Kritik

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Was folgt hieraus für das Unternehmen einer pragmatistischen Bedeutungstheorie? Zunächst

eine einfache Adäquatheitsbedingung: Eine pragmatistische Bedeutungstheorie muss den

Gebrauch sprachlicher Ausdrücke in einer Weise begreifen, die eine Erklärung der Idee eines

identischen propositionalen Gehalts von Äußerungen, die sich in ihrer pragmatischen

Signifikanz unterscheiden, erlaubt. Dass das keine triviale Bedingung ist, kann man leicht

einsehen. Nehmen wir an, dass (1) dazu verwendet wird, um die Behauptung zu machen, dass

Marlowe eine Orange schält, (2), um den Befehl zu geben, dass Marlowe eine Orange schälen

soll, und (3), um die Frage zu stellen, ob Marlowe eine Orange schält. (Dass sich diese

Verbindung von Satz-Modus und Äußerungs-Typ nicht von selbst versteht, wird noch

Gegenstand der Diskussion sein.) Wir haben es dann mit drei Äußerungen zu tun, die sich in

ihrer pragmatischen Signifikanz drastisch unterscheiden werden, ganz unabhängig davon, wie

diese Signifikanz im Detail theoretisch konzeptualisiert wird: Sie sind in unterschiedlichen

Situationen angemessen, sie sind unter ganz verschiedenen Bedingungen akzeptabel, mit

ihnen werden unterschiedliche Festlegungen eingegangen, sie sind unterschiedlich zu

rechtfertigen usw. Wenn der propositionale Gehalt eines Satzes durch die pragmatische

Signifikanz von Äußerungen bestimmt sein soll, dann muss als erstes eine Erklärung dafür

her, wie Äußerungen einer ganz unterschiedlichen Signifikanz Äußerungen von Sätzen mit

demselben propositionalen Gehalt sein können.

Ein naiver Vorschlag könnte lauten, dass man einfach zwei voneinander unabhängige

Elemente oder Aspekte der pragmatischen Signifikanz einer jeden Äußerung unterscheiden

kann: Die pragmatische Signifikanz des Satz-Modus (die so genannte illokutionäre Kraft) auf

der einen Seite; und das, was man die pragmatische Signifikanz des propositionalen Gehalts

nennen könnte, auf der anderen Seite. Eine pragmatistische Bedeutungstheorie würde dann

einfach aus zwei Teilen bestehen: Einer Theorie der pragmatischen Signifikanz der

unterschiedlichen Modi und einer Theorie der pragmatischen Signifikanz der

unterschiedlichen propositionalen Gehalte. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieser

Gedanke aber als eine Sackgasse. Der Grund ist, dass er voraussetzt, dass dem Gedanken der

pragmatischen Signifikanz eines propositionalen Gehalts ganz unabhängig von seiner

vgl. Michael Pendlebury, „Against the Power of Force. Reflections on the Meaning of Mood“, in: Mind 95

(1986), S. 361-372). Zum anderen die Auffassung, dass der Modusregler sehr wohl eine Bedeutung hat, die

allerdings, anders als die Bedeutung anderer Satzelemente, nichts zum propositionalen Gehalt des Satzes

beiträgt (vgl. für unterschiedliche Ansätze dieser Art Davidson, „Modi und performative Äußerungen“;

Pendlebury, „Against the Power of Force“ oder Segal, „In the Mood for a Semantic Theory“). Wir müssen

uns hier nicht entscheiden, sondern können die Frage nach der semantischen Funktion des Modusreglers

offen lassen. Es bleibt daher auch offen, ob sich die Bedeutung eines Satzes in seinem propositionalen

Gehalt erschöpft, oder ob der propositionale Gehalt nur ein (selbstständiger) Teil der Bedeutung eines Satzes

ist.

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Verknüpfung mit irgendeiner illokutionären Kraft ein verständlicher Sinn abgerungen werden

kann. Das aber würde voraussetzen, dass wir in der Lage sind, für jeden propositionalen

Gehalt ganz unabhängig davon, mit welcher Kraft er ausgedrückt wird, ein eigenständiges

Stück sprachlicher Praxis ausfindig zu machen, das sich in nicht-semantischen und nicht-

intentionalen Begriffen beschreiben lässt. Doch wie sich an einem einfachen Beispiel

verdeutlichen lässt, scheint das kaum möglich zu sein: Wenn man etwa glaubt, dass die die

Bedeutung bestimmenden Aspekte der pragmatischen Signifikanz etwas mit der

Akzeptabilität von Äußerungen zu tun haben, wird man den propositionalen Gehalt einer

Behauptung etwa davon abhängig machen wollen, dass die Sprecherin weitere Behauptungen

akzeptiert, aus denen die fragliche Behauptung folgt, und dass sie die entsprechende

Folgerung anerkennen würde. Der propositionale Gehalt einer entsprechenden Frage

allerdings kann davon nicht in dieser Weise abhängen. Wer bereits Behauptungen akzeptiert,

aus denen sich die Antwort auf eine Frage folgern lässt, und bereit ist, diese Folgerung zu

ziehen, kennt die Antwort auf seine Frage in einem gewissen Sinn bereits und schmälert

insofern seine Berechtigung, die Frage überhaupt zu stellen. Allgemein gesprochen scheint

sich die pragmatische Signifikanz von Äußerungen nicht in der simplen Weise in Bestandteile

aufteilen zu lassen, wie das die naive Auffassung verlangt.15

Es bleibt aber noch eine weitere Möglichkeit, den Zusammenhang von pragmatischer

Signifikanz und propositionalem Gehalt zu begreifen. Grob gesprochen ist der Gedanke der,

dass propositionale Gehalte zwar in dem Sinn unabhängig von illokutionären Kräften sind,

dass sie sich in einzelnen Fällen mit verschiedenen Kräften verbinden können, dass sie aber

dennoch konstitutiv von einer bestimmten illokutionären Kraft abhängig sind. Dieser Ansatz

vermeidet den Fehler der naiven Auffassung, dem propositionalen Gehalt einen von jeder

illokutionären Kraft unabhängigen Bestandteil der pragmatischen Signifikanz von

Äußerungen zuzuerkennen. Ihm zufolge sind propositionale Gehalte ihrem Wesen nach die

