Lernen und Bedeutung von Musik
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Claudia Bullerjahn
MUSIKBEZOGENES LERNEN UND
BEDEUTUNG VON MUSIK IN DER KINDHEIT MUSIK UND MUSIKALITÄT
Musik findet sich in allen menschlichen Kulturen, und vermutlich hat es auch noch nie eine Kultur ohne Musik
gegeben. Offensichtlich ist Musik sowohl im Rahmen der Menschheitsgeschichte als auch innerhalb der Ent‐
wicklung eines menschlichen Individuums bedeutsam. Dies hat einerseits mit ihrer Fähigkeit zur Gruppenbin‐
dung zu tun, andererseits mit der engen Verbindung zwischen Musik und Sprache und insbesondere beim
Kinde zwischen der Entwicklung des Singens und des Sprechens. Die große Mehrheit aller Menschen kommt
mit einer mittleren Ausstattung an Musikalität auf die Welt, was sie dazu befähigt, Musik hörend zu genießen
sowie in gewissem Ausmaß selbst zu musizieren – und sei es nur durch Singen oder Klatschen. Wenn auch im
Alltagsverständnis oft zwischen ‚musikalisch’ und ‚unmusikalisch’ unterschieden wird, so ist diese strikte Unter‐
scheidung angesichts zahlreicher empirischer Belege nicht haltbar, da nur ein geringer Prozentsatz von Men‐
schen aufgrund einer neurologischen Störung (Amusie) als unfähig zum Musikerleben und ‐ausüben angesehen
werden muss und Musikalität darüber hinaus als Potenzial zu betrachten ist, das durch musikalische Förderung
und Übung ausbaufähig ist. Man kann somit beim Erwerb von musikalischen Fähigkeiten von einer Wechselwir‐
kung zwischen genetischem Potenzial und anregenden Umwelt‐ und Lernbedingungen ausgehen (vgl. Oerter /
Lehmann 2008, S. 88 f.). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass eine wechselseitige Beeinflussung von Indivi‐
duum, Gesellschaft und Kultur den Musikbegriff prägt: Zwar ist prinzipiell jedes akustische Schallereignis musik‐
fähig, jedoch werden aufgrund begrenzter Verarbeitungskapazitäten des Menschen nur nicht zu komplexe
Schallereignisse als Musik angesehen. Eine eurozentrische Sicht veranlasst zudem oft eine Einschränkung auf
tonal gebundene Musik. Musik unterliegt als Objekt ästhetischer Wahrnehmung zusätzlich einem Kanon von
Regeln, die im Verlauf der Geschichte abendländischer Musik einen zunehmend normativen Zwang ausgeübt
haben und in weiten Kreisen zur Grundlage der Bewertung von Musik als ›gut‹ oder ›schlecht‹ geworden sind.
Im Sinne der bürgerlichen Kulturideologie, deren Kennzeichen die Ablehnung der zunehmenden Industrialisie‐
rung des Kulturschaffens ist, wird auch heute noch populäre Musik teilweise kulturpolitisch ausgegrenzt, ob‐
wohl sich gerade Kinder und Jugendliche mit ihr am meisten identifizieren. Auch die Ziele einer musikalischen
Förderung und die Bewertung der Ergebnisse einer so genannten ‚gelungenen’ musikalischen Entwicklung bzw.
Sozialisation sind abhängig von dem jeweiligen kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext, was den Vorrang
einer musikalischen Breiten‐ oder Elitenförderung bewirken kann (vgl. Bullerjahn 1999, S. 74 f.).
STAND DER WISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNG
ENTWICKLUNG VON MUSIKWAHRNEHMUNG, SINGEN UND BEWEGUNG ZUR MUSIK
Musikalische Entwicklung ist stets von einem Wechselspiel zwischen Gewinnen und Verlusten gekennzeichnet:
Durch Professionalisierung und Übung werden einige Fähigkeiten vervollkommnet, andere verkümmern dage‐
gen durch Nichtgebrauch, was häufig von den betroffenen Individuen gar nicht negativ bemerkt wird. Bereits
im Mutterleib beginnen Föten Klänge wahrzunehmen und zu verarbeiten sowie klangliche Vorlieben zu entwi‐
ckeln. Dabei ist eine Trennung zwischen Musik und Sprache noch nicht gegeben, denn beide erfüllen gleicher‐
maßen wichtige soziale und kommunikative Funktionen und werden mit ähnlichen kognitiven Prozessen verar‐
beitet. Musikalisches Lernen beginnt somit weit vor der Geburt, und der Terminus ‚angeboren’ impliziert kei‐
neswegs nur genetische Grundlagen. Alle kulturrelevanten akustischen Wahrnehmungsfähigkeiten werden zwi‐
schen dem sechsten und zwölften Lebensjahr voll entwickelt.
