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Die Lust am Sehen Marcel Duchamps „Étant donnés“: zwischen der Skopisierungs des Begehrens und der Feminisierung des Bildraumes by Bahtsetzis, Sotirios click to enlarge Figure 1 Figure 2 Marcel Duchamp, Étant donnés: 1° la chute d'eau 2° le gaz d'eclairage [Given:1. The Waterfall/ 2. The illuminating Gas], 1946-66. Assemblage, verschiedene Medien, ca. 242,5 cm hoch, 177,8 cm breit, 124,5 cm tief, beinhaltet: alte hölzerne Tür, schwarzer Samt, Ziegelsteine, hölzerne Tafel, Schweinehaut ausgedehnt über eine Metalarmatur und anderen Materialien (um ein weibliches Mannequin zu bilden) menschliches Haar, eine Gaslampe (Bec-Auer Art), Reisig, Aluminium, Eisen, Glas, Linoleum, Baumwolle, Lichtbirne, Leuchtstofflicht, Scheinwerfer, Elektromotor, (Philadelphia Museum of Art) [Innenaussicht und Außenaussicht] Das letzte große Werk von Marcel Duchamp führt auf exemplarische Weise eine wortwörtliche Überblendung von weiblichem Körper und Bildraum vor. Dieses Merkmal wurde als entscheidend für die geschlechterproduzierenden Techniken westlicher Bildproduktion identifiziert und ist aus diesem Grunde unter einer geschlechterorientierten Kritik der „Skopisierung des Begehrens” zu analysieren. Wie Linda Hentschel (1) in ihrer aufschlussreichen und prägnanten Studie von Beziehungsmustern zwischen der Geschichte optischer Apparate, der Techniken des Sehens und der historisch bedingten Geschlechterkonstruktionen dargelegt hat, geht diese für das Verständnis westlicher Bildtradition grundlegende Feminisierung des visuellen Raumes mit einer Sexualisierung des Sehens einher, die eine aktive Erziehung zur Schaulust herantreibt. Der männliche Betrachter wird dem Bild-Raum gegenüber positioniert, wie gegenüber dem anderen Geschlecht. (2) Dieses Phänomen wird, Hentschel zufolge, im Aufkommen sowohl des vermeintlich wissenschaftlichen Systems der zentralperspektivischen Vermessung des Raumes als auch in der später einsetzenden Technik des binokularen Sehens manifest. Nun, da beide Techniken in "Étant donnés" (Figs. 1 and 2) medial und medienreflexiv eingesetzt werden und weil auf Frauen anspielenden Metaphern Duchamps gesamtes Werk Die Lust am Sehen<br>Marcel Duchamps „Étant donnés“: zw... http://www.toutfait.com/articals.php?id=4418 1 of 19 8/8/11 2:53 PM

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Die Lust am SehenMarcel Duchamps „Étant donnés“: zwischen der Skopisierungs

desBegehrens und der Feminisierung des Bildraumes

by Bahtsetzis, Sotirios

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Figure 1 Figure 2Marcel Duchamp, Étant donnés: 1° la chute d'eau 2° le gaz d'eclairage [Given:1. TheWaterfall/ 2. The illuminating Gas], 1946-66. Assemblage, verschiedene Medien, ca.

242,5 cm hoch, 177,8 cm breit, 124,5 cm tief, beinhaltet: alte hölzerne Tür, schwarzerSamt, Ziegelsteine, hölzerne Tafel, Schweinehaut ausgedehnt über eine Metalarmaturund anderen Materialien (um ein weibliches Mannequin zu bilden) menschliches Haar,eine Gaslampe (Bec-Auer Art), Reisig, Aluminium, Eisen, Glas, Linoleum, Baumwolle,Lichtbirne, Leuchtstofflicht, Scheinwerfer, Elektromotor, (Philadelphia Museum of Art)

[Innenaussicht und Außenaussicht]

Das letzte große Werk von Marcel Duchamp führt auf exemplarische Weise einewortwörtliche Überblendung von weiblichem Körper und Bildraum vor. Dieses Merkmalwurde als entscheidend für die geschlechterproduzierenden Techniken westlicherBildproduktion identifiziert und ist aus diesem Grunde unter einer geschlechterorientiertenKritik der „Skopisierung des Begehrens” zu analysieren. Wie Linda Hentschel(1) in ihreraufschlussreichen und prägnanten Studie von Beziehungsmustern zwischen der Geschichteoptischer Apparate, der Techniken des Sehens und der historisch bedingtenGeschlechterkonstruktionen dargelegt hat, geht diese für das Verständnis westlicherBildtradition grundlegende Feminisierung des visuellen Raumes mit einer Sexualisierungdes Sehens einher, die eine aktive Erziehung zur Schaulust herantreibt. Der männlicheBetrachter wird dem Bild-Raum gegenüber positioniert, wie gegenüber dem anderenGeschlecht.(2) Dieses Phänomen wird, Hentschel zufolge, im Aufkommen sowohl desvermeintlich wissenschaftlichen Systems der zentralperspektivischen Vermessung desRaumes als auch in der später einsetzenden Technik des binokularen Sehens manifest. Nun,da beide Techniken in "Étant donnés" (Figs. 1 and 2) medial und medienreflexiv eingesetztwerden und weil auf Frauen anspielenden Metaphern Duchamps gesamtes Werk

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durchlaufen, soll im Anschluss an die Argumentation Hentschels, DuchampsStellungsnahme diesbezüglich beleuchtet werden.

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Figure 3Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes, 1538, Holzschnitt, 7.5 x 21.5 cm

Als beispielhafte Darstellung des Albertinischen Fensters wurde von Hentschel auf AlbrechtDürers Holzschnitt "Der Zeichner des liegenden Weibes" (1538) (Fig. 3), der Illustration zudessen Traktat der "Unterweisung der Messung", verwiesen. Der Holzschnitt zeigt zumeinem, wie der Künstlerblick durch ein Raster hindurch auf das verdeckte weibliche Genitalgerichtet ist, und zum anderen den ebenfalls durch den zentralperspektivischen Apparatermöglichten Betrachterblick in illusionistische Raumtiefe. In der optischen Auflösung dermateriellen Oberfläche sollte der Bildträger einem geöffneten Fenster gleichen. Dieperspektivistische Konstruktion investierte dadurch in die illusionistische Tiefe desBildraumes, indem sie die Flächigkeit der Leinwand negierte und sie als Fensteröffnungverstand. In Dürers Bild wird aber ein Zeichner dargestellt, der eine perspektivischeAbbildung einer Frau anfertigt, die sich dem (männlichen) Betrachter halbnackt und mitgeöffneten Beinen vor einer Landschaft darbietet. Dürers Holzschnitt liefert damit dergeschlechterforschenden Kunstwissenschaft einen Beweis dafür, dass diezentralperspektivische Apparatur in Zusammenhang mit der Genese eines voyeuristischenBlickes gesehen werden sollte. Der optisch systematisierte Raum bringt immer als Objektdes Begehrens den Wunsch nach Kontrolle des männlichen Künstlers/Betrachters auf demunendlichen und in der Interpretation von Hentschel feminisierten Raum zum Ausdruck.Dürers Maschine exemplifiziert, nach Hentschel, wie die geschlechterspezifischeSexualisierung des Raumes durch Sehapparaturen vollzogen wurde sowie wie dieseFeminisierung des visuellen Raumes durch spezifische Weiblichkeitsinszenierungenvorangetrieben wurde. Wie die Autorin bemerkt, verläuft der "Auszug des Mannes aus demerotischen Bild" im Laufe des 16. Jahrhunderts parallel mit dem "Einzug derZentralperspektive in das Bild".(3)

Dürers Holzschnitt wurde oft als ikonographische Quelle des "Étant donnés" nicht zuletztaufgrund der offensichtliche Ähnlichkeit des Bildmotivs erwähnt. "Étant donnés" vollziehtdie Lenkung des Wahrnehmungsaktes durch die Fixierung auf einen bestimmten Sehwinkelund durch die Eingeschränktheit des Blickfeldes wobei dem Betrachter der Standort seinesrezeptiven Aktes genau vorgeschrieben wird. Die Erschließung des Werkes ist buchstäblich,nur' durch die radikale Einhaltung des perspektivisch korrekten Standpunktes möglich.Anne d'Harnoncourt, die die Installation des Ensembles im Philadelphia Museum of Artbeaufsichtigte, erläuterte Duchamps Absicht folgendermaßen: "He was extremely interestedin the limitations of points of view, so that he really controlled completely what a viewer

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could see."(4) Das Werk steckt den Blickpunkt exakt durch zwei alte und schäbigaussehende Gucklöcher ab, die direkt zum Genitalbereich der Puppe führen. Mit demRekurs auf die Ikonographie des perspektivischen Sehausschnittes greift Jean Clair einzentrales Thema von Duchamp auf, um die voyeuristischen Inhalte in der Traditionabendländischer Kunst hervorzuheben(5) wobei Stauffer die subversive Geste hervorhebt:"Dies 'Starren auf ein Loch', unter Aufwendung 'geistiger' Hilfsmittel, das dieabendländische Kunst seit der Renaissance auszeichnet, hat Duchamp in seinem letztenWerk ("Gegeben sei...") auf fast grausame Weise parodiert."(6)

Die dem "Étant donnés" zugeschriebene Obszönität resultiert aufgrund sowohl derspezifischen Präsentationstechniken, als auch der verheißungsvollen Inszenierung desverhüllten, geheimnisvollen Spektakels. Eine Untersuchung der eigentlichen Szenerie imInneren des Ensembles kann ebenfalls zeigen, dass die eingesetzte visuelle Sprache bewusstgegen die vorgeschriebene Distanzierungsmechanismen des traditionellen akademischenAktes verstößt. Die visuelle Einrahmung, die den weibliche Körper optisch fragmentiert undihn wie aus dem Bildraum ausgeschnitten erscheinen lässt, das optische Fokussieren aufKörperöffnungen durch das bewusste Einsetzen zentralperspektivisch exakter Messungen,das Verhältnis von minimaler Narration und maximaler Sichtbarkeit, all dies sind Merkmale,die bereits als "pornographische" Mechanismen in der Kunst etwa von Courbet und Manetidentifiziert wurden.(7) Diese ‚obszönen’ Präsentationstechniken verdeutlichen, dass diekritische Stellungsnahme Duchamps, sowohl der Feminisierung des Bildraumes als auch derzentralperspektivischen Systematisierung der Wahrnehmung gilt. Beiden Themen wurdenexemplarisch in seinem Grossen Glass nachgegangen und finden in seinem letzten Werkeine entscheidende Weiterentwicklung.