Gehalte einer bestimmten – theoretisch ausgezeichneten – Art von Sprechakten. Dass

Sprechakte verschiedener Arten denselben propositionalen Gehalt haben, wird dann nicht

dadurch erklärt, dass ihre pragmatische Signifikanz einen identischen Bestandteil aufweist,

sondern dadurch, dass sie eine bestimmte Beziehung zu einem Sprechakt der ausgezeichneten

15 Es lässt sich natürlich ganz unproblematisch eine Gemeinsamkeit der drei Äußerungen, die ihrem

identischen Gehalt entspricht, begrifflich festmachen, aber nur dann, wenn man dabei bereits semantisches

Vokabular verwendet: Wenn es einen propositionalen Akt (Searle) gibt, der im Zuge des Machens aller drei

Äußerungen vollzogen wird, dann den des Äußerns von Worten, die den propositionalen Gehalt haben, dass

Marlowe eine Orange schälen wird. Aber um zu verstehen, was es heißt, einen solchen Akt zu vollziehen,

müssen wir natürlich immer schon verstanden haben, was es für Sätze heißt, einen propositionalen Gehalt zu

haben.

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Art aufweisen, der diesen Gehalt besitzt. An einem einfachen Beispiel: Die Gemeinsamkeit

der Behauptung, dass p, und der Frage, ob p, sollte von der naiven Auffassung so erklärt

werden, dass dem propositionalen Gehalt, dass p, eine bestimmte Signifikanz zugewiesen

wird, die dann beliebigen Sprechakten gemeinsam sein kann. Die plausiblere Auffassung

bestimmt dagegen die Gemeinsamkeit so, dass sie in einem ersten Schritt den propositionalen

Gehalt als den Gehalt von, sagen wir, Behauptungen bestimmt und angibt, welche

pragmatische Signifikanz eine Behauptung haben muss, um den Gehalt, dass p, zu besitzen; in

einem zweiten Schritt kann dann erklärt werden, dass eine Frage denselben propositionalen

Gehalt hat wie eine entsprechende Behauptung, wenn, sagen wir, eine bejahende Antwort auf

die Frage dieselbe pragmatische Signifikanz besitzt wie diese Behauptung. Die Idee einer

unabhängig von jeder illokutionären Kraft bestimmbaren pragmatischen Signifikanz des

propositionalen Gehalts kommt in der plausibleren Erklärung nicht mehr vor.

Wenn diese Überlegungen zutreffen, dann wird jede pragmatistische Bedeutungstheorie auf

folgende Weise vorgehen müssen: In einem ersten Schritt gibt die Theorie an, was es für

Sprechakte heißt, Sprechakte einer bestimmten – der theoretisch privilegierten – Art zu sein.

Da es aus verschiedenen Gründen, denen ich hier nicht nachgehen werde, zwingend ist, das

Privileg auf die Behauptungen fallen zu lassen, geht es hier darum, die pragmatische

Signifikanz von Behauptungen als solchen zu bestimmen, und zwar in einer Weise, die keine

semantischen oder intentionalen Begriffe voraussetzt.

In einem zweiten Schritt wird dann ein Begriff des Gehalts der privilegierten Art von

Sprechakten eingeführt. Wenn es sich bei der privilegierten Art um die Behauptungen

handelt, kann man diese theoretische Festlegung dadurch explizit machen, dass man

propositionalen Gehalt als „behauptbaren Gehalt“ bezeichnet – wie das etwa Brandom tut.16

Zu diesem Zweck müssen Behauptungen in pragmatischen Begriffen so fein individuiert

werden, dass sich alle Unterschiede des Gehalts als Unterschiede in der pragmatischen

Signifikanz verschiedener Behauptungen einfangen lassen.

Erst im dritten Schritt wird der entscheidende Übergang von einer Theorie der pragmatischen

Signifikanz von Sprachakten zu einer Theorie der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke

vollzogen. Zu diesem Zweck muss auf die in (B1) dargelegte Weise der Begriff des Satzes in

die Theorie eingeführt und der Begriff des propositionalen Gehalts von Sätzen durch den des

(„behauptbaren“) Gehalt von Behauptungen definiert werden. Dieser Schritt ist von einer

nicht zu überschätzenden Bedeutung, denn erst mit ihm kann die pragmatistische

16 So spricht Brandom auch davon, dass Gehalte „wegen ihrer Behauptbarkeit propositionale Gehalte“ sind

(Brandom, Expressive Vernunft, 282).

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Bedeutungstheorie Anspruch darauf erheben, eine systematische semantische Erklärung der

kompositionalen Struktur sprachlicher Bedeutung zu geben. Semantik zu betreiben bedeutet –

unter anderem –, zu erklären, was es für Sätze heißt, eine bestimmte Bedeutung zu haben,

und wir die Bedeutung von Sätzen sich zueinander und zu der Bedeutung der Teile, aus denen

sie bestehen, und der Form ihrer Zusammensetzung verhält. Wie jede andere

Bedeutungstheorie muss auch eine pragmatistische Bedeutungstheorie eine Konzeption des

semantischen Gehalts entwickeln, die sich nicht nur auf Äußerungen, sondern auch auf Sätze

beziehen lässt, die geäußert werden. Für jeden möglichen Gehalt muss ein Satz identifiziert

werden können, der diesen Gehalt zum Ausdruck bringt, und für jeden Satz muss der Gehalt

spezifiziert werden können, den er zum Ausdruck bringt.

Schließlich muss die Theorie in weiteren Schritten zum einen eine Auffassung davon

entwickeln, was es für Sprechakte nicht-privilegierter Arten heißt, einen bestimmten

semantischen Gehalt zum Ausdruck zu bringen. Nach dem Bisherigen ist diese Erklärung nur

so möglich, dass man eine eindeutige Beziehung jeder Äußerung einer nicht-privilegierten Art

zu einer bestimmten Behauptung herstellt. Zum anderen muss die Erklärung des Gehalts

sprachlicher Ausdrücke dahin gehend erweitert werden, dass nicht nur Sätzen, sondern auch

Ausdrücken unterhalb der Satzebene Gehalt zugesprochen wird. Hier geht es darum, in

Begriffen pragmatischer Signifikanz eine plausible Auffassung des Gehalts verschiedener

Arten von Ausdrücken zu entwickeln und zu erklären, wie sich der Gehalt von Ausdrücken

unterhalb der Satzebene zum Gehalt der Sätze verhält, in denen sie vorkommen.

