Manuskript: Die Geschichte des Rassismus

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1 Die Geschichte des Rassismus Um den interessierten Besucher*innen des festival contre le racisme 2015 in Würzburg sowie denjeni- gen, die terminlich oder aus anderen Gründen verhindert waren, den Vortrag zur Geschichte des Ras- sismus auch im Nachfeld zugänglich zu machen, stelle ich dieses Skript kostenlos im Internet zur Ver- fügung (https://uni-wuerzburg.academia.edu/RiccardoAltieri). 1. Einleitendes Der Koblenzer Historiker Christian Geulen lieferte 2014 mit seiner 2. Auflage der „Ge- schichte des Rassismus“ 1 eine kompakte Monographie zur Thematik, die an diesem Abend besprochen werden soll. Sein Werk bildet einerseits die Grundlage dieses Vortra- ges (weitere Sekundärliteratur wird am Ende des Skriptes aufgelistet), empfiehlt sich jedoch auch jeder/m Interessierten zur tiefergehenden Lektüre. Geulen selbst gilt hier- bei als ausgewiesener Experte des Rassendiskurses im 19. Jahrhundert, was sich in ers- ter Linie an seiner Dissertation 2 festmachen lässt. Ziel des heutigen Vortrages soll es sein, eine Linearität „rassischer“ Ausgrenzungs- mechanismen von der Antike bis zur Gegenwart aufzuzeigen. Doch wie beginnt man ein solches Vorhaben, ohne die Chronologie wenig ansprechend abzuarbeiten oder gar „das Pferd von hinten aufzuzäumen“? Ich versuche diesen Spagat mit einer Mischung aus beidem, ergänzt um einige Einschübe. Zunächst soll exemplarisch eine moderne Defini- tion von Rassismus in den Raum gestellt werden, ehe ihr Wortgehalt auf historische Er- eignisse der Epochen vor der eigentlichen Phase des Rassismus 3 projiziert wird. Um dem Vorwurf des vorgreifenden Anachronismus zu entgehen, sei hier darauf verwiesen, dass die jeweiligen definitorischen Kriterien nicht käseglockenartig auf frühere Ereig- 1 Geulen, Christian: Geschichte des Rassismus, München 2 2014. 2 Geulen, Christian: Wahlverwandte, Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert , Hamburg 2004 (Diss. Bielefeld 2002). 3 Einige Soziolog*innen lehnen die Verwendung des Begriffes „Rassismus“ für alles, was nicht exakt den biologistischen Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts beschreibt, ab. Vgl. Memmi, Albert: Rassismus, Hamburg 1992, S. 121. Memmi schlug vor, den Begriff aus- schließlich für den Mechanismus der Ausgrenzung aus biologischen Gründen zu verwen- den. Seine Alternativ-Vorschläge – zunächst „Ethnophobie“, ab 1982 „Heterophobie“ – konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Vgl. ebd., S. 121f. Vgl. ferner Wacquant, Loїc: „For an Analytic of Racial Domination“, in: Davis, Diane (Hrsg.): Political Power and Social Theory, Bd. 11, Greenwich, CT 1997, S. 221-234, hier S. 222. würzburg, 10. juni 2015 20:00 uhr, kellerperle referent: riccardo altieri

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Die Geschichte des Rassismus

Um den interessierten Besucher*innen des festival contre le racisme 2015 in Würzburg sowie denjeni-gen, die terminlich oder aus anderen Gründen verhindert waren, den Vortrag zur Geschichte des Ras-sismus auch im Nachfeld zugänglich zu machen, stelle ich dieses Skript kostenlos im Internet zur Ver-fügung (https://uni-wuerzburg.academia.edu/RiccardoAltieri).

1. Einleitendes

Der Koblenzer Historiker Christian Geulen lieferte 2014 mit seiner 2. Auflage der „Ge-

schichte des Rassismus“1 eine kompakte Monographie zur Thematik, die an diesem

Abend besprochen werden soll. Sein Werk bildet einerseits die Grundlage dieses Vortra-

ges (weitere Sekundärliteratur wird am Ende des Skriptes aufgelistet), empfiehlt sich

jedoch auch jeder/m Interessierten zur tiefergehenden Lektüre. Geulen selbst gilt hier-

bei als ausgewiesener Experte des Rassendiskurses im 19. Jahrhundert, was sich in ers-

ter Linie an seiner Dissertation2 festmachen lässt.

Ziel des heutigen Vortrages soll es sein, eine Linearität „rassischer“ Ausgrenzungs-

mechanismen von der Antike bis zur Gegenwart aufzuzeigen. Doch wie beginnt man ein

solches Vorhaben, ohne die Chronologie wenig ansprechend abzuarbeiten oder gar „das

Pferd von hinten aufzuzäumen“? Ich versuche diesen Spagat mit einer Mischung aus

beidem, ergänzt um einige Einschübe. Zunächst soll exemplarisch eine moderne Defini-

tion von Rassismus in den Raum gestellt werden, ehe ihr Wortgehalt auf historische Er-

eignisse der Epochen vor der eigentlichen Phase des Rassismus3 projiziert wird. Um

dem Vorwurf des vorgreifenden Anachronismus zu entgehen, sei hier darauf verwiesen,

dass die jeweiligen definitorischen Kriterien nicht käseglockenartig auf frühere Ereig-

1 Geulen, Christian: Geschichte des Rassismus, München 22014. 2 Geulen, Christian: Wahlverwandte, Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert,

Hamburg 2004 (Diss. Bielefeld 2002). 3 Einige Soziolog*innen lehnen die Verwendung des Begriffes „Rassismus“ für alles, was

nicht exakt den biologistischen Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts beschreibt, ab. Vgl. Memmi, Albert: Rassismus, Hamburg 1992, S. 121. Memmi schlug vor, den Begriff aus-schließlich für den Mechanismus der Ausgrenzung aus biologischen Gründen zu verwen-den. Seine Alternativ-Vorschläge – zunächst „Ethnophobie“, ab 1982 „Heterophobie“ – konnten sich allerdings nicht durchsetzen. Vgl. ebd., S. 121f. Vgl. ferner Wacquant, Loїc: „For an Analytic of Racial Domination“, in: Davis, Diane (Hrsg.): Political Power and Social Theory, Bd. 11, Greenwich, CT 1997, S. 221-234, hier S. 222.

würzburg, 10. juni 2015 20:00 uhr, kellerperle

referent: riccardo altieri

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nisse übergestülpt werden, sondern vielmehr dazu dienen mögen, eine Vorläuferversion

späterer Entwicklungen darstellen zu können, die in einer direkten Linie vor dem mo-

dernen Rassismusbegriff stehen. Dass es auch vor der Entstehung des Rassismusbegrif-

fes „rassistisches“ Verhalten abseits der Rassismustheorien gab, ist hinlänglich bekannt

und bedarf keiner weiteren Erläuterung.4

2. Definition vs. Realität?

Eine populäre Definition für den Begriff „Rassismus“ stammt aus einem Politiklexikon

der Bundeszentrale für politische Bildung. Darin heißt es:

Rasse ist ein biologischer Begriff, der darauf verweist, dass es von einer Spezies oder Gattung

(z. B. dem Menschen) mehrere verschiedene Arten oder Rassen gibt, die sich durch vererbli-

che äußerliche Merkmale unterscheiden lassen. Der (politische, soziale) Rassismus nimmt

diese äußerlichen Merkmale auf, überhöht sie in Bezug auf die eigene Rasse und wertet sie in

Bezug auf andere Rassen ab; er fördert damit das Überlegenheitsgefühl und erzeugt Vorur-

teile, Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber anderen Rassen. Alle Formen des Rassismus