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Ab etwa dem letzten Drittel der Schwangerschaft sind Hörorgan, Hörbahn und verarbeitende Zentren in der
Großhirnrinde des Fötus so weit gereift, dass die Umwandlung von aufgenommenen Schall in Nervensignale
und eine Weiterleitung derselben in adäquate verarbeitende Gehirnzentren gelingt. Obwohl gedämpft und we‐
nig obertonreich sind Musik und Sprache durch die Bauchdecke schon relativ deutlich wahrnehmbar. Föten re‐
agieren bereits im Mutterleib auf akustische Reize durch veränderte Bewegungen und Herzschlag und können
sogar schon unterschiedliche Reihenfolgen von Silben, verschiedene Tonhöhen und unterschiedliche Tempi
voneinander unterscheiden. Auch längerfristige Gedächtnisspeicherungen finden statt, denn Musikstücke, die
die Mutter während der Schwangerschaft öfter spielt oder singt, und die Titelmelodie einer Fernsehserie, die
die Schwangere öfter sieht, werden vom Fötus vorgeburtlich eindeutig wiedererkannt und nach der Geburt
vom Neugeborenen bevorzugt. Dies gilt in ähnlicher Weise für die durch die Knochenleitung ohnehin promi‐
nent wahrgenommene Mutterstimme und die Muttersprache (vgl. Hannon / Schellenberg 2008, S. 131–133).
Bereits direkt nach der Geburt reagiert das Neugeborene auf eine Vielzahl von Klängen und Geräuschen und
wird zugleich von Eltern und anderen Bezugspersonen in spezifisch musikalischer Art und Weise angesprochen.
Bei dieser so genannten Ammensprache, die kulturell unabhängig und altersangepasst von jedem Menschen
unbewusst angewandt wird, ist die Grundtonhöhe angehoben und das Sprechtempo langsam, außerdem wer‐
den die zumeist kurzen einzelnen Aussagen häufig wiederholt, teils übertrieben betont und teils melodisch ge‐
dehnt. Säuglinge reagieren nicht nur grundsätzlich positiv auf solche Ansprache, sondern können außerdem
offensichtlich den unterschiedlichen emotionalen Ausdruck eines Wortes erfassen, der sich aus der melodi‐
schen Kontur eines Satzes ergibt. Auch Schlaf‐ und Spiellieder für Babys weisen entsprechende Merkmale auf,
ähneln sich kulturübergreifend und wirken in derselben Weise beruhigend bzw. anregend auf Säuglinge. Kind‐
gerechtes und ‐gerichtetes Sprechen und Singen dienen wohl gleichermaßen dazu, Bindungen zwischen Säug‐
ling und Bezugspersonen anzubahnen und zu festigen (vgl. Hannon / Schellenberg 2008, S. 133 f.).
Schon im Alter von acht Monaten sind Säuglinge sensibel für Tonhöhen‐ oder Rhythmusunterschiede, was so‐
wohl für die Musik‐ als auch für die Sprachwahrnehmung relevant ist. Ausschließlich musikrelevant ist dagegen
die schon recht frühe Möglichkeit der Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz. In den ersten Lebensmo‐
naten ist die melodische Kontur wesentliches Kriterium für die Wahrnehmung und Unterscheidung von Melo‐
dien, weshalb Tonersetzungen, die nicht die Kontur verändern, sowie Transponieren nicht das Wiedererkennen
beeinträchtigen. Säuglinge können schon genauso wie Erwachsene Töne anhand von Ähnlichkeiten hinsichtlich
Tonhöhe, Klangfarbe, Intensität und räumlicher Lage zu musikalischen Mustern gruppieren und anhand von
fallenden Tonhöhen und verlängerten Dauern Abschnittsgrenzen in der Musik erkennen. Für die Bedeutung
multisensorischer Erfahrungen spricht, dass bereits sieben Monate alte Säuglinge Rhythmen bevorzugen, zu
denen sie selbst synchron bewegt wurden, nicht aber solche, zu denen sie synchrone Bewegungen nur be‐
obachteten (vgl. Hannon / Schellenberg 2008, S. 135–138).
In ihrer frühen und mittleren Kindheit erwerben westliche Kinder ein unbewusstes Wissen über die Regeln
westlicher Musik, weshalb sie auch ohne speziellen Musikunterricht ‚falsche’ Töne in einem ihnen bekannten
Musikstück oder einer westlichen Tonleiter erkennen. Dies gelingt ihnen jedoch nicht bei Tonleitern einer frem‐
den Kultur, was acht Monate alte Babys noch problemlos können, da sie mit einem Fähigkeitspotenzial geboren
werden, das für die Wahrnehmung einer Vielzahl musikalischer Skalen unterschiedlicher Kulturen gleich gut
geeignet ist. Nach und nach werden stufenbezogene Wahrnehmungsschemata entwickelt und gleichzeitig die
in der jeweiligen Kultur nicht mehr benötigten Wahrnehmungsfähigkeiten zurückgebildet (vgl. Gembris 2005,
S. 402). In Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur resultiert also musikalische Sozialisation in einem partiellen
‚Verlernen’ bestimmter musikalischer Fähigkeiten. Bis in die frühen Schuljahre hinein ist die tonale Wahrneh‐
mung noch nicht vollständig entwickelt. Erfahrungen mit kulturspezifischen metrischen und rhythmischen
Strukturen während des ersten Lebensjahrs führen dazu, dass Takt und Rhythmus kulturspezifisch zurechtge‐
hört werden und somit charakteristische Wahrnehmungsfehler wie bei Erwachsenen auftreten (vgl. Hannon /
Schellenberg 2008, S. 140 f.).
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Singen ist wie Sprechen eine universelle und biologisch angelegte Fähigkeit, die sich parallel zu dieser entwi‐
ckelt. Vokalisationen des Säuglings, die innere Zustände wie Hunger und Schmerz der Umwelt gegenüber signa‐
lisieren, sind gemeinsame Wurzeln und können von Geburt an mit Hören und Bewegungen koordiniert werden.