Es ist der dritte theoretische Schritt, der Übergang von einer Theorie der pragmatischen

Signifikanz von Sprechakten zu einer Theorie der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, den ich

im Folgenden problematisieren möchte. Betrachten wir den dritten Schritt einer

pragmatistischen Erklärung sprachlicher Bedeutung noch einmal etwas genauer. Wir

verfügen, so nehmen wir an, an dieser Stelle bereits über eine Theorie der pragmatischen

Signifikanz von Behauptungen, die sowohl sagt, was eine bestimmte Verhaltensweise zu einer

Behauptung macht, als auch, was eine Behauptung zu einer bestimmten Behauptung, zu einer

Behauptung mit einem bestimmten behauptbaren Gehalt, macht. Eingeführt werden muss der

grundlegende semantische Begriff des Satzes und eine Erklärung dessen, was es für einen

bestimmten Satz heißt, eine bestimmte Bedeutung zu haben. Die einfachste Möglichkeit, das

in Begriffen der pragmatischen Signifikanz von Äußerungen zu tun, wäre wohl eine

Definition wie etwa die folgende:

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(SB) Ein sprachlicher Ausdruck x ist genau dann ein (deklarativer) Satz, der

bedeutet, dass p, wenn jede (potenzielle) Äußerung eines Vorkommnisses von x

das Aufstellen der Behauptung, dass p, ist.

Um die Dinge möglichst einfach zu halten, werde ich mich im Folgenden auf jenen Teil

dieser Definition beschränken, der den Begriff des (deklarativen) Satzes ganz unabhängig von

dessen Bedeutung bestimmt:

(S) Ein sprachlicher Ausdruck x ist genau dann ein (deklarativer) Satz, wenn jede

(potenzielle) Äußerung eines Vorkommnisses von x das Aufstellen einer

Behauptung ist.17

Ich werde im Rest dieses Aufsatzes zu zeigen versuchen, dass eine pragmatistische

Bedeutungstheorie an der Bedingung scheitert, auf der Basis einer Theorie des Behauptens

eine Bestimmung deklarativer Sätze zu geben, die von semantischem und intentionalem

Vokabular unabhängig ist.

2. Einige aufsässige pragmatische Phänomene

Nun ist die Definition (S) anscheinend keine ernsthafte Kandidatin, da sie offensichtlich

inadäquat ist, wenn wir sie mit unserer alltäglichen sprachlichen Praxis vergleichen. Da wir

im Rahmen dieser Praxis für jeden sprachlichen Ausdruck einige (potenzielle) Äußerungen

finden, die keine Behauptungen sind, wäre das Ergebnis, dass unsere Alltagssprache keine

(deklarativen) Sätze enthält!18 Dass das so ist, liegt unter anderem an folgenden Phänomenen,

die in unserer sprachlichen Praxis vorkommen:

„Indirekte Sprechakte“ – Wir äußern laufend deklarative Sätze, nicht um Behauptungen zu

machen, sondern um Sprechakte anderer Arten zu vollziehen. Wahrscheinlich werden Sätze

17 Entsprechend heißt es bei Brandom: „Der elementare Zug im Spiel des Lieferns und Forderns von Gründen

ist das Aufstellen einer Behauptung […]. Weitere theoretisch wichtige Begriffe werden auf dieser Grundlage

definiert: die sprachliche Praxis dadurch, daß sie einigen Akten die Signifikanz von Behauptungen zuweist,

und (Aussage-)Sätze als Ausdrücke, deren Äußerungen, Niederschriften oder sonstige Verwendungsfälle im

Normalfall als Behauptungen gelten.“ (Brandom, Expressive Vernunft, 219f.) Ich werde weiter unten auf die

Einschränkung zu sprechen kommen, dass (deklarative) Sätze als solche Äußerungen definiert werden, die

„im Normalfall“ Behauptungen sind. 18 Außerdem müssten wir sagen, dass alle Arten von Sätzen deklarativ sind, da wir mit allen Arten von Sätzen

Behauptungen aufstellen können.

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wie „Du wirst jetzt sofort dein Zimmer aufräumen“ oder „Wenn Du das tust, dann kannst Du

was erleben“ kaum je mit behauptender Kraft geäußert.

Performative Äußerungen – Das gilt insbesondere für die so genanten „explizit

performativen“ Äußerungen, also Äußerungen wie „Ich befehle Dir, dein Zimmer

aufzuräumen“ oder „Ich verspreche Dir, dein Zimmer aufzuräumen“, bei denen es sich

vielleicht um eine Unterklasse der indirekten Sprechakte handelt.

Äußerungen im Kontext fiktionalen Diskurses – Wenn eine Autorin einen fiktionalen Text

schreibt oder veröffentlicht oder ein Vater seinem Kind eine Gutenachtgeschichte erzählt,

werden viele deklarative Sätze geäußert, aber keine Behauptungen gemacht. Es wäre nicht

angemessen, die Wahrheit der geäußerten Sätze anzufechten, Rechtfertigungen einzufordern

oder die Sprecherinnen und Sprecher als jemanden zu behandeln, die oder der diese Sätze für

wahr hält.

Äußerungen auf der Bühne – Wenn eine Schauspielerin auf der Bühne einen deklarativen Satz

äußert, macht sie in der Regel keine Behauptung, sondern stellt höchstens eine Person dar, die

eine Behauptung macht. (Es kann natürlich auch sein, dass sie eine Person darstellt, die durch

die Äußerung eines deklarativen Satzes ein Versprechen gibt.).