In „Étant donnés“ ist einerseits der Anklang an eine traditionsreiche Theorie in derGeschichte der Kunst, die seit dem florentinischen Neoplatonismus den erotischen mit demwissenden bzw. dem künstlerischen Blick verbindet(8) evident, und andererseits daskritische Thematisieren der „voyeuristische Struktur der modernen Kultur“(9) einleuchtend.Den letztgenannten Standpunkt hat Duchamp selbst oft in seinen Äußerungen,beispielsweise gegenüber bei Cabanne, gegen die „Beschauer-Gesellschaft (sic!)“(10)

vertreten. Das zentrale Thema der abendländischen Kunst, seit der Erfindung derZentralperspektive, die der Repräsentation der Welt als Projektionsfläche, scheint im WerkDuchamps eine weitere Fortsetzung im Kontext des Erotizismus(11) zu finden, indessen dieErkundung des Sehens sich mit der Interpretation des Betrachtens (seitens des Künstlersoder des Rezipienten) als Begehren verbinden. Diese Skopisierung des Begehrens sollte imKontext seines Erotizismus-Diskurses als grundlegend für die gesamte Repräsentations- undBildtheorie des Künstlers, die in ihrer permanenten Rekontextualisierung immer als quasipsychoanalytischer Kommentar fungiert. Molderings bemerkte, dass das Wort ,Projektion’bei Duchamp nicht nur wortwörtlich zu nehmen, sondern zugleich im psychoanalytischenKontext zu deuten sei. Dieses zum Teil psychoanalytisch ausgerichtete,repräsentationskritische Denkmodell ist auf Raumwahrnehmungen und dessenideologischen Fundamente ausgerichtet. Damit avancierte Dürers „Türlein“ zum Symbol der,sexualisierten’ Malerei selbst, wobei Bildraum als Ort des visuellen Penetrierens verstandenwird, eine Tatsache, die mit Rekurs auf Lacans visuelle Theorie weiter nachgegangen wird.

Entscheidend ist, dass die Reduktion der Wahrnehmung auf einen perspektivisch

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Figure 4Anomym, Frankreich, um 1860

festgelegten Ausschnitt der Wirklichkeit und die daraus folgenden „sexuellen“Implikationen im Falle des „Étant donnés“ mit Blick auf die Manipulation desBetrachterkörpers überprüft wird. Folglich wird der Status des Betrachters als Voyeur nichtkonzeptuell behauptet oder narrativ erklärt, sondern für den Betrachter körperlich erfahrbargemacht.(12) Die dem „Étant donnés“ zugeschriebene Obszönität resultiert durch dieProduktion akuter, ziemlicher realer, körperlicher Empfindungen, die nicht zuletzt durch dasin diesem Sinne ,pornographische’ Einsetzen binocularen Techniken erfolgt, die derzusätzlichen Strategie des Verhüllens, der Verbergens hinter der Tür verhelfen. DiesesEinverleiben des Sehens wird nun als obszön empfunden, da die binokulareBlickinszenierung des Duchampschen Ensembles, das Gesehene zu nah an dem Betrachterselbst rückt. Duchamps Spiel mit der ,obszönen’ Natur des Sehens ist als Kritik an dasentkörperlichte, distanzierten und sublimierte Selbstverständnis der zentralperspektivischenRepräsentierens zu deuten.(13)

Der Hinweis auf das Stereoskop als Vorlage für das „Étantdonnés“ ist auch auf der Ebene des Bildmotivs vonBedeutung.(14) Bekanntlich wurden Stereoskope gegen Endedes 19. Jahrhunderts zunehmend für die Präsentationobszöner Szenen verwendet. Die Intimität dieses Apparatesmachte diese neue technische Vorrichtung zum Synonym fürerotische oder pornografische Bildlichkeit. Ein Vergleich derBraut des „Étant donnés“ mit den Stereoskop-Fotokarten(Fig. 4) des 19. Jahrhunderts, die sogar kopflose oderfragmentierte nackte weibliche Figuren mit geöffnetenBeinen oder nackte Frauen vor idyllischenLandschaftskulissen zeigen, beleuchtet diese wesentlichezusätzliche Übereinstimmung.(15) Dies unterstützt die These,dass Duchamp mit seinem letzten Werk der Frage, wie dieFeminisierung des medialen Raumes mit der Sexualisierungdes Sehfelds einhergeht.

Kritik an den surrealistischen Weiblichkeitsinszenierungen

Duchamps Kritik an am malerischen Repräsentationsparadigma sowie der Sehdispositive,die dieses unterstützt haben, konzentriert sich auf die Rolle der Frau als Motiv. Diese wurdeoft in der Forschung in seiner individuellen Mythologie der Braut identifiziert undentsprechen interpretiert.(16) Da jedoch „Étant donnés“ das Motiv des erotischen weiblichenKörpers mit einem Erotisieren des medialen Raumes verbindet, sollte die Frage aufgestelltwerden, inwiefern Duchamp in diesem Werk eine Kritik der männlich konnotiertenSehapparate und Repräsentationsmedien liefert, und ob er diese Kritik in einem konkretenhistorischen Kontext ansiedelt. Das Problematisieren des Frauenmotivs und derBildfindung, wie Breton in den theoretischen Auseinandersetzungen um die surrealistischeBildästhetik fixierte, scheinen in dem Werk Duchamps eine differenzierte und zum Teilkritische Fortsetzung zu finden. Um diesen Zusammenhang weiter nachzugehen, soll eine

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Figure 5

Umschlag der Zeitschrift, La RévolutionSurréaliste No. 1, (1. Dez. 1924)

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Auseinandersetzung mit Beispielen surrealistischer Ikonographie folgen, die alsikonographische Vorlagen zu „Étant donnés“ identifiziert wurden.

Der Rolle der Frau wird durch eine auf dem Umschlag derZeitschrift „La Révolution Surréaliste No. 1“ (1. Dez. 1924)(Fig. 5) gedruckte Fotografie deutlich. Die Zeitschrift solltedas surrealistische Programm ins Bild setzten. Das Foto zeigteine vor der Schreibmaschine sitzende Dame (SimoneCollinet-Breton), flankiert wird sie von einer Gruppemännlicher surrealistischer Künstler. Robert Desnos hält einekleine Kiste in der Hand, in die Simone Collinet-Bretondirekt hinein schaut. In dieser theatralischen mise-en-scènefungiert die Kiste als Symbol des verschlossenenUnterbewussten, das laut der Surrealisten durch dasVerfahren der „écriture automatique„ geöffnet werden sollte.Sie ist aber zugleich ,Pandora-Kiste’, die den männlichenKünstlern von einer Frau übermittelt wurde; ihr Inhalt istunvorhersehbar und vermutlich gefährlich. Die weiblicheFigur verkörpert als Geberin genau die Position von Gott undMensch zugleich, wobei sie aber zugleich auf dieGefährlichkeit dieser Gabe verweisen soll. Eine Rolle, die inder vielfältigen surrealistischen Metamorphose der Frau als femme fatale ins Bild gesetztwurde. Doch zugleich symbolisiert die Frau das Verfahren selbst der „écriture automatique„in ihrer passiven Rolle als mechanischer Schreiber, ebenfalls eine beliebte ikonographischeQuelle surrealistischer Kunst. Für die Surrealisten bekommt das Weibliche eineentscheidende symbolische Funktion als Medium zum Empfang des Unbewussten undgleichzeitig als Automaton, welche diesen Empfang in Zeichen umsetzen kann, wobei daswichtigste Medium dieser Umsetzung das fotografische Verfahren ist.

Der Fotoapparat wurde von Breton als die Ikone der „ écriture automatique“ bezeichnet.(17)

Die schwarze Kiste in der Hand von Desnos ist also nicht nur ein Symbol für die Büchse derPandora, sondern auch eine Metapher für die dunkle Kammer. Doch entscheidend ist, dassdie Ikone der surrealistischen Bilderfindung mit dem Symbol der zum Automatonstilisierten Frau gleichgesetzt wird.(18) In der sechsten Ausgabe der gleichen Zeitschrift (1.Okt. 1927) wird diese Idee nochmals aufgegriffen und radikalisiert. Auf dem mit „L’ écritureautomatique“ betitelten Umschlag wird eine an dem Schreibpult sitzende Frau dargestellt,die in ihrer weibliche Verführungskraft die Funktion des Schreibautomaten übernimmt.(19)

Die Frau in beide Fotografien ist sowohl mit dem Prozess der Bilderfindung als auch mitden Mitteln dessen Fixierung, also einer Schreibmaschine oder einem Fotoapparat etwa,gleichzusetzen.

