Dekonstruktive Metaphysik. Der Beitrag der Dekonstruktion zu Erschließung des Archivs negativer...

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Dekonstruktive Meiaphysik Zur wissenschaftlichcn ErschlieBung des Archivs Nc^uver Theorogie »nach« Derrida Johannes Hoff Ich habe diesen Test also vmter ein holzernes Eisen gesrellt - zur Verar- gerung der Apologeten eines „nachmetaphysischen Denkens" und zum Befrcmden jener, die ihn mit ..Anything goes" iiberschrieben haiteo. Symptomatisch fiir den blinden Fleck der erstgenannten Position isi die Derridarezeprion von Bernhatd Waldenfels: Derridas Metaphysikkririk zehte „von einer massiven Voraussetzung, namlich davon, dass es so et- was wie dit Metaphysik, dm Logos, die Episteme iiberhaupt gibt." (Wal- denfels 1985, 541) Dieser Einwand trifft insofern, als Derrida in der Tat daran festhalt, nach jfo-Vernunft, afcrMetaphysik, <&rOrdnung des Wis- sens zu fragen und gelegentlich sogar an dit Vernunft appelliert. Im Un- rerschied zu transzendemalpragmatischen „Letztbegrundungskonzepten" {vgl. AA) steht dabei allerdings eine apophatlsche Intention im Vorder- grund: Eine Philosophie, die letzte Fragen stellt, wird del Vetsuchung, sich auf metaphysische Vorurteile zu sriitzen, eher widerstehen, als ein Denken, das metaphysisch.es Gedankengut weitertradiert in der Oberzeu- gung, den „Balkst" der Tradidon langst abgeworfen zu haben. 1 Immanuel Kant, Vater des metaphysikkririschen Denkens der Moder- ne, wusste noch uro die Aussichtslosigkeit des Versuchs, sich von dieser Last zu befreien. Gegen Ende der Methodenlehre der Kritii dtr rtiittit Vmamfi wamt er seine Leser. Es sei ilhisorisch zu glauben, man konne aus dcm Bannkreis metaphysischer Diskurse ausbrechen, ohne mit der Strenge des philosophischen Arguments zu btechen: „Man kann also si- cher sein, so sprode, oder getingschatzend auch diejenigen tun, die eine Wissenschaft nicht nach ihrer Nairn, sondern allein aus ihren zufsiUigen Wirkungen zu beurteilen wissen, man werde jederzeit zu ihr (scil. der Metaphysik, JoH], wie zu einer mit uns entzweiten Geliebten zuriickkeh- ren, weil die Vernunft, da es hier wescntliche Zwecke betrifft, rastlos, enrweder auf gxundliche Einsicht oder Zerstorung schorl vorhandener guter Einsichten arbeiten muB." (Kant, KrV, A 849f./B 877f.) Eine Phi- losophie, die in der kiitischen Priifung von Geltungsanspruchen gmrttiiiib verfahrt, kann sich nicht der Verantwortung entheben, nach Itt^ftn Gri«- i Hieczu und zu der im Folgenden skkzierten Interpretation der derridaschen Dekon- itruktkm: Hoff (1999), 138 den zu fragen. Nut um den Preis einer Enescharfung dieses Anspruchs liefie sich das Erbe der Aufldarung auf ein „nachmetaphysisches" Unter- nehmen reduzieren. 2 In gewisser Weise markiert die Radikalitat dei philosophischen For- derung nach einer riickhaithstn Priifung von Geltungsanspruchen die Gtenzlinie, die rnoderne philosophische Positioner! in der Tradition der kantischen Vemunftkritik von der Postmodeme scheidec Sollte sich das Denken aus der Verantwortung letzter Fragen zuriickziehen? Oder sind metaphysische Fragen noch einer intersubjektiv ausweisbaren kritischen Analyse zuganglich? Kann die Philosophie das Erbe der klassischen Me- taphysik bewahren? Oder mussen letzte Fragen in den vorwissenschaftli- chen Bereich partikular-weisheitlicher odet religi&ser Traditionen verwie- sen werden, wie dies hermeneutische oder prophetisch-divinatorische Ansacze zur Wiederbelebung der Gottesfrage im Stile von Gianni Varti.- mo oder Johann Baptist Metz postulieren? 3 Otientien man sich an der skizzierten Gtenzlinie, so entdeckt man, dass einige im Bildungsjargon als ..postmodern" etikettierte Philosophen sich weder der einen noch der andeten Posidon eindeutig zuordnen las- sen. Das gilt unter gewissen Votbehalten fiir das Werk Michel Foucaults, uneingeschrankt abet fur die Philosophie Jacques Derridas. 4 Im Unter- schied zur philosophischen Postmodeme zielt der vernunftkritische Im- puls der derridaschen Dekonstrukrion nicht auf eine Relativierung, son- dern eine kritische Selbstbesinnung aufgeklarten Denkens, die eine be- gritflich differenzieitere Eiorterung metaphysischer Problemstellungen einschlieut. Wenn ich mich im Folgenden - unter Zugrundelegung eines noch na- her zu bestimmenden theologischen Erkenntnisinteresses - an dieser metaphysischen Dimension des derridaschen Denkens orientiete, bringt mich dies in eine gewisse Nahe zur Deirida-Rezeprion Joachim Vilendns (vgl. Valentin 1997). Valentin knupft an Derridas Arbeiten zur vernei- 3 In der transrendentalen Methodenlehre verortec Kane die Metaphysikkritik seines ei- genen AufklarungBprojekts dezidiert Im Rahmen einer metaphysischen Propadeutik (vs;l.Kant,KrV,A841/BS(J9). 3 Vgl. Vatdmo (1997 und 200t) T Einen an die detriduche Dekonstruktion anknupfen- den Anaatz zur Reformulierung det metzschen Theologie, die den uneingestandenen Fostmodaniamus detselben zu uberwinden versucht, hat Peter Zeillinger (2002) vor- gelegt. 4 Vgl. hieczu Hoff (1999). Wie sehr der unzweideutigrnoderneFragehorizont der De- komuuktion Vertreur der Postmodeme irritiert, dokumentierc auf eloquente Weise Richard Rortys Krltik an den aus seiner Sicht ..romantischen" Zugen des derridaschen Denken«. Vgl. Rorry (1996) sowie Derridas entwaffnende RepLik (DP); zu Foucauit: vgl. Hoff (2003). 139

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Dekonstruktive Meiaphysik

Zur wissenschaftlichcn ErschlieBung

des Archivs N c ^ u v e r Theorogie »nach« Derrida

Johannes Hoff

Ich habe diesen Test also vmter ein holzernes Eisen gesrellt - zur Verar-gerung der Apologeten eines „nachmetaphysischen Denkens" und zum Befrcmden jener, die ihn mit ..Anything goes" iiberschrieben haiteo. Symptomatisch fiir den blinden Fleck der erstgenannten Position isi die Derridarezeprion von Bernhatd Waldenfels: Derridas Metaphysikkririk zehte „von einer massiven Voraussetzung, namlich davon, dass es so et-was wie dit Metaphysik, dm Logos, die Episteme iiberhaupt gibt." (Wal­denfels 1985, 541) Dieser Einwand trifft insofern, als Derrida in der Tat daran festhalt, nach jfo-Vernunft, afcrMetaphysik, <&rOrdnung des Wis-sens zu fragen und gelegentlich sogar an dit Vernunft appelliert. Im Un-rerschied zu transzendemalpragmatischen „Letztbegrundungskonzepten" {vgl. AA) steht dabei allerdings eine apophatlsche Intention im Vorder-grund: Eine Philosophie, die letzte Fragen stellt, wird del Vetsuchung, sich auf metaphysische Vorurteile zu sriitzen, eher widerstehen, als ein Denken, das metaphysisch.es Gedankengut weitertradiert in der Oberzeu-gung, den „Balkst" der Tradidon langst abgeworfen zu haben.1

Immanuel Kant, Vater des metaphysikkririschen Denkens der Moder-ne, wusste noch uro die Aussichtslosigkeit des Versuchs, sich von dieser Last zu befreien. Gegen Ende der Methodenlehre der Kritii dtr rtiittit Vmamfi wamt er seine Leser. Es sei ilhisorisch zu glauben, man konne aus dcm Bannkreis metaphysischer Diskurse ausbrechen, ohne mit der Strenge des philosophischen Arguments zu btechen: „Man kann also si-cher sein, so sprode, oder getingschatzend auch diejenigen tun, die eine Wissenschaft nicht nach ihrer Nairn, sondern allein aus ihren zufsiUigen Wirkungen zu beurteilen wissen, man werde jederzeit zu ihr (scil. der Metaphysik, JoH], wie zu einer mit uns entzweiten Geliebten zuriickkeh-ren, weil die Vernunft, da es hier wescntliche Zwecke betrifft, rastlos, enrweder auf gxundliche Einsicht oder Zerstorung schorl vorhandener guter Einsichten arbeiten muB." (Kant, KrV, A 849f./B 877f.) Eine Phi­losophie, die in der kiitischen Priifung von Geltungsanspruchen gmrttiiiib verfahrt, kann sich nicht der Verantwortung entheben, nach Itt^ftn Gri«-

i Hieczu und zu der im Folgenden skkzierten Interpretation der derridaschen Dekon-itruktkm: Hoff (1999),

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den zu fragen. Nut um den Preis einer Enescharfung dieses Anspruchs liefie sich das Erbe der Aufldarung auf ein „nachmetaphysisches" Unter-nehmen reduzieren.2

In gewisser Weise markiert die Radikalitat dei philosophischen For-derung nach einer riickhaithstn Priifung von Geltungsanspruchen die Gtenzlinie, die rnoderne philosophische Positioner! in der Tradition der kantischen Vemunftkritik von der Postmodeme scheidec Sollte sich das Denken aus der Verantwortung letzter Fragen zuriickziehen? Oder sind metaphysische Fragen noch einer intersubjektiv ausweisbaren kritischen Analyse zuganglich? Kann die Philosophie das Erbe der klassischen Me­taphysik bewahren? Oder mussen letzte Fragen in den vorwissenschaftli-chen Bereich partikular-weisheitlicher odet religi&ser Traditionen verwie-sen werden, wie dies hermeneutische oder prophetisch-divinatorische Ansacze zur Wiederbelebung der Gottesfrage im Stile von Gianni Varti.-mo oder Johann Baptist Metz postulieren?3

Otientien man sich an der skizzierten Gtenzlinie, so entdeckt man, dass einige im Bildungsjargon als ..postmodern" etikettierte Philosophen sich weder der einen noch der andeten Posidon eindeutig zuordnen las-sen. Das gilt unter gewissen Votbehalten fiir das Werk Michel Foucaults, uneingeschrankt abet fur die Philosophie Jacques Derridas.4 Im Unter-schied zur philosophischen Postmodeme zielt der vernunftkritische Im-puls der derridaschen Dekonstrukrion nicht auf eine Relativierung, son­dern eine kritische Selbstbesinnung aufgeklarten Denkens, die eine be-gritflich differenzieitere Eiorterung metaphysischer Problemstellungen einschlieut.