Einige andere Phänomene – Wenn jemand einen Witz erzählt, entbehren seine Äußerungen

deklarativer Sätze oft der behauptenden Kraft. Dasselbe gilt für Äußerungen deklarativer

Sätze im Rahmen von Beispielen oder Gedankenexperimenten in philosophischen oder

anderen wissenschaftlichen Texten. Und selbst im Kontext von strikt logischen Argumenten

können deklarative Sätze ohne behauptende Kraft geäußert werden, etwa als Annahmen, die

ad absurdum geführt werden sollen.

Die genannten Phänomene zerfallen grob in zwei Klassen: Im Fall der indirekten Sprechakte

und der explizit performativen Äußerungen ist der deklarative Modus mit einer anderen Kraft

verbunden als der des Behauptens. Ich werde Äußerungen, für die dies gilt, im Folgenden

pauschal unter dem Titel „indirekte Sprechakte“ zusammenfassen. Im Fall der fiktionalen

Rede, des Schauspiels und der anderen Phänomene sollte vielleicht eher bezweifelt werden,

dass die Äußerungen überhaupt eine illokutionäre Kraft im üblichen Sinn haben. Nur um ein

Etiketten bei der Hand zu haben, werde ich Äußerungen dieser Art im Folgenden als

„unernsthafte Sprechakte“ bezeichnen.

Wie kann eine pragmatistische Bedeutungstheorie mit diesen Phänomenen umgehen? Wenn

ich recht sehe, stehen ihr zwei Strategien zur Verfügung. Die erste Strategie besteht darin, die

genannten Phänomene als in irgendeinem Sinn abgeleitete oder sekundäre Fälle zu begreifen

und die Definition auf die ursprünglichen oder primären Fälle zu begrenzen. Das muss

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natürlich mit einiger Umsicht getan werden, damit sichergestellt ist, dass die Bestimmung der

ursprünglichen oder primären Fälle die Definition weder zirkulär werden lässt, noch implizit

semantisches oder intentionales Vokabular verwendet.

Die beste mir bekannte Möglichkeit einer solchen Präzisierung der Definition (S) bedient sich

des Gedankens, dass Sätze einer bestimmten Art „im Normalfall“ („by default“) eine

bestimmte Kraft besitzen, was dann so erklärt wird, dass ein Satz genau dann „im

Normalfall“ eine bestimmte Kraft besitzt, wenn er diese Kraft solange besitzt, wie keine

besonderen Hinweise auf die illokutionäre Kraft vorliegen. Modifizieren wir also (S)

entsprechend:

(S*) Ein sprachlicher Ausdruck x ist genau dann ein (deklarativer) Satz, wenn eine

(potenzielle) Äußerung eines Vorkommnisses von x im Normalfall (d. h. wenn

keine besonderen Hinweise vorliegen) das Aufstellen einer Behauptung ist.19

Die zweite Strategie, die eine pragmatistische Bedeutungstheorie angesichts der Existenz der

theoretisch aufsässigen Phänomene einschlagen könnte, besteht darin, die Existenz dieser

Phänomene zu einem oberflächlichen oder akzidentellen Merkmal unserer sprachlichen Praxis

zu erklären. Der Gedanke wäre dann, dass unsere sprachliche Praxis zwar tatsächlich so

beschaffen ist, dass sie Phänomene enthält, die sich mit den Mitteln einer pragmatistischen

Bedeutungstheorie nicht erfassen lassen, dass das aber kein Merkmal dieser Praxis als einer

sprachlichen Praxis ist und dass es entsprechend eine sprachliche Praxis geben könnte, die

diese Phänomene nicht enthält und für die dann die Definition (S) ohne Modifikation

angemessen wäre. Eine pragmatistische Bedeutungstheorie wäre dann zu verstehen nicht als

eine Beschreibung und Erklärung unserer alltäglichen sprachlichen Praxis, sondern als eine

Beschreibung und Erklärung eines idealisierten Modells dieser Praxis.

Ich werde diese beiden Strategien nun über den Umweg der Diskussion eines

sprachphilosophischen Prinzips kritisieren, dass sich in den Arbeiten Donald Davidsons unter

dem Titel „Prinzip der Autonomie der Bedeutung“ vertreten findet. Die Diskussion dieses

Prinzips und eines nahe liegenden Einwands gegen dieses Prinzip wird mich in die Lage

versetzen, zuerst die zweite und dann auch die erste mögliche Strategie pragmatistischer

Bedeutungstheorien, mit den Phänomenen der indirekten und der unernsthaften Sprechakte

umzugehen, zurückzuweisen.

19 Dies entspricht nun tatsächlich Brandoms Definition in Brandom, Expressive Vernunft, 219f. (siehe oben

Anm. 17). Die These, dass die Verbindung von Modus und Kraft „im Normalfall“ vorliegt, findet sich auch

in Segal, „In the Mood for a Semantic Theory“, 117; Segal geht es dabei allerdings nicht um das Problem

der Definition des Begriffs des (deklarativen) Satzes in Begriffen pragmatischer Signifikanz.

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3. Das Prinzip der Autonomie der Bedeutung

In diesem Abschnitt möchte ich die These erläutern und verteidigen, dass der Versuch, die

Bedingungen, unter denen die Verwendung eines Satzes einer bestimmten Art den Vollzug

eines Sprechakts einer bestimmten Art darstellt, in nicht-intentionalen Begriffen zu

spezifizieren, nicht gelingen kann. Der Grund, warum er misslingen muss, ist, dass eine

konstitutive Unabhängigkeit bestimmter Aspekte sprachlicher Bedeutung von den nicht-

intentional spezifizierbaren Umständen ihres Gebrauchs zu unserem Begriff der Sprache

dazugehört.