Auf die symbolische Funktion der Frau als Bild sowie auf dasMoment der Täuschung, das damit verbunden ist, verweistauch das in der zwölften Ausgabe von „La RévolutionSurréaliste No. 12“ (15. Dez. 1929) abgedrucktePhotomontage „Je ne vois pas la [femme] cachée dans la forêt“(1929) von René Magritte (Fig. 6). In dem Bild flankieren diefotografischen Porträts von sechzehn männlichen

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Figure 6René Magritte, Je ne vois pas la

[femme] cachée dans la forêt, 1929,Photomontage, in: La Révolution

Surréaliste No. 12 (15. Dez. 1929)

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Figure 7Man Ray, Coat Stand, 1920,

Silbergelatinabzug, 41 x 28,6 cm (MuséeNational d'Art Moderne, Paris)

surrealistischen Künstlern, die ihre Augen geschlossen halten,das Bild eines im Dunkel stehenden weiblichen Aktes. DieBehauptung „ich habe die versteckte [Frau] im Wald nichtgesehen“ kann sich auf die in der Abbildung anwesendenPersonen beziehen. In diesem - surrealistisch - inszeniertenAkt der Verweigerung des Sehens wird jedoch die ambivalenteFunktionalisierung des Symbols ‘Frau’ eindeutig. Die Fraukann offensichtlich nur Quelle der Inspiration für denSurrealisten sein, solange sie unsichtbar bleibt. Ist der Satzgleichzeitig auf den realen Betrachter bezogen, widersprichtdie tatsächlich stattfindende Wahrnehmung - der Betrachtersieht ja eine Frau - der Bedeutung des simultan gelesenenSatzes. Die abgebildeten Personen befinden sich also imStadium des Inspirationsempfanges, während der Betrachter inseiner Funktion als Zeuge prinzipiell von dieser ‘Epiphanie’ausgeschlossen wird. Repräsentation ist zugleich Täuschung.Tatsächlich wird von Magritte das Motiv der Frau ausgewählt,um mediumspezifische Repräsentationsproblematiken, also umden Wirklichkeitsgrad illusionistischer Malerei und figurativer Abbildung im Kontext desfetischisierend- begehrenden Blickes, zu erörtern.(20) Alle diese Beispiele surrealistischerWeiblichkeitsinszenierungen zeigen, dass Repräsentationen des weiblichen Körpers einersymbolischen Funktion zugeordnet werden, wobei diese über den Prozess derBilderfindung, die Medialität des Kunstwerks und die Rolle des Künstlers Aussagen macht.Die surrealistische Inszenierung des weiblichen Körpers weist über die erotische,fetischistische oder einfach phantastische Ikonographie hinaus und kündigt ästhetische undmediumstheoretische Reflexionen an.(21)

Exemplarisch für diese These steht das Werk von Man Ray,der in seiner Motivfindung sich wesentlich demfragmentierten oder deformierten weiblichen Körper dessurrealistischen Frauenautomats bedient: In der Fotografie„Coat Stand“ (1920) (Fig. 7) werden Teile des weiblichenKörpers durch mechanische Prothesen und das Gesichtdurch eine grotesk lächelnde Maske ersetzt. Aber auchnaturalistische Aktfotografien wie „Kiki Nude (Kiki deMontparnasse)“ überraschen durch die an einen Torsoerinnernde optische Einrahmung des Objektivs.(22) Derdeformierte weibliche Körper fungiert als Symbol derFormerfindung bei Man Ray, an der Stelle, an der amradikalsten mit dem fotografischen Verfahren umgegangenwird. „Das Primat der Materie über den Gedanken“ (1929)zeigt einen liegenden weiblichen Akt, der dort, wo er amBoden aufliegt, auseinander rinnt und sich an den Rändernzu verflüssigen scheint. Der Eindruck der Körperauflösungverdankt sich dem photochemischen Prozess der,Solarisation’. Durch die zusätzliche Belichtung desNegativs im Entwicklerbad verformen sich die Konturen auf

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Figure 8Man Ray, Retour à la Raison, 1923,

Silbergelatinabzug, 18,7 x 13,9 cm (TheArt Insitute of Chicago)

dem Negativ, das anschließend in der Entwicklung diesenverfremdeten Bildeindruck erzeugt. Repräsentation desBildes wird bei Man Ray fast ausschließlich mittels desFrauenmotivs thematisiert. Man Rays „Return to Reason“(1923) (Fig. 8) zeigt ebenso den Torso einer weiblichenFigur (Lee Miller) in einer solchen Position, dass das Lichtihren Körper streift und dadurch gleichsam mit demHintergrund verschmilzt. Das Verschwinden oder dieAuflösung des weiblichen Körpers, der gleichsam sich inLicht verwandelt oder in einen anderen Aggregatzustandübergeht, wurde im Kontext des fotografischen Mediumsthematisiert, wobei Formerfindung mit dem Eingriff auf dieMaterialität des Negativs gleichgesetzt wird.

Man kann in dem künstlerischen Programm etwa von Man Ray erkennen, dass figurativeAbbildungen des weiblichen Körpers der programmatischen Kritik des Surrealismus an derbildlichen Repräsentation schlechthin dienen. Mit der Auflösung des weiblichen Körpers imBild, wird zugleich tendenziell die Auflösung des Bildes selbst als Repräsentationssystemthematisiert, ein Thema, dass in Bretons Konzept der „kompulsivischen Schönheit“ aufgeht.Bretons surrealistische Dogmen des Wunderbaren und der konvulsivischen Schönheit,werden in diesem Zusammenhang nicht nur als poetische Metapher, sondern auch alsdiejenige Instanzen, die „Erfahrung von Realität als Repräsentation“ ermöglichen,gedeutet.(23) Sie stellen konkrete Ent- und Rekontextualisierungsstrategien dar, die inBildkompositionen und Verfahren der Bildherstellung aufgehen. Demnach sind genau dieseStrategien und nicht die von formalen bzw. piktorialen Inhalten abgeleiteten Begriffe, dieder augenscheinlichen visuellen Heterogenität der surrealistischen Kunstproduktion alseinheitliche Bewegung zum Erkennen geben. Bilderfindung im Surrealismus wurde, nachKrauss, unter drei Kategorien zusammengefasst: Mimikry, das Stillstellen von Bewegungund der gefundene Gegenstand, die in formaler und zugleich thematischer Hinsicht dasstrukturale Prinzip surrealistischer Fotografie darstellen.(24) Diese konzentrieren sich zumeinen in den Einsatz fotografischer Bildmanipulationen in der Dunkelkammer, wie dieMehrfach-Belichtungen, Überlagerung von Negative, Solarisationen, Brûlage-Techniken,die Verwendung von Negativ-Abzügen oder kameralosen Bilder und zum anderen in diespezifische Wahl des Motivs, dessen optische Einrahmung durch das Objektiv, dieverzerrende Perspektive oder den Einsatz verfremdeter Beleuchtung.(25)

Im folgenden soll nun die Frage ausführlicher beleuchtet werden inwiefern „Étant donnés“als paralleler jedoch kritischer Entwurf zur surrealistischen Repräsentationstheorien imRahmen einer indexikalischen Lesart des Werkes aufzufassen sei.(26) Sofern nunsurrealistischer Automatismus, so wie dieser von Breton theoretisch fixiert und in derfotografischen Bilderfindung der 1930er zum Ausdruck gebracht wurde, im Kontext vonRepräsentationskritik verstanden werden kann, bleibt die Frage, ob jener dekonstruierteWahrnehmungsautomatismus, der in „Étant donnés“ aufgeht, surrealistische Ästhetikaffirmiert oder negiert. Nach Bretons surrealistischem Diktum der kompulsiven Schönheit,die durch die indexikalische Funktion des fotografischen Zeichens festgehalten werdenkann, wäre Duchamps Spiel mit der ,obszönen’, subjektiven und körperbezogenen Natur desSehens selbst als Kritik am entkörperlichten und idealisierten Selbstverständnis der

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Figure 9Gustave Courbet, L' Origine du monde, 1866, Öl auf

Leinwand, 46 x 55 cm (Musée d'Orsay, Paris)

surrealistischen Imagination, zu deuten. Dass wiederum hieße, dass Bretons Erkunden derSchönheit einem visuellen Penetrieren des feminisierten Bildraum gleichkäme, nicht weildieses Erkunden, wie bis jetzt angenommen, das Frauenbild durch skurrileWeiblichkeitsinszenierungen, als kastrierende oder fetischisierte Instanz manipuliert,sondern weil es Sichtbarkeit per se, unhinterfragt vertraut. Diese These wird im Folgendenunter Berücksichtigung der Lacanschen Theorie des Visuellen ausgeführt.

Das Bild als libidinöse Maschine – Der anamorphotische Erotismus

Die Skopisierung des Begehrens scheinen nicht nurder zentrale Themenbereich von Duchamps Kunstzu sein, sondern bildet auch die Grundpfeiler desLacanschen Systems. Inwiefern Duchamp mit denTheorien Lacans vertraut war, kann nicht mitSicherheit gesagt werden, obwohl derPsychoanalytiker wahrend der 1930er Jahre in denKreisen der Surrealisten verkehrte und theoretisch inregem Austausch mit Mitgliedern der Gruppestand.(27) Man muss jedoch davon ausgehen, dassauch seine persönliche Freundschaft zu Duchamp zueinem wechselseitigen Einfluss wesentlichbeigetragen hat. Es scheint, dass das im BesitzJacques Lacans befindliche Gemälde Courbets „L’origine du monde“ von 1866 (Fig. 9), das vielfachals ikonographische Quelle der Bildfindung Duchamps erwähnt wird, auf emblematischeWeise diese geistige Verwandtschaft dokumentiert.(28)

Das nachträglich als „Ursprung der Welt“ betitelte Bild von Gustav Courbet ist einkleinformatiges Gemälde, das perspektivisch einen weiblichen Unterleib umrahmt und denBlick auf eine unverstellte, lebensgroß dargestellten Vagina richtet. Wie für solche Motivenahe liegend malte Courbet es in privatem Auftrag, was schon recht eindeutig fürPornographie spricht. Das Interesse und die Aufmerksamkeit, die dem Bildentgegengebracht werden, findet ihren Ausgang weniger in der direkten pornographischenZurschaustellung des weiblichen Körpers, sondern auch darin, dass das Bild verstecktblieben musste. Die Chronik der Aufbewahrungsorte des Gemäldes und die Tatsache, das esdie meiste Zeit seit seiner Entstehung 1866 unsichtbar geblieben erzeugt kulturtheoretischeReflexionen, die dieses Spiel um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit mit sich bringen.(29) DasBild galt bis 1995 als verschollen und war nur als Reproduktion bekannt. Zusätzlich wurdees in an seinem ursprünglichen Ausstellungsort immer verhüllt aufbewahrt, um neugierigeBlicke auf das Gemälde zu versperren. In seinem letzten, privaten Aufbewahrungsort,Lacans Landhaus, hing es hinter einem von dem Dichter André Masson speziell zu diesemZweck verfertigten „Panneau-masque“ (1955), eine Vexierzeichnung, die durch dasNachziehen der Umrisse des weiblichen Körpers entstand, und somit auch alsHügellandschaft gelesen werden konnte.