Körperliche Voraussetzungen wie der Kehlkopf als Stimmorgan, intaktes Hören und bestimmte neuronale
Strukturen sowie sozial‐emotionale Beziehungen und selbst regulierende Tätigkeiten sind gleichermaßen für
die Entwicklung von Singen und Sprechen erforderlich. Außerdem ist das ausdauernde Ausprobieren und Nach‐
ahmen von stimmlichen Möglichkeiten sowohl im Dialog als auch im Monolog eine ursprüngliche Form von
Spielen und mit positiven Emotionen verbunden. Als die einfachste und früheste Form des Musizierens ist es
darauf ausgerichtet, Emotionen bei anderen Menschen auszulösen und eigene bereits erlebte Gefühlszustände
erneut zu verkörpern (vgl. Stadler Elmer 2008, S. 144 f.). Hinsichtlich der Singfähigkeit existieren schon in den
ersten zwei Lebensjahren erhebliche Unterschiede, wofür unterschiedliche Anregungen im soziokulturellen
Kontext verantwortlich zu machen sind. Frühestens kann ein Kind ab dem zweiten Lebensjahr ein Lied richtig
mitsingen und zeigt hierbei beachtliche Nachahmungsfähigkeiten, ohne jedoch musikalische Regeln oder Lied‐
texte zu verstehen. Daneben wird ausführlich und ausdauernd spontan gesungen und erfunden. Vor allem
während des Spielens wechseln Kinder oft fließend zwischen Sprech‐ und Singformen hin und her (vgl. Stadler
Elmer 2008, S. 147). Erst später lernen Kinder, Gelerntes auf neue Situationen zu übertragen und zu verallge‐
meinern, wobei konventionelle Regeln des Liedersingens noch nach egozentrischem und spontanem Gutdün‐
ken verändert werden. Mit wachsendem Liederrepertoire bilden sich unbewusste Vorstellungen von Konven‐
tionen des Liedersingens, was das spontane, spielerische und neuschöpfende Singen zunehmend hemmt.
Durch zunehmendes Bewusstsein für die soziokulturellen Konventionen wird das Singen über Begriffe und Sym‐
bole nun selbst reflektiert, ein Schamgefühl entwickelt und den eingesetzten Mitteln Aufmerksamkeit ge‐
schenkt (vgl. Stadler Elmer 2008, S. 153–159). Erst im sechsten Lebensjahr können die meisten Kinder Stan‐
dardlieder korrekt wiedergeben. Vorher wird zwar weitgehend die melodische Kontur getroffen, doch sind In‐
tervalle häufig gestaucht und die Intonation schwankend. Der tatsächliche physiologische Stimmumfang der
Kinder ist größer als der aktiv genutzte, und die Rhythmusreproduktion richtet sich noch weitgehend nach dem
Text (vgl. Gembris 2005, S. 426–431).
Im Alter zwischen 18 Monaten und zwei Jahren kann man bei Kindern Ansätze zu einer Synchronisation von
Musik und Bewegung beobachten, die mit zweieinhalb Jahren deutlicher als kurzfristige Anpassung erkennbar
sind (vgl. Gembris 2005, S. 411 f.). Obwohl die meisten Kinder mit fünf oder sechs Jahren bereits ein Gefühl für
das Metrum entwickelt haben (vgl. Minkenberg 1991, S. 89 f.) und Rhythmen richtig wahrnehmen können, ge‐
lingen ihnen dennoch keine exakt synchronen Bewegungen zur Musik (z. B. Mitmarschieren) oder perfekte Re‐
produktionen von Rhythmen (z. B. Nachklatschen), was mit der physiologischen Reifung von Nervenbahnen
und Synapsen zu tun hat. Der Grund für die noch nicht vollständige Kontrolle über grobmotorischen Bewe‐
gungsabläufe sind parallele Nervenbahnen, deren Nervensignale sich gegenseitig behindern. Erst nach und
nach sterben die konkurrierenden Bahnen ab, und nur die funktionell am besten angepassten bleiben erhalten
(vgl. Bruhn 2005, S. 92).
MUSIKBEZOGENES LERNEN
Wenn auch die Ausbildung von musikalischen Hochleistungen von dem frühen Beginn eines musikalischen Trai‐
nings (z. B. dem Erlernen eines Musikinstruments) abhängig zu sein scheint (mindestens vor der Pubertät, evtl.
sogar vor dem siebten Lebensjahr, vgl. Oerter / Lehmann 2008, S. 96–98), so ist das Lernen von und mit Musik
grundsätzlich in jedem Alter lohnend und fruchtbar. Prinzipiell wird jedes Kind im Vorschul‐ und Schulalter von
musikbezogenem Lernen profitieren, sei dieses nun organisiert bzw. intentional in institutionellem Rahmen
(Kindergarten, Musikschule, Regelschule) oder spontan bzw. beiläufig im familiären Bereich oder im Spiel mit
Gleichaltrigen (vgl. Spychiger 2009, S. 9–12). Beispielsweise Kinder unter sechs Jahren lernen vorzugsweise bei‐
läufig, was jedoch nicht so effektiv ist wie zielgerichtetes Lernen in strukturierten Lernsituationen (vgl. Leh‐
mann / Oerter 2008, S. 109). Nur bei gezielter, formeller Übung ist der Erwerb musikalischer Fertigkeiten auf
Hochleistungsniveau (Expertenebene) möglich, was allerdings für die Mehrheit aller Kinder gar nicht anzustre‐
bendes Ziel sein wird oder kann. Prinzipiell üben Kinder effektiver, wenn sie dabei von ihren Eltern überwacht
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und angeleitet werden (vgl. Lehmann / Oerter 2008, S. 122). Überhaupt scheinen verstärkende äußere Impulse
von Eltern und Lehrern erforderlich dafür zu sein, dass ein Individuum überhaupt zur Musik findet (extrinsische
Motivation), andererseits Durchhaltevermögen und Leistungswillen des Individuums, damit eine Bereitschaft
zur jahrelangen Beschäftigung mit Musik gegeben ist (intrinsische Motivation).