Der Gedanke einer bestimmten Art von Unabhängigkeit von Bedeutung und Gebrauch, um

den es mir geht, wurde meines Wissens erstmals ausdrücklich von Donald Davidson unter

dem Titel des „Prinzips der Autonomie der Bedeutung“ gefasst.20 Davidson führt dieses

Prinzip im Kontext einer Untersuchung der Frage ein, ob es eine Konvention geben kann, die

die illokutionäre Kraft einer Äußerung konstituiert. Davidson verneint diese Frage aufgrund

eines Arguments, das, wie er sagt, das Prinzip der Autonomie der Bedeutung

veranschauliche.21

Sein Argument lässt sich für unsere Zwecke wie folgt rekonstruieren: Ein konventionelles

Merkmal eines sprachlichen Ausdrucks ist ein syntaktisch-semantisches Merkmal, das

hinsichtlich seiner Funktion von den jeweiligen Absichten der Sprecherin unabhängig ist. Der

deklarative Modus eines Satzes ist so ein Merkmal. Wie die aufsässigen Phänomene zeigen,

kann er allein aber nicht dafür Sorge tragen, dass ein Satz eine Behauptung ist. Darüber

hinaus kann aber auch nichts anderes, was sich in Form eines konventionellen Zeichens zum

Ausdruck bringen lässt, dazu verwendet werden, den Modus so zu „verstärken“, dass die

entsprechende Äußerung die Kraft einer Behauptung besitzen muss. Denn „jeder Spaßvogel,

Märchenerzähler und Schauspieler wird sich sogleich den verstärkten Modus zunutze machen,

um Behauptungen vorzutäuschen“22. Also kann gar kein syntaktisch-semantisches Merkmal

des Geäußerten, das hinsichtlich seiner Funktion von den jeweiligen Absichten der Sprecherin

20 Vgl. Davidson, „Modi und performative Äußerungen“; vgl. vor allem auch Davidson, „Kommunikation und

Konvention“. Davidson geht es primär um die These, dass die Modi von Sätzen mit den illokutionären

Kräften von Sprechakten durch Konventionen verbunden sind, aber seine Überlegungen lassen sich ohne

Schwierigkeiten verallgemeinern. 21 Vgl. Davidson, „Modi und performative Äußerungen“, 169. 22 Davidson, „Modi und performative Äußerungen“, 169.

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unabhängig ist, dafür Rechnung tragen, dass eine entsprechende Äußerung eine Behauptung

ist.23 Er fährt fort:

Was durch dieses Argument veranschaulicht wird, ist ein Grundzug der Sprache; man mag ihn die

Autonomie der sprachlichen Bedeutung nennen. Sobald ein Merkmal der Sprache auf

konventionelle Weise zum Ausdruck gebracht wird, kann man es zu vielen außersprachlichen

Zwecken verwenden; jede enge Verknüpfung mit einem außersprachlichen Zweck wird durch die

symbolische Darstellung unweigerlich zerrissen.24

Bevor ich mich mit der Frage der Begründung dieses Prinzips zuwende, möchte ich

versuchen, das Prinzip selbst allgemeiner zu formulieren. Ein erster Vorschlag könnte lauten:

(PAB1) Es kann keine enge Beziehung zwischen syntaktisch-semantischen Merkmalen

eines Satzes, die hinsichtlich ihrer Funktion von den jeweiligen Absichten der

Sprecherin unabhängig sind, und den außersprachlichen Zwecken, zu denen der

Satz gebraucht werden kann, geben.

Aber die Rede von „außersprachlichen“ Zwecken ist in diesem Zusammenhang verwirrend.

So formuliert, betrifft das Prinzip eher den Zusammenhang zwischen der Bedeutung eines

Satzes und dem, was Austin den perlokutionären Akt genannt hat. Die Beziehung, die uns

interessiert, ist jedoch die zwischen Bedeutung und illokutionärer Kraft. (Wenn das Prinzip

für die illokutionäre Kraft gilt, gilt es auch für die perlokutionären Zwecke, da der

illokutionäre Akt per definitionem ein Mittel zur Erreichung der perlokutionären Zwecke

darstellt. Aber das Umgekehrte ist nicht der Fall.) Wir möchten Vielleicht den Zweck, ein

Bier zu bekommen, einen „außersprachlichen“ Zweck nennen, den Zweck, eine Behauptung

zu machen, aber wohl eher nicht.25 Modifizieren wir (PAB1) entsprechend, gelangen wir zu:

(PAB2) Es kann keine enge Beziehung zwischen syntaktisch-semantischen Merkmalen

eines Satzes, die hinsichtlich ihrer Funktion von den jeweiligen Absichten der

Sprecherin unabhängig sind, und den illokutionären Kräften der Sprechakte, die

mit dem Äußern des Satzes vollzogen werden können, geben.

23 In einer bekannten Passage illustriert Davidson denselben Sachverhalt am Beispiel eines Schauspielers, der

versucht, das Publikum von der Existenz eines Feuers zu überzeugen: „Malen wir uns folgende Situation

aus: Der Schauspieler mimt eine Szene, in der ein Feuer ausbrechen soll (z. B. Albees Tiny Alice). Seine

Rolle verlangt, daß er möglichst überzeugend jemanden darstelle, der andere vor einem Feuer zu warnen

versucht. ‚Feuer!‘ ruft er, und vielleicht fügt er noch auf Anweisung des Autors hinzu: ‚Ich meine es ernst!

Seht doch, der Qualm!‘ usw. Und nun bricht ein wirkliches Feuer aus, und der Schauspieler versucht

vergebens, das wirkliche Publikum zu warnen. ‚Feuer!‘, ruft er, ‚ich meine es ernst! Seht doch, der Qualm!‘

usw.“ (Davidson, „Kommunikation und Konvention“, S. 378f.). 24 Davidson, „Modi und performative Äußerungen“, 169. 25 Davidson trägt dieser Tatsache Rechnung in Davidson, „Kommunikation und Konvention“.

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Aber dieses Prinzip ist unter einer gewissen Lesart dessen, was hier mit einer „engen

Beziehung“ gemeint ist, falsch und nicht einmal mit Davidsons eigener Auffassung des

Zusammenhangs von Satz-Modus und illokutionärer Kraft verträglich.