übersehen (bzw. leugnen), dass 1. die Spezies Mensch zwar über bestimmte erblich erwor-

bene Anlagen verfügt, die aber immer in der (politischen, sozialen, ökonomischen) Umwelt

geformt werden und 2. die Unterschiede innerhalb einer Rasse größer sind, als die Unter-

schiede zwischen den Rassen.5

Das Konzept der „Rassen“, wie es in Deutschland vor allem durch den Jargon der Natio-

nalsozialisten geprägt wurde, ist freilich viel älter. Seinen naturwissenschaftlichen Ur-

sprung hatte es im 19. Jahrhundert, konkret in der Biologie. Damit diente die Wissen-

schaft dieser Zeit dem allgemein vorherrschenden Klischee der Überlegenheit der „wei-

ßen Rasse“, die aus diversen Gründen bevorteilt sei.6 Der Widerstand gegen einen ge-

genwärtig vermeintlichen Flüchtlingssturm beweist jedoch, wie viel älter das rassische

Konzept bereits ist, stellt dieser – also der Widerstand – dabei doch lediglich eine „Re-

naissance des Rassismus“ dar, versteht sich also als logisches Produkt einer jahrhunder-

telangen Genesis sich stets transformierender Partikularinteressen.7

4 So wurde diese Meinung im Kontext des indischen Kastensystems bereits für das 16. vor-

christliche Jahrhundert geäußert. Vgl. Geiss, Immanuel: Geschichte des Rassismus, Frankfurt am Main 1993, S. 49f.

5 Siehe „Art. Rasse/Rassismus“, in: Schubert, Klaus; Klein, Martina (Hrsg.): Das Politiklexikon. Begriffe, Fakten, Zusammenhänge, Bonn 2001, S. 241f.

6 Vgl. hierzu das sehr anschauliche Video der Bundeszentrale für politische Bildung unter folgen-

dem Link. URL: http://www.bpb.de/mediathek/178985/die-entstehung-des-rassismus (eingese-

hen am 29.05.2015). 7 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 9.

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Geulen verweist in seiner „Geschichte des Rassismus“ zu Recht auf die Tatsache, dass

der Begriff „Rasse“ immer auf etwas vom Menschen Geschaffenes hindeutet. Wir unter-

teilen demnach Hunde und Katzen in diverse Rassen, Bären und Pinguine hingegen

nicht.8 Dieser Vergleich mag abstrus wirken, doch genau diese Gleichsetzung mit dem

Tierreich war es, derer sich Rassisten bei der Definition ihrer Ansichten bedienten. So

schrieb beispielsweise Voltaire 1755: „Die Rasse der Neger ist eine von der unsrigen

völlig verschiedene Menschenart, wie die der Spaniels sich von der der Windhunde un-

terscheidet [...] Man kann sagen, dass ihre Intelligenz nicht einfach anders geartet ist als

die unsrige, sie ist ihr weit unterlegen.“9

Auf Menschen wurde der Begriff „Rasse“ erstmals im Spanien der Reconquista10

angewandt, konkret zur Nomenklatur der „Juden“.11 Dabei handelt es sich jedoch nicht

um die erste generelle Unterteilung von menschlichen Gesellschaften. Schon im antiken

Griechenland unterschied man zwischen „Hellenen und Nicht-Hellenen“ (nach dem gr.

βάρβαροι auch „Barbaren“ genannt).12 Im Imperium Romanum13 entstand analog die

Unterscheidung zwischen „Römern und Nicht-Römern“, was Reinhart Koselleck als

8 Ebd. S. 13. 9 Arouet, François-Marie: „La race des Nègres est une espèce d’hommes différente de la nôtre

comme la race des épagneuls l’est des lévriers [...]. On peut dire que si leur intelligence n’est pas d’une autre espèce que notre entendement, elle est très inférieure.“, in: Essai sur les mœurs et l'esprit des Nations, Brüssel et al. 1755, Cap. CXLI.

10 Reconquista bezeichnet die Jahrhunderte andauernde Rückeroberung Spaniens durch die Chris-

ten, die 1492 mit der Zerstörung des Emirats von Granada abgeschlossen war. Konkret ging es

hierbei um die Vertreibung der muslimischen (und jüdischen) Bevölkerung, die etwa seit

711/719 n. Chr. auf der iberischen Halbinsel siedelte. Wer nach der Reconquista nicht dem

Wunsch der „Katholischen Könige“ (i. e. Ferdinand II. und Isabella I.) entsprach und freiwillig

zum Christentum übertrat, wurde bis zum 31. Juli 1492 aus Spanien vertrieben. Vgl. hierzu den

arabischen Begriff الادرتاالا (al-ˁIstirdād = Wiedereroberung) und Herbers, Klaus: Geschichte

Spaniens im Mittelalter, Stuttgart 2006, S. 309. Vgl. ferner Kamen, Henry: „The Mediterranean

and the Expulsion of Spanish Jews in 1492“, in: Past and Present 119 (1988), S. 3-55, hier S. 44.

Zur Korrelation der „limpieza de sangre“ im frühneuzeitlichen Spanien und den Parallelen der

Rassenpolitik im Nationalsozialismus vgl. Torres, Hering: Rassismus in der Vormoderne. Die

„Reinheit des Blutes“ im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2006. 11 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 14. 12 Die Andersartigkeit der „Barbaren“ wurde jedoch nicht als Nachteil gesehen, sondern ledig-

lich als solche wahrgenommen, was moderne Historiker dazu veranlasst, den Begriff „Ras-sismus“ für diese Phase der Geschichte abzulehnen. Vgl. hierzu Goldberg, David Theo: Rac-ist Culture. Philosophy and the Politics of Meaning, Oxford 2002, S. 103.

13 Was sowohl für das Griechische als auch das Lateinische gilt, ist die Absenz einer äquiva-lenten Vokabel für den Begriff „Rasse“ und noch weniger für „Rassismus“. Aus diesem Grund wird das antike Überlegenheitsgefühl der Römer gegenüber anderen Volksgruppen wiederum nicht als Rassismus im modernen Sinne verstanden. Vgl. hierzu die Monographie von Dauge, Yves Albert: Le barbare. Recherchers sur la conception romaine de la barbarie et de la civilisation, Brüssel 1981.

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„asymmetrischen Gegenbegriff“ bezeichnet.14 Trotz dieser Klassifizierung gab es in der

Antike kaum Fremdenhass im modernen Sinn. Vielmehr stellten die beiden europäi-

schen Vielvölkerimperien eine deutlich multikulturellere Gesellschaft als ihre heutigen

Nachfolgerstaaten.15 Neben den antiken Naturphilosophen boten gerade die Religions-

gemeinschaften Potenzial zur Auflösung der klassischen, asymmetrischen Form und

Wahrnehmung, was letztlich den frühen prärassistischen Ideologien des 18. Jahrhun-

derts zur Grundlage gereichte.16 Betrachtet man beispielsweise den Umgang Kaiser An-

tiochus IV. Epiphanes mit der jüdischen Bevölkerung, wird schnell ersichtlich, dass man

hier bereits xenophobe Strukturen erkennen kann, wenngleich der Begriff „Proto-

Rassismus“ sicherlich unpassend wäre.17 Als „antijüdisch“ darf das Handeln des mächti-

gen Seleukiden sicherlich bezeichnet werden, verbat er den Jüdinnen und Juden des

zweiten vorchristlichen Jahrhunderts während seiner Herrschaft doch ausdrücklich die

Praxis der Gottesdienste, die Einhaltung des Schabbats oder die rituelle Beschneidung.

Auch die sog. Klimatheorie der Frühen Neuzeit, auf die in diesem Vortrag noch

eingegangen wird, hat ihre Ursprünge bereits in der Antike, vermutlich schon im fünften

vorchristlichen Jahrhundert.18 So galten Menschen des warmen Südens als intelligenter,

ängstlicher und zaghafter, die Menschen des kälteren Nordens hingegen seien erfinderi-

scher, jedoch auch leichtsinniger und zu impulsiv.19 Diese adjektivische Zusammenfas-

sung Albrecht Dihles entspricht der Auffassung Tacitus’ beinahe bis zur Verwechslung.