Das Ergebnis musikalischen Lernens ist grundsätzlich eine dauerhafte Verhaltensänderung, die zugleich Verän‐
derungen in der musikalischen Wahrnehmungsfähigkeit, im musikbezogenen Denken und in der körperlich‐
motorischen Verfassung umfasst. Gelernt wird sowohl deklaratives Wissen, also benennbare Inhalte wie Ton‐
namen und Instrumentenbezeichnungen, als auch prozedurales Wissen, also nicht vollständig beschreibbare
Kenntnisse um die Ausführung von Handlungen wie bestimmte Spieltechniken auf einem Musikinstrument, die
letztlich automatisiert ausgeführt werden müssen. Wiederholtes Üben führt zur Neubildung von Synapsen und
somit dauerhaften Modifikationen neuronaler Netzwerke, was sich in vergrößerten Gehirnbereichen äußern
kann, wie bildgebende Verfahren (z. B. MRI) sichtbar machen. Man kann beim Musizieren zwei unterschiedli‐
che zu erwerbende Fertigkeiten unterscheiden: zum einen geschlossene Fertigkeiten wie das Spiel eines geüb‐
ten Stücks, das in einem stabilen Umfeld nahezu unverändert wiederholt ausgeführt werden kann, und zum
anderen offene Fertigkeiten wie das Improvisieren, das in Abhängigkeit von unterschiedlichen Kontexten wie
dem Musizieren von Mitspielern unterschiedlich ausfallen wird (vgl. Lehmann / Oerter 2008, S. 111). Besonders
wichtig für das Erlernen von Musizierbewegungen oder des Singens, aber auch den Spracherwerb ist das Imita‐
tionslernen durch Beobachtung, was durch so genannte Spiegelneurone erklärbar wird, die sowohl bei selbst
ausgeführten als auch bei nur beobachteten Bewegungen feuern. Eine Beherrschung solcher Musizierfertigkei‐
ten erfordert sowohl interne Vorstellungen über Art und Qualität von Bewegungsausführungen als auch einen
gedanklichen Abgleich zwischen gewünschtem und letztlich erreichtem Klang. Ist etwas effizient verinnerlicht,
so kann einmal Gelerntes auch in anderen Kontexten angewendet werden, was allerdings am ehesten gelingt,
wenn sich ursprüngliche und neue Aufgabe recht ähnlich sind. Positiv wirkt sich solch ein Transfer aus beim
Üben eines einem bereits beherrschten ähnlichem Stück bzw. beim Erlernen eines Zweitmusikinstruments, ne‐
gativ jedoch, wenn beispielsweise Musik fremder Kulturen zurechtgehört wird oder wenn von einem verinner‐
lichten Idiom beim Improvisieren nicht abgewichen werden kann (vgl. Lehmann / Oerter 2008, S. 114–117).
Dem Konzept schulischer Bildung liegt die Idee zugrunde, dass im Unterricht vermitteltes Wissen sich auch in
neuen Situationen auf verwandte Probleme anwenden lässt. Dies ist bei der Anwendung von mathematischem
Wissen auf beispielweise kaufmännische Anwendungsbereiche, die nicht in Lernsituation geübt wurden, unmit‐
telbar plausibel, jedoch sind anscheinend die Erwartungen beim Musikunterricht häufig andere: So wird nicht
nur erhofft, dass Kinder Singen oder Noten lernen, sondern dass beispielsweise auch mathematische Leistun‐
gen gefördert werden. Ganz abgesehen davon, dass es äußerst fraglich ist, Musiklernen nicht einen Eigenwert
an sich zuzubilligen, sind diese angeblichen außermusikalischen Transfereffekte gerade im kognitiven Bereich
häufig empirisch nicht messbar. Zwar kann insbesondere eine frühe musikalische Förderung gerade bei ansons‐
ten sozial bzw. körperlich benachteiligten Kindern in außermusikalischen Transfereffekten resultieren. Aller‐
dings müssen die musikalischen Aktivitäten und Lernsituationen speziell auf einen Transfer hin gestaltet wer‐
den. Mehrere Studien belegen, dass beispielsweise ein vertiefter und erweiterter Musikunterricht in der
Grundschule bei teilweise gleichzeitig verringerter Stundenzahl in Hauptfächern einen mehr oder weniger posi‐
tiven Einfluss vor allem auf das Sozialverhalten und die Motivation hat und die Leistungen anderer Schulfächer
in keiner Weise beeinträchtigt, was eine bildungspolitische Legitimation für frühen und frühesten Musikunter‐
richt liefert (vgl. Weber / Spychiger / Patry 1993 u. Bastian 2000, s. auch Spychiger 2001). Die als ‚Mozart‐Ef‐
fekt’ bekannte angebliche Verbesserung des räumlichen Vorstellungsvermögens durch das Hören eines Stücks
von W. A. Mozart entbehrt dagegen laut verschiedener Re‐Analysen und beispielsweise der abschließenden
Bewertung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (2006) jeder wissenschaftlichen Basis.