Für unsere Zwecke lässt sich der Grundgedanke von Davidsons Auffassung dieses

Zusammenhangs wie folgt darstellen:26 Der Modusregler hat, wie das Satzradikal, eine

bestimmte Bedeutung; und wie das Satzradikal bedeutet er, dass etwas der Fall ist. Während

das Satzradikal den propositionalen Gehalt des geäußerten Satzes zum Ausdruck bringt,

bringt der Modusregler zum Ausdruck, dass die Äußerung des ganzen Satzes eine bestimmte

illokutionäre Kraft hat (auch dieser Gehalt hat eine propositionale Form, aber ich werde den

Titel „propositionaler Gehalt“ weiterhin für den Gehalt des Satzradikals reservieren). Der Satz

(2) etwa hat also, wenn er bei einer bestimmten Gelegenheit geäußert wird, den

propositionalen Gehalt, dass Marlowe eine Orange schälen wird, aber er hat darüber hinaus

noch die Bedeutung, dass es sich bei dieser Äußerung um einen Befehl handelt. Wenn es sich

um einen Befehl handelt, ist die Proposition, die der Modusregler zum Ausdruck bringt, wahr,

sonst falsch.27

Was auch immer man von dieser Auffassung hält, sie impliziert auf jeden Fall, dass es in

einem bestimmten Sinn eine „enge Beziehung“ zwischen den syntaktisch-semantischen

Merkmalen von Sätzen und der illokutionären Kraft von Sprechakten, die mit diesen

Äußerungen vollzogen werden, gibt. Diese Beziehung besteht darin, dass die Äußerungen

sich durch die Bedeutung des Modus der Sätze, mit denen sie vollzogen werden, als

Äußerungen darstellen, die eine bestimmte Kraft haben.

Der Punkt, um den es Davidson geht, kann besser so ausgedrückt werden, dass es keine

konstitutive Beziehung zwischen den syntaktsich-semantischen Merkmalen von Sätzen und

der illokutionären Kraft der mit ihnen vollzogenen Äußerungen geben kann:

(PAB3) Es kann keine konstitutive Beziehung zwischen syntaktisch-semantischen

Merkmalen eines Satzes, die hinsichtlich ihrer Funktion von den jeweiligen

Absichten der Sprecherin unabhängig sind, und der illokutionären Kraft des

Sprechakts, der mit dem Äußern des Satzes vollzogen wird, geben.

26 Davidsons eigene Auffassung weicht von dieser Darstellung insofern ab als er die Trennung in Modusregler

und Satzradikal nicht vornimmt, sondern Sätze im Indikativ als Träger des propositionalen Gehalts begreift,

sodass dem indikativischen Modus auf der Ebene der logischen Form kein Modusregler entspricht. Aber

dieser Unterschied betrifft nicht den Punkt, um den es mir hier geht. 27 Dies darf nicht dahin gehend missverstanden werden, dass mit der Äußerung des Modusreglers behauptet

würde, dass die Äußerung ein Befehl ist. Nur mit vollständigen Sätzen lässt sich ein Sprechakt vollziehen

und die Äußerung des Modusreglers ist bloß ein Aspekt der Äußerung eines vollständigen Satzes.

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Aber warum ist das so? Davidson begründet dieses Prinzip zwar durch den Fall der

Schauspielerin und es Witze-Erzählers, er erklärt aber nicht, welche Rolle dieses Prinzip für

unsere sprachliche Praxis spielt. Eine solche Erklärung ist aber wichtig. Denn ansonsten

könnte man zugestehen, dass unsere sprachliche Praxis zwar faktisch so beschaffen ist, dass

sie dem Prinzip der Autonomie der Bedeutung gehorcht, dass das aber auch schon alles ist

und es sich bei diesem Prinzip nicht um einen Wesenszug sprachlicher Praxis überhaupt

handelt. Davidson aber möchte offenbar behaupten, dass sprachliche Ausdrücke und

sprachliche Äußerungen ihrem Wesen nach so beschaffen sind, dass zwischen der Form und

Bedeutung von ersteren und der Kraft von letzteren keine konstitutive Beziehung bestehen

kann. Immerhin nennt der das Prinzip einen „Grundzug der Sprache“.

Wir können uns einem Verständnis der Rolle, die das Prinzip der Autonomie der Bedeutung

für unsere sprachliche Praxis spielt, annähern, indem wir einen nahe liegenden Einwand

dagegen betrachten, den R. M. Hare formuliert hat.28 Hare verweist zunächst darauf, dass es

offensichtlich bestimmte Fälle sprachlicher Äußerungen wie etwa das Unterzeichnen eines

Vertrags oder die Aussage vor Gericht gibt, für die Normen existieren, die besagen, dass die

Äußerung eines bestimmten Ausdrucks als Vollzug eines Sprechaktes mit einer bestimmten

Kraft gilt. Jemand, der einen Vertrag unterzeichnet hat, kann sich nicht damit herausreden,

dass er nur einen Witz gemacht habe.29 Es scheint daher völlig angebracht zu sagen, dass in

diesen Fällen die syntaktisch-semantischen Merkmale des geäußerten Ausdrucks die Kraft der

Äußerung konstituieren.

Hare behauptet nun, dass es sehr wohl möglich sei, ein Gesetz oder eine sprachliche

Konventionen einzuführen, die besagt, dass alle und nur die Äußerungen, denen ein

bestimmtes Zeichen vorangestellt wird, ernsthafte Sprechakte sind und damit die illokutionäre

Kraft haben, von denen – wenn Davidson Recht hat – die Modusregler sagen, dass sie sie

haben. Ein solches Zeichen würde – zusammen mit dem Modusregler – die illokutionäre

Kraft eines Sprachakts konstituieren und das Prinzip der Autonomie der Bedeutung würde für

diese sprachliche Praxis nicht mehr gelten. Hare sagt, dass die Existenz eines solchen

Gesetzes die Schauspielerei unmöglich machen würde. Das ist übertrieben. Die

28 R. M. Hare, „Some Sub-Atomic Particles of Logic“, in: Mind 98 (1989), S. 23-37. 29 Vgl. Hare, „Some Sub-Atomic Particles of Logic“, 26f. Hare formuliert den Punkt um den es geht, etwas

anders, da er eine systematische Unterscheidung trifft zwischen Modusreglern, die zwischen den

verschiedenen illokutionären Kräften zu unterscheiden erlauben sollen, und einem Zeichen, das zwischen

Äußerungen unterscheiden soll, die überhaupt eine illokutionäre Kraft im engeren Sinn haben, und solchen,

wie denen der Schauspielerin oder des Witzeerzählers, für die das nicht gilt. Ihn beschäftigt daher die Frage,

ob es ein Zeichen der Ernsthaftigkeit von Sprechakten geben kann oder muss, das er „sign of subscription“

nennt (S. 25).