Dieser schrieb in seiner berühmten Germania über die Bewohner nordöstlich des römi-

schen Rheingebiets:

Ich selbst trete den Ansichten Derer bei, welche glauben, daß Germaniens Völker, durch kei-

ne fremden Ehemischungen aus anderen Nationen unrein, ein eigenthümliches, naturächtes

14 Vgl. u. a. Koselleck, Reinhart: „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegen-

begriffe“, in: Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 2006, S. 211-259.

15 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 18. 16 Ebd., S. 20-24. Das wohl prominenteste Beispiel ist sicherlich Aristoteles, der in der

vorchirstlichen Ära postulierte, dass Sklaverei vonnöten sei, dass man jedoch nie einen von Natur aus Freien versklaven dürfe, sondern lediglich von Natur aus „Mindestveranlagte“ ihrer gerechten Führung unterweisen müsse. Aus menschenrechtlicher Perspektive ist die-ses Postulat heute nicht nur weiterhin ablehnenswert, sondern sogar ideologieverdächtig. Vgl. Horn, Christopher: „Menschenrechte bei Aristoteles“, in: Hierzu Giradet, Klaus; Nort-mann, Ulrich (Hrsg.): Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen, Wiesbaden 2005, S. 105-122, hier S. 118.

17 Isaac, Benjamin: The Invention of Racism in Classical Antiquity, Princeton 2004. Dennoch spricht Isaac von einer Frühform rassischer Ausgrenzung, auch wenn die moderne Begriff-lichkeit hier unpassend wäre.

18 Dihle, Albrecht: Die Griechen und die Fremden, München 1994, S. 15. 19 Dihle, Albrecht: Die Wahrnehmung des Fremden im alten Griechenland, Göttingen 2003, S. 8.

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und nur sich ähnliches Geschlecht seien. Daher auch die Beschaffenheit der Körper, obgleich

in einer so großen Zahl von Menschen, die nämliche bei Allen: trotzig wilde und blaue Augen,

röthliche Haare20, große Körper und nur zum Anstürmen stark; nicht gleich groß ihre Aus-

dauer in Mühe und Arbeit, und am wenigsten ertragen sie Durst und Hitze; an Kälte und

Hunger sind sie durch ihren Himmel oder Boden gewöhnt.21

Augustinus (354-430) prägte das Paradigma von der einen, großen und von Natur aus

verwandten Menschheit, die sich dennoch in unvereinbare Rassen teilen ließe, was zur

Grundlage der Methodik, der theologischen Begründung und der empirischen Entfaltung

der mittelalterlichen Scholastik führte.22 Wenngleich Sklavenhaltung für die gesamte

Zeit des europäischen Mittelalters überliefert ist,23 nahm sie ihren intensivsten Verlauf

erst zum Ende der Epoche, vornehmlich in Folge der Entdeckung Amerikas zum Ende

des 15. Jahrhunderts. Genannt seien für die Zeit zuvor jedoch die Inquisition, die antijü-

dischen Pogrome sowie die Kreuzzüge, die allesamt von einer stark religiös motivierten

Abneigung gegenüber den anderen Religionsgemeinschaften geprägt waren. Hinzu ka-

men Rivalisierungen der Kreuzfahrernationen untereinander, was jedoch weniger in

den Bereich der „Rassismusgeschichte“ fällt.

Die Zwangskonvertierung spanischer Juden zum Christentum während des 14.

Jahrhunderts konnte jedoch nicht verhindern, dass rund ein Jahrhundert später Begriffe

wie Conversos für konvertierte Juden, Marranen für deren Nachkommenschaft oder Mo-

riscos für zwangsbekehrte Muslime die Diskussionsgrundlage zur limpieza de sangre

(Reinheit des Blutes) lieferten.24 Als im Jahr 1510 – also weniger als 20 Jahre nach Kolo-

nialisierungsbeginn des amerikanischen Kontinents – das erste Schiff mit 50 Sklaven

den afrikanischen Kontinent verließ, um über Spanien in die Neue Welt, konkret nach

Haiti, zu segeln, war nicht nur die Grundlage für den Jahrhunderte andauernden Drei- 20 Einschub: Auch die oft als rötlich-blond beschriebene Haarfarbe der Thraker im Norden

Griechenlands gab Anlass zur Herabwürdigung dieser Nicht-Hellenen durch griechische Zeitgenossen. Es überrascht daher wenig, dass die Thraker in archaischer Zeit als erste ethnisch geschlossene Gruppierung von den Griechen versklavt wurden. Vgl. hierzu den Aufsatz von Rosivach, Vincent: „Enslaving Barbaroi and the Athenian Ideology of Slavery”, in: Historia 48 (1999), S. 129-157.

21 Tacitus, Germania, hrsgg. v. Anton Baumstark, Freiburg 1876, Kap. IV, S. 9f. 22 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 30. Vgl. hierzu auch die modernen Nationalismustheo-

rien als Konsequenz dieses Gedankenkonstruktes: Smith, Anthony D.: Theories of Nationa-lism, London 1971. Ferner Miles, Robert: „Der Zusammenhang von Rassismus und Nationa-lismus“, in: Leiprecht, Roland (Hrsg.): Unter Anderen: Rassismus und Jugendarbeit, Duisburg 1992, S. 20-43. Weitere Hinweise zur wissenschaftlichen Literatur über das Themenfeld Nationalismus folgen an entsprechender Stelle in diesem Skript.

23 Gerade für christliche und muslimische Seefahrtsnationen in Mittelmeernähe war die Ver-sklavung der religiös jeweils anderen Gruppe von Menschen seit dem 8. Jahrhundert stets gebräuchlich. Da sich diese Tradition jedoch bis in die Frühe Neuzeit durchzog, wird dieser Aspekt erst später genauer beleuchtet.

24 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 34f.

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ecks-Sklavenhandel geschaffen, sondern auch das Schicksal von 11-15 Millionen

zwangsdeportierter Afrikaner besiegelt.25 Weitere sieben Millionen wurden in derselben

Zeit auf die arabische Halbinsel und nach Indien verschleppt, um dort ähnlichen Ver-

sklavungsmechanismen zu unterliegen.26 Auf dem amerikanischen Kontinent zeigte sich

rasch, wie Spanier und Portugiesen auf der einen, Franzosen, Engländer und Holländer

auf der anderen Seite mit der Situation vor Ort umgingen: Während sich in Südamerika

eine multiethnische Bevölkerung entwickelte, wurden die afrikanischen Sklaven im

nordamerikanischen Siedlungskolonialismus stets von der „weißen Rasse“ separiert.27

In den Ländern des Mittelmeeres sowie einigen Anrainerstaaten war die Sklave-

rei zeitgleich auf ihrem Höhepunkt angekommen. Neben weithin bekannten Haus- und

Feldsklaven bediente man sich beiderseits der virtuellen Religionsgrenze außerdem der

„Ressource Mensch“ in Form von Arbeitssklaven für Dienste im Handelswesen. So ver-

sklavten Christen in erster Linie Muslime und Juden, Muslime hingegen unterstellten

sich im Krieg besiegte Christen. Die wohl grausamste Form der Versklavung erlitten

hierbei Galeerensklaven. Diese zu harter körperlicher Arbeit verdammten Ruderkräfte

eines frühneuzeitlichen Schiffes mussten bei Mangelernährung Tag und Nacht am selben

Platz an Deck vor sich hinvegetieren. Die Drastik dieser Formulierung sei gestattet, be-

denkt man, dass nicht nur die Nahrungsaufnahme an diesem „Arbeitsplatz“ stattfand,

sondern ebenso auch die Notdurft – sanitäre Anlagen gab es freilich keine.28

Etwa zwischen 1650 und 1800 gelangten rassistische Denkmuster sukzessive an

den Höhepunkt ihrer Existenz, nicht zuletzt wegen der Versuche, die menschenverach-

tenden Theorien akademisch zu untersuchen. Diese Pseudowissenschaften gelten heute

als „Abfallprodukt der Aufklärung“.29 Der „Erziehungsgedanke“ durchzog das gesamte

18. Jahrhundert, veranschaulicht beispielsweise durch die Plantagenwirtschaft in der

Karibik, in der die Masse der afrikanischen Sklaven eingesetzt wurde. Ideengeschichtlich

25 Ebd., S. 19. Andere sprechen sehr viel konkreter von 9.400.000 Sklaven, von denen „nur“

50.000 nach Europa und „nur“ 348.000 nach Nordamerika gelangten. Die restlichen Skla-ven landeten entweder in Mittel- und Südamerika oder starben auf der Überfahrt. Durch die Fortpflanzung der nordamerikanischen Sklaven unter einander (one-drop-Regulation) und die anschließende Versklavung der Nachkommenschaft wuchs der nordamerikanische Sklavenbesitz bis etwa 1800 auf 900.000 an. Vgl. Ansprenger, Franz: Geschichte Afrikas, München 42010, S. 46.