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BEISPIEL: DAS FORSCHUNGSPROJEKT ‚KIND & MUSIK’
Ohne Zweifel wachsen Kinder heutzutage in einer technisierten Welt auf, die ihnen Musik in vielfältiger Weise
verfügbar macht. Erwachsene und somit auch Musikwissenschaftlicher haben jedoch häufig nur sehr vage Vor‐
stellungen von der musikalischen Lebenswelt von Kindern und ziehen oftmals Schlüsse, die eine stark vorur‐
teilsbelastete kultur‐ und medienpessimistischen Haltung deutlich werden lassen. Dies liegt daran, dass bisher
vor allem quantitative Daten zum Ausmaß des Medien‐ und Musikkonsums Beachtung fanden, weniger aber
dessen qualitative Ausprägung. Im Wintersemester 1996/97 begann deshalb am Institut für Musik und Musik‐
wissenschaft der Universität Hildesheim eine Arbeitsgruppe bestehend aus Rudolf Weber, Hans‐Joachim Erwe
und mir sowie studentischen Seminarteilnehmern mit ersten Vorüberlegungen und Pilotstudien. Mit unserem
Forschungsprojekts wollten wir vor allem herauszufinden, welche Bedürfnisse Kinder mit Hilfe von Musik stillen
möchten, welche Bedeutung sie der ihnen begegnenden Musik beimessen und in welcher Weise sie ihre musi‐
kalische Lebenswelt reflektieren und bewerten. Insbesondere interessierte uns, ob sich schon bei Kindern ein
selbstbestimmter und eigenverantwortlicher Umgang mit Musik aufzeigen lässt, was auf Möglichkeiten zur mu‐
sikalischen Selbstsozialisation schließen lassen könnte. Hierzu waren neu zu entwerfende, vornehmlich qualita‐
tive Forschungsmethoden erforderlich, die einen unvoreingenommenen und vorurteilsfreien Einblick in das
musikbezogene Verhalten von Kindern erlauben (vgl. Weber / Bullerjahn / Erwe 1999, S. 113–124). Von 1998
bis 2001 konnte dann unter der Leitung von Imke‐Marie Badur und mit Forschungsförderung des Niedersächsi‐
schen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur aus Mitteln des VW‐Vorabs die Hauptstudie durchgeführt wer‐
den. Neben in Spiele eingebundene Gruppenbefragungen und ergänzende Elterninterviews wurden mit 20
Dritt‐ und Viertklässlern aus fünf Schulen Einzelinterviews durchgeführt, die danach einer qualitativen Inhalts‐
analyse unterworfen wurden. Im Folgenden soll nur die Auswertung und Interpretation der von den Kindern
berichteten musikbezogenen Aktivitäten vorgestellt werden (vgl. Badur 2007).
Abbildung 1: Initiatoren der Aktivitäten (Badur 2007, S. 62)
Initiator der Aktivität
ZufallSonstige päd. Inst.
Musikpädagogik
Schule
Privates Umfeld
Kinder gemeinsam
Kind allein
Anza
hl
600
500
400
300
200
100
0
Aktivitätsbereich
Musizieren, Umgang
m. Stücken u. Instr.
Tanzen und Bewegen,
Umgang mit Tänzen
Singen und Summen,
Umgang mit Liedern
Wahrnehmung v. Musik
Umgang m. Medien
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Mit Hilfe eines am Material entwickelten Auswertungsschemas wurden die 1.253 berichteten Aktivitäten, also
durchschnittlich 62 pro Kind (!), verkodet und quantitativen Übersichten zugeführt. Mehrheitlich berichten die
Kinder über alleininitiierte Aktivitäten (38 %), was wenig überrascht, da diese aus ihrer Perspektive ja sicherlich
als besonders bedeutsam erlebt wurden. Aktivitäten aus dem familialen Umfeld (24 %) und mit Gleichaltrigen
(20 %) sind schon deutlich seltener, und von Pädagogen Initiiertes (16 %) bildet das Schlusslicht (vgl. Abb. 1).
Bei der Verteilung der Aktivitätsbereiche bei einzelnen Initiatoren zeigen sich fast überall signifikante Unter‐
schiede. So handeln bei den selbstinitiierten Aktivitäten (allein und mit Peers) 42 % der Berichte von musika‐
lisch‐produktiven Tätigkeiten wie Singen (14 %), Tanzen (12 %) und Musizieren (16 %), und 58 % vom Hören.