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Schauspielerin könnte, um jemanden darzustellen, der eine Behauptung macht, immer noch

all die nicht-konstitutiven Anzeichen ernsthaften Behauptens verwenden, die wir, denen das

Ernsthaftigkeits-Zeichen fehlt, verwenden, wenn wir signalisieren wollen, dass wir es Ernst

meinen. Sie könnte nur nicht das Ernsthaftigkeits-Zeichen selbst verwenden, denn dann würde

sie aufhören, jemanden zu spielen, der eine Behauptung macht, und selbst eine machen.

Man könnte einwenden, dass eine sprachliche Praxis, die von einem Ernsthaftigkeits-Gesetzes

beherrscht wird, sehr viel restriktiver wäre als unsere tatsächliche sprachliche Praxis. Aber

das ist kein Einwand, da es nicht impliziert, dass es eine solche Praxis nicht geben kann. Und

das besagt ja das Prinzip der Autonomie der Bedeutung in seiner Anwendung auf den Fall der

illokutionären Kraft.

Wenn Hare mit seinem Einwand gegen das Prinzip der Autonomie der Bedeutung Recht hat,

ist die zweite mögliche Strategie pragmatistischer Bedeutungstheorien, mit den aufsässigen

Phänomenen umzugehen, gangbar, Diese bestand ja gerade in dem Zugeständnis, dass in

unserer tatsächlichen sprachlichen Praxis Äußerungen deklarativer Sätze nicht immer (oder

auch nur „im Normalfall“) Behauptungen sind, dass man aber ein idealisiertes Modell unserer

sprachlichen Praxis konstruieren könne, in dem das – per Setzung – der Fall ist.

Mir scheint aber, dass Hares Einwand und die imaginierte Reaktion der pragmatischen

Bedeutungstheorie beide grundlegend verfehlt sind. Das Prinzip der Autonomie der

Bedeutung besagt nicht, dass wir uns keine soziale Praxis vorstellen können oder dass keine

soziale Praxis existieren kann, die unserer sprachlichen Praxis in vielerlei Hinsicht gleicht,

sich von ihr aber dadurch unterscheidet, dass illokutionäre Kraft durch syntaktisch-sematische

Merkmale konstituiert wird. Es besagt vielmehr, dass eine solche Praxis – hinsichtlich genau

dieses Punkts – nicht länger als eine Form sprachlicher Praxis erkennbar wäre.

Um die volle Kraft dieser Antwort würdigen zu können, müssen wir klären, was genau wir

verlieren würden, wenn wir das Prinzip der Autonomie der Bedeutung aufgäben. Und mm das

zu sehen, müssen wir uns klarmachen, wie unserem vortheoretischen Verständnis sprachlicher

Praxis zufolge die illokutionäre Kraft von Sprechakten mit den jeweiligen Absichten und

anderen mentalen Zuständen von Sprecherinnen und Sprechern verbunden ist: Wenn man

behauptet, dass p, stellt man sich als jemanden dar, der oder die glaubt, dass p, und gute

Gründe hat zu glauben, dass p. Gute Gründe für die Wahrheit einer Aussage sind nun in dem

Sinn objektiv, dass wir, wenn jemand gute Gründe hat zu glauben, dass p, auch sagen können,

dass es gute Gründe gibt, zu glauben, dass p, und dass in diesem Sinn für alle gute Gründe

existieren zu glauben, dass p. Dass bedeutet, dass man mit der Behauptung, dass p,

mindestens folgendes tut: Erstens berechtigt man diejenigen, an die die Behauptung adressiert

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ist, (auf der Basis von Hörensagen) zu glauben, dass p; zweitens berechtigt man sie damit

auch dazu, in der Konversation mit anderen zu behaupten, dass p; drittens dazu, auf der Basis

der Überzeugung, dass p, zu handeln; und viertens dazu, andere zu entsprechenden

Handlungen zu veranlassen. Wir können das auch kurz so formulieren, dass wir dadurch, dass

wir eine Behauptung machen, eine Garantie dafür, dass es sich so verhält, wie wir sagen, oder

kurz: eine Wahrheitsgarantie übernehmen.

Nun scheint mir, dass diese Funktionen – der Transfer von Wissen und das damit verbundene

Liefern von Handlungsgründen – für unsere sprachliche Praxis dermaßen zentral sind, dass

eine soziale Praxis, die keine Akte enthält, die diese Funktion erfüllen, sich wesentlich von

unserer sprachlichen Praxis unterschiede. Wir hätten allen Grund zu bezweifeln, dass es sich

hierbei tatsächlich um eine sprachliche Praxis handelt.

Wenn das stimmt, dann lässt sich nun der Grund benennen, warum es kein Ernsthaftigkeits-

Zeichen im Sinn eines syntaktisch-semantischen Merkmals, dessen Vorkommnis unabhängig

von den jeweiligen Absichten der Sprecherin die illokutionäre Kraft einer Äußerung

konstituiert, geben kann. Nehmen wir an, ein solches Zeichen würde es geben. Wenn man es

verwendete, hätte man eine Behauptung gemacht, und zwar ausschließlich deswegen, weil

man es verwendet – völlig unabhängig davon, ob man beabsichtigt hat, eine Behauptung zu

machen, und damit auch völlig unabhängig davon, ob man glaubt, was man sagt. Aber wenn

es eine Behauptung ist, die man gemacht hätte, dann hätte man, wenn das Vorangegangene

korrekt ist, eine Garantie für die Wahrheit dessen übernommen, was man gesagt hat, und

Verantwortung für Handlungen, die ausgeführt werden, weil jemand aufgrund von

Hörensagen glaubt, was man gesagt hat. Aber das ist absurd: Die Berechtigung dafür,

jemanden als jemanden zu behandeln, der bestimmte Absichten und Überzeugungen hat, kann

doch sinnvollerweise nur auf Belegen für das Vorhandensein dieser Absichten oder

Überzeugungen beruhen und nicht einfach auf der Gegenwart irgendeines davon

unabhängigen Merkmals seiner Äußerung. Das lässt sich vielleicht besonders leicht einsehen,

wenn wir den Fall aus der Perspektive einer Hörerin betrachten. Selbst wenn es sich bei dem

Sprecher um eine Person handelt, die die Hörerin für vertrauenswürdig hält, wäre es zutiefst

irrational, wenn sie ihre Handlungen auf Wahrheitsgarantien stützen würde, die dem Sprecher

allein deswegen zugeschrieben werden, weil er das Ernsthaftigkeits-Zeichen äußert, und also

unabhängig davon, ob er die Bedeutung des Zeichens kennt, glaubt, dass seine Hörerin sie

kennt, das Zeichen absichtlich geäußert hat und so weiter.