Wenn ich mich im Folgenden - unter Zugrundelegung eines noch na-her zu bestimmenden theologischen Erkenntnisinteresses - an dieser metaphysischen Dimension des derridaschen Denkens orientiete, bringt mich dies in eine gewisse Nahe zur Deirida-Rezeprion Joachim Vilendns (vgl. Valentin 1997). Valentin knupft an Derridas Arbeiten zur vernei-

3 In der transrendentalen Methodenlehre verortec Kane die Metaphysikkritik seines ei-genen AufklarungBprojekts dezidiert Im Rahmen einer metaphysischen Propadeutik (vs;l.Kant,KrV,A841/BS(J9).

3 Vgl. Vatdmo (1997 und 200t)T Einen an die detriduche Dekonstruktion anknupfen-den Anaatz zur Reformulierung det metzschen Theologie, die den uneingestandenen Fostmodaniamus detselben zu uberwinden versucht, hat Peter Zeillinger (2002) vor-gelegt.

4 Vgl. hieczu Hoff (1999). Wie sehr der unzweideutig rnoderne Fragehorizont der De-komuuktion Vertreur der Postmodeme irritiert, dokumentierc auf eloquente Weise Richard Rortys Krltik an den aus seiner Sicht ..romantischen" Zugen des derridaschen Denken«. Vgl. Rorry (1996) sowie Derridas entwaffnende RepLik (DP); zu Foucauit: vgl. Hoff (2003).

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nenden Gottesrede an, urn die Dekonstrukrion als Beitrag zu einer kriri-schen Fortschreibung der christlichen und judischen Tradition Negariver Theologie zu re2ipieren. Unklar bleibt allerdings, auf welcher Grundlage diese Tradition wieder reanimiert werden kann, wenn die Negative Theologie weder auf eine Form von Dekonstrukrion zu reduzieren, noch das derridasche Denken (wie Valentin in moglicherweise allzu generoser Ritterlichkeit hervorhebt), „als eine Abart der Gattung .Negative Theo­logie zu enttarnen'" (Valentin 1997,152) ist,

Dass die derridasche Philosophic nicht ohne eine Konzeption des transzendentalen Subjekts auskommt und diese cranszendentale Dimen­sion eines bloBen „Dass" an Subjektivitat fiir das Absolute offen ist, wie Valentin in Orientierung an der „an:hropologischen Wende" der Theo­logie des 20. Jahrhunderts geltend macht, beanrwortet diese Frage noch nicht5 Vor dem Hintergrund dec Dekonstrukrion stellt sich vielmehr in bishet nicht gekannter Scharfe die Frage: Wie kann sich jenes verschwin-dende, von Derrida als „abgedrifcete(r) Effekc einer Wendung" urn-schriebene „fast nichts" (vgL R1 265) an Subjektivicat, das fur sich ge-nommen nicht einmal das Selbstbewusstseinsphariornen einschlieftt, in mcinc Geschichte ah Moment /seiner Subjektivitat einschieiben? Wenn schon diese Frage nicht leicht zu beantworren ist, SO gilt das afortm&ri fur die Frage, unter welchen Bedingungen die Struktur dieser Einschreibung offen ist fur das, was die theologische Tradition als potentia oboeJientiabs bezeichnet — die Gabe, einen Ruf ak Ruf einer (im religiosen Sinne) ,,bin-denden" Otrenbarung zu vernehmen.

Valentin (dessen Dcrtidarczcpdon dem „nachmecaphysischen" Den­ken des 20. Jahrhunderts zweifellos nahet steht als der vorliegenden Text) weicht dieser komplexen Problemadk aus, indem et eine uneinge-standen metaphysische Vorentscheidung zugunsten der theologischen Tradition trifft. Die metaphysische Dimension des damit vollzogenen

MGlaubenssprungs" lasst sich an seiner Strategie ablesen, die Theologie „gegenuber" der a-theologischen Halrung der derridaschen Dekonstruk­rion zu rechfertigen. Valentin argumentiert zweistufig: I. Im Unterschied 2um klassischen Athdsmus bestreite Derrida nicht das Existenzrecht der Theologie. 2. Folglich sei die Dekonstrukrion offen fur einen thcologi-schen Diskurs, der mit der Dekonstrukrion in einen kririschen Dialog eintrete.

Derrida bestreitet in der Tat nicht das Exiscenzrecht der Theologie. Problematisch an Valentins Argumentation ist der zweite Schritt. Denn

3 VgL hieRu den Beiteag von j . Valentin in diesem Band; zum Subieklproblem: HotT (1999,«S-82).

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er setzt voraus, dass zwischen einem genuin theologischen und einem philosophischen Diskurs, einer Sphare des Eigeaen und einer Sphare des Fremdm hinreiehend deutlich unterschieden werden kann. Valentin ope-riert also mit einer „Metaphysik des Raumes", die zwischen einem „In-nen-" und einem „Aul5enbereich" unterscheidet, und restauriert damit eine Grundfigur jener logozentrischen Denkoperationen, die Derrida seit seinen fruhesten Anfangen zu dekonstruieren versucht.'

Dass auch Derrida in der Sprache des Gebets Spuren Gottes ent-deckt, erklart noch nicht das Exiscenzrecht der Theologie als eines „ei-genstandigen" Diskurses - wenn es denn uberhaupt srimmt, dass es ei­nen besttmmbartn Uittmchud zwischen Negativer Theologie und Dekon­strukrion gibt. Gibtts&iti noch, diesen Unterschied? Gibt es sic noch - die Gjgfo, die den Glauben zur Unterschcidung der Geister ermachtigc? Ge-wiss, kein bekennender Christ wiitde dieses „es gibt" in Zweifel Ziehen. Aber wenn es diese Gabe gibt, wenn das „es" dieses „es gibt" sogar fur eine religiose Lesacc offen ist: wird es der Kontaminaiiou dutch die apo-retische Lexik, Syntax und Pragmarik entkommen, die Derrida in seinen jungeren Arbeiten unter den Vorzeichen einer „Etriik der Gabe" freige-legt hat?7

Ich werde im Folgenden der Versuchung widerstehen, der „Gabe" der Unterscheidung vorzugreifen, und stattdessen versuchen, detl M6g-lichkeitsraum einer ..Theologie nach Deirida" ausgehend von den me-thodologischen PrSmissen des derridaschen Diskurses selbst freizulegen. Methodisch stiitzt sich diese Vorgehensweise auf den Nachweis einer ge-makgstbe Vtnvanduchaft zwischen mystischen und dekonstruktiven Dis-kurspraktiken, der an anderer Stelle unter Anknupfung an Arbeiten von Michel Foucaulc und Michel de Cetteau gefiihrt wurde (vgl. Hoff 2003). Theologie „nach" Derrida hetGt dem entsprechend wedet post noch it-cundiim Derrida. Das „nach" signalisiert vielmehr eine gmohgscbt Nachfo/-f̂, die die ecstgenannte genealogische Bewegung unter umgekehtcen

Vorzeichen wiedetholc* — einem Compucervirus vergleichbar, der ein

6 Zut Problejlttbk der Meraphysik dt$ FUume* lus lehitektuitheorerischct Skhl: Ei«n-roan (1^>5>, $o*ie Dtnida/Eiscnman (1991).

7 Vgl. Dertviis foJfdgt/tl <pG), sowiedenBeiuagvonM. Flacscher in diesem Band. s Derrida je)b$t nimnit auf die VerwaridtschaJt von Dekohsuuktion und Nfystik vox al-

1cm im Koncext seiner AuseinanderKCzung mit Pascal und Benjamin b«2ug (vgl. GK) — sie stehr aber auch im Hinrergrund seiner Studien zum Esaaksopfer (vgL TG und NJ). Dem Themenspeklrum dieser Arbeiten entsprechend ist der Begriff der Mystik in einem weiteren KonCext zu verorten, der neben der Negativen Theologie die pre-diskuraiven, spirituellen und machtgeschichtlicherj Rahmcnbedingungen religidser Diskurse In den Blick rUcken la$tt Aus diesem Grund bevorzugt der vorliegeade Text xur Um8chreibung seines religios-meraphysischen Erkenntnisimecesses (anderi al?

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vorliegendes Computerprogramm im Dienste eines (sagen wir bis auf •weiteres) namenlosen Codes umfunktioniert. Das fclingt befremdlich, ist aber schon in der transgressiven Logik des derridaschen Diskurses selbst angelegt: Man kann dem Erbe der Dekonstruktion nur die Treue halten, indem man es „verrat".

D i e apore t i sche „ M e t h o d e " d e i D e k o n s t r u k t i o n als A u s -

g a n g s p u n k t e ine s radikal is ier ten Wis senscha f t skonzcp t s

Einen systematischen Aufriss der Grundlinien des vemunftkrilischen Denkens der Dekonstruktion bietet Derridas fruhe, methodologisch grundlegende Aufsatzsammlung Die Scbrift uttd die Different Unter Bezug-nahme auf Georges Bataille fordert Derrida dort eine epoche des Sinns. In der Nachfolge Michel Foucaults, als dessen „Schuler" (SD 53) sich Der­rida bezeichnet, erprobt er eine denkerische Halrung, die die hermeneuti-sche Ftage nach dem Sinn von Sprache uberschreitet und von ihren Sig-nifikanten nichts als die Spur eines Schriftzeichens zuriickbehalt. Sein Denken uberschreitet den Sinn aber nicht, in dem es ihn fur obsolet er-klart:

Die Transgression des Sinns ist weder Zugang 2ur unmittelbaren und unbestimmten Idenntat eines Nicht-Sinns, noch die Moglichkeit, den Nicht-Sinn anfreeht^tterhalters. Man muftte viel eher von einer epoche det Epoche des Sinns sprechen, von einer - geschriebenen - die Epoche des Sinns unterbindenden Einklammerung. Sie ware das Gegenteil einer pha-nomenologischen epoche, da letztete im Namen des Sinns und im Hin-blick auf den Sinn vorgenommen wird: die phanomenologische epoche ist eine Reduktion, die uns wieder in den Sinn einbiegt. Der souverane Cberstieg ist eine Reduktion dieser Reduktion: keine Reduktion auf den Sinn, sondern Reduktion des Sinns, (SD 406)'

Es geht in diesem Zitat nicht um ein fheoretisches Verfahren, sondern um einen denkerischen Habitus: die philosophische Praxis der Urteils-enthaltung. In der Tradition antiker Skepsis hatte Edmund Husserl fiir die Philosophie eine Praxis methodischer „Zuruckhaltung" gegenuber natiirlichen, theoretischen oder lebensweltlichen Vorurteilen eingefor-dert. Im Gefolge der diese epoche vorbereitenden Methode der „phano-menologischen Reduktion" bedeutete das vor allem die „Einklamme-tung" der Frage nach dem Wkklichkeits- oder Seinsgehalt von Phano-

Valcnrin 1997, 149-154)) den zweifellos nicht unproblemarischen Begriff der „M)rsrik" als Platzhaltcr fur eine religiose Prakdk.