26 Ansprenger, Geschichte Afrikas, S. 47. 27 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 40. 28 Vgl. v. a. Priesching, Nicole: Sklaverei in der Neuzeit, Darmstadt 2014. 29 Vgl. Jäggi, Christian: Rassismus – Ein globales Problem, Zürich 1992, S. 32.

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stützen Montesquieus Klimatheorie30 („Kalte Luft strafft, warme Luft erschlafft“) und

Johann Gottfried Herders abgewandte Form des „mehrfachen Ursprungs der Mensch-

heit“31 die zunehmend stärker werdende Ideologie des Rassismus – wenngleich auch

weiterhin ohne konkrete Nennung derselben.32 Ein ebenfalls als pseudowissenschaftlich

zu klassifizierendes Konzept der Rassentheorien der Frühen Neuzeit war das Erstellen

von sog. Reiseberichten und Völkertafeln. So galten Reiseberichte in unbekannte Regio-

nen der Welt teilweise über Jahrzehnte als einzige Kenntnis über die Beschaffenheit der

dort lebenden Menschen. Der bis heute nicht zu Ende diskutierte Vorwurf des Kanniba-

lismus gegenüber Indianer*innen, Afrikaner*innen, Kariben oder sonstige Bewoh-

ner*innen der nicht-christlichen Welt entstand aus eben diesem Verfahren Wissen-

schaftlichkeit vorgaukelnder Historizität.33 Auf einer sog. Völkertafel wurden für ge-

wöhnlich tabellarisch die wichtigsten Völker der bekannten Welt klassifiziert und mit-

hilfe eines charakteristischen Adjektivs in diversen Kategorien beurteilt. So waren um

1725 beispielsweise die „Sitten“ der Spanier „hochmüttig“; Franzosen seien „leichtsin-

nig“, Italiener galten als „hinterhaltig“, Deutsche seien „offenherzig“, Engländer „Wohl

Gestalt“, Schweden „Stark und Groß“, Polen galten als „bäurisch“, Ungarn als „Unfrey“,

Russen als „Boßhafft“, Türken und Griechen verhielten sich „Wie das Abrilweter“.34 Die-

se Wertung (phäno-)typischer Merkmale mithilfe vereinfachter Kriterien sowie die An-

gabe geistiger, charakterlicher wie kultureller Fähigkeiten bereiteten im 18. Jahrhundert

als sog. Rassentypologien den Boden für den voll ausdifferenzierten biologischen Ras-

sismus des 19. und 20. Jahrhunderts.35

Als nach dem amerikanischen Bürgerkrieg von 1861-1865 die Situation der Afro-

amerikaner*innen endlich zur Wendung hätte kommen müssen, setzten in den Nord-

staaten der USA quasi unmittelbar im Anschluss Untersuchungen zur Frage ein, ob „das

Gehirn afrikanischer Menschen überhaupt für Bildung“ geeignet sei.36 Im Süden hinge-

30 Vgl. hierzu Radkau, Joachim: „Natur als Gesetzgeberin und Natur als Erfahrung bei Mon-

tesquieu und Max Weber“, in: Böhlke, Effi; François, Etienne (Hrsg.): Montesquieu. Franzose – Europäer – Weltbürger, Berlin 2005, S. 37-56, hier S. 43f.

31 Vgl. hierzu die Rezeptionsgeschichte bei Nutz, Thomas: „Varietäten des Menschenge-schlechts“. Die Wissenschaft vom Menschen in der Zeit der Aufklärung, Köln et al. 2009, S. 80.

32 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 51f. 33 Vgl. v. a. Arens, William: The Man Eating Myth. Anthropology and Anthropophagy, New York

1979. 34 Steierische Völkertafel, um 1725. Vgl. hierzu Stanzel, Franz: Europäischer Völkerspiegel.

imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts, Hei-delberg 1999.

35 Fredrickson, George: Rassismus – Ein historischer Abriss, Hamburg 2004, S.61-63. 36 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 77.

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gen gab man sich mit der neuen formalen und gesetzlichen Gleichheit gar nicht erst zu-

frieden; die Folge war die Gründung des überaus erfolgreichen Ku-Klux-Klans am 24.

Dezember 1865.37 Zu den Opfern der Anhänger dieses Klans zählten nicht nur Afroame-

rikaner*innen, sondern auch Menschen jüdischen und katholischen Glaubens, Bürger-

rechtsverfechter*innen und Nordstaatenamerikaner*innen, die sich am Wiederaufbau

des Südens bereichern wollten. Im Verlauf der Geschichte schwankte der Hass der Mas-

senbewegung – 1924 hatte der Klan immerhin bereits vier Millionen Anhänger – und

fokussierte künftig hauptsächlich die farbige Bevölkerung der USA. Doch wie verhielt es

sich im sog. Großen Krieg, der ab 1914 große Teile der „weißen“ Welt überzog?

Der Erste Weltkrieg rief auf allen Seiten teils vergleichbare Sichtweisen auf den

jeweiligen Feind hervor, warf also das Selbstbild der „Nation im Rassenkampf“ auf.

Demzufolge wurden die Feinde allseits als „Barbaren, Untermenschen38 und universale

Schädlinge“ bezeichnet. So war das Hauptmotiv der muslimischen Jungtürken, die

nichtmuslimische Bevölkerungsminderheit der Armenier im Osmanischen Reich zu er-

morden, zweifelsfrei ein rassistisches.39 In Deutschland beispielsweise erwuchs diese

Haltung seit Jahrzehnten aus totalitären Gebietsansprüchen, die es auch weit jenseits

nationaler Staatsgrenzen ermöglichten, „deutsche Erde für deutsches Volk zu verlangen

– und sei es am Fuße des Kilimandscharo“.40 Etwa zeitgleich – ab den siebziger Jahren

des 19. Jahrhunderts – entwickelte sich unabhängig davon der Begriff des „Antisemitis-

mus“41. In seiner Praxis lange bekannt, bezeichneten sich Verteidiger dieser Ideologie

nun selbst als „Arier“ in Abgrenzung zu allem „Semitischen“.42 Das Judentum wurde da-

37 Zur Geschichte des Ku-Klux-Klans erschien bereits ab 1905 reichlich zeitgenössische Lite-

ratur. Unter den moderneren Publikationen vgl. v. a. Wade, Wyn Craig: The Fiery Cross: The Ku Klux Klan in America, New York 21998.

38 In Anlehnung an Friedrich Nietzsches Übermenschen, vgl. Schmieder, Carsten: „Contra culturam. Nietzsche und der Übermensch“, in: Sommer, Andreas Urs (Hrsg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin; New York 2008, S. 97-102.