Bei der Schule ergibt sich ein recht ausgewogenes Bild, während beispielsweise außerschulische Musikpädago‐
gen keinerlei Tanzaktivitäten initiieren (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2: Verteilung der Aktivitätsbereiche bei einzelnen Initiatoren (Badur 2007, S. 63)
39 % der Gesamtaktivitäten (n = 492) konnten als musikalisch‐produktive Aktivitäten im engen Sinn klassifiziert
werden, d. h. musikalische Tätigkeiten wie Singen, Tanzen und Musizieren. Sie tauchen in vier unterschiedli‐
chen Qualitäten auf, nämlich als (1) Ausprobieren, Improvisieren und Testen, (2) reproduzierende Tätigkeiten,
(3) Üben, sich Trainieren und Verbessern und (4) Weiterentwicklung, Erfindung und Neuproduktion. Es fällt auf,
dass Reproduzieren und Üben überwiegend erwachseneninitiiert stattfinden, während Ausprobieren und Erfin‐
den bei den Kindern häufiger vorkommen. Außer beim Üben ergeben sich überall hoch signifikante Unter‐
schiede. Beim Reproduzieren lässt sich dies daraus erklären, dass Eltern und Lehrer besonders viel Wert darauf
legen, dass Kinder Regeln kennenlernen und anwenden. So werden Lieder, Stücke und Tanzschritte eingeübt,
wiederholt und aufgeführt. Kinder praktizieren neben der für sie ebenfalls wichtigsten Form, mit Musik umzu‐
gehen, jedoch noch andere Arten. Der hohe Anteil des Ausprobierens und Testens lässt sich einerseits als Zei‐
chen der Neugier und Lust der Kinder an Musikinstrumenten und an Bewegung zu Musik deuten, andererseits
Initiator der Aktivität
ZufallSonstige päd. Inst.
Musikpädagogik
Schule
Privates Umfeld
Kinder gemeinsam
Kind allein
Anza
hl
100
90
80
70
60
50
40
30
20
100
Aktivitätsbereich
Musizieren, Umgang
m. Stücken u. Instr.
Tanzen und Bewegen,
Umgang mit Tänzen
Singen und Summen
Umgang mit Liedern
Wahrnehmung v. Musik
Umgang m. Medien
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aber auch als Ausdruck des Unvermögens der Kinder. Viele Handlungen bleiben einfach deshalb auf diesem Ni‐
veau stecken, weil die Fertigkeiten der Kinder zu gering sind. Auch im erfinderischen Bereich sind Kinder relativ
aktiv (29 Selbstinitiativen wurden hier genannt). Viele Kinder ersinnen aus eigenem Antrieb Lieder und Stücke,
und sei es nur, dass sie Liedtexte umdichten, z. B. weil sie die englischen Popsongs nicht so gut mitsingen kön‐
nen oder aus Lust am Reimen. Nicht selten notieren die Kinder die Texte ihrer Lieder sogar. Es findet ebenfalls
Komponieren am Instrument statt (vgl. Abb. 3). Bei 70 % der Aktivitäten sind Medien beteiligt, jedoch ist viel‐
leicht zunächst überraschend, daß auch 141 produktive Aktivitäten in Zusammenhang mit Medien genannt
werden. Dahinter verbergen sich zumeist tänzerische Aktivitäten (70 %) und Singen (24 %). Medienrezeption ist
für die Kinder offenbar nicht nur mit Berieselung, Zerstreuung und Abschalten gleichzusetzen, sondern kann
von ihnen auch als aktivierend empfunden werden.
Chi²-Test: Ausprobieren: p = 0,000*** Reproduzieren: p = 0,002** Üben: p = 0,157 Erfinden: p = 0,004**
Abbildung 3: Ausprägung der produktiven Aktivitäten: Vergleich zwischen Selbstinitiativen und Erwachseneninitiativen (Badur 2007,
S. 65)
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Rezeption von Rock‐ und Popmusik schon für Kinder im Grundschulal‐
ter bedeutungsvoll ist, hier jedoch noch nicht der Abgrenzung gegenüber der Elterngeneration im Sinne der
eigenen Identitätsfindung dient. Vielmehr scheint Popmusik in der Kindheit sogar Generationen überspan‐
nende Gemeinsamkeiten zu stiften, indem Eltern und Kinder durch diese Musik zu gemeinschaftlichem Tun und
Erleben finden (vgl. Weber, Bullerjahn & Erwe 1999, S. 126). Die Familie erweist sich gerade in der Kindheit als
Ausprägung der produktiven Aktivitäten
Erfinden
ÜbenReproduzieren
Ausprobieren
Anza
hl
200
100
0
Initiator
Selbstinitiiert
allein o. gemeinsam
Erwachseneninitiiert
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wesentliche Sozialisationsinstanz, jedoch gewinnen andere Instanzen (wie z. B. ein faszinierender Musiklehrer,
die Peergroup oder das medial vermittelte Bild eines Popstars) an Bedeutung, wenn das Kind wenige musikali‐
sche Anregungen durch seine Eltern erhält. Interessanterweise ergab ein Vergleich der Aktivitätenanzahl bei
Kindern mit wenigen musikalischen Anregungen und Kindern mit vielen (d. h. Musizieren und Singen der Eltern,
verbale Ermunterung zum Singen und Musizieren, Instrumentalunterricht oder Chor, schulischer Musikunter‐
richt), dass sie sich eigentlich mehrheitlich nicht unterscheiden, Kinder mit vielen musikalischen Anregungen
sind nur genau dort überlegen, wo sie diese Anregungen erhalten: Sie musizieren mehr und sind stärker repro‐
duzierend tätig. Die Tatsache, dass Musiksparten wie Klassik oder Oper auch schon bei Grundschulkindern zu‐
nehmend auf heftige verbale Ablehnung und massive Vorurteile stoßen, konnte beispielsweise auch in der Un‐
tersuchung von Gembris & Schellberg (2007) bestätigt werden.