5 Zu den Konvergenzen mit Foucault: vgl. Foucault (1981,162) sowie den tut die fou-eaultsche Praxis der Transgression des Sinns grundlegenden Aufsatz Das Denken des Aiifitn (Foucault 1975, 54ff.).

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menen.10 Derrida interpretiert diese methodologische Anweisung unter Ankniipfung an Husserls Logscbi Untersmhtmgn zeichentheorerisch." Er refleknert also nicht auf die Konstitutionsbedingungeti von Phitnome-nen, sondern von Zeichen. Doch er geht noch einen gravierenden Schritt fiber diesen Substitutionsvorgang hinaus, Denn er setzt nicht nur die Frage nach dem Sach- oder Realicatsgehalt von Zeichen ,jn Klam-mem", sondern auch die Frage nach dem ihren Gebrauch modvierenden Sinn.

Da jedes Zeichen entweder als unmotiviert (kontingent) oder inten­tional) motivierr erscheint, zwingt diese Vorgehensweise dazu, auch den Begriff des Zeichens „in Klammem" setzen. Er wird subsdtuiert durch antinomische Platzhaltcr fur ein sinn-indifferentes Ungesagtes (differen­ce, Graphem usw.). Manfred Frank verkenm diesen folgenreichen Sub­stitutionsvorgang, wcnn er die demdasche Dekonstruktion als eine Vaci-atitc der sprachanalytrschen und hermeneutischen Philosophie des 20. Jahrhunderts interpretiert, die sich auf der ,,Basis" (vgl. Frank 1984, 611 ff.) des linguistic turn vom Subjektparadigma des 19. Jahrhunderts ver-abschiedet. Die Dekonstruktion geht mit einer ErschutterungyWer philo-sophischen Basisannahme einher. Man verfehlt die Pointe ihrer Prob-lemstellung, wenn man die abgriindige Kluft iibersiehc, die sie der her-meneutischen und analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts ent-fremdet.

Im Gefolge von Hermeneutik und Phanomenologie hatte man sich darauf eingestellt, den „natiklichen" Glauben an den Realitatsbezug von Aussagen einzuklamtnern, um nach den Bedingungen zu forschen, die ihrem Wahrheitsanspruch Sinn und Geltung verschaffen. Dieser Prob-lemsrellung entsptechend wurde unkriosch vorausgesetzt, Joss at ttmv sa­gen sullen. Das demdasche Denken zielt nicht auf eine Verneinung der Sinnhaftigkeii von Sprache zugunsten eines „freien Spiels der Signifi-kanten". Es problematisiert aber die Selbstverstandlichkeit, mit tier wit auf die Sinnhaftigkeii diskursivet Ptaktiken oder die Signifikanz von Graphemen vertrauen. Im Zuge einet experimentellen Praxis des Den­kens crkundcf es den Moglichkeitsraum, in dem sich der unwahrscheinli-che >rGlucksfa]T' des Sinns ereignen kdmft. Auf dem Spiel steht damit — so Derrida im Anschluss an Georges Bataille - der Versuch, „die Kette des diskursiven Wissens in ein Verhalcnis zu einem Nkht-Wissen zu bringen, das nicht eines ihrer Momente ist, zu einem absoluten Nicht-

10 Zum Begriff der epoche und dem fut Husserls Verstfindnis dieses Begriffs grundiegen-den Konzept der „phanomenologisehen Redukdon": Hu$«erl (1950, 5-10. 43ff), sowie Husserl (1950b, 64-74).

» Grundlegend dazu bei Derrida: SP, H W, PG, SD 236-258, R' 159-174.

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Wissen, von dessen Un-Grund der Glucksfall oder der Einsatz des Skins, der Geschichte und der Horizonte des absoluten Wissens sich ab-heben." (SD 407)

Wir beriihren damit den „methodologischen" Grund, aus dem die derridasche Dekonstruktion weder auf einen szientisaschen Positivismus reduzitrr, noch im Sinne einer Negadven Theologie oder einer „Herme-neutik des Verdachts" gelesen werden kann. Jede dieser Optionen wiirde eine Entstkeidung iiber die Frage des Sinns treffen, indem sie die Sinnhaf-tigkeit von Sprache enrweder verneinr oder als Verweis auf einen entzo-genen Sinnhorizont interpreuert.12 Sie wiirde folglich einen spezifischen Weg einschlagen, die Frage nach den motivationalen Wurzeln des Zei-chengebrauchs zu beanrworten. Ahnlich wie das germanische Wort „Sinn" besagt der griechische Begriff „Met-hodos" genau dies: den Weg, den man einzuschlagen hat, urn zu einem besrimmten Ziel zu getangen oder ein Problem zu losen.13 Die dekonstrulstive „Methode" entspricht demgegenubet der Forderung, die komplexe Frage nach dem Weg oder Sinn unseres Denkens in der Schwebe zu hsJten,

So paradox wie die daraus resultierende weglose (und damit buch-stablich apoietische) Methode ist das Wissenschaftskonzept der Dekon-strukdon: Sie erprobt methodisch geregelte Verfahren zur Dberschiei-rung methodisch geregelter Problemlosungsscrategien; sie begriindet eine Form von Wissenschaftlichkeit, die den Horizom des dogmatischen Methodenfetischismus der klassischen Moderne transzendiert, ohne eine Entscheidung iiber das Woraufhin oder den Status dieser Oberschreitung zu treffen:

Die Einschreibung eines solchen Verhahnisses witd „wissenschaftlich" sein, das Wort Wissenschaft erfjhrt aber eine radikale Anderung; ohne etwas von seinen eigentlichen Normen zu verlieren, erzictert es allein da-durch, daiJ es in ein Verhaltnis zu einem absotatcn Nicht-Wissen gesetzt wird. [...] Das Nicht-Wissen, das die Wissenschaft selbst exzediert, das Nicht-Wissen, das weiB, wie und wo die Wissenschaft se/lvl zu exzedieten ist, kann wissenschaftlich nicht qualifiziert werden („Wer wird jemals wissen, was es heilJt, nicht zu wissen?" schreibt Bataille in Lt petit), Es wird das kein bestimmtes Nicht-Wissen sein, das wie eine Figur von der Geschichte des Wissens umschticben wird, die der Dialekrik ausgesetzt

•* Vgl, hierfj Derridai grundlegende, seitgleich mit D« Schrifi mi Mt Dsfftnn* erschiene-n« Monographie zu einer „grammatologischen" Wissenschaft (G, v.a. 106-109.147-150). D«crida bezitht sich wiederholt auf diese Arbeit, um sich von der groAcn Er-iShiung vom „Ende der Metaphysik" 2u distanzieren fygl. S 202f, Anm. 39),

13 „The term .method', strictly speaking, .following a way' (from the Greek ,meta', .along', and ,odos', ,way% tefert to the specification of steps which must be taken, in a given order, to achieve a given end." (Caws 1967, 339); zum Methodenbegriff auch: Ritter (1980); zum Begriff des Sinns vgl, Thutnau (1995).

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ist und die das Eingreifea der Dialekrik crmoglichr, sondem der absolute ExzeG jeder ephttmt, jeder Philosophic und aBer Wissenschaft. Nut eine zweifache Fragesttttung veonag dieses einmalige Verhiltnis zu denken; diese doppehe Haloing ist wedet ein „Szientismus" noch eine „Mystik". (SD407)

Nicht anders als der Szientismus der Moderne stiitzt sich die klassische Mystik auf ein methodologisches Dogma: Sie interpretiert die Uber­schreitung der Grenzen des Wissens „dialektisch" als Moment eines sinnotientierten Weges. Wenn dogmatische Votentscheidungen dieses Typs in Klarnmem gesetzt werden, kann das oaturlich jederzeit als eine Vorentscheidung zugunsten einer fiindamentalen Sinnleere missverstan-den werden. Aber damit hatte man die eine Vorentscheidung nur durch eine andere (den Dogmarismus des szientisaschen Typs) ersetzt. VergE-chen damit entwickelt Derrida eine differenziertere Posidon. Der iwissen-schaftiichen Skepsis der Aufklacung verpflicbtet, fordert er, die Frage nach dem Weg (dem Sinn oder der Methode unseres Denkens) in der Schwebe zu halten. Statt die beschriebene Antinomie dezisionistisch zu entscheiden, riickt die Dekonstruktion die Antinomie der Entscheidung selbst in den Brennpunkt phiicsophischen Denkens.

D a s mys t i s che Erbe der Re l ig lonen u n d d a s ant inomische Supplement philosophischer Autonomic

Wie bereits angedeutet ist diese radikalisierte Praktik der Transgression wissenschaftlicher Diskurse trotz ihrer Distanz zur Tradition Negativer Theologie der spiriruellen Praxis mystischer Diskurse verwandt. Vor dem Hintergrund der christlichen Oberlieferung ist man versuchc, sie als einen spatmodernen Wiederganger der mittelalterlichen Kigniitii experimental!; zu deuten. In der Tradiuon Bonaventutas und Thomas von Aquins versteht sich christliche Mysdk allerdings als cognitk Dei expmmentalir. Das experi-mentelle Denken mystischer Diskurse griindet in der kontemplariven Er-fahrung eines unmittelbaren Kontaktes mit der metaphysischen Urwiik-lichkeit Gottes.14 Ganz anders verhalt es sich mit einer experimentellen

14 Vgl. Bonaventuta: In ttrrium librum senttndanum, Opera Omnis 111 (Quaracdu), Florenz 1S87, d. 35 <|- I Corp.; d. 24 dub. 4 u^u sowie 2um gekgenllichen Gebrauch det entsprechenden Tentlinologie bei Thomast Thomas von A^uin: Summa theolo­gian. Edino Lconina, torn. 1V-XI1, Rom 1888-1906,1 q. 43 a 5, ad 2: II-1I <\ 97 a. 2 ad 2; I-II q. 112 a. 5 coip. Zum begriff der cognibo experimcnialis bei Bonaventuia: Grunewald (1932, 84 Aran 185), Der Begriff der „cogniuo eiperimentalis" hebt demenwprecbefld auf den „experimcntalcn" Chataktei mysdscher Erfahrung ab und referim erst in zweiter Linie auf die diskursiv-experimentellen Aapekte des Weges, der zu dieser Erfahrung ftthrt. Vgl, Haas (1974, 73ff.), Ruh (1990, 24ft'.). Unter dem Einfluss des ..linguistic turn" der Philosophic des 20. Jahrhunderts betont die jiingere Mysukforschung zwar den konscirutiven Chatakter dieses Weges und widersteht da-

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Prakrit:, die die Suche nach einem letzten Sinngrund methodisch suspen-diert. Eine solche Philosophie kann uns keinen Zugang zu den Mysterien teligioser Tradkionen erschlieBen. Sie erschlieBt uns aber einen denkeri-schen Freiraum, der das Gedachtnis der metaphysischen Dimension mystischen Denkens zu bewahren erlaubr. — und dies nicht obwohl, son-dern gerade weil sie zu den entsptechenden Traditional Distanz halt.