39 Mit seiner umfangreichen Monographie gilt Michael Hesemann spätestens seit 2015 zu den Spezialisten auf dem Gebiet des Armenozid von 1915/16. Vgl. Hesemann, Michael: Völker-mord an den Armeniern. Erstmals mit Dokumenten aus dem päpstlichen Geheimarchiv über das größte Verbrechen des Ersten Weltkriegs, München 2015.

40 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 83. 41 In Verweis auf den „Zionismus“ gibt das Politiklexikon der Bundeszentrale für politische

Bildung als Definition für „Antisemitismus“ an: „Judenfeindschaft. Der Begriff Antisemitis-mus kam 1879 durch die organisierte judenfeindliche Bewegung in Deutschland auf. Wäh-rend des Nationalsozialismus führte der politisch und staatlich betriebene Antisemitismus bis zum industriell ausgeübten Massenmord mit dem Ziel der systematischen Vernichtung der europäischen jüdischen Bevölkerung. Antisemitische Verschwörungstheorien werden noch heute von rechtsradikalen und neonazistischen Kreisen vertreten.“ Vgl. Schubert; Klein, Das Politiklexikon, S. 19.

42 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 86.

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mit zum Feind des als „Lehre und Weltauslegung“43 gedachten Rassismus.44 Entgegen

der Erwartung wurde der Begriff „Rasse“ in der Ideologie des Nationalsozialismus

schnell mit „Nation“ und „Volk“ austauschbar.45 Gerade in der Zeit für diesen Geschichts-

abschnitt muss nun aber unbedingt auf korrekte Wortwahl und Sprache geachtet wer-

den.

So verwenden Historiker*innen heute Begriffe wie „Drittes Reich“ – häufig durch

Anführungszeichen hervorgehoben –, als wäre es ein natürlicher Begriff der Geschichts-

schreibung. Vielmehr ist es jedoch eine Selbstbezeichnung46 der Nationalsozialisten, um

ihre eigene Herrschaft in einer logischen Reihung als Schlussstück der Dreierkette „Hei-

liges Römisches Reich Deutscher Nation – Deutsches Kaiserreich – Drittes Reich“ zu se-

hen und damit die Weimarer Republik vollständig zu negieren.47 Den Hinweis zum kor-

rekten Sprachgebrauch im Kontext der Begriffe „Antisemitismus“ und „Holocaust“ ver-

danke ich Prof. Dr. Peter Herde (Universität Würzburg). Seine Ansichten, die er durch

Rücksprache mit israelischen Historiker*innen gewonnen hat, werden auch von der

Website haGalil.com (Jüdisches Leben online) geteilt. Dort heißt es zum Begriff „Holo-

caust“:

Das griechische Wort ὁλόκαυστος (holókaustos, "vollständig verbrannt") bezog sich auf die

in der Antike verbreitete religiöse Praxis der Verbrennung von Tieren als Opfer. Dafür ver-

wendete es erstmals der Historiker Xenophon, dann auch die griechische Bibelübersetzung,

die Septuaginta. Über die lateinische Bibelübersetzung der Vulgata drang holocaustum in die

englische Sprache ein, nicht aber in die deutsche, da Martin Luther den Ausdruck mit Brand-

opfer übersetzte.

Darum wurde der Völkermord an den europäischen Juden zunächst nur im englischen

Sprachraum mit dem Wort Holocaust bezeichnet, erstmals im Dezember 1942 in der Tages-

zeitung News Chronicle. Diese verband noch ohne Kenntnis von "Vernichtungslagern" damit

bereits Adolf Hitlers Vernichtungsplan an den Juden: „… the Jewish people are to be extermi-

nated.“ Von nun an behielt der Begriff im politischen Diskurs diesen Sinn und setzte sich in

der angelsächsischen Geschichtswissenschaft nach 1945 allmählich durch. Der Autor Fre-

derick Forsyth machte 1972 diesen Sinn mit seinem Roman „Die Akte Odessa“ einer breite-

ren Öffentlichkeit bekannt.

43 Poliakov, Léon: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Ham-

burg 2009, S. 269f. 44 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 88. 45 Ebd., S. 80. 46 Ideologisch geprägt wurde der „Antisemitismus“ begriffsgeschichtlich von Arthur Moeller

van den Bruck übernommen. Vgl. Bloch, Ernst: „Zur Originalgeschichte des Dritten Reichs“, in: Bloch, Ernst (Hrsg.): Erbschaft dieser Zeit, Bd. 4, Frankfurt am Main 1977, S. 126-160.

47 Wippermann, Wolfgang: „Drittes Reich“, in: Benz, Wolfgang et al. (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 52007, S. 479f.

10

Zwar gab es im Deutschen bereits das Fremdwort Holokaust, das aber kaum für den Völker-

mord an den Juden gebraucht wurde und in wichtigen Wörterbüchern nicht verzeichnet war.

Doch seit der Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß“ von 1979 wurde

der Begriff, auch in englischer Schreibweise, in der Bundesrepublik üblich. Er bezeichnete

nun verbreitet das, was zuvor als "Judenverfolgung", "Judenvernichtung", "Judenmord" oder

"Mord an den europäischen Juden" umschrieben worden war. Das Bewusstsein für die Aus-

nahmestellung dieses nationalsozialistischen Völkermords war bis dahin kaum in der deut-

schen Bevölkerung vorhanden.48

Damit impliziere der Begriff „Holocaust“ nach Meinung vieler Jüdinnen und Juden einen

positiven religiösen Sinn des Geschehens, weshalb er abzulehnen ist. Alternative Begriff-

lichkeiten ohne negative Konnotation wären nach der Meinung von Peter Herde „Scho-

ah“ (שואה)49 und „Genozid“.

Deutlich komplizierter verhält es sich beim Erklärungsversuch, weshalb „Antise-

mitismus“ im Vergleich zu „Judenfeindschaft“ (im weltlichen) und „Antijudaismus“ (im

religiösen Sinne) problematisch sein soll? Der Begriff „Antisemitismus“ geht – wie be-

reits erwähnt – auf eine deutsche Wortneuschöpfung aus dem Jahre 1879 zurück und

definiert sich in diesem Kontext dezidiert über eine Feindschaft gegenüber Menschen

jüdischen Glaubens.50 Als Antonym zum Begriff „Semitismus“ entstanden, hielt sich bis

in die Gegenwart lediglich in der Sprachwissenschaft der Begriff „semitisch“. Im Nahen

Osten spricht man von semitischen Sprachen in Abgrenzung zu indogermanischen

Sprachgruppen. Seit Beginn des Rassismus im modernen Sinn hingegen verengten sich

beide Bezeichnungen auf „das Jüdische“ und „das Germanische“.51 Eine Identifikation

arabisch-islamischer Glaubensvertreter*innen mit dem Begriff „Antisemitismus“ ist

nach Meinung Werner Bergmanns abzulehnen, da der Neologismus einzig und allein

zum Zweck der Diffamierung jüdischer Menschen dienen sollte.52 Darüber hinaus sei der

Begriff in zahllose Kategorien zu unterteilen:

48 URL: http://www.antisemitismus.net/shoah/holocaust.htm (eingesehen am 05.06.2015). 49 Hierbei darf nicht vernachlässigt werden, dass nicht-jüdische Opfergruppen den Begriff

Schoah als zu sehr auf die jüdischen Opfer eingeengt betrachten. 50 Vgl. hierzu Strauss, Herbert; Kampe, Norbert: Antisemitismus – Von der Judenfeindschaft

zum Holocaust, Frankfurt am Main 1988, S. 27 und Silbermann, Alphons; Schoeps, Julis: An-tisemitismus nach dem Holocaust, Köln 1986, S. 33-39.

51 Bergmann, Werner: „Was heißt Antisemitismus?“, URL: http://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37945/antisemitismus?p=0 (eingesehen am 05.06.2015).