Unter Berücksichtigung, dass Courbets erotisches Werk, unter anderem das Bild „Frau mitweißen Strümpfen“ (1861) als direkte ikonographische Quellen des Spätwerks vonDuchamp anzuführen sind(30) und der individuellen Thematik Duchamps im Kontext seiner

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Braut-Mythologie, die ebenfalls um Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit kreist, kannbehauptet werden, dass „L’ origine du monde” bzw. die Geschichte seiner Ver- undEnthüllungen dem Künstler bekannt war. Obwohl nicht mit Sicherheit gesagt werden kann,ob und wann Duchamp das Gemälde und das Panneau von Andre Masson, das CourbetsGemälde verhüllte, bei Lacan gesehen haben hat, verführt diese Annahme dazu, Parallelenin der Rhetorik der Verhüllung zwischen den Präsentationsumständen des „L’ origine dumonde” und „Étant donnés“ zu ziehen. Zuallererst spielt Massons Panneau auf einenMaskierungseffekt an. Die Hügellandschaft, die durch das Nachzeichnen der Torsokonturenentstand, hat die Funktion eines Schleiers übernommen, der den erotisierenden Charakterdes Körperfragments enthüllt, wobei es Körperöffnungen zu verhüllen vorzugeben vermag.Dieser Zustand des ambivalenten visuellen Entzug und des Übergangs des Körpers zumLandschaftsbild ist auch motivisch bei „Étant donnés“ vertreten. Zugleich scheint dasvisuelle Hindernis der Holztür auf der Verhüllung der Ansicht auf das Gemälde von Courbetin Lacans Landhaus anzuspielen. Auch die bereits erwähnten „pornographischen“Mechanismen, wie die visuelle Einrahmung, die den weiblichen Körper optisch fragmentiertund ihn wie aus dem Bildraum ausgeschnitten erscheinen lässt, das optische Fokussieren aufKörperöffnungen durch das bewusste Einsetzen zentralperspektivisch exakter Messungen,das Verhältnis von minimaler Narration und maximaler Sichtbarkeit, sind Merkmale, diebeide Werke verbinden.

Diese Parallelen lassen darauf schließen, dass sowohl bei Lacan und Duchamp ähnlichetheoretische Interessen vorliegen.

Skopisierung des Begehrens - Lacans Blick als „objet a“

Die geistige Verwandtschaft zwischen Lacan und Duchamp besteht in einer analogenDenkhaltung, hinsichtlich des Blick- Bild- Diskurses, der für die philosophische Avantgardefranzösischer Provenienz in den 50er und 60er Jahre symptomatisch ist.(31) Die LacanscheTheorie von Sehen basiert auf einem grundlegend antipodischen Verhältnis zwischenversprachlichter Signifikantenkette und dezentriertem, gleichsam ent- subjektiviertemSubjekt.(32) Sie kulminiert in einer Reihe von vier Seminaren, die Lacan 1964 gab und neunJahre später von seinem Schwiegersohn Jacques-Alain Miller in der Schriftensammlung„Die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse“ in dem Kapitel „Vom Blick als Objet Klein a“publiziert wurden. Lacans bemerkenswertes Verknüpfen von Auge und Blick stellt einenVersuch dar, sowohl eine Repräsentationstheorie, was ein Bild sei, zu entfalten, wie aucheinen Diskurs der Perzeption und des Begehrens, so wie dieser in seinen früheren Vorträgenüber das Spiegelstadium aufscheint, zu einer Ontologie zu erweitern.(33)

Wie bei Sartre und Merleau-Ponty resultiert Lacans Theorie aus der Verflechtung von Blickund Körper, deren antipodisches Verhältnis er aus der Dialektik eines intersubjektivenBlickes abzuleiten suchte. Nun macht Lacan geltend, dass dieser Blick „ein von mir auf demFeld des Anderen imaginierter Blick ist.“(34) Die Reflexivität des Blickes bzw.Angeblicktwerdens bedarf im Unterschied zu Sartre keines aktiven Gegenübers. An dieserStelle müsste man die Dialektik des Auges und des Blickes der von Lacan beschriebenen,autobiografischen Szene der Sardinenbüchse entfalten, um die scheinbar paradoxe Analogieder Lacanschen These zu verdeutlichen, nämlich dass der Blick immer der Blick desAnderen ist, der – verschoben - von mir aus sieht, wo ich zu sehen meine. In dem, was wirsehen, steckt immer ein Punkt, von dem aus uns das Bild - also der von uns als Bild

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wahrgenommene, visuelle Abschnitt des Sichtbaren - selbst ansieht, eine Stelle, an der wirselbst schon in das Bild eingeschrieben sind. Das ist die primäre subjektivierende Funktiondieses merkwürdig inkarnierten Blickes, so wie dieser in der Lacanschen Blickökonomiedargestellt wird. „Von Grund aus bestimmt mich im Sichtbaren der Blick, der im Außenist.“(35) Lacan begreift in seiner Blickökonomie den Blick als das Objekt klein a im Feld desSichtbaren.(36) Lacan bettet den Begriff des dezentrierten Subjekts in eine „Dialektik desBegehrens“ ein (Subversion du sujet et dialectique de désir dans l’inconscient freudien,1966).(37) An Freuds Theorie des Wunsches anknüpfend, siedelt Lacan die Operation desBegehrens in einer strukturellen Umkehrung des Wunsches nach der Präsenz des begehrtenObjektes an.(38) Das gespaltene Subjekt wird also nach Lacan immer in Korrelation zueinem Objekt gedacht. Es handelt sich dabei um Lacans berühmtes „objet petit a“ (von demfranzösischen Wort autre), das die Lücke der symbolischen Struktur, die das Subjekt ist,schließt. Dieses „kleine a“ kann ein bloßer Anschein sein (das Objekt ist völlig gleichgültigund seine Bedeutung nur autoreflexiv); es kann als Rest, Überbleibsel des Realen fungieren,oder eine stumme Verkörperung eines unmöglichen Genießens sein.(39)

In dieser Unmöglichkeit, Bedürfnis und Begehren in Einklang zu bringen, drückt sich nichtnur ein „Seinsmangel“ des Menschen aus; sondern in seinem differentiellen Verweisen aufden Anderen bleibt dieses Begehren der symbolischen Ordnung des Unbewusstenunterworfen. Wir sind zu einer Art ständigem symbolisierenden Begehren verurteilt. ZuMenschen haben wir nur insofern ein Verhältnis, als wir sie mit einer phantasmatischenStelle, d.h. mit einer Stelle der symbolischen Struktur identifizieren - wir verlieben uns ineine Frau, insofern sie den phantasmatischen Zügen der Frau entspricht.(40) DiesesBegehren unterliegt nicht nur den metonymischen Verschiebungen innerhalb derSignifikantenkette, sondern ist selbstreflexiv. In den Worten von Slavoj Žižek: „DasBegehren ist also immer ein Begehren des Begehrens.“(41)

Lacans Theorie lässt sich durch seine grafischen Schemata jener Reflexivität des Blicksverdeutlichen. Ausgehend von der Präsenz eines vorhandenen Objektes entwirft Lacan seinerstes lineares Schema vom „geometralen Sehen“, das über das „Bild(image)“ führend ineinem „Geometralpunkt“ mündet. Es handelt sich dabei um die bekannte Sehpyramide, mitderen Hilfe die Verortung des Blickes, bzw. die Systematisierung des Raumes stattfindet.Der Fluchtpunkt sollte den Augenpunkt entsprechen; wobei die Konstruktion desAugenpunkts die jeweils dargestellte Welt auf den Sehenden zu zentrieren hatte. DiePerspektive galt einfach als eingewandte Optik und Geometrie und gab vor, ein Abdruck desNetzhautbildes und damit Analogon des Auges zu sein. Der traditionelle Diskurs über dieOptik reflektiert die Unmöglichkeit, eine konkrete Unterscheidung zwischen demgeometrisierenden, scheinbar objektivierenden Sehen einerseits, und der tatsächlichen,physiopsychologisch erklärbaren visuellen Wahrnehmung andererseits, treffen zu können.Dieser Diskurs unterstellt, nach Lacan, die Konstitution eines Subjektes, das genau auf dieKonstruktion des ideellen Systemraums angewiesen ist. Er begreift die Perspektive als eineideologisch gestiftete Stellungnahme zur Welt, die nur deshalb als natürliche erscheinenkann, weil sie historisch zur Gewohnheit wurde.

Für die abendländische Tradition des zentralperspektivischen Repräsentationssystems -Albertis Sehpyramide - das nicht nur zum Prototyp für das Erzeugen von Tafelbildernwurde, sondern als Inbegriff des objektivierten Bildes auch maßgebend für unser

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alltägliches Verständnis von sichtbarem Raum gilt, ist nur ein senkrechter Sehschnitt derSehpyramide legitim bzw. nur ein daraus konstituiertes, sehendes Subjekt möglich. LacansEntwurf schließt an die in den Kreisen französischen Denkens wiederholten Kritik an derVorstellung eines transparenten, stabilen Individuums, welches nicht nur eineTrennungslinie zwischen Sehendem und Gesehenem propagiert, sondern darüber hinaus dieVorherrschaft und vermeintlich Kontrolle des Subjekts über seine Objekte festlegt. Daszweite grafische Dreieckschema, das Lacan benutzt, um diesmal das System des „visuellenRaumes“ zu konstruieren, operiert in umgekehrter Richtung zu den vorangegangenen undgeht von der Existenz eines „Lichtpunktes“ aus, der sich über den „Schirm (écran)“ zum„Tableau“ hin ausbreitet.(42) Dieses Schema exemplifiziert diese Kritik an daszentralperspektivische System als ideologisches System und gilt als schematischeGrundlage des subjektiven, verkörperlichten Sehens. Der „Schirm (écran)“ dient alsProjektionsfläche des Lichtpunktes und funktioniert wie ein dazwischen geschaltetesHindernis, dessen Schatten auf dem Tableau fehlt. Versteht man „écran“ alsProjektionsfläche in psychoanalytischem Sinne, wäre der Schutzschirm unsere subjektiveVorstellung von der Realität, die immer eine Projektion mit beschützender Funktion bleibt.