Niche anders als die Mysdk erforscht die Dekonsotuktion die Gren-zen endlicher Rarionalitat. Sie kann aber nicht mchr unterstellen, an die­ser Grenze einen letzten sinnsriftendeti Grand zu beiuhren. Das hat weitreicheride Konsequenzen fur das Sdbstvcrstandnis dekonstrukriver Diskurse. Denn untet dieset Voraussetzung veriiert der philosophische Diskurs die Moglichkeit, seine eigene Sinnbaftigkeit 2u rechtfertigen. Weil er sich nicht mit schwacheren ,,nachmetapliy5ischeri" Reehtfetti-gungsstrategien zufrieden gibl, schwebt et glekhsam im hiftleeren Raum.

Symptomarisch fur die Aporien, die sich daraus gleichermalien im Verhaltnis zur philosophischen Tradition wie zu mystisch-religiosen Sprachspielen ergeben, 1st der insbesondere von Jiirgen Habermas zu Beginn der 80er Jahre verbreitete Vormtrf, Philosophen wie Foucault und Deitida propagierten einen nietzscheanisierenden Irrationalismus {vgl. Habermas 1985). Bezogen auf Derrida verbindet sich dieser Vor-wurf mit einer ingeniosen religionsphilosophischeii Lesart, die das Prob­lem det Dekonstruktion dadurch zu entsotgen versucht, dass sie Derri-das Werk als Auslaufer einer achtenswerten, aus der Perspective aufge-klarter Vernunftkritik aber vemachlassigbatea partikuliir-rcligjosen Tra­dition interpreoert - der Tradition judischer Mystik. Das derridasche Denken, so Habermas, entspreehe d«m Versuch, unter judischen Vor-zeichen die „neuheidnische(n) Mystik" (Habermas 1985, 217) der hei-deggerschen Ursprungsphilosophie zu restaurieren.

Diese Lesart ist falsch.15 Doch sie beruhrt einen Grundzug der derri-daschen Philosophie: Als eine experimented Praxis des Denkens ist die

mit der logozentrischen Veisuchung, die paradoxale Sprechweise mysuscher Diskurse auf das blolie Ausdrucksmirtel einer vorsprachlichen Erfahrung zu reduzieren. Doch es wiire kaum mit dem Selbstversta'ndrjis der mystischen Tradition vereinbar, dieae ex-perimenteile Dimension von ihrem expcrimcntalen Fundament zu isoiicten - der Im­petus ihrer diskursiv-expeeiineriteUen Ptaxis hangt an einet den Weg mystischen Er-kennens ttagenden gnadenhaften Erfahrungsdimensiori. Vgt. hietzu: Haas (1996, 28-61, 110-188); Haug (1986, 494-508); Certeau (1985,1031ft); Haas (1986, J28-332I so-wie McGinn (1994,11-20).

,s VgL hieizu Derridaj JUplik in Pwtiontn (P 28). Dass Habennas ein sbtcher Lapsus un-teriaufen konnte, erklart skh vetmudich aus der Tatsache, dass er die Dekonscruklion ubet den „Dckonstruktivismus" der amertkanisch#n liteiatuiwissenschafcen kennen lemtc und (zumindest zum damaligen Zeitpunkt) kaum mit den Primaicjucllcn vet-tnut war. Christopher Norris machl in einem Aufsatz fiber Habermas und Derrida

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Dekonstruktion der mystischen Tradition genealogisch verwandt. An­ders als die Mystik kaiui sie sich aber nicht auf einen Jetzten Sinngrund berufen und erscheint infolgedessen zugleich als Variante eines aus den Fugen geratenen neuheidnischen Irrationalismus im Stile der „Nietzsche GmbH"" .

Exemplarisch ffit das - verglichen mit Habermas' Entsorgungsstrate-gie — uogleich subtilere Verhaltnis der Dekonstruktion zu Mystik und Ir­rationalismus ist Derridas Auseinanderseczung mit der judaisierenden Freudinterpretation Yosef Hayim Yeroshalmis, die er einer kleinen Schrift mit dem bemerkenswerten Titel Dim Arebiv perschriebtti anvertraut hat. Denida unternimmt in diesem Text den Versuch, der aporetischen Distanz der Psychoanalyse zur judischen Tradition Gerechdgkeit wider-fahren zu lassen. Im Namen Freuds erhebt er Einsprucb gegen die Ten-denz Yerushalmis, die Psychoanalyse fur eine partikulare Tradition zu veieinnahmen, Freud postum „wieder zu beschneiden und so den Bund zu bestatigen" (AV 75; vgl. 44ff.), Auf dem Spiel steht mit diesem Ein-spruch die klassische Frage nach den Grundlagen wissenschaftlicher Autonomic: „Eine Wissenschaft, eine Philosophie, eine Theorie, ein Theorem in der klasriscben Struktur ihres Begriffs sind oder sollten ^xin-nersfvon dem einzigartigen Archiv ihrer Geschkhte unabhangig sein." (AV 81)

Derrida weifi, dass dieses Postulat auch sein eigenes Wissenschafts-verstandnis beruhrt. Eroblenaatisch fiir seine eigene Position ist die drei-fache Widmung, die er seiner Auseinandersetzung mit Yerusahlmi an-lasslich dnei Reflexion uber ein Widmungsschteiben Sigmund Freuds zuspricht (vgl. AV 44): an den atheisdsehen Juden Yerushalami, an Der-ridas glaubigen judischen Vater und an Derridas Sohne, von denen er an anderer Stelle bekentit, dass sie nicht besehnitten ivurden (Z 233).

In gewisser Weise entspricht die Dekonstruktion dem unmoglichen Versuch, jeder dieset drei Positionen gerecht zu werden - als zielte sie darauf, im Zuge einei Multiplikadon widerstreitendet Bindungen die Au-toritat des Archivs mit seinen eigenen Mirteln zu unrerlaufen. Was fiir Freud gilt, muss in diesem Sinne auch fur Derrida gelten: Es wiirde sei-nem philosophischen Selbstverstandnis widersprechen, in ihm einen postmodemen Widerganger judischer Mystik zu erblicken, wenngleich sein Denken - und das gilt zumal fur den spaten Derrida - mit Nach-diuck damm ringt, dem Gedachtnis seiner judischen Vater Gerechdgkeit

auf dk Iblgenreiclien iezcpnonsgeschichtlichcn V r̂wetlungen aufmerksam, die au» dieser Fehllekniie itsuhkom Vgl Norn! (1992) und DP (engl. 78-82).

16 VgL hierzu Derridas kiinsche Au$etnandef$etzung mit der Philosophic Friedrich Nierzsches in Nietqscbe, OtotaegnfUe (NO).

1*7

widerfahren zu lassen. Das a in Detridas wegweisendem Neologismus diffimnci (vgl. R< 29-52) ist dementsprechend nui mit Vorbehalt in der Nahe des ratselhaften ersten Buchstabens des hebraischen Alphabets an-zusiedeln," Neben dem tonlosen Akpb der hebraischen Spiache erinnert er zugleich an das „Ob/ekt klein tf (Lacan 1978) des atheisdschen Psy-choanalyakers Jacques Lacan.

Wie steht es vor diesem Hintergrund um Habermas' Irrarionalismus-vorwurfp In dem angefiihrten Zitat spricht Derrida vom unaufgebbaren Erbe der Idee wissenschafdicher Autonomic und erinnert damit an die Tradition der Aufklarung. Wenn das Erbe wissenschaftlicher Autonomic bewahrt werden konnen und nicht einem „neuheidnisehen Irrationalis-mus" weichen soil, muss die Dekonstruktion uns zumindest einen supp-lementaren Grenzbegriff von Autonomie zur Verfugung stellen, der den normativen Anspruch dei Aufklarung iiber die Schwelle der „Postmo-derne" zu retten erlaubt. Ist die Dekonstrukdon dazu in der Lage?

Einen Ansatzpunkt zur Beanrwortung dieser Frage bietet Derridas Rezeption der moralphilosophischen Unterscheidung Kants zwischen „Handlungen aus Pflicht" und „pflichtmafligen Handlungen", die den aporetischen Autonomiebegriff der Dekonstruktion exemplarisch zu profilieren etlaubt.19 Bekanntlich wild die bloBe „pflichtm8Bige" Anpas-sung an ein System moralischer Regeln von Kant als ein Fall von Hete-ronomie beschrieben: Die pflichtmafiige Handlung erfolgt aus der Sache SuBerlichen, „pathologischen" Motiven, start sich aus dec aufrichtigen „Achrung furs Gesetz"1' zur Einhaltung moralischer Normen motivieren zu lassen. Die Achtung furs Gesetz kann nur dutch das Gesetz selbst moriviert sein, Um pathologische Motive auszuschalten, fotdert Kant folgerichdg, sich an der reinen Gesetzesfo'rmigkeit einer Handlung zu orientieren. Das Gesetz (der kategorische Imperativ) verpflichtet das Subjekt m-bedingt und ah-selxt, d.h. los-gel6st von alien kontingenten Mo­tiven, die seine Geltung als be-dingt erscheinen lassen. Begreift man das Gesetz als eine starre, von alien Kontingenzen bereinigte Regel, so ist verantwortliches Handeln aber nicht mehr von einem juridischen Kalkiil zu unterscheiden - es verwandelt sich in ein geist- und subjekdoses „Ma-rionettenspiel"20. Wir getaten deshalb in die paradoxe Situadon, die Au-

" Vgl, Habermas (1985, 216) und Valentin (1997,51 f.). 18 Diese Diskunlon steht Im Kontext von Derridat spiteren Arbeicen zu einer „Ethik

der Gabe" und seiner Auseinandersetrung mic Walter Benjamin, vgl. GK, PA, aowie TG.

» Vgl. Kant, GMS (B/A 8-16), sonde Kant, KrV (A 144f); dazu: GK 34f. und PA. B Kant aeheint die aporctischen Konsequenzen einet ubenogenen Regdkonfotmitit

geahnt 2u haben. So fuhlt er eich gegen Endc der Dialcktik der Kritrk dirpraktiitben

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tonomie einet Handlung nur unter der Minimalvoraussetzung garaorie-ren zu konnen, dass sie nicht auf einen Akt blotter Gesetzeskonfonnitat reduziert werden kann. Nur eine Abweichung von der Logik des ratio-nalen Kalkuls kann die unableitbare Autonomie des Subjekts garandercn. Kants Forderung, sich bei der moralisehen Beut;<alung von Handlungen am Vorbild des Naturgesetzes zu orientieren,21 witd deshalb von Derrick dutch die gegenlaufige Forderung erganzt, jede Entschcidung, die sich auf die Werte von Veranfwortung oder Autonomie beruft, der „Ptobe der Anrinomie" (KAP 53) zu unterziehen: Nui wenn ihre Moglichkeit nicht als gesichert gelten und aus keimr Rqpf erschlossen werden kann, bleibt der Moglichkeitsraum von Autonomie gewahtt - keine Au/a-no-mie ohne y4*»ir-nomie.