52 Vgl. ebd. Albert Memmi schlug vor, den Begriff „Antisemitismus“ durch „Judenphobie“ zu ersetzen, da auch ihm die offensichtliche Ungenauigkeit des Begriffes aufgefallen war. Seine analogen Vorschläge zur Furcht vor Muslimen (= Arabophobie) und Afrikaner*innen oder Afroamerikaner*innen (= Negrophobie) setzten sich ebenso wenig durch wie sein eingangs besprochener Alternativvorschlag zu „Rassismus“. Vgl. Memmi, Rassismus, S. 123.

11

Da Antisemitismus zum übergreifenden Terminus für jede Form von Judenfeindschaft ge-

worden ist, spezifiziert man seine besonderen historischen, religiösen, politischen oder

psycho-sozialen Erscheinungsformen jeweils über Beifügungen und spricht von antikem,

christlichem, völkischem, rassistischem, sekundärem, latentem, islamischem oder antizionis-

tischem Antisemitismus.53

Im Anschluss an den Untergang des Nationalsozialismus verschwand der „Antisemitis-

mus“ weitestgehend als Staatsdoktrin. In Deutschland bezeichnen manche Wissen-

schaftler*innen die Formen postnationalsozialistischer Judenfeindschaft als „sekundä-

ren Antisemitismus“. Dessen wichtigste Aufgabe sei die psychologisch-moralische

Schutzfunktion vor etwaigen oder echten Schuldvorwürfen in Bezug auf „Auschwitz“,

das Konzentrationslagersystem im Allgemeinen und die flächendeckende Denunziation

zwischen 1933 und 1945.54

Wie funktionierte nun konkret das rassistisch-judenfeindliche System des Natio-

nalsozialismus, woraus speisten sich die ideologischen Ansätze und was unterscheidet

die alltägliche Praxis vom italienischen Faschismus und den anderen europäischen Dik-

taturen? Noch heute viel zitierte Endzeitphobien wie „Passing of the Great Race“55 oder

der „Untergang des Abendlandes“56 waren starke Ausdrucksformen des gelebten Ras-

sismus im Vorfeld der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.57 Die weiter entwi-

ckelte Theorie Charles Darwins (1809-1892) gab zu dieser Zeit vor, dass „die perfekte

Rasse erst diejenige ist, die sich gegen alle anderen durchgesetzt hat; und daß damit der

einzige und wahre Rassenerzeuger der Krieg ist“.58 Damit war die Grundlage für einen

rassenbiologischen Weltkrieg, wie ihn Hitler geführt hat, geschaffen. Auch Josef Stalin

(1878-1953) nahm diese Theorie während seiner Säuberungsaktionen59 in den dreißi-

ger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Hand, um genozidale Verbrechen zu rechtfertigen.60

Während des Zweiten Weltkrieges sprachen die Amerikaner in ihrem ab 1942 einset-

53 Bergmann, Was heißt Antisemitismus. 54 Vgl. bspw. Claussen, Detlev: Vom Judenhass zum Antisemitismus. Materialien einer verleug-

neten Geschichte, Darmstadt 1987, S. 48. 55 Grant, Madison: Passing of the Great Race; or, The racial basis of European history, New York

1916. 56 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umriss einer Morphologie der Weltge-

schichte, Wien 1918. 57 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 96. 58 Ebd., S. 97. 59 Bei den sog. Schauprozessen tötete Stalin öffentlich echte oder vermeintliche Gegner seines

Regimes, in erster Linie jedoch KPdSU-Mitglieder, denen er fingierte Vorwürfe unterstellen konnte. Die Gesamtzahl der Opfer kann bis heute nicht abschließend ermittelt werden, Schätzungen bewegen sich zwischen 3 und 20 Millionen Menschen. Vgl. Pirker, Theo: Die Moskauer Schauprozesse 1936-1938, München 1963; Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln et al. 1955.

60 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 98.

12

zenden Kampf gegen Japan von einem „Rassenkrieg, der mit Vorstellungen von den Ja-

panern als geborene Untermenschen“ operierte.61 In Addition hierzu sahen sich die Ja-

paner selbst wiederum als asiatische Herrenrasse, aus deren Perspektive der chinesi-

sche Feind den Status des „Untermenschen“ zugewiesen bekam. Das prominenteste Bei-

spiel hierfür ist das Massaker von Nanking (南京大屠殺), bei dem japanische Soldaten

rund 200.000 Chinesen ermordeten und rund 20.000 Frauen und Mädchen vergewaltig-

ten.62

Eine weitere Gruppe von Menschen, die während der Herrschaft Adolf Hitlers

unter rassistischer Diskriminierung litt, waren die Vertreter der slawischen Sprachfami-

lie. Es ist bezeichnend, dass die seit Jahrhunderten andauernde Versklavung der östli-

chen Nachbarn, die als „Slawen“ bezeichnet wurden, auch namensgebend für den Begriff

„Sklaven“ war. Im Jahr 973 tauchte in einer Urkunde der Monumenta Germaniae Histo-

rica erstmals der Begriff „sclavus“ anstelle des üblichen „servus“ auf. Die Bezeichnung

für die bereits von den Ottonen versklavten Slawen war „slavus“. Noch heute ist die Na-

mensverwandtschaft in vielen Sprachen erkennbar: engl. slave; ital. schiavo; franz. eslave

etc. Zur Etymologie äußerte sich vor allem der französische Mediävist Jacques Heers.63

Der von Heinrich Himmler im Generalplan Ost in Auftrag gegebene Plan zur Gewinnung

von „Lebensraum im Osten“ – erdacht in der wilhelminischen Zeit, rassisch-ideologisch

interpretiert von den Nationalsozialisten – bedrohte also konkret das Leben einer Be-

völkerungsgruppe, die von den Nazis als andere „Rasse“ wahrgenommen wurde. Himm-

ler selbst sah sich als Reinkarnation des mittelalterlichen sächsischen Königs Heinrich I.

(876-936), der siegreich gegen die östlichen Nachbarn zu Felde gezogen war.64 Aus die-

sem Grund ließ sich Hitler dazu hinreißen, seinen Generälen im Vorfeld des Überfalles

auf Polen mitzuteilen: „Ziel ist [die] Beseitigung der lebenden Kräfte. Bei Beginn und

Führung des Krieges kommt es nicht auf das Recht an, sondern auf den Sieg... brutales

Vorgehen, größte Härte.“65 Nach dem Sieg über den westlichen Teil Polens wurde die

polnische Inteligencja ermordet und nicht „Eindeutschungsfähige“ wurden auf Befehl

Reinhard Heydrichs zur Zwangsarbeit im Generalgouvernement verurteilt.

61 Ebd., S. 99. 62 Vgl. Judgement International Military Tribunal for the Far East, § 2, S. 1012. Vgl. ferner:

Chang, Iris: Die Vergewaltigung von Nanking. Das Massaker in der chinesischen Hauptstadt am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Zürich 1999.

63 Vgl. Chebel, Malek: L’Esclavage en Terre d’Islam. Un tabou bien gardé, Paris 2007, S. 37f. 64 Aleff, Eberhard: Das Dritte Reich, Hannover 1973, S. 70. 65 Ebd., S. 174.

13

Im Kontext des korrekten Sprachgebrauchs verweisen professorale Experten wie Peter

Herde auch mit anhaltender Kondition darauf, dass der Begriff „Faschismus“ lediglich

auf ein politisches Phänomen zurückzuführen sei: die italienische Regierungsform Beni-

to Mussolinis, erwachsen und benannt aus den „Fasci di Combattimento“, also den fa-

schistischen Kampfbünden der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges. Terminologisch

mag die Beschränkung auf die Schwarzhemden zunächst richtig erscheinen; eine Be-

zeichnung spanischer Franquisten, ungarischer Pfeilkreuzler oder deutsch-

österreichischer Nationalsozialisten als „Faschisten“ ist historisch gesehen nicht korrekt.