BEDEUTUNG VON MUSIK FÜR DEN BILDUNGSPROZESS IN DER KINDHEIT UND VORAUS‐
SETZUNGEN FÜR EINE EFFEKTIVE MUSIKALISCHE FRÜHFÖRDERUNG
Offenbar ist ein formeller Unterricht für die Reifung vieler musikalischer Fähigkeiten nicht erforderlich; jedoch
kann ein musikalisch reichhaltiges soziales Umfeld dazu beitragen, dass bestimmte Entwicklungsstufen früher
erreicht werden, was beispielsweise auch Schellberg (1998) für den Vergleich von vierjährigen Kindergartenkin‐
dern ohne besondere musikalische Förderung mit solchen gleichen Alters und Musikalischer Früherziehung hin‐
sichtlich der Differenzierung von Klangfarben feststellen konnte. Letztere wiesen einen Entwicklungsvorsprung
auf. Leider besitzen Erzieherinnen häufig nicht ausreichend Kenntnisse über die musikalische Entwicklung von
Kindern und speziell die Kindersingstimme (vgl. Brünger 2003). Da Eltern häufig ihre Vorbildfunktion für das
Singen nicht mehr wahrnehmen, könnte allerdings gerade der Kindergarten zur entscheidenden Instanz für den
traditionellen Vermittlungsprozess des Singens werden und familiäre Defizite ausgleichen. Aufgrund der eige‐
nen defizitären musikalischen Sozialisation haben jedoch Erzieherinnen oft Scheu vor dem eigenen Singen und
Tanzen, zudem Liedvermittlung und deren instrumentale Begleitung auch in ihrer Ausbildung nicht ausreichend
vermittelt wurden. Schon aus diesem Grunde wird vielfach, wenn überhaupt, zur CD gesungen, was insbeson‐
dere deshalb problematisch ist, da die Lieder oft viel zu tief für Kinderstimmen sind und zudem von einer mi‐
krophonal verstärkten Männerstimme vorgetragen werden. Zugänglichkeit auf CD und persönliche Vorlieben
bestimmen die Liedauswahl, nicht jedoch Entwicklungsstand oder gar Bedürfnisse der Kinder.
Heutzutage führt vermutlich auch der vermehrte Musikmediengebrauch zu einer Beschleunigung bestimmter
Aspekte der musikalischen Entwicklung wie beispielsweise eine gegenüber früher vorgezogene Entwicklung des
harmonischen Hörens (vgl. Minkenberg (1991, S. 263 ff.). So belegt beispielsweise eine Pilotstudie von Renate
& Erich Beckers (1993) den höchst kompetenten Umgang mit Musikmedien schon bei Drei‐ bis Sechsjährigen,
der gelegentlich sogar die begriffliche Bekanntheit überragt. Sogar eine weitgehende Unabhängigkeit von der
elterlichen Mediennutzung lässt sich feststellen, die sich darüber hinaus in teilweise abweichenden Musikprä‐
ferenzen äußert. Schon Hubert Minkenberg (1991, S. 258 f.) stieß in seiner Längsschnittuntersuchung auf eine
Diskrepanz zwischen dem Musikangebot in Schulen und dem tatsächlichen Musikgeschmack der Kinder, der im
Wesentlichen vom massenmedialen Angebot bestimmt wird. Auch Eltern machen sich den zweckorientierten
Einsatz von Medien zu Nutze, sei es in Form des Kassettenrekorders bzw. Walkmans als klingendes Märchen‐
buch oder des Fernsehers als Babysitter (vgl. Beckers 2004a u. b bezogen auf Medienbesitz und die Funktionali‐
sierung von Medien).
Jedes Individuum verfügt über ein Potenzial an musikalisch‐kreativer Produktivität, das durch den herkömmli‐
chen Musikunterricht viel zu wenig ausgeschöpft wird. Im europäischen Kulturraum zielt eine musikalische För‐
derung zumeist auf die Ausbildung von reproduzierenden Künstlern und aufmerksamen, analytisch hörenden
Rezipienten ab. Die Förderung von musikalisch‐kreativer Produktivität findet dagegen eher selten statt. Dies
verwundert angesichts der Tatsache, dass Kinder beispielsweise beim Spracherwerb oder bei der Entwicklung
des Singens in ihren Spontangesängen ein hohes Maß an Kreativität zeigen. Gewöhnlich versiegt dieses, wenn
ein Repertoire an Standardliedern mehr oder weniger fehlerfrei reproduziert werden kann. Auch Keith Swan‐
wick & June Tillman (1986) schlossen aufgrund ihrer Analysen von musikalischen Improvisationen britischer
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Kinder im Alter zwischen drei und elf Jahren, dass sich kreative Fähigkeiten regelhaft entwickeln. Weniger der
reproduktive als der rezeptive Umgang mit Musik scheint den kreativen Erfindungsgeist einzuschränken. Zu‐
nehmend wird dieses kreative Potenzial jedoch von außerschulischen Musikpädagogen in der musikalischen
Früherziehung aufgegriffen und vor allem in den nicht immer mehr rein ‚klassischen’ Instrumentalunterricht
durch auch in ihrer Ausbildung darauf vorbereitete Musiklehrer und neue Instrumentalschulen integriert. Das
durchaus notwendige Üben, Verinnerlichen und Automatisieren motorischer Abläufe wird somit nun viel häufi‐
ger mit einer inneren Klangvorstellung und der Entwicklung einer „musikalischen Sprechfähigkeit“ in Verbin‐
dung gebracht (vgl. Gruhn 1998, S. 200–204).