Jenseits des moralphilosophischen Entdeckungszusammenhangs lie-fert uns diese „Probe der Anrinomie" ein suppkmentares Kriwrium zur Beanrwortung der Frage nach dem Autonomiestarus wissenschafrlichel• Diskurse. Decrida macht darauf anlasslich seiner Auseinandersetzung mit dem Aufklarungsprogramm Kants, der bereits angeiissenen Diskussion um das Fieudsche Wissenschaftskonzept sowie in seinem unlaogst et-schienenen, dem Zusammenhang von Vernunft und Demokrarie ge-widmeten Buch SdurJktx aufmerksam.2*

Derridas aporetische Einsichten in die konsrirurive Unvollstandigkeit radonaler Begrundungs- oder Rechtferrigungsscrategien wurden sich in der Tat dem Verdacht des Irrationalismus aussetzen, wiren sic nur dar-auf aus, die Fragwitrdigkeit des Autonomieanspruchs moderncr Wissen-schaften bloffzustellen. Doch sie entdecken in der Fragilitar dieses An-spruchs zugleich eine Moglichkeitsbedingung von Autonomie: Das Scheitern des universalen Begrundungspostulats der Aufklarung wird zum rreibenden Motiv einer grenzwissenschartlichen Veniunfckriuk, die das Erbe der Aufklarung gerade dort bewabxt, wo sie sich ihren Aporien und Antinomien stellt. Die derridasche „Probe dei Anrinomie" erweist sich damit als eine Art ginqrissenuhaftlubes Supplantnr, Sie markien den neuralgischen Punkt, an den man unablassig zuruckkehren muss, wenn die Moglichkeit radikaler Vemunftautonomie nicht gefahrdet und ver-

\'en>nnft diru genotigt. gleichsam im Gegen:ug ai seinen rigiden Ausfuhtungen abet die Achnmg des Gcserees die Bedeutung der subjektiven Gesirmung 2u wuidjgen. Ohne dieae aubjekdve Komponence wurde das Handeln „in einen blolien Mechanis-mus verwandelt werden, wo, wle im Mationettenspiel, alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen aein wurde." (Kane, KpV, A 265).

=1 Vgl. Kant, KpV (A 122t). a Vgl. neben der bereits angefiihrten Schrift liber Freud: WID 1?4ff, PK 193ff. SSP,

sowie mit Blick auf das kantische Autklarungsprojekt; GW und S.

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hindert werden soil, dass man sich in del Endlichkeit regionaler Rationa-litaten „einrichtet" (vgl. WID 176).

Derrida pladiert demzufolge nicht fur ein gesichertes Vernunftkon-zept; er ergreift aber ebenso wenig Partei fur eine Form von Irrationa-lismus. Die Entscheidung iiber die Moglichkeit oder Unmbglichkeit auf-geklarter Vernunft wird vielmehr bewusst in der Schwebe gehalten — nicht aus Indifferenz oder GleichgiHtigkeit, soridem weil die Vernunft einer (un-) mogliche „Ankunft" vorbehalren bleibt, die (als ereignishafte „Gabe" angesiedelt „zwischen dem Bedingten und dem Unbedingtem, dem Kalkiil und dem UnkalkuEerbaren" (S 205)a) nur als nicbt-aati^ipitr-batv Zu-kunft aimsier t verdea kann.

Aus der Petspekuve dei phiiosophischen Tradition betrachtet er-scheint diese ambivalence Hattung als unbefriedigend. Wenn mi( formal nachvollziehbaren Argumenten dafur pladiert wird, die Forderung nach einem begrifflich ausweisbaren Vernunftkonzept in der Schwebe zu bal-ten: Btbigt die Dckonsttuktion dann nicht spatestens an diesem Punkt doch ein begrifflich klar urnschriebenes Vernunftkonzept ins Spiel, dass sich im klassischen Sinne des Wones „kriosch" zur Disfcussion stellen lasst? Warum zieht sich Deirida selbsi in seinem jungsten Appell, „die Ehre der Vernunft zu tctteo" (S 215), auf idiomatisch-mehrdeutige For-mulicrungcn zuruck, die „das Vernunftige" nur in unbesrimmren An-deutungen beruhren?

Strukturanalogien z u m metaphys ischen Vernunftkonzept d e s Niko laus v o n Kues

Sucht man diese meikwurdige Zuruckhaltung zu verstehen, so lohnt es sich, Derridas Position mit einer Position der mysdschen Tradidon zu vetglcichcn, \relche die Aporien, die sich beim Oberschreiten der Gren-zen rational gesicherten Erkennens einsteilen, unvermictelt als Kennzei-cben ones radikalisierten Vernunftkonzepts deutet: der Posidon des Ni­kolaus von Kues. In seiner Anfang der 40er Jahre des 15 Jahrhunderts entstandenen Schrift D$ mmecturii, die sich um eine kridsche Verde lung von Gtundgedanken seines crsten phiiosophischen Hauptweiks Dt thcta igwnmtia bemiiht, uncerscheidet Cusanus verschiedene Erkenntniskrafte; darunter an hervorgehobener Stelle die Krafte des Verstandes (ratio) und

25 VgL: „Es geht datum, die Vernunft zu denken, das Kommende ihret Zukunft und ih-res Werdens als Erfahrung dessen tnx (und dessen, rfr) kommr oder ankommr - of-fenkundjg als anderes oder andercr, als Ausnahme oder absolute Singularkat einet Andersheit, die von der Setbstheit einei souvcranen Macht und eines kalkuticrbaren Wissens nicht wderangeeignetwejden kann." (S 198)

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der Vernunft (isteliictxi}.1* Det Verstand erscheinc als ein diskursives Ver-mogen, das sich in begrifflichen Entgegensetzungen bewegt. Das Niveau der Vernunft hingegen wird erst in dem Augenblick erreicht, wo man das Widerspruchsprinzip aufier Kraft setzt, um sich einem Punkt jenseits der begrifflichen Entgegensetzungen des Verstandes zu nahern: dem Zusam-menfall der Gegensatze, der cvinciAentia oppositonim, die in seiner spateren Schrift Dt Ksfom Dei mit der Mauer des Paradieses verglichen wird, jen­seits dcici sich das Absolute verbitgt.25

Insofem dieses kotnzidentale Vernunftkonzept darauf zitlt, das Den-ken in distinkren Altemadven zu uberschreiten, ist man versucht, die Dekonstniktion als einen nachkandschen Widerganger des cusaoischen Koinziderrzdenkens zu interprederen.2* Wenn sich bei Cusanus Parado-xien im Sinne des Koinzidenzprinzips einsteilen, sobald man nach den teczten Bedingungen endlichen Seins fragt, brechen strukturhomologe Koinzidenzen bei Derrida auf, sobald man auf die Bedingungen der Mdgfichkeit endlichen Erkennens und Handehvs teflekden. Wo Cusanus auf dem Weg zum Absoluten das Unmogliche mit dem Nodvendigen koinzidieren lasst {impambilitas coiriadit cum mtejsitate)^> fuhrt das derrida-sche Autonomiekonzept zu einer Koinzidenz der apriorisch-notwendi-gen Bedingungen der Moglichkeit mit den Bedingungen der Unmoglich-keit endlicher Subickdvitar. Nach Derrida lassen sich derartige, ins Transzendentalphilosophische gewendete Koinzidenzen geradezu als ein Leitmouv dekonsttuktiven Denkens interpretieren: Mit Nachdruck erin-nern seine Schriften an die „Notwendigkeit, die transzendentale Bedin-gung der Moglichkeit als Funktion einer Unmoglichkeit zu interpretie­ren." (DP engL 82)

Anders als bei Derrida fuhrt das Denken paradoxaler Koinzidenzen bei Cusanus aber nicht ins Ungewisse. Wo Derrida die Worte Batailtes

* VgL Nicolai de Cusa: De comecotris I, in: h III, c. 6-10. Zum Vemuoftbegriff des Cu­sanus und dem dunit verbundencn bieracchisch konzipierten Verhaltnis der Krkennt-niskrarte des Mcnsch<-n: Kremer {1998 und 2002): Bormann (197S).

s VgL rJicolai de Cusa: De visione Dei, h VI, c. 9-10 u i ; da:u: Haas (1996b); Haubst (1989); Haug (1989); Klaus (1965).

u Dennis McCort (2001) sieht in diescr koinzidcnralen Denkweise einen Grundzug de-konsrruknren Denkens und scblicBc daraus auf eine uncerschwellige Kondnuitat zwi-schen religiosen, iistherischen und phiiosophischen Diskutsen, die vom Buddhismus iiber den Neuphtcnismus, die Ttadition christlichet Mystik, die Romantik und den deutschen Idealismus bis hin zu Nietzsche und der Dekonstruktion reicht. McCofts literarurwissenschafdichen Vergleiche tendieren allerdlngs dazu, die Differenzen zwi-schen diesen hererogenen SprachspieLen zugunsten einer mysrifizierend-harmonisie-renden Hcrvorhebung ihrer Gemeinsamkeiten auszublenden.

" Nicolai de Cusa: De visione Dei, h. VI, c. 9, n. 37,7; vgl. hwrzu: Flaich (1973, 194-204).

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zitiert - „Wer wird jemals wissen, was es heiBt, nicht zu wissen?" (SD 407) — rechnet Cusanus mit einer qualifiziercen Form des Nichtwissens, Obwohl der Oberschritt ins Parados von beiden im Wissen um das Nichtwissen vollzogen wird, hat er nut bei Cusanus einen klax umschrie-benen Stellenwert: Er erscheint als unverwechselbares Kennzeichen des hochsten aller geistigen Vermogen, der menschlichen Vernunft. Auch Derrida spekuliert auf ein Denken, das „den fragilen Unterschied zwi-schen dem Ratiotmien [rationnel] und dem VertittnfHpn [raisonnable] zu ehren versteht" (S 215). Doch diese MutmaiSung artikuliert sich im Un-bestimmten einer idiomauschen Sprechweise, die jeder Versuchung wi-dersteht, das Veinunftige als eine petformativ aktualisierbare Oder konstativ gesichene Grofie erscheinen zu lassen.