Die Bezeichnung jedoch ganz und gar als kommunistischen Kampfbegriff abzutun, ver-

klärt ebenfalls die Tatsachen. Einerseits muss man den Opfern des Nationalsozialismus

zugestehen, dass sie sich selbst als „Opfer des Faschismus“ bezeichnen.66 Andererseits

ist das Hauptargument der Kritiker des inflationären Gebrauchs des Faschismus-Begriffs

die Absenz von Rassismus oder Antisemitismus im Faschismus. Mussolinis Politik ba-

sierte demnach auf einem gesteigerten Nationalismus, der alle nichtitalienischen Ele-

mente eliminieren wollte. Genannt seien hier antike und mittelalterliche Einflüsse aus

Griechenland oder der muslimischen Welt. Doch wie leicht vergisst man in diesem Kon-

text, dass Italiens Faschisten nicht nur durch „ethnische Säuberungen“ gewaltsam gegen

verhasste slowenische und kroatische Slawen im Nordosten Italiens vorgingen, sondern

dabei auch ca. 100.000 italienische Jüdinnen und Juden, Slaw*innen sowie Afrika-

ner*innen deportierten oder gar an die SS auslieferten – was unweigerlich zur Deporta-

tion in die Konzentrationslager führte.67 In diesem Kontext nicht von „Rassismus“ zu

sprechen wäre fatal.

Im Anschluss an die Schreckensereignisse des Zweiten Weltkrieges war die Welt

trotz des Wissens über die Schoah noch nicht bereit für eine Ära des Antirassismus. Die

amerikanischen Truppen, die bereits zu Beginn des Kriegseintrittes der USA als sog. seg-

regated armies aufgestellt worden waren und nach 1945 eine Besatzungsmacht in

Deutschland darstellten, hatten weiterhin große Defizite im Bereich der Anerkennung

afroamerikanischer Mitbürger*innen – auch im zivilen Bereich. Nachdem sich ab 1933

„weiße“ Amerikaner darüber empört hatten, wie in Deutschland mit Menschen jüdi-

66 Vgl. bspw. den „Platz der Opfer des Faschismus“ in Nürnberg, wo es keine SED-

Beeinflussung gab. Auch Liedgut der Gegner des Nationalsozialismus bediente sich dieses Wortes, beispielsweise der Regimekritiker Ernst Busch in seinem Kampflied gegen den Fa-schismus. Vgl. Hermsdorf, Klaus; Fetting, Hugo; Schlenstedt, Silvia: Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945: Exil in den Niederlanden und Spanien, Stuttgart 1981.

67 Schieder, Theodor: Der italienische Faschismus, München 2010, S. 22, 61, 91.

14

schen Glaubens umgegangen wurde, nutzte die afroamerikanische Bürgerrechtsbewe-

gung dies als Argumentationsgrundlage, um gegen den sog. Jim-Crow-Rassismus vorzu-

gehen.68

Christian Geulen widerspricht der naiven Annahme, der Rassismus sei mit dem

Untergang der Unrechtsstaaten des 20. Jahrhunderts ein für alle Mal besiegt. Mit dem

seit den sechziger Jahren zunehmend aufkommenden Antirassismus fühlten sich Neo-

Rassisten und Neurechte zunächst in die Ecke gedrängt, wenngleich ein veränderter

Sprachgebrauch dieses Problem zu lösen gewillt war. Rechtsradikale und fremdenfeind-

liche Milieus sprechen heute eben nicht mehr von der „Rasse“, sondern umschreiben

dieselbe Ideologie mit Begriffen wie „Schutz vor Überfremdung, Reinhaltung, Selektion,

Verteidigung“ und vielem mehr.69 „Daher klingt fremdenfeindliche Rhetorik heute so

häufig wie der scheinbar selbstverständliche Ruf nach Natur- und Artenschutz“. Den-

noch gelingt dem Milieu damit der Übergang zu rassistischer Ideologie durch das Aus-

nutzen der der Bevölkerung immanenten „Angst vor den Herausforderungen der Globa-

lisierung“.70 Eben dieses sich Bedienen am Wortschatz der „Überfremdung“ ist als Me-

chanismus seit dem 19. Jahrhundert bekannt und zentrales Merkmal des Rassendiskur-

ses. Hauptmotiv derjenigen, die sich dieses Jargons bedienen, ist seit jeher die Erzeu-

gung von Xenophobie. „Diese Angst selbst ist [jedoch] noch kein Gradmesser für Rassis-

mus. Vielmehr zeigt sie zunächst, daß Angleichungen und Vereinigungen, so sehr sie

auch öffentlich als unbedingt zu begrüßende, mindestens aber notwendige Prozesse gel-

ten, selten ohne Widerstand hingenommen werden, sondern Eigensinn provozieren und

neue Abgrenzungen hervorrufen“.71

Mit dieser Einschätzung lieferte Christian Geulen bereits während der Entste-

hungsphase der ersten Auflage seiner Monographie im Jahr 2007 eine Drohkulisse, wie

sie in Zeiten von PEgIdA und Co. im Jahr 2015 aktueller denn je ist.

Wie gestaltet sich heute also der Umgang mit der Geschichte des Rassismus? Das

Gedenken an die Versklavung in Afrika beispielsweise ist heute in afroamerikanischen

Gemeinden deutlich höher als in der ursprünglichen Heimat, da die Betroffenen in der

68 Vgl. hierzu Schmidt, Oliver: Afroamerikanische GIs in Deutschland 1944-1973. Rassekrieg,

Integration und globale Protestbewegung, Münster 2013, S. 59f. Online verfügbar unter URL: http://repositorium.uni-muenster.de/document/miami/3f425d7a-12b2-4c95-b8ce-f8d822da30be/diss_schmidt-oliver_buchblock.pdf (eingesehen am 06.06.2015).

69 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 112. 70 Ebd., S. 113. 71 Ebd., S. 116.

15

Regel auf dem amerikanischen Kontinent leben.72 In der Vielfalt der Verarbeitung der

Schrecken der Schoah gedenken Opfer und deren Nachkommen weltweit in regelmäßi-

ger Wiederkehr der Schrecken des Nationalsozialismus. Hier sei beispielhaft hervorge-

hoben, dass eine jede israelische Abschlussklasse an höheren Schulen kurz vor ihrem

Abitur geschlossen in die Vernichtungslager nach Auschwitz (Oşwięcim) reist – früher

war dies lediglich den Absolventen einer Eliteschule vorbehalten.

Abstoßend hingegen wirkt die Verharmlosung der rassistischen Gewaltverbre-

chen oder die öffentliche Zurschaustellung von Zustimmungsbekundungen. Hier seien

lediglich zwei Beispiele genannt: Am 2. Juni 2015 veröffentlichte die Facebookseite der

NPD Bayern einen Post73, bei der sie sich darüber echauffierte, dass in einer Augsburger

Modeboutique „schwarze“ Schaufensterpuppen präsentiert würden. Im Kommentar zu

dem entsprechenden Foto heißt es: „Psychischer Selbstmord der Weissen (sic!) alleror-

ten!“ Die Schreibweise von „weiß“ im rassistischen Sinn mit Doppel-S statt des korrek-

ten Eszetts stellt eine rechtsradikale Tradition dar, in der bewusst mit der Anspielung

auf die Schutzstaffel (SS) operiert wird. Weiterhin heißt es in dem Kommentar: „Auch

jegliche Form der Bildwerbung ist heute mehr als rassistisch! Da kommt alles gut weg,

nur keine weissen Menschen.“ Hierbei handelt es sich um übertriebene deutsche Opfer-

kultur, die für Rechtsradikale typisch ist. Doch das bisherige Schauspiel wird im Kom-

mentar noch weitergetrieben: „Ja, langsam, scheibchenweise das ist ihre Taktik seit

Jahrhunderten! Es geht um die Vernichtung der weissen, höher entwickelten Men-

schen!!“ Sieht man von den orthographischen Unzulänglichkeiten der Bayern-NPD ein-

mal ab, können bei solch enormer Fehleinschätzung gar nicht ausreichend Antworten

auf die sich eröffnenden Fragen gegeben werden. Wer diese Denkweise an den Tag legt

und sich selbst als „höher entwickelt“ betrachtet, reproduziert Rassismen einer längst

vergangenen Ära. Deshalb nutzt man für Sachverhalte dieser Kategorie den Terminus

„Neorassismus“.