Nun könnte man einwenden, dass sich die Lücke zwischen der Verwendung des

Ernsthaftigkeits-Zeichen und der Ernsthaftigkeit, für die sie ein Zeichen sein soll, dadurch

Erscheint in: Die Gegenwart des Pragmatismus, hg. v. M. Hartmann, J. Liptow u. M.

Willaschek, Berlin: Suhrkamp 2013, 166-192 22

schließen lässt, dass man die Bedingung hinzufügt, dass Sprecher und Hörerin das

Ernsthaftigkeits-Zeichen kennen und voneinander wissen müssen, dass sie es kennen. Aber

das hieße natürlich, dass das Ernsthaftigkeits-Zeichen alleine gerade nicht mehr konstitutiv

für die illokutionäre Kraft einer Äußerung wäre. Ob Sprecher und Hörerin eine Äußerung

eines Satzes mit Ernsthaftigkeits-Zeichen zurecht als eine Behauptung behandeln, hinge dann

zusätzlich davon ab, ob Sie gute Gründe dafür haben zu glauben, dass der jeweils andere

dieses Zeichen und seine Bedeutung kennt und weiß, dass der jeweils andere das Zeichen und

seine Bedeutung kennt.30 Dann unterschiede sich das Ernsthaftigkeits-Zeichen aber nicht

mehr wesentlich von den vorhandenen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, um zum

Ausdruck zu bringen, dass eine Äußerung ernst gemeint ist.

4. Das Scheitern der pragmatistischen Strategien

Das Ergebnis dieser Diskussion impliziert, so möchte ich behaupten, dass keine der beiden

Strategien, mit denen eine pragmatistische Bedeutungstheorie auf die aufsässigen Phänomene

der indirekten und unernsthaften Sprechakte reagieren könnte, gangbar ist. Das ist

offensichtlich für die zweite Strategie, die darin besteht, Unernsthaftigkeit als ein

akzidentelles Merkmal unserer sprachlichen Praxis abzutun. Wir hatten dagegen gesehen,

dass die Möglichkeit der Unernsthaftigkeit konstitutiv damit zusammenhängt, dass

Behauptungen ihre für unsere sprachliche Praxis wesentliche Funktion der Weitergabe von

Wissen und des Lieferns von Handlungsgründen spielen können.

Daraus ergibt sich aber auch, warum die erste Strategie scheitert. Diese Strategie besteht

darin, sich in der Definition des deklarativen Satzes (S*) auf den „Normalfall“

zurückzuziehen, der dadurch gekennzeichnet ist, dass keine besonderen Hinweise auf die

illokutionäre Kraft vorliegen. Wir müssen nun fragen, was denn die Rede von „besonderen“

Hinweisen eigentlich besagen soll? Wenn Behauptungen ihre Funktion erfüllen können

sollen, dann müssen wir die „besonderen“ Hinweise, die dazu führen könnten, dass die

Äußerung eines deklarativen Satzes keine Behauptung ist, gerade als Hinweise darauf

begreifen, dass die Sprecherin nicht beabsichtigt, die Wahrheitsgarantie zu übernehmen, die

30 Und tatsächlich sind auch die bei uns vorhandenen Gesetze der Ernsthaftigkeit, die Hare erwähnt, von

solchen Annahmen abhängig. Es kann daher auch unbestimmt viele Gründe dafür geben, die Äußerung eins

Satzes im Zeugenstand nicht als ernsthaft aufzufassen: Von mangelnder Zurechnungsfähigkeit über

Unkenntnis unserer Praxis der Rechtsprechung bis hin zu raffinierten Irrtümern (einer Person etwa, die allen

Grund hat zu glauben, sich bloß in einer inszenierten Gerichtsverhandlung und nicht in einer echten zu

befinden).

Erscheint in: Die Gegenwart des Pragmatismus, hg. v. M. Hartmann, J. Liptow u. M.

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eine Behauptung darstellt. Es sind damit Hinweise, die sich nicht in der Anwesenheit von

syntaktisch-semantischen oder anderweitigen kontextuellen Merkmalen erschöpfen können,

deren Funktion von den jeweiligen Absichten der Sprecherin unabhängig ist. Wie sollte es

auch anders sein: Wenn syntaktisch semantische Merkmale, deren Funktion von den

jeweiligen Absichten der Sprecherin unabhängig ist, nicht ausreichen, um die illokutionäre

Kraft einer Äußerung zu konstituieren, dann kann allein die Abwesenheit weiterer solcher

Merkmale nichts Wesentliches an der Situation ändern. Damit aber hängt (S*) implizit von

semantischen oder intentionalen Begriffen ab und verletzt die Bedingung (B2).

Davidsons sagt: „Die Misere des Schauspielers verläßt uns nie.“31 Ich habe zu zeigen

versucht, dass das nicht nur tatsächlich so ist, sondern dass das so sein muss, damit unsere

sprachlichen Äußerungen einige jener Funktionen erfüllen können, die wir für Sprache

überhaupt als wesentlich erachten. Und ich habe zu zeigen versucht, dass dies sich nicht mit

den reduktionistischen Ambitionen vereinbaren lässt, durch die pragmatistische

Bedeutungstheorien definiert sind.

31 Davidson, „Kommunikation und Konvention“, 379.