Die Differenz dieser skeptischen zur metaphysischen Position des Cusaners lasst sich an dessen Konzepdon „wissenden Nichtwissens" ablesen, die die Vemunu mit dem Punkt des Zusammenfalls von Wissen und Nichcwissen kouozicheren lasst. Cusanus hat fur diese Unterstellung (aus vormoderner Perspektive betrachtet) rrifrige Argumente. Aufgrund det gottlichen Gnade ist alios im Menschen darauf ausgerichtet, das Wahre zu erkennen. Das bcgriffhch-diskursive Etkennen kann abet nui zu relanVen Aussagen gelangen. Der reguk doclat ignorantim entsprechend, die von Cusanus - ebenso wie das Postulat unendlichen Erkenntnisstre-bcns - bcteits im erstcn Kapitel seines ersten Hauptwerks eingefiihrt wird, ist das diskursive Etkennen notwendig unprazise.2* Der Verstand kann mehr oder weniger Wahres erkennen; ei kann - wie Cusanus in De atmectitm vertiefend ausfuhrt — zu Mutmajiungn iiber die Wahrheit gelan­gen, erreicht aber niemals ein prazises Wissen. Wer dennoch daran test-halt, nach dem durch diskursive Verstandesrationalitat verfehlten Wah-ren zu tragen, entdeckt folgendes Paradox: Liefie es sich mit den Mitteln des Veistandes erfassen, so handelce es sich dabei nicht wirklich um das Gesuchte; denn jeder Begriff, der es de-finierte, lieBe es emeut zu einer endlich-relativen Grofie gerinnen, die von einer anderen, ihr entgegenge-setzten Grofie abgegrenzt weiden kann. Er verfehlte also gen?" das, was es als un-endlich und damit ab-solut erscheinen lasst. Soil niche von vornherein ausgeschlossen sein, zu einem Wissen um das Wahre zu ge­langen, bleibt folglich nut ein einziger Weg: Das Erkennen muss den Modus begrifflkh-diskursiven Erkennens iiberschreiten.

23 Vg|. Mkohi de Cusa: De docra ignaranria, h ] , c . 1. Der Begriff der rtgula tht/at igm-raatiae wild von Cusanus als Bezcichmmg fur da* V«fahten d « Erkerttwn* dutch Vetglefchen expHzit rast in seiner Schrift De xt/alipttt sfyitMiat gebraucht (h XII, c. 26 n.79,1).

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Das cusanische Werk gleicht einer Spiralbewegung, die die hier sche-matisch veteinfachte Gtundoperation seiner philosophischen Argumen­tation aus unterschiedlichsten Frageperspektiven einzukreisen versuchc, um seine Leser immer wieder zu der Einsicht zu fuhren, dass das Abso­lute nur im Modus der docta ignorantia erkannt werden kann: in der Ober-schreitung des Zusammenfalls der Gegensatze,2' d.h. in einer Bewegung, die das Operieren mit begrifflichen Entgegensetzungen an seine Gren-zen stofien und einem wissenden Nichrwissen weichen lasst. Aber was rechtfertigt die paradoxe Uberzeugung, in der fjberschreitung diskursiver Rationalitat sicher zu einer hoheren Erkenntnis, einem wissenden Nicht­wissen gelangen zu konnen? Das cusanische Argument zur Rechtferti-gung dieser Obetzeugung wird von Detrida in seinem ebenfalls in Die Schrift und die Different^ abgedruckten Aufsatz Gewalt und Metapbysik aus-fiihrlich zitiert. Es steht unter dem Einfluss des platonischen Pbaidon und ist ttanszendentalphilosophischen Argumentationsstrategien verwandt.30

Jede Frage setzt ein vorbegriffliches Wissen um das Gefragte voraus. Sie hat zwar keinen klaren Begriff von dem, wonach sie fragt (sonst wiitde sie nicht nach dem Gefragten suchen); wiisste sie aber uberhaupt nichts von dem, wonach sie fragt, so konnte sie nicht einmal danach su-chen. Fiir Cusanus enthklt aus diesem Grund jede Frage bereits implizit die Antwort auf das Gesuchte: ,Jede Frage nach Gott setzt das Erfragte voraus, und zu antworten isc eben, was in der Frage nach Gott die Frage selbst votaussetzt."31

Wir vetfiigen also bereits iibet eine Kenntnis der absoluten Wahrheit, sobald wir nach der Wahrheit fragen oder unsere endlichen Antworten auf das menschliche Wahrheitsstteben als unvollkommen, relativierbar und damit frag-wurdig erfahren. Weil das, wonach die Vernunft irn Ein-gestandnis ihrer eigenen Endlichkeit und Relativitat fragend sucht, eine nicht-relativierbare und damit absolute GroBe ist, weiS sie aufierdem, dass es nur jenseits der relativen, begrifflichen Entgegensetzungen des Verstandes gefunden werden kann. Wenn uberhaupt, kann sich das Ab­solute nur am Punkt des Zusammenfalls der Gegensatze offenbaren. Das Absolute muss aber am Punkt des Zusammenfalls der Gegensatze offen-bar werden — ware es anders, so gdbe es kein Wissen vom Absoluten und

M Zum Begriff des „Zusammenfalls det Gegensatze" vgl. Stalljnaeh (1989J. w £um Einfluss des platonischen Phaidon: Kremer (1993,167-173). 31 Nicolai de Cusa: De sapientia TI, h V, a. 29, 23-25; die Grundlinien dieser Argumen­

tation warden bereits in De comtctnm entwickelt; vgl. De coni. I, h III, c. 5-7; iihnlich: De principio, h X 2b, n. 26-29; De theol. compl., h X, c. 4; De li non aliud, h XIII, c. 3; De apice theotiae, h XII, n. 5, n. 15, dazu: Alvarez-Goniei: (1965); Colotner (1975); Haubst (1975); Kremer (1993),

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es wSre nicht einmal moglich, nach seiner Wirklichkeit fragend zu suchen oder unsere endlichen Antworten auf das Streben nach Wahrheit als un-voDkommen und fragwurdig zu erfahren.

Aus dieser Perspekrive ist die Verdunklung, die eintritt, sobald wir die begrifflichen Enrgegensetzungen der Ratio und das fur unset rationales Erkennen konsatutive Widerspruchsprinzip uberschreiten, der Blendung des Auges beim Blick in die Sonne vergleichbat, die in Platons Sonnen-gleichnis den Aufstteg zur Idee des Guten kennzeichnet.52 Das Dunkel des an der Matter der Koinzidenz eintretenden Nichtwissens erschcint als Ausdruck der hochsten Form von Helligkdt.M ,J e tiefer es [scil. das Auge, JoH] also die Dunkelheit erkennt, in desto groGerer Wahrheit er-reicht es in der Dunkelheit das unsichtbate Licht."34

Diese Konzeption „wissenden Niehtwissens" bleibt allerdings an eine metaphysische Votaussetzung gebundetv. Sie ist nur in dem MaBe plausi.-bel, wie das Nichtwissen als Antwort auf eine unabweisbare Frage ex-scheint; und sie stout an ihre Grenzen, wenn das tragende Staunen uber das Ratsel der Welt seine Selbsrverstandlichkeit vediert. „Man hort nur die Fragen, auf welche man im Stande ist, eine Antwort zu finden" -konstadert 400 Jahre nach Nikolaus von Kues Friedrich Nietzsche in • -nem Aphorismus der FriHicbea Wmmubcfi^ Wenn der Glaube an einen letzten Sinngrund verblasst, ist es nur cine Frage der Zeit, bis auch die Frjgt nach letzten Griinden in eine Krise gerat. Die derridasche „Merho-de", die Frage nach dem Sinn von Zeiehen in KJammern zu serzen, ent-spricht damit einer prazisen Umkehrung der cusanischen Argumentati­on. Wahrend Cusanus von der Evidenz det Frage nach dem Vollkom-menen und Wahren auf die Evidenz einer Antwort schliefit, schlidit die aporetische Methode der Dekonsuukrion gltichsam von der modcmcn Krise metaphysischer Antworten auf eine Krise der diesen Antworten kotrespondierenden (Sinn-) Frage.

Die „methodische" Grundhaltung d « Dekonstruktion lasst sich vor diesem Hintergrund als Reaktion auf eine fundamental Sinnknse deu ten: Weil mit der Existenz des Absoluten auch die Frage nach Sinn und Wahrheit zweifelhaft geworden ist, ist es wissenschaftlich konsequent,

H VgLPbtoa,Politeia,507b-S09b. w Zui Unskhcbarkeit des Licht* und dec „allerheiligsicn Dunkeghek" des Absohiien:

Nicolai de Cusa: Dt li nan aliud, h XJIT, e. 3 p- 7,1-12 u. c 11; sowie De viskrae Dei, h VI, c, 1 J; dazu: Beierwaltes (1«8).

M Qtunto tffliir sat eatignm jrramrirr, tante teriuj attiwgl Mr tahgm omubitem faon. Nicolai de Cusa: De visione Dei, h VI. e. 6 ci. 21,20f.

» Niettsche, KSA 3, 505 (Aph. 196). FouMult (1975,67f.) knfipft an dieses ZitM in sei­ner Aichaologie des Wissero an.

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sich in Sinn- und Wahrheitsfragen einen Habitus strengster Enthaltsam-keit aufcueriegen, um mit dekonsrruktiven Mitteln den Bruch zu erfor-schen, der deraitige Fragen unter den Bedingungen der Moderae ihrer fraglosen Plausibilitat beraubte. Die Philosophie darf diese methodisch legitimierte Enthaltsamkeit dann abet nicht unvermittelt als eine hbhere Form von Vernunft interpretieren. Die Moglichkeit einer „hoheren", im cusanischen Sinne hyperrationalen Form von Vernunft kann nach dem „Tode Gottes" nicht mehr als gesichert gelten. Die Philosophie muss sich vielmehr der Moglichkeit ihres eigenen Endes stellen. Selbst ihr Po­tential, sich als Wegbereiterin einer zukttnfngen Vernunft zu gerieren, muss mit wachsender Distanz zu ihren metaphysischen Wurzeln schwin-den.36 Verunsichert uber die modvationalen Ressourcen philosophischen Fragens entdeckt sie ihre eigene Sterblichkeit „[0]b das Denken jenseits von diesem Tod oder dieser Sterblichkeit der Philosophie und vielleicht sogar dank ihrer eine Zukunft habe [...]; und noch weitaus sonderbarer, ob die Zukunft selbst so mit eine Zukunft habe, das sind Fragen, die nicht im Bereich des Beanrwortbaren liegen. Es sind dies Probleme, die ihrer Herkunft nach und far dieses eine Mai wenigstens der Philosophie als Probleme gestellt werden, die sie nicht losen kann." (SD 112)

Die Reduplizierung det Sinnfrage als Ausgangspunkt einer Radikallsierung des Koinzidenzbegriffs

Historisch ware es irrefuhrend, die Krise, auf die das derridasche Denken antwortet, unvermittelt als eine religiose Sinnktise zu deuten. Die Dekon-struktion antwortet vielmehr auf die von Husscrl als „Krisis der europai-schen Wissenschaften" (Husserl 1954) umschrkbene Problemkonstella-tjon und das Scheitern des husserlschen Programms, diese Sinnknse durch eine Wiedeibelebung der Praxis philosophischer Urteilsenthaltung zu „bewalugen". Paradigmadsch fiir den daraus resultierenden Epochen-umbruch sind Derridas friihe Husserlstudien. Derrida versucht dort, die Aporien fieizulegen, in die sich Husserls Ansatz verstriekt, die Praxis der epotbe in den Dienst einer Restauration des abendliindischen und insbe-sondere cartesianischen Wissenschaftsideals zu stellen.