Das Interessante an Lacans Untersuchungen ist, dass er zwei Traditionen der Bildlichkeitmiteinander verbindet, nämlich den Diskurs um die Konstruktion der geometrischen, nachden Regeln der Zentralperspektive konstruierten Optik, in die die Kartesische Tradition derSubjektbildung, die sich auf dem Verständnis des Sehens als individualisiert undverkörperlicht gründet, aufgeht. Eine dritte Graphik jedoch, die Lacan „dem tatsächlichenFunktionieren des Registers des Sehens“ nennt, entspricht dieser Konfrontation. Hier hatLacan die zwei vorherigen Dreiecke überlappend zusammengesetzt, um die Verflechtungvon diesen zwei Operationen zu verdeutlichen. Durch das chiasmische Überlappen der zweiFlächen ergab diese neue Abbildung, in der die mittleren Abschnitte beider Dreiecke, vom„Bild (image) / Schirm“ eingenommen wurde. Auf der Linie rechts kommt die Spitze desersten Dreiecks zu liegen, der Geometralpunkt des cartesianischen Subjekts, das Lacan hiermit „Subjekt der Vorstellung“ bezeichnet. Aus der Linie links kommt die Spitze des zweitenDreiecks zu liegen, der Lichtpunkt des Sehfeldes, das nun mit „Blick“ bezeichnet wird.Interessanterweise verbindet Lacan hier das „Bild(image)“ mit dem „Schirm (écran)“, wobeider Gedanke suggeriert wird, dass jedes Bild, obgleich ob als Repräsentation oder alsSeheindruck immer eine Projektionsfläche (immer im doppelten Sinn) bleibt. DieserProjektionsfläche vermittelt zwischen den entsubjektivierten Blick und dem skopisiertenSubjekt.

Vergleicht man die zwei vorherigen Schemata mitdem dritten des Chiasmus, so wird die Position desSubjektes näher definiert. Es ergibt sich, dass dasSubjekt der Vorstellung zwischen Geometralpunktund dem peripheren Tableau situiert ist. Verstehtman diese Gleichung als Beschreibung der Akt desSehens, würde es bedeuten, dass das Subjekt derVorstellung immer innerhalb eines von weiterenSehpunkten abgesteckten Sehfeldes befindet unddeswegen nie in der Spitze einer auf das Augehingerichtete Sehpyramide positioniert sein kann.Das Subjekt ist immer außerhalb des Sehfeldes

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Figure 10Hans Holbein der Jüngere, Jean de Dinteville and

Georges de Selve (Die Ambassadoren), 1533, Öl aufEichenholz, 207 x 209.5 cm (National Gallery

London)

seines eigenen Blickes. Lacan greift auf Merleau-Ponty, der die traditionelle Unterscheidungzwischen sehendem Subjekt und sichtbarem Objektdurch die Einsicht in die Leibhaftigkeit des Sehensin Frage stellte, und ein Subjekt konstruierte, dasnicht auf das Sehvermögen beschränkt: es ist fürsich selbst, für „andere“ und für „anderes“sichtbar.(43) Umgekehrt ist für Merleau-Ponty dasSichtbare dem Sehenden nicht nur passiv ausgesetzt.Der Sehende ist vielmehr derjenige, durch den sichdas Sichtbare selbstbezüglich realisiert und sieht. Erspricht vom einem Sehend-Sichtbaren und einemSichtbar-Sehendem.(44) In diesem Sinne ist dasLacansche Sehfeld als ein Systemineinanderverflochtenen, labyrinthischenSehpyramiden, die von Objekten, in dem SinneSehend-Sichtbaren zusammengesetzt wird.(45) Lacan exemplifizierte seine Theorie in seineridiosynkratischen Lesung der anamorphotischen Darstellung.(46) Für ihn ist daszentralperspektivische System nur ein Sonderfall des Sehens, das wie ein allgemeinesVerfahren zur Erzeugung von Anamorphosen gedacht wird, und nicht umgekehrt: „Ich binnicht einfach jenes punktförmige Wesen, das man an jenem geometralen Punkt festhaltenkönnte, von dem aus die Perspektive verlaufen soll. Zwar zeichnet sich in der Tiefe meinesAuges das Bild/ tableau ab. Das Bild ist sicher in meinem Auge. Aber, ich bin imTableau.“(47)

Lacan negiert die konventionell Gewissheit des immer wieder als transparent und stabilgedachten Individuum, es besitze Meisterschaft und Kontrolle über die Objekte. In seinerInterpretation des Gemäldes „Die Ambassadoren“ von Hans Holbein (Fig. 10) wurde diesesvom dominierenden cartesianischen Blick regierte Sehen, durch ein anderesherausgefordert, das durch den verzerrten Schädel an der Unterseite der Leinwandausgedrückt wurde, ein Schädel dessen natürliche Form nur durch einen schiefen flüchtigenBlick vom Rand des Gemäldes wieder optisch hergestellt werden könnte. Solch einGegenstand, den Lacan mit solchen surrealistischen Bildern wie die weichen Uhren Dalisverglich, drückte eine andere Art des Sehens aus und konstituierte ein anderes Subjekt. Deranamorphotische Schädel ist im unpersönlichen, diffusen und unzentrierten Sehen, das vomGemälde diktiert wird zu finden, anstatt als Bild im phallischen Auge des geometrisiertenSubjektes. Nach der Aufführung von Jay, „[...] the eye is that of the specular, Cartesiansubject desiring specular plenitude and phallic wholeness, and believing it can find it in amirror image of it self, whereas the gaze is that of an objective other in a field of puremonstrance.”(48) Dieser für das Lacansche Denken grundlegende Unterschied zwischenSehen und Ersatzsehen, das das geteilte Lacansche Subjekt definiert, wird noch zu erklärensein.

Duchamps anamorphotisches Dispositiv – „ein Scharnierbild machen“

Es stellt sich zunächst die Frage, ob das Duchampsche Sehdispositiv von „“Étant donnés“diese grundlegende Dissymmetrie von Sicht und Blick(49) als körperbezogene Vorrichtung,

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als Inszenierungsmechanismus der Wahrnehmung, medial umsetzt. Das Sehdispositiv von„“Étant donnés“ operiert wie ein Lacansches Bild (image)/Schirm, das/der alskontinuierliches ,Spiegeln’ zwischen Blick und Subjekt, den Sehenden immer wieder auf dieGrenzen seines eigenen subjektkonstituierenden ,Erblicktwerdens zurückwirft. Duchampkonstruiert ein Sehdispositiv, eine Synthese aus Camera Obscura und Stereoskopik, um jeneder klassischen, illusionserzeugenden Dispositive (das Gemälde, die Fotografie) zudekonstruieren. Es soll nochmals betont werden, dass die Besonderheit dieses Werkes genauin der Art seiner Ausführung besteht. Sie ruft einen spezifischen Wahrnehmungsmodushervor. Es handelt sich um eine Plastik, die als ,Gemälde maskiert ist, und um ein Gemälde,das keine materielle Präsenz hat. Es entsteht durch die Eingrenzung des Sehausschnittes undist nicht permanent sichtbar, sondern nur dann, wenn seitens des Betrachters eine Intentionbesteht, das Werk zu sehen, also durch die Gucklöcher zu blicken. Es ist das einzige,Gemälde, das nicht gleichzeitig von mehreren als einen Betrachter gesehen werden kann.Also ein Bild, das, wie schon erwähnt, direkt an die leibliche Präsenz einesPerformers/Betrachters. Der Betrachter Duchhamps Werk befindet sich gewissermaßen inder Position des Malers - wie bei den berühmten Zeichenmaschinen der Renaissance.(50) Erproduziert selbst das Bild, weil es allein vom individuellen Bildeindruck zusammengesetztwird.(51)

Das Entstehen dieses Bildeindruckes bzw. das Vermögen des Betrachters, ein Bild zu sehen,hängt ausschließlich von der Logik der Sichtbarkeit ab. „Étant donnés“ funktioniert wie einerweitertes trompe l’oeil. Um ein Bild zu sehen, muss man die perspektivisch korrekteStellung vor den Gucklöchern der Tür immer einhalten. Duchamp zeigt mit diesem Trick,ganz im Sinne Lacans, dass das Albertinische Fenster einen Sonderfall der Anamorphosedarstellt und enthüllt dadurch die verdeckten peripheren Momente der Sichtbarkeit. Mankann nie beim Blicken durch die Gucklöcher seinen eigenen Körper sehen. Die Einsicht derLeibhaftigkeit des Sehens ist konstitutiv für die Ununterscheidbarkeit zwischen sehendemSubjekt und sichtbarem Objekt. So kann ich beim Betrachten nie meiner selbst gewahrwerden. Die (wahrgenommene) Realität bleibt marginal. Man kann aber auch sagen, dassWahrnehmungsraum und repräsentierter Raum deckungsgleich werden. Der Betrachter istbeim Betrachten im wahrsten Sinne des Wortes im ,Tableau’ und wird gewissermaßen vondem zu betrachtenden Objekt erblickt.

Schließlich sei noch auf eine weitere Analogie zwischen Duchamp und Lacan hingewiesen.Für beide befindet sich das Bild ständig in Zustand des Entziehens. Wenn Lacan das Sehen(bzw. das Erblicktwerden) als Objekt klein a bezeichnet, gelangen wir weiterhin zumbedeutungsgenerierenden Komplex des Phallischen. Lacan bestimmt in seiner Theorie denPhallus als das Symbol des „Seinsmangels“ schlechthin. Phallus ist der „Signifikant ohneSignifikat”(52), dieses Symbol steht paradigmatisch für die Wirkung der Signifikantenketteauf den Sinn (das Signifikat), es verkörpert die Instanz des Bedeutungsschaffens. ”DieZeichensetzung des Phallus ist gleichbedeutend mit der Schöpfung der symbolischenRealität; durch sie erlangt das Seiende für ein Subjekt Sinn und Bedeutung. [...] Die Gewaltdes Phallus besteht in der Unterwerfung und Verbuchstäblichung des Realen.“(53) Dochjeder Versuch, den Phallus zu repräsentieren, also ein Bild zu machen, kehrt die Richtungdes Bedeutens um. Michael Wetzel hat eine Interpretation der Bildtheorie Lacans mit Blickauf den Kontext des Phallischen unternommen. Der gesamte Komplex des Phallischen, des”Zeichenmachers der symbolischen Ordnung” besteht demnach nur in diesem Spiel von An-