Wer bei der Formulierung „Taktik seit Jahrhunderten“ stutzig geworden ist, ja

sogar versteckte Judenfeindschaft erahnt, liegt vollkommen richtig. Zumindest lässt das

ein Kommentar der Bayern-NPD unter ihrem eigenen Post zweifelsfrei erahnen: „Und

die Moral von der Geschicht: in einem Laden mit so rassistischer Werbung kauft man

72 Ansprenger, Geschichte Afrikas, S. 52. 73 URL:

https://www.facebook.com/EndstationRechts.Bayern/photos/a.119514138071684.13350.117923418230756/907131485976608/?type=1 (eingesehen am 07.06.2015).

16

nicht!“ Zuletzt sei in dieser Anekdote auf die sog. Begriffsbesetzung verwiesen. Die

zweimalige Verwendung des Begriffes „rassistisch“ aus der Perspektive der „Weißen“

soll in Kombination mit der Opferrolle ein Ungleichgewicht des öffentlichen Gedenkens

an Opfer rassistischer Gewaltverbrechen erinnern. Und dieser recht häufigen polit-

rhetorischen Methode der Begriffsbesetzung bedienen sich auch andere rechtsradikale

Gruppierungen sehr häufig, was an einem zweiten Beispiel gezeigt werden soll:

Die Gemeinschaft „Pro Asyl“ ist eine unabhängige Menschenrechtsorganisation,

die sich seit mehr als 25 Jahren für die Rechte verfolgter Menschen in Deutschland und

Europa einsetzt.74 Im sächsischen Bautzen liegt die beschauliche Kleinstadt Hoyers-

werda. Diese machte bereits 1991 negativ auf sich aufmerksam, als rund 500 Rechtsra-

dikale, Neonazis und Zuschauer ein vietnamesisches Flüchtlingswohnheim anzündeten

und mehrere Menschen teilweise schwer verletzten.75 Dieses Ereignis löste eine Welle

von vergleichbaren Vorfällen aus, so unter anderem in Thiendorf (Sachsen), Freital

(Sachsen), Bredenbeck (Niedersachsen), Münster (NRW), March (Baden-Württemberg),

Tambach-Dietharz (Thüringen) und Rostock Lichtenhagen (Mecklenburg Vorpommern).

Seit PEgIdA und Co. Ende 2014 ihre Hassparolen auf die Straßen trugen, marschiert

auch ein undifferenzierter Block autonomer Nationalisten und lokal bekannter Rechts-

radikaler mit ihnen. Zahlreiche Attacken auf Flüchtlingsunterkünfte überall im Land

machten negativ auf ihre Gemeinden aufmerksam. Zum Teil überschlugen sich die

Schlagzeilen, zuletzt wiederum in Hoyerswerda, wo einer rechtsradikalen Tätergruppe

ein Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim misslang, als der Molotov-Cocktail von

der Hauswand abprallte und auf der Straße entflammte.76 Ausgerechnet in dieser Stadt

gründete sich vor wenigen Tagen eine Gruppe mit dem Namen „Pro Asyl – Für die wah-

ren Flüchtlinge in Hoyerswerda Deutschland“, die es sich zum Ziel macht, auf Neuein-

richtungen zur Erstaufnahme von Flüchtlingen hinzuweisen, insbesondere wenn diese

in kritischen Gegenden wie Kindergärten oder Schulen errichtet würden.77

Doch auch in anderen Teilen der Welt spielt der Rassismus heute noch eine ge-

steigerte Rolle. Nur mit der historischen Kenntnis über das „schwarz-weiße“ Südafrika

74 URL: http://www.proasyl.de/de/ueber-uns/ (eingesehen am 07.06.2015). 75 Vgl. hierzu den Gastbeitrag der Initiative Pogrom 91: „Fehlende Aufarbeitung“, in: Antifa-

schistisches Infoblatt 92 (2011). Der Artikel ist auch online abrufbar unter URL: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/fehlende-aufarbeitung (eingesehen am 07.06.2015).

76 URL: http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-06/hoyerswerda-asylbewerberheim-brandanschlag (eingesehen am 07.06.2015).

77 URL: https://www.facebook.com/pages/Pro-Asyl-Für-Die-Wahren-Flüchtlinge-in-Hoyerswerda-Deutschland/1634850813416694 (eingesehen am 07.06.2015).

17

in Folge der niederländischen und britischen Kolonialisierung kann sich die noch heute

in den Köpfen umhergeisternde Seele der Apartheid erklären lassen, die zuletzt noch bei

den Wahlen des Afrikanischen Nationalkongresses im Jahr 2009 sichtbar wurde.78 In

den USA hingegen machen seit einigen Jahren immer wieder Erschießungen afroameri-

kanischer Mitbürger durch „weiße“, rassistisch motivierte Polizeibeamte Schlagzeilen.

Sowohl die friedfertig-christliche also auch die extremistisch-islamische Herangehens-

weise eines Dr. Martin Luther King Jr. oder eines Malcom X vermochten es nicht, die

Rechte der Afroamerikaner endgültig hervorzubringen. Beide Aktivisten wurden in Fol-

ge ihrer Popularität und aus (zum Teil) rassistischen Motiven ermordet.79

3. Abschließende Bemerkungen:

Xenophobie und Fremdenfeindlichkeit als Spätfolgeerscheinungen postkolonialer

Flüchtlingsbewegungen durch Aufklärung in die Schranken zu weisen, versteht sich im

21. Jahrhundert mit Entschiedenheit als Aufgabe oberster Priorität in jeder demokrati-

schen Gesellschaft. Damit besitzt die „Geschichte des Rassismus“ im Sinne Christian Geu-

lens ein weiterhin offenes Ende.

Nun werden zuletzt sicherlich einige Fragen offen geblieben sein. Wie verhielt es

sich mit dem Umgang der australischen Regierung und den Aborigines, wo ist der Auf-

stand der Herero und Nama zu verorten, wie steht es heute um Sinti und Roma in Un-

garn, wie ist der Rassismus im Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zu bewerten,

worin liegt der Unterschied zwischen Thilo Sarrazin und einer ethnopluralistischen

Identitären Bewegung, weshalb erlangten gerade rechtspopulistische Parteien wie die

Alternative für Deutschland (AfD), die Front National (FN), die Unabhängigen Griechen

(ANEL) oder die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) elektorale Erfolge? Für die Be-

antwortung der meisten dieser Fragen empfiehlt sich ein Blick in die für diesen Vortrag

verwendete Auswahlbibliographie, die allerdings selbstverständlich unvollständig blei-

ben muss. Für Rückfragen – ob im Anschluss an diesen Vortrag – oder via Mail stehe ich

jederzeit gerne zur Verfügung. Sollten Sie dieses Dokument bei Academia.edu gelesen

78 Vgl. Ansprenger, Geschichte Afrikas, S. 63f. 79 Vgl. Oates, Stephen: Martin Luther King, Kämpfer für Gewaltlosigkeit, München 1986, S. 579-

583; Malcolm wurde zwar nicht aus rassistischen Motiven getötet, von seiner Ermordung in Washington Heights sollen die Behörden im Vorfeld gewusst und bewusst nichts unter-nommen haben. Vgl. hierzu Marable, Manning: Malcolm X: A Life of Reinvention, New York 2011, Kap. 15.

18

haben, kontaktieren Sie mich gerne jederzeit über die Kommunikationsstruktur der

Website.

19

4. Verwendete Literatur und Weblinks:

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nôtre comme la race des épagneuls l’est des lévriers [...]. On peut dire que si leur

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