Als ein exemplarisches Schwellenereignis erweist sich das Beispiel der husserlschen Phanomenologie aber noch in einer weiteren Hinsicht. Husserl hatte die Praxis der efux/re in gewisser Weise instrumentalisiect Aus der spirituellen Praxis antiker Skepsis hervorgegangen, sollte sie da­rn beitragen, die Philosophie emeut in den Rang einer „strengen Wisseo-

M Vgl. liierzu Derfldas Auseioanderseaung mir dem eschatologischen Vetnunftkonzept von Karl Mine in Marx'GMpiftrftrQAG).

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schaft"37 zu erheben. Die leligionsphilosophischen Implikarionen dieses Vorgangs treten erst mit dem Scheitern dieses Programms zutage. Denn die husserlsche Krise wird in diesem Augenblick zum Ausgangspunkt ei­ner philosophise hen Bewegung, die die Praxis der epochs von ihrer szien-tistischen Verengung befieit und damit Perspektiven ersehlieBt, an altere, mystische oder weisheitliche Praktiken der Utteilsenthalcung wieder an-zuknupfen. Exemplarisch hierfur sind Michel Foucaults spate Arbeiten zur antiken Lebensktmst, die hinsichtlich Slues problemdiagnostischen Ausgangspunkces mit dem defridaschen Denken konvergieren, aber auch Derridas spate Studien zur Freundschaft oder seine Afbeken zur Mystik und Negadven Ttieologie.33

Der an Kant und Husserl orientierte wissenschaftsgeschichtliche Hin-tergrund der derridaschen epotbe verhindert unterdessen, unter Verweis auf die Ktisis der abendlimdischen Wissenschaften ungebrochen zu den vorneuzeitUchen Sprachspielen religids-weisheitlkher Traditionen zu-ruckzukehren.39 Derridas ambivalente Radikalisierung der husserlschen epochs entspricht vielmehr dem Versuch, das programmatische Erbe einer streng wissenschaftlichen Philosophie unter aporetischen Vorzeichen zu bewahren,40 Es gibt unter den philosophischen Diskursen der Wende zum 21, Jahrbundert wohl keincn Diskurs, der in seinem Anspruch auf wissenschaftliche Strenge radikaler veriahrt als der „Hyperrationalismus" der Dekonstruktion — „die Dekonstruksion, wenn es so erwas gibt, bleibt in meinen Augen ein unbedingter Rationalismus" (S 191), unter-streicht Derrida in seiner bereiis erwahnten jiingsten Publikation.41

37 So der Titei der 1910/11 erschienenen programmatischen Abhandhing (Husserl 1984). Krltisch dazu: Stuim (2002,357-391).

» VgL PF, GF, WNS, AN. 39 In diesem Punkt unterscheidet sich die dekonstruktive Radikalisierung der husserl­

schen tpcebe von den bereits angefuhrten Studien Hans Peter Sturms, die - obwohl unabhangig von Derrida und Foucault entstanden - hinsichdich ihrer Problemdiagno-se mit der Husserlkritik des friihen Derrida konvergieren. Stuttra Studien knupfen an Traditionen anriker Lebenskunst, der akademischen und pyrthomschen Skepsis sowie an die kontemplativ-asketisthen und rnystischen Bewegungen von Antike und Mittel-altti an und berucksichrigen neben der abendlandischen Mystik auch verwandte Stromungen im Kontext indischer Weisheitslehren. Ahnlich wie Foucault in seineo spaten Publikationen zu einet „Asthetik der Existenz" stehen sie dabei Pierre Hadots Arbeiten zur anriken „Philosophie als LebensfomY' nahe.

** Vgl. hierzu Derridas Wiederaufnahme seiner fruhen Auseinandersetzung mit Husserl in den Sdwken (S 167-189).

41 Exemplarisch fur dieses im srrengen Sin tie wissertschaftliche Selbstverstandnis Derri­das ist, neben den bereits erwahnten, im Umfeld von Dt h grammatokgk entstanden Arbeiten der 60er Jahte, seine Auseinandersetzung mit dem S2ienristischeri Wissen-schaftskonzept John Searls, die (obwo-hl derj „wilden 70er-Jihren" etitsprungen) den Anspruch auf anaiytische Strenge nicht unter- sondern uberbietet, Der rhetorische

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Wiirde die Dekonstruktion lediglich auf cine InfmgesteHung der Moglichkeit abzielen, in phitosophischer Perspektive von letzten Sinn-griinden zu sprechen, so ware sie nicht von einer mystagogtschen Praxis zu unterscheiden, die dazu anleitet, den (Ab-)Grund unseres Denkens im Scheirern aller Begruodungsversuche zu affirmieren. Derrida weiB, dass eine derarrige (gewollt oder ungewoUt) onto-theolo^sche Wiederaneig-nung der dekonsrruk riven Verneinungen und Paradoxien jedeizeit mdg-lich ist und sttenggenommen - wie er in Wk ftitht ipmhtn eingesteht - so-gar „unvermeidkchy solange man eben genau im Element der onto-theolo-^schen Logik und der Otito-theotogischen Grammatik spricht" (WNS 19). Doch die Aporien der Dekonstruktion sind nicht das Resultat einer radikalisiert-mystagogischen Problemstellung im Stile der anglo-amerika-nischen ^Radical Orthodoxy",*2 Die „grammatologischen" Studien Der­ridas weichen von einer sinn- und zielgerichteten, transitiven {und damit per definitionem „onto-theologischen") Gramrnatik dieses Typs in ei-nem 2war marginalen, dafiir aber um so irtiderenderen Punkt ab: Sie wis-sen um die Fragilitat abgriindiger Fragen und ufiterbrechen den syntakti-schen Parcours in den jjAbgrund" durch eine reflexive Vecdopplung der Frage. Nicht die In-Frage-Stellung letzter Grunde, sondern die Infrage-steilung der Moglichkeit philosophischen Fragens steht im Brennpunkt ihrer Autmerksamkeir. Ahnbch wie Michel Foucault problematisiert die Dekonstruktion die Dialekcik von Frage und Antwort und misstraut Sprachspieleo, die sich unumwunden zutraoen* ^letzte Fragen" zu stel-len.«

Gestus des derridischen Sprachapids, d*c insbesondere den etsten Teil dieser Arbeit dominiert, versperrt alleidinga (wenngleich in der Sache begriindet) den Zugang zu seiner Argumentation. Vgl. LI; zum Begriff des „Hypexrationalismus" S 203, Anm. 39.

42 Vgl. hierzu den programmadschen Sammelband Milbank/Pickstock/Ward {1999), so­wie exemplarisch in Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin: Milbank/Pickstock (2001). Zur rheologischen Kiitik dieses Ansatzes: Hemming (2000). In welcher Weise die postmodern* Reception von phitasophischen Werk«n der Bpoche der tpwbt zu einer sysremauschen Verkennung ihrei Dlslcurae fiihrt, la'sst sich exemplarisch an der insbe-sondere von Catherine PLckstock vorgetragenen „radikal orthodoxen" Kritik dieser Epoche studieren. VgL Pickatock (1998, 3-46,101-118); Milbank/Pickstock (2001, 90^ 92): Indem sie die tpocbedti Sinns mit einer Votenrschcidung uber die Sinntragc ver-wechselt, damofusiert sie ein Konsiruki, das den Texten Denidas DUE mit Muhe zu enmehmen ist Das istinsofcrn bedauedkh, lis das Programm der ..xadikaJen Ortho-dosie", die inspirierende Fremditugkeit der pKiiaipaaven, pa-skoaschen Onrologie von Anrike und Mittdalter wieder frei zu legen, durcluMs Perspcktiven crschlieBt, die geisrige Stagnation der Po-stmodeme zu ubenvinden^ ohne hirnet das Rcflexkmsni-veauder Epadte der epoch* zumckziiii'xlltft. Eovas behursarocF sind in dieset Hin^cht die Arbeiten von Graham Ward (2000 und 1997).

41 Zur Vexwandtschafr der dekonstruktiven Redupliiitrung det Fcage mit det foucault-schen tfoebedes Sinus vgL Foucaults Tfoafntmphttotiphkaar. „Was ist die Antwort auf

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Die im doppelten Slant eptttkak Zuriickhaltung der Dekonstruktion folgt damit jener sinnkritischen Denkbewegung, die Derrida (in betont kantischer Diktion) anlasslich seines bereics angefuhtten friihen Essays Ge&ait undMetaphysik als „Gemeinschaft der Frage" umschrieben hat:

Gemeinschaft der Frage atso, in dieser leicht zerbrechlichen Instanz, in der die Frage noch nicht so weit bestimmt ist, daft sich unter der Maske der Frage die Hypokrisie einer Anrwon schon bereithah, und daft ihre Stimme sich schon 2um Betrug in der Syntax der Frage selbst hat ver-formen lassen. Eine Gemeinschaft der Entscheidung, der Initiative, der absoluten Anfanglichkeit, die abet bedroht ist; in der die Frage noch nicht die Sprache fand, die sie zu sucben besehlossen, und in der sic sich noch nicht um ihre eigene Moglichkeit versichert hat. Gemeinsamkett der Frage uber die Moglichkeit der Frage. Das ist wenig - fast gar nichts - hier aber suchen und versammeln sich heute eine nicht in Angriff nehmbare Wurde und Pflicht der Entscheidung Eine nicht in Angriff nehmbare Verantworrung. (SD 122)44

Wer unter Berufung auf die Krisis der abendlatidischen Wissenschaften ungebrochen zur mystischen Affirmation eines souveranen Herrn der Geschichte zuriickkehren wolite, konnte sich nicht auf die philosophi-sche Bewegung bemfen, die in diesem Zitat um Sprache ringr. Sie erlaubt aber ebenso wenig, metaphysische Diskurse aus dem Ringen um die Verantwortung philosophischen Ftagens auszuschlielten. In dem MaBe, wie Strategien, den underinierten Platz der Vernunft dutch „nachmeta-physische" Rationalitatskonzepte zu besetzen, als problematisch erschei-nen, kommen auch metaphysische Diskurse im Stile der cusanischen Mystik als emstzunehmende Gesprachspartner im Streit um die Autori-tat philosophischet Arguments in Betracht. Als Erben einer Tradition, die seit den Vorsokratikem die Grenzen endlichen Erkennens erkundet, um der Andersheit des Ungedachten Raum zu gewahren, stehen diese Diskurse der Dekonstruktion naher als jede andere philosophische Tra-

die Frage? Das Problem. Wie lose man das Problem? Iudem man die Frage verscbiebt. Das Problem entzieht sich der Logik des ausge$chlossenen Dritten [...], Start dialek-risch 2u fragen und zu anrworten, gilt es problematisch zu denken." (Foucault 1977, 44)

44 Die Infragestellung metaphysischen Fragens kennseichmt auch Jean-Luc Marions (1994 und 1996) „Dekonstruktion" der Metaphysik. Desungeachret ist die marionsche „Heterologie" ebenso wenig wie die in Gtmiti und Metapbysik kririsierre levinassche Heterologie der von Derrida als „ Gemeinschaft der Ftage" umscbriebenen dekon-struktiven Bewegung zuzurechnen. Unter dem Gesichtspunkt der von Derrida und FoucauU aufg«worfenen Probleniatik betrachtet entziehen sich heterologische Dis­kurse im Stile von Levinas und Marion vielmehr der Verantworrung fur die Sprache ihres Denkens und riskieren damit, zu einem „infimtisdschen Dogmausmus prakanti-schen Stils zuriickzukehren" (SD 198). Zum kritischen Vergleich dec Diskurse von Derrida und Marion: Vties (1999,40-95).