Abbildung 4: Instrumente im Haushalt wie dieses Klavier sorgen automatisch dafür, dass Interesse am Musizieren geweckt wird. Stehen
dem nicht ausdrückliche Verbote oder eine grundsätzlich ablehnende Haltung solchem ‚Krach’ gegenüber, so sind der zweijährigen
Klangentdeckerin keine Grenzen gesetzt (Foto: C. Bullerjahn).
Quantität und Qualität emotionaler Erfahrungen in der musikalischen Biographie eines Menschen sind dafür
verantwortlich, ob und in welcher Weise sich dieser weiter mit Musik beschäftigen wird. Intensive positive
emotionale Erfahrungen mit Musik im Verlauf einer Biographie, nicht nur so genannte ‚musikalische Schlüssel‐
erlebnisse’, sondern vor allem die täglich erlebte emotionale Unterstützung durch die Eltern oder andere nahe‐
stehende Personen bei der Beschäftigung mit Musik sind die Voraussetzung für eine positiv erlebte lebenslange
Beschäftigung mit Musik. Auch im Früherziehungs‐ oder Instrumentalunterricht ist das affektive Klima zwischen
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Lehrer und Schülern entscheidend. Jede Familie hat das Potenzial, ihr Kind optimal zu fördern, denn die emo‐
tionale Qualität und nicht das künstlerische Niveau von musikbezogenen Familienaktivitäten sind für eine ef‐
fektive musikalische Frühförderung entscheidend. Diverse Studien belegen die wichtige Rolle der Sozialisations‐
instanz ‚Familie’ für die musikalische Entwicklung insbesondere in frühen Lebensjahren (vgl. Badur 1999). Be‐
sonders zentral sind hierbei die musikbezogenen Familienaktivitäten, zu denen das gemeinsame Singen und
Musizieren, der gemeinsame Besuch von Musikveranstaltungen, gemeinsame Gespräche über Musik und ge‐
meinsames Üben gehören. Bedeutsamer als deren Quantität und deren künstlerisches Niveau ist deren emo‐
tionale Qualität, da das Kind gleichzeitig mit den musikalischen Erfahrungen Zuwendung erhält, die vor allem
aus der positiven Einstellung der Familienangehörigen zur Musik und zum Musiklernen resultieren. Es bedarf
somit weder einer besonderen Musikalität noch besonderer musikalischer Fähigkeiten oder gar musikpädagi‐
scher Tätigkeit der Eltern, um Kinder effektiv fördern zu können, sondern nur der liebevollen Aufmerksamkeit
und positiven Verstärkung gegenüber den lautlichen und musikalischen Äußerungen des Kindes, wobei das
Vorhandensein von Musikinstrumenten selbstverständlich förderlich ist (vgl. Abb. 4 u. 5). Zwar besitzen somit
alle Familien das Potenzial, die musikalische Entwicklung ihres Kindes zu fördern, doch nutzen sie es keines‐
wegs alle in angemessener Weise. Einer effektiven musikalischen Frühförderung muss daher eine Information
und Weiterbildung junger und zukünftiger Eltern vorausgehen, was schon im Musikunterricht höherer Schul‐
klassen geschehen könnte. Auch musikalische Früherziehungslehrgänge beziehen gewöhnlich Eltern über spe‐
zielle Informationsblätter oder Elternabende mit ein. Neuere Bestrebungen musikalischer Frühstförderung, so
genannte Eltern‐Kind‐Kurse, die auf Kinder vor dem vierten Lebensjahr ausgerichtet sind, setzten sogar die ak‐
tive Teilnahme mindestens eines Elternteils voraus (vgl. Claussen 2001).
Abbildung 5: Ist die Haltung auch etwas unkonventionell und das Instrument viel zu groß, so ist doch der Spaß unverkennbar, den das
vierjährige Mädchen beim Spiel auf der Geige hat (Foto. C. Bullerjahn)
11
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BIOGRAFISCHE KURZINFORMATION
Prof. Dr. Claudia Bullerjahn (1962). Seit 2004 Professorin für Systematische Musikwissenschaft und Musikkultu‐
ren der Gegenwart am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus‐Liebig‐Universität Gie‐
ßen. Arbeits‐ und Forschungsschwerpunkte: Musik in den Medien, Musik des 20. Jahrhunderts, populäre Musik,
psychologische Grundlagen des Musiklernens und ‐produzierens, Wirkungen von Musik. Aktuelle Publikatio‐
nen: Musik und Ökonomie (Hg. mit Wolfgang Löffler). Hildesheim 2009. Musikpsychologie – Musikalisches Ge‐
dächtnis und musikalisches Lernen (Hg. mit Wolfgang Auhagen und Holger Höge). Göttingen 2009. Website:
http://www.uni‐giessen.de/cms/fbz/fb03/institute/musikpaedagogik/lehrende/professoren/prof‐dr‐
bullerjahn. E‐Mail‐Adresse: [email protected]‐giessen.de