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und Abwesenheit im Bild, in dieser vermeintlichen Präsenz, dem Wissen, dass der Phallusnur im Bild ist und dabei als Fetisch auftaucht. ”Wenn niemand den Phallus hat, alles aberPhallus sein kann, so gilt dies nur unter der Bedingung des ontologischen Status der Bilder.Denn was das Verführerische der Bilder ausmacht, ist ihr Entzug.“(54) Es ist danngrundsätzlich das, was sich uns entzieht und das nur in seinen Ersatzformen existiert. Umdie Lacansche Terminologie zu benutzen, jedes realisierte Bild oder Seheindruck hat denStatus eines Ersatzes, also ist als „kleines a zu verstehen, das als Symbol des phallischenMangels.(55)

Bringt man in Erinnerung das dritte Lacansche Schema, „das tatsächliche „Funktionierendes Registers des Sehens“, stellt man fest, dass in der Graphik der Blick zwischen Objektund Lichtpunkt situiert ist. Das ist in Lacans Geometrie nachvollziehbar, da der Blick immerdem Lichtpunkt des Objektes erfasst. Folgt man jedoch diese Logik, wird deutlich, dass derBlick andere Teile des Objektes außer Acht lässt, da er sich primär auf den Lichtpunktkonzentriert. Diese graue Zone des Sehens wurde in Lacans Theorie als „Skotom“(56)

beschrieben, ein der menschlichen Natur inhärentes Prinzip der Verkennung.(57) BlindePunkte, deutete Lacan an, sind unheilbar. Der Blick kann das Objekt (das Gesicht derGeliebten, eine Sardinenbüchse, die in der Sonne spiegelt oder ein Tafelbild) insofern nurpartiell erfassen, und als solches bleibt jedes Sehen einer phantasmatischen Zustandverhaftet. Das Auge ist das des skopischen, Kartesischen Subjekts, das vollkommen visuelleErfassbarkeit der Realität und ‘phallische’ Gesamtheit wünscht und immer glaubt diese ineinem Ersatzbild zu finden. Sehen ist für das geteilte Lacansche Subjekt nur im Zustandseines Entzuges möglich.

“Étant donnés“, als Sonderfall einer anamorphotischen Momentaufnahme demonstriert denphallischen Blick, der mit Kartesischen skopischen Regeln deckungsgleich ist. Duchamp hatdiese Eigenschaft des Bildes - jedes Bild ist ein verschleiertes Bild, ein Bild im Zustand desEntzuges, und zugleich ein kastrierendes Dispositiv - in seiner Medialität bewiesen unddadurch in seiner Absicht, durch Illusion zu verdecken, entlarvt. Der perspektivischeFluchtpunkt, der Nullpunkt der Sichtbarkeit dieses dioramatischen Environments ist (nachkonkreten Berechnungen bei dem Montieren des Ensembles) der körperliche Verweis aufdie Sexualität. Er ist der inkarnierte Blick des imaginierten Anderen, der – verschoben - vonmir aus sieht, wo ich zu sehen meine.(58) Und damit wären alle Betrachter, einschließlichBreton gemeint. Die ,männlich’ dressierten Betrachter, genießen als unverschämte Voyeureim stillen und dunklen Auditorium ein kinematografisches Schauspiel und werden zugleich,nach Lacans Worten, von ihm mit einem Schnappschuss „“foto-grafiert.“(59)

In Wirklichkeit ist die absolut hyperrealistische Szene von „Étant donnés“ eine leere, blindeWand, ein Bild im Zustand des Entzuges. Es gibt nichts zu sehen. Da, wo man meint zusehen, klafft nur der Abgrund der Inszenierung des Blickes selbst auf. Re- Präsentierenbedeutet eigentlich, ein Absentes präsent zu machen. Durch modifizierteWahrnehmungsoperationen, die vom Künstler/ Sehmaschinen- Konstrukteur einkalkuliertwurden, wird bei „Étant donnés“ das Re- Präsentieren zum Präsentieren. Es handelt sich imGrunde um eine Umkehrung der zeitlichen Abfolge. Absent ist nicht die darzustellendeWirklichkeit. Sie ist immer da, verborgen hinter der Tür. Absent ist die bereits dargestellteWirklichkeit. Sie bedarf der Mitarbeit des Betrachters, um ,enthüllt’ zu werden. DieDarstellung ist ,nur’ während des Wahrnehmungsaktes für den subjektiven Betrachter und

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nur für ihn existent. Repräsentierte Zeit und Zeit der Repräsentation sind deckungsgleich.

Das „Étant donnés“ wurde als der letzte Akt der Moderne bezeichnet. Man kann abergenauso gut sagen, dass wir es hier mit dem letzten Bild zu tun haben. Durch die immerwieder „verzögerte, mediale Rekonstruktion des Blickes als Bild, die der Partizipation desBetrachters bedarf, findet diese quasi Fetischisierung des Blicks statt, die Entblößung des(phallischen) Begehrens nach dem Sehen selbst. Wenn Lacan das „Geheimnis derPsychoanalyse so formuliert, dass ”es keinen Geschlechtsakt gibt, [darum] aber dieGeschlechtlichkeit”(60), scheint er Duchamps These von der Kunst als einem nie als realenAkt vollzogenen Erotismus, eine Verzögerung im Glas, zu bestätigen. Duchamp hatte imKontext verschiedenartiger Diskurse (die Nichtübereinstimmung von dreidimensionalemund vierdimensionalem Raum, die Mann- Frau- Polarität, die Divergenz von „apparence“und „apparition“, die Diskrepanz von Sehen und Haptischem) immer auf den unmöglichen„Koitus durch eine Glasscheibe hindurch“(61) hingewiesen. Was Freud in seiner 1922 Essay„Das Medusenhaupt“ schreibt, scheint die Situation von „Étant donnés“ zu umschreiben.(62)

Die Frau hält in apotropäischer Geste den Blick des Betrachters selbst empor (gaz = gaze =Blick), petrifiziert den immobilen Betrachter im wahrsten Sinne des Wortes,demonstrierend, dass jedes Sehen ein Phallus ist (phaos = Licht> phalos = leuchtendenesObjekt > phallus).

Duchamps Nackte ist fragmentiert und kastrierend; sie ist augenblicklich und bleibt fürimmer verhüllt, weil sie eben auf dem unüberwindbaren eigenen Narzissmus des Betrachtersgründet. Es existiert nur der kastrierende Blick auf die phallusartige, lichtreflektierendeGaslampe und der narzisstische Blick auf die Oberfläche eines fließenden Wassers, dessenStrömung die Gestalt des optischen Reflexes mit sich fortreißt. Nochmals: „Gegeben ist: alserstes der Wasserfall und als zweites das Leuchtgas. Und doch eröffnet diese Kunstunendliche Möglichkeiten, und spornt unsere Suchabsichten nach der luziden, nacktenWahrheit an.

ANMERKUNGEN

1. Hentschel, Linda, Pornotopische Techniken des Betrachtens: Raumwahrnehmung undGeschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg 2001.

2. Hentschel (wie Anm. 1), S. 30.

3. Hentschel (wie Anm. 1), S. 29.

4. Harnoncourt, Anne d’; Hopps, Walter (Hrsg.), Reflections on a New Work of Marcel Duchamp, PhiladelphiaMuseum of Art Bulletin 64, nos. 299-300 (April-September 1969), 6-58, Nachdruck, No. 2, 1987, S. 11.

5. Clair, Jean Marcel Duchamp ou le grand fictif, Paris 1975, S. 157f.

6. Serge Stauffer, in: Stauffer, Serge (Hrsg.), Marcel Duchamp, Die Schriften, Zürich 1981, S. 37.

7. Hentschel (wie Anm. 1), S. 64f.

8. Paz, Octavio: Nackte Erscheinung. Das Werk von Marcel Duchamp, Berlin 1987.

9. Molderings, Herbert, Marcel Duchamp, Parawissenschaft, das Ephemere und der Skeptizismus, Frankfurta.M.; Paris 1983, S. 73.

10. Cabanne, Pierre, Gespräche mit Marcel Duchamp [Erstabdruck : Entretiens avec Marcel Duchamp, Paris1967], Köln 1972., S. 107.

11. Vgl. Duve, Thierry de, Pikturaler Nominalismus. Marcel Duchamp. Die Malerei und die Moderne, München1987, S. 113.

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12. Wie Wilfried Doerstel betont: „Dies war auch die herausgearbeitete Voraussetzung und Form derDuchampschen symbolischen Form, dass Täuschung real vollzogen wird, dass die rezeptiven Tätigkeiten,deren Charakter und Bedingungen vermittelt werden sollen, tatsächlich durchzuführen sind, um sie dabei in ihrerVerlaufsform vermittelt zu bekommen. Erfahrbar gemacht wird bei der Duchampschen symbolischen Form derCharakter der kulturellen Tätigkeit, nicht nur der Blickwinkel oder das Ergebnis von Interpretation. [...] Die Erfahrungdes Betrachters bezieht sich, außer auf die materiellen Täuschungsmittel, allerdings offensichtlich nur auf sich selbstals der Quelle des Blicks, als dem Ursprungsort der Konstituierung.“ Doerstel, Wilfried, Augenpunkt. Lichtquelle undScheidewand; die symbolische Form im Werk Marcel Duchamps unter besonderer Berücksichtigung derWitzezeichnungen von 1907 bis 1910 und den Radierungen von 1967/68, Köln 1989, S. 261.

13. Vgl. Krauss, Rosalind E.: The Optical Unconscious, Cambridge, Mass.; London 1993, S. 111.

14. Krauss (wie Anm. 13), S. 133f.

15. Vgl. Ramiréz, Juan Antonio, Duchamp. Love and Death, Even, London 1998, S. 240.

16.Joselit, David, Infinite Regress, Marcel Duchamp 1910-1941, Cambridge, Mass.; London 1998; Paz (wieAnm. 8).

17. Wie Krauss am Beispiel von Breton’s Selbstporträts „Autoportrait: L´ écriture automatique„ (1938)exemplarisch dargelegt hat, verweist diese Fotomontage auf die emblematisch Verbindung zwischen demphysischen Automatismus als Prozess mechanischen Aufnehmens und der künstlerischen Bilderfindung, der mit derKamera -diesem, wie Breton sagt, „blinden Instrument“, assoziiert ist. Bretons Interpretation des Objektivs als Ikoneder „écriture automatique“ impliziert, dass automatisches Schreiben und fotografisches Aufzeichnen dem gleichenPrinzip des surrealistischen Automatismus unterliegen. Krauss, Rosalind, Die diskursiven Räume der Photographie,In: Ders. Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998, S. 40-60.