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didou. Angesichts der dekonstruktiven Reduptizierung dec Sinn frage ha-ben sie gleichwohl mit beunruhigenden Irtitationeri zu rechnen.

Fur die metaphysische Tradition hatte das unendlich Andere stets den Charakter einer hyperessenriellen Fuller Es markierte den Fluchtpunkt ei­nes unendftchen Strebens, das Telos einer Sehnsucht nach Vollendung. Nikolaus von Kues schlie0r aus diesem Grund die Moglichkeit einer ruckhahlosen Zuspitzung des mystischen Paradoxes aus: die Moglichkeit etwa einer Koinzidenz von Tod und Leben oder eines Ineinsfalls von Gut und Bdse wird von ihm dezddiert zutuckgewiesen.45 Selbst wenn die Negative Thcologie Gott als ein Nichts bejaht, ist diese Bejahung stets Teil ciner syntaktischen Aufstiegsbewegung, die das Nichts als ein Mehi an Sein, die Verneinung des Seins als eine vollkommenere Gestalt des Lebens aufscheinen lasst: „Wenn man sagt, das Nicht-Seiende gehe dem Seienden voraus, dann ist — nach Platon — dieses Nicht'Seiende gewiss besser als das Seiende und ebenso die Vemeinung, die der Affirmation vorausgeht. Folglich geht sie voraus, wcil sie besser ist- Das Nicht-Gute ist nicht besser als das Gute. Aus diesem Grunde geht ihm also das Gute voran und ist nur Gott das Gute, da es nicht Bessexes gibt als das Gute-"4*

Auf den eisten Blick steht dieses Argument im Widersptuch zum cu­sanischen Koinzidcnzgedanken, da es erneut mit entgegengesetzten se-manrischen Bestimmungen operiett und fur Got! tint dieser Bestimmun-gen (das Leben,. das Gute) privilegjerr. Doch das entscheidende Argu­ment des Cusaners ist nicht semantischcr, sonde rn (modem gesprochen) sprachpragmatischer Natur. Ware das Nichts nicht in einem eminenten Sinne besser als das Seiende, so gabe es keln Mouvt nach seiner Er-kenntnis zu srreben bzw. im Streben nach Erkenntnis des Absoluten den Koinzidenzgedanken zu fassen. Das Telos eines Strebens ist apriori gut. Das Nichts ist folglich nicht der Tod Es ist besser als das Leben.

Wenn diese sprachpragmatische Evident nkht mehr greifc, weil die Krise phttosophischen Fragens dazu zwingt, das Motiv unbedingten Er-kenntnisstrebens in Klammexn zu sctzen, kann das> was in Cusanus* Au-gen noch als absurd erschienen w^re, nicht langer ausgeschlossen wer-den. Das Widersinnige wird denkbar — nicht aus Freude an absurden Ge-danken, sondcin aus dei Einsicht in die Denkwiirdigkeit einer Krise^ die den aufrechtcn Gang philosophischcn Fragens gefahrdet und zugleich die Chance einer machtkritischen Radikalisierung metaphysischer Ver-nunftkonzepte fireisetzt47

« Vgl. Nicolai de Cusa: De U non aliud, h XIII, c 23 p. 55f. * Ntcolai de Cusa: De li non aliud, h XIII, c. 23 p. 55, 29 - 56,1. 47 Die absurde Vision einer Zuspirzung des KoinzidenigedankftnS zu einer fCoidzidetlZ

von Leben und Tod wird von Detrida beteits in La voitt et laphinmhm in Auseinan-

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In Gewalt und Metapbysik auBert sich Detrida sehr pointiert zu den Konsequenzen dieser Radikalisierung des Koinzidenzgedankens: „ D i e unendliche Andersheit als Tod laBt sich nicht mit der unendlichen An-dersheit als Positivitat und Prasenz (Gott) versohnen. Die metaphysische Ttanszendenz kann nicht zugleich Transzendenz zum Anderen als Tod und zum Anderen als Gott sein. Es set denn, Gott hiefie Tod, was nach ailedem nur vom Ganzen der klassischen Philosophic, in der wir Gott als Leben und Wahrheit des Unendlichen und der positiven Prasenz verste-hen, attsgescbhssen wurde. Was bedeutet aber dieser A.usschlufi anderes als der AusschluB jeder besonderen Btstimrttut^ (SD 176)

Im Prinzip wird die Legitimitat des metaphysischen Vorbehalts ge-geniiber einer ruckhahlosen Zuspitzung des Koinzidenzgedankens auch von Derrida nicht in Zweifel gezogen. Gott heiftt nicht Todf Die klassi-sche Metaphysik hatte triftige Griinde das auszuschlieBen, und jede ^naehmetaphysische" Mystik mogelt sich an den Inkonsistenzen vorbei, die das mystische Spiachspiel heimsuchen, sobald man vorgibt, zu wis-sen, was dieses Sprachsplel verfehlt. Dass die neuplatonische Metaphysik des Cusaners aus diesen Inkonsistenzen kein Geheimnis mache, ist ihr folglich nichr als Schwache auszuJegen: Sie forderr Gott so zu denken^ dass seine Unendlichkcit jede semantische Bcstimmung (und folglich auch die semantische Opposition von Leben und Tod) iiberschreitet, und behalt sich gleichwohl vor, ihn als das Leben zu bestimmen, das in „hyperessentieller" Weise uber den Tod triumphiejct. Diese Aufrichtigkeit bewahrt die cusanische Mystik vor dem Obskurantismus postmodemer

MMystiker". Denn es gibt keinen ;>sauberen" Ausweg aus der beschriebe-nen Aporie, Auch die dekonstruktive Radikalisierung des Koinzidenzge­dankens hat ihren Preis: Indem sie ihn ruckhaltlos zur Anwendung bringt, kann sie nicht mehr garantieren, in ihren Paradoxien einen sinn-vollen Gedanken zu fassen. Sie zahlt diesen Preis allerdings, um das Erbe „strenger Wissenschaftlichkeit" zu bewahren und konnte folglich (an ra-tionalen Mafistaben gemessen) das „starkere Argument" fur sich verbu-chen — wenn das nicht auf einen Pyrrhussieg hinauslaufen wurde.

Derrida bleibt allerdings bei dieser fiir das mystische Denken desas-trosen Dichotomic nicht stehen. Er fahrt vielmehr fort: „Wenn Gott deshalb nichts (Besrimmtes) ist, kein Lebendiges, weil er a/ks ist, heifit das nicht* daB er gleichzeitig das Ganze und das Nichts, Leben und Tod ist? Das bedeutet, daB Gott in der Differenz zwischen Allem und Nichts, Leben und Tod usw. ist* erscheint oder benannt wird. In der Differenz und

dersetzutig mit dem carMskaischeTi Cogito emfsdtet (vgl. SP 75f. Zu den machtkriti-sctan Dimensionen der modetnen Krise des Denkens vgl, S 209ff).

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im Grund als die Differenz selbst. Diese Differenz ist das, was man Ge-schichte nennt. Gott ist in ihr eingeschrieben." (SD 176)

Die Dekonstrukdon kann aus eigener Kraft nicht garantieren, dass sich in der Koinztdenz von Leben und Tod ein sinnvoller Gedanke of-fenbatt - das Ethos wissenschaftlicher Zuruckhaltung ist mit haftungs-pflichtigen Garantieversprechen unvertraglich,4* Doch wenn Gott in die Archive der Geschichte „eingeschrieben" ist, kann die metaphysische Frage nach den Spuren seiner Wirklichkeit jederzeit wieder aufbrechen, kann sich das mystische Staunen jederzeit in einer Sprache der Anrufung inkarnieren, die, indem sie Gott bei setnem unausspnchUchtn Namett raft, die Sehnsucht nach dem Unendlichen wiedererwachen lasst. Weil die Lexik, Syntax und Pragmarik unserer Sprache dieses Erbe archiviert, kann das jederzeit geschehen, wie es seit unvordenklichen Zeiten geschah, Nichts halt die Theologie davon ab, an diesem Punkt zu spekulieren: War es nicht Gott selbstt der die Archive der Menschheit mit dem schwer zu entziffernde Siegel seines Namens impragnierte? Gleicht die Sprache sei­ner Selbstoffenbarung nicht dem Code eines Computervirus, der die hy-briden Programme kredittrach tiger „Marktfuhrer" im Dienste eines na-menlosen Autors arbeiten lassr?

Das Archiv der Offenbarungsgeschichte

„Das bedeutet, dafi Gott in der Differenz zwischen Allem und Nichts, Leben und Tod usw. ist, erscheint oder benannt wird. In der Differenz und im Grand als die Differenz selbst." (SD 176) Wie Derridas jungere Stu-dien zur Tradition Negativer Theologie zeigen, fuhrt der in diesem Zitat nur andeutungsweise formulierte Verweis auf die Namen Gocces die Theologie nicht in unbekanntes Terrain. Die Sprache der Anrufung des einzigartigen Namens zahlt zu den untilgbaren Fermenten ihrer Offen-barungsgeschichte und markiert (wie nicht nur das Pwsbgion des HI, An-selm zeigt) ein kon&titutives Momenr selbst ihret metaphysischen Dis-kurse. Da der Sinn mysuscher Sprachhandlungen nicht gesichert wetden kann, notigt die Dekonstrukdon allerdings dazu, ernst zu machen mit der Kehrseite des Einzigartigen; ernst zu machen mit einer Entdeckung, die bereits den apokatyptischen Christen dtt etsten Jahrhunderte mahnend vor Augen stand: dem Unvermogen, sich aus eigener Kraft in seiner Spur halten zu kdnnen (vgl. Hoff 2002). Es gabe keine Sprache der An­rufung, ohne die Erfahrung ihrer „Unhaltbarkeit". Diese Einsicht ist nicht neu. Die dekonstruktive Sinnkrise zwingt lediglich dazu, sich ihrer vollen Tragweite zu stellen. Sie erinnert daran, dass die Kirche als Htite-

* Zum beschrankten Haftungspotencial wissenschaftlicher Diskurse vgl. LI.

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tin det Namen Gottes immer schon von eiaem./aji«g heixngesucht wur-de; dass sie mit unerbittlicher Notwendigkeit immer wieder in den Sog einer Sinnkrise geraten musste, an deren Ende sie nichts als Namen zu-riickbehielt — nichts als tote Grammata, nichts als die Asche eines verlo-schenen Lebens: „Ich weiB Deine Werke, dass DM den Namen bast, Du lebst, uaithcb tot bi$t, Wache!" (Offb 3,1-2; Herv. JoH.).