18. Das Motiv der Automatenfrau wurde oft im Werk der Surrealisten aufgegriffen, wobei das Verhältniszwischen weiblichen Puppenmodell und surrealistischen Fotografen wie Man Ray, Herbert List, Hans Bellmer,Claude Cahun u.a. als einen Moment des Unheimlichen interpretiert wurde. Vgl. Katharina Sykora, UnheimlichePaarungen. Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie (Kunstwissenschaftliche Bibliothek BD. 14) Köln1999; Suthor, Nicola, Photographie automatique, In: Texte zur Kunst, Juni 2001, Heft 42, S. 174-177, 174ff.

19. Die Frauenfigur ist dargestellt mit der modischen Bob-Frisur der 1920er Jahre, wie sie von deramerikanischen Starlet Louise Brook (G.W.Pabsts Film „Pandora’s Box“ 1929) zum Symbol deremanzipierten, modischen und zugleich verführerischen Frau stilisiert wurde.

20. Mit seinen „tableau objet“, wie Magrittes gerahmte Bilder von Körperfragmenten bezeichnet wurden,verbindet sich für ihn auch die Problematisierung des illusionistischen Bildes und des malerischen Mediumsexplizit mit dem weiblichen Körper und der fetischistischen Struktur des Blickes. In „La représentation“ (1937)verformt sich der Rahmen des Bildes, das die Nahaufnahme eines weiblichen Unterleibs zeigt, analog den Konturendes Körperfragments. Die illusionistische Abbildung wird in der Nähe eines fassbaren Objektes gerückt. Die Präsenzdes Körpers suggerierend, hebt die Leinwand die fetischisierende Funktion des menschlichen Blickes geradezuparadigmatisch heraus. Dieses Vorgehen kann auf ein früheres Werk zurückgeführt werden: In „L’evidence éternelle“(1930) hat Magritte den weiblichen Akt auf fünf getrennt gerahmte Bilder aufgeteilt. Die einzelnen Körperteilewerden nur in Ausschnitten wiedergegeben. Diese fünf Bilder hängen in Abständen übereinander an der Wand, wobeiihr Arrangement in seinen Proportionen so eingeordnet ist, dass die weibliche Figur trotz der fehlenden Partien als‘Gestalt’ ganz wahrgenommen werden kann. Magritte setzt auf das Potential des menschlichen Auges, visuelleLeerstellen zu überbrücken und sie optisch zu einem Ganzen zu vervollständigen auf. Bei dieser imaginären, aufgrundphysiologischer Eigenschaften als Einheit erfassten Wahrnehmung, geht es um das Vorhandensein eines visuellenEindrucks, das nicht mehr mit dessen Quelle, nämlich die innerhalb des Bildträgers erscheinende Abbildungübereinstimmt. Magrittes Bildarrangement stellt die Konvention jeglicher figurativ-malerischen Repräsentation,nämlich das tautologisches Verhältnis von Abbildung zu seinem Bildträger in Frage. Vgl. Eiblmayr, Silvia. Die Frau alsBild, Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993, S. 114.

21. Diese in den Dokumenten surrealistischer Ästhetik so oft nachgewiesene Metamorphosen des weiblichenKörpers haben männliche Surrealisten den Vorwurf der Misogynie eingetragen. Tatsachlich mutiert derFrauenkörper in surrealistischen Frauendarstellungen oft zu einem gliederlosen Wesen. Die fehlenden Gliedmaßenwerden durch Prothesen ersetzt. Obwohl nach der Interpretation einer Reihe kunsthistorischer Studien dieManipulation und Entstellung des weiblichen Körpers als Symptom von Kastrationsangst des surrealistischenKünstlers und der weibliche Körper lediglich als Projektionsfläche von Ängsten oder lustvollen Wünschen interpretiertwurde, sollte betont werden, dass diese unter anderem auch mediumstheoretische Aussagen machen. Vgl. Foster,Hal: Violation and Veiling in Surrealist Photography: Woman as Fetish, as Shattered Object, as Phallus, In: JenniferMundy (Hrsg.), Surrealism. Desire Unbound, (Ausst. Kat.) Tate Modern, London 2002, S. 203-226, S. 217ff; Caws,Marry Ann; Kuenzli, Rudolf; Raaberg, Gwen, Surrealism and Women, Cambridge, Mass., London 1991, S. 24.

22. Die Fotografie weist verblüffende Ähnlichkeiten mit den surrealistischen weiblichen Torsi im Werk z.B.von Brassaï, André Kertèsz, Jacques-André Boiffard und Magrittes tableau objet.

23. Krauss (wie Anm. 17), S. 116.

24. In „L’ Amour fou“ charakterisiert Breton, so Krauss, die konvulsivische Schönheit unter Berücksichtigung

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von drei grundlegenden Arten von Beispielen. Das erste gehört zum allgemeinen Fall der Mimikry - jeneErscheinungen in der Natur, bei denen ein Ding ein anderes nachahmt. Breton verwendete hierzu Fotografien derKorallen-Imitationen von Pflanzen und der quarzhaltigen Grottenwänden, die Leistungen von Schnitzereigleichkommen. Bretons zweites Beispiel ist „das Stillstellen von Bewegung“ - die Erfahrung von etwas, das inBewegung sein sollte, dann aber angehalten wurde. Als Buchillustration in „L’ Amour fou“ hat Breton die Fotografieeine der Wildnis überlassenen Lokomotive als Emblem des Anhaltens von Bewegung zeigen wollen. Bretons drittesBeispiel ist „der gefundene Gegenstand“ oder das gefundene verbale Fragment, jenes legendären Pantoffel-Löffels,den Breton auf dem Flohmarkt entdeckte hat und den er als die Erfüllung eines Wunsches erkannte, der durch einenautomatischen Satz Monate davor artikuliert wurde. Dieser Fundobjekt wurde von Man Ray abgebildet und in „L’Amour fou“ reproduziert. Das charakteristische Erwähnen und das dazu gehörende fotografische Illustrieren dieserdrei Prinzipien im Manifest Bretons ist keinesfalls willkürlich, sondern entspricht, wie Krauss mitunter suggeriert, dasfotografische Verfahren aller mit Surrealismus assoziierten Künstler. Krauss (wie Anm. 17), S. 117.

25. Vgl. Krauss, Rosalind, E., Corpus Delicti, In: Ders. Das Photographische. Eine Theorie der Abstände,München 1998, S. 165-198, S. 176.

26. Krauss hat diese konzeptuelle Verbindung von Bilderfindung und Fotog rafie im Kontext desSurrealismus unter dem Begriff des „Abdrucks“ oder „indexikalischen Zeichens“ zusammen gefasst. DasFotografische, so wie diese im Surrealismus entwickelt wurde, beschreibe nach Krauss, als Paradebeispiel„Indexikalität“, weil es seinen Referenten nicht durch Verweis oder Analogie repräsentiert, sondern als Medium dieKausalität bzw. den Prozeß der Zeichenbildung in jedem Repräsentation (Fotografischer Abzug) impliziert. DieFotografie stelle, so die Autorin, das Endprodukt eines Vorgangs dar, bei dem ein Objekt aus seinem ursprünglichenZusammenhang herausgelöst und in der Form eines lichtgestalteten Abdrucks fixiert werde. Man denkt natürlichhierzu auf eine spezifische Handhabung des Mediums, wie etwa bei den surrealistischen Verfahren derBildmanipulationen und bei den eingesetzten Verfremdungsstrategien, da auch Fotografie ikonisch oder symbolischfunktionieren kann. Krauss (wie Anm. 17), S. 116; Krauss, Rosalind E, Notes on the Index: Seventies Art in America(1976), In: Michelson. Annette (Hrsg.), October. The First Decade, 1976-1986, Cambridge, Mass. 1987, S. 2-15, S.4.

27. Lacans Theorie des Spiegelstadiums war im Kreis der Surrealisten um Bataille bereits um 1930 bekannt.Ein 1938 in Minotaure (Nr. 11, Fruhling 1938) publizierter Essay mit dem Titel „Miroirs“ von Pierre Mabillestellte eine Art Popularisierung dieser Theorie dar. Drei Jahre davor publizierte Roger Callois, ein enger FreundLacans, sein Essay mit dem Titel „Mimétisme et psychasthénie légendaire“ ebenfalls in der Zeitschrift Minotaure, 7(Nr. 7, Juni 1935.) Der Aufsatz stellt die anhaltende Erkundung des Doubles als eines in formeller und zugleichthematischer Hinsicht strukturalen Prinzips surrealistischer Bildfindung. Callois verwendete die geometrische Figurdes Dihedron, dem Schnittpunkt zwischen zwei Flächen, um die Beziehung zwischen Auge und Blick zu verdeutlichen.Dieser Figur ähnelt, nach Krauss, Lacans Schema des Chiasmus von Auge und Blick, der in der Reihe der 1964gehaltenen Vorlesungen bekannt gemacht wurde. Der Psychoanalytiker hatte jedoch immer wieder zum Ausdruckgebracht, was er Callilois verdankte, insbesondere bei seiner Ausarbeitung des Spiegelstadiums. Vgl. Krauss (wieAnm. 17), S. 178.

28. Anlässlich der Duchamp- Retrospektive von 1977 in Paris, wo „Etant Donnés“ zum ersten Mal in Europagezeigt wurde, wurde das Gemälde Courbets ebenfalls zum ersten Mal öffentlich ausgestellt. Vgl. hierzu dieBesprechung beider Werke bei Linda Nochlin, in: Faunce, Sarah und Linda Nochlin (Hrsg.), Courbet Reconsidered,Ausst.-Kat., The Brooklyn Museum, New York 1988, S. 176ff.

29. Das Gemälde war erst einmal einem kleinen Kreis von ausgewählten Besuchern und Besucherinnen imHaus seines Auftraggebers, des türkischen Diplomaten, Spielers und Kunstsammlers Khalil Bey in Pariszugänglich, und nur dann wenn sein grüner Vorhang zurückgezogen wurde. Nach der Auflösung dieser Sammlungverblieb das Gemälde in der Sammlung von Baron Ferencz Hatvany in Budapest. Dort soll es von einer weiteren TafelCourbets bedeckt gewesen sein, die ein Schloss im Schnee „Le chateau de Blonay“ (1874-77) darstellt. Während desKrieges war das Bild zunächst von deutscher und russischer Seite konfisziert und 1955 an einen unbekanntenfranzösischen Liebhaber verkauft worden, der sich nach über dreissig Jahren als Jacques Lacan identifizieren ließ. DasGemälde wurde in seinem Landhaus aufbewahrt, und diesmal von einem Panneaux von Andre Masson verhüllt. Vgl.Hentschel (wie Anm. 1), S. 20f.

30. Schwarz, Arturo (Hrsg.), Marcel Duchamp The Complete Works, 2. Bd., New York 1996, Bd. I, S. 250.

31. Vgl. Jay, Martin, Downcast eyes : the denigration of vision in twentieth-century French thought.Berkeley; Los Angeles 1994.

32. Bekanntlich war Lacan einer der ersten, der offensiv von dezentriertem Subjekt gesprochen hat –dadurch hat er den Begriff des Subjekts in Frage gestellt. In dem 1949 im Internationalen Kongress fürPsychoanalyse vorgelesenen Bericht „La stade du miroir comme formateur de la fonction de Je“ [Bericht für den 16.Internationalen Kongress für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949] beschreibt Lacan die Genese des Ego anhandder frühkindlichen, narzisstischen Identifizierung des Kindes mit seinem Spiegelbild. Der noch sprachunfähige Menscherkennt sich zum ersten Mal im Spiegel, aber dieses Sich-Erkennen gründet in der Beziehung zu einem anderen alser selbst. Im Eins-sein-Wollen mit diesem anderen enthüllt sich der imaginäre Charakter menschlicher Selbstfindung- die Unmöglichkeit des Ichs, sich in einem anderen zu spiegeln. Das Ich (moi) ist im Reich des Imaginärengefangen. Einen Ausweg aus der Sackgasse der imaginären Identifizierungen bietet erst die Sprache, die die Absenzdes anderen symbolisch repräsentiert und damit die Trennung zwischen Subjekt und dem anderen ermöglicht. Indemdie Sprache dem Ich (moi) die Funktion eines Subjektes (je) verleiht, verhüllt sie zugleich die „imaginäre Szene“ der

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Wunschprojektionen, Aggressionen und Konfrontationen, die das Spiegelerlebnis begleitet und deren Auswirkungensich unbewusst in der Sprache niederschlagen. Lacans Formel: „Das Ich ist ein anderer“ erteilt offensichtlich derSelbstgewissheit des Kartesischen Cogito und der Autonomie und Selbstverfügbarkeit des Kantischen Subjekts eineklare Absage. In der symbolisierenden Funktion der Sprache suchte er die zentrale Macht der Subjektbildung zufinden. Im Rehabilitieren des Freudschen Unbewussten, das - so Lacan - wie eine Sprache strukturiert ist, sollte derAnachronismus der Bildung des Subjekts aufgedeckt werden. Für Lacan ist die Sprache eine eigenständige Struktur,eine voretablierte Gesetzmäßigkeit, in deren symbolische Ordnung das Subjekt eingeschrieben wird. „Bevor ichspreche, ist gleichsam Es oder die Sprache, die mich spricht; schärfer: es ist >die Rede des Anderen<, die -verschoben- in mir spricht, wo ich zu sprechen meine.“ Das Subjekt lässt sich nicht auf die reflexive Identität desSelbstbewusstseins reduzieren, sondern das „ich denke“ als „Ich spreche“ ist wesenhaft in der Differenz zu einem „Esspricht“ bestimmt. Dem sprachstrukturierten Unbewussten ist keine Reflexion zugänglich, und daher ist es erfahrbar,lediglich durch die Intervention eines Dritten, der als Träger der symbolischen Ordnung fungiert und als „Zeuge“ indie imaginäre Spiegelidentifikation einbricht. Lacan sagt deswegen: „Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen“(„l’inconscient est le discours de l’autre“). Dieser Andere ist der Ort, „wo der Diskurs sich situiert“. Die KartesicheFormel also lautet bei Lacan: „Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke.“

33. Das wahrscheinlich kaum auszuschöpfende Potential der Lacanschen Texte für die Konstitution einerTheorie des Bildes wurde von der kunstwissenschaftlichen Forschung noch nicht ausreichend ausgelotet. Vgl.Felman, Shoshana, Lacan’s Psychoanalysis or the Figure of the Screen, In: October Nr. 45, Sommer 1988, S. 97-108;Über die philosophischen Grundlagen der Lacanschen Theorie der visuellen Wahrnehmung vgl. Gondek, Hans-Dieter,Eine psychoanalytische Anthropologie des Bildes, In: RISS 48 (2000/ II), S. 9-27; Cremonini, Andreas, Die Nacht derWelt. Ein Versuch über den Blick bei Hegel, Sartre und Lacan, In: Gondek/ Hofmann/ Lohmann (Hrsg.), JacquesLacan - Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001, S. 164-188.

34. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, ders. Das Seminar von Jacques Lacan, BuchXI, Hrsg. von Jacques-Alain Miller, Weinheim, 1987, S. 90.

35. Lacan (wie Anm. 34), S. 113.

36. Lacan (wie Anm. 34), S. 112.

37. Lacan, Jacques, Die Bedeutung des Phallus, In: ders., Schriften II. Bd. 2 Ausgew. und Hrsg. von NobertHaas. 3., korr. Aufl.. Weinheim; Berlin 1991, S. 119-132, S. 165-204.

38. Es ist nicht das Objekt des Begehrens (z.B. die Mutter), das dem Kind fehlt, sondern: nur wenn etwasfehlt, kann es zum Objekt des Begehrens werden. Der Anspruch auf die bedingungslose Liebe der Mutterverwandelt sich in ein Begehren, wenn das Kind die Fiktion einer totalen Präsenz der Objekte seiner Bedürftigkeitaufgibt und in der unaufhörlichen Suche nach dem verlorenen Objekt zu Symbolen greift.

39. Žižek, Slavoj: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien,Berlin 1991., S. 55.

40. Žižek (wie Anm. 39), S. 45s.

41. Žižek (wie Anm. 39), S. 53s.

42. Das Wort Tableau wird in der deutschen Übersetzung beibehalten. Es bezeichnet hier sowohl dasGemälde, als auch ein wirkungsvoll gruppiertes Bild.

43. Lacan (wie Anm. 34), S. 77.

44. Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare: gefolgt von Arbeitsnotizen, München: Fink,1986.

45. Lacan (wie Anm. 34), S. 99.

46. Das Werk von Jurgis Bâltrusaitis hatte die Entwicklung dieser These angeregt. Bâltrusaitis, Jurgis,Anamorphoses: ou Perspectives curieuses, Paris, 1955.

47. Lacan (wie Anm. 34), S. 102.

48. Jay (wie Anm. 31), S. 363f.

49. Für Lacan gibt es immer periphere Lücken, blinde Punkte. Im Bild, das ich sehe, gibt es immer einenblinden Fleck, einen „punctum“ der Blindheit, wo ich nicht sehe. Wie Žižek schreibt: “Der Blick bezeichnetden Punkt im Objekt (im Bild), von dem aus das es betrachtende Subjekt schon angeblickt wird, d.h. das Objekt istes, das mich anblickt. Der Blick fungiert - weit davon entfernt, die Selbstpräsenz des Subjekts und seine Sicht zusichern - als ein Makel, als ein Fleck im Bild, der dessen klare Sichtbarkeit beeinträchtigt und eine nicht aufhebbareSpaltung in meine Beziehung zum Bild einführt: Niemals kann ich das Bild an der Stelle sehen, von der aus es michanblickt, d.h. Sicht und Blick sind grundlegend dissymmetrisch. Der Blick als Objekt ist ein Fleck, der mich daranhindert, aus einer sicheren ,objektiven’ Entfernung auf das Bild zu schauen, der mich daran hindert, es als etwaseinzurahmen, das dem Zugriff meiner Sicht zur Verfügung steht; der Blick als Objekt ist sozusagen ein Punkt, andem der Rahmen (meiner Sicht) schon dem ,Inhalt’ des angeschauten Bildes eingeschrieben ist.” Žižek (wie Anm.39), S. 59s.

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50. Vgl. Dubreuils, Jean, La Perspektive Pratique (1663); Abbildung in: Schwarz, Heinrich, Art andPhotography, Chicago; London 1985, Plate 30.

51. Wenn Cezanne Bilder und keine Kühe malt, dann malt Duchamp keine Bilder, sondern Bildeindrücke. Eswar schon immer Duchamps Absicht, Malerei ohne Farbe zu realisieren.

52. Lacan (wie Anm. 37), S. 126.

53. Widmer, Peter, Subversionen des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk, Wien 1997, S. 72.

54. Wetzel, Michael: Verführerische Bilder. Zur Intermedialität von Gender, Fetischismus und Feminismus,In: Wetzel, Michael u. Herta Wolf, Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München 1994, S. 333-354, S.344.

55. Lacan (wie Anm. 34), S. 110.

56. Lacan (wie Anm. 34), S. 89.

57. Lacan (wie Anm. 34), S. 89.

58. Um die subversive Dynamik dieser Choreographie der Blicke zu pointieren und die deutliche Umkehrungdes Subjekt- Objekt- Verhältnisses im Komplex des Phallischen zu markieren, schreibt Lyotard in seinerInterpretation von „“Étant donnés“: „In einem derartigen Arrangement sind Betrachterstandpunkt und Fluchtpunktsymmetrisch. Wenn es stimmt, dass die Vulva den Fluchtpunkt darstellt, dann ist diese das Spiegelbild derVoyeuristischen Augen; oder anders gesagt: wenn diese glauben, die Vulva zu sehen, sehen sie sich selbst. Wersieht, ist selber scham(los). [„Con celui qui voit“]“ Lyotard, Jean- Francois, Die Transformatoren Duchamp, Stuttgart1986, S. 124.

59. Lacan (wie Anm. 34), S. 113.

60. ŽŽižek (wie Anm. 39), S. 46.

61. Marcel Duchamp, Weiße Schachtel (1966), in: Stauffer (wie Anm. 6), S. 125.

62. Freud, Sigmund, Das Medusenhaupt (1922), In: ders. Gesammelte Werke, Bd. XVIII, S. 45-48, S. 45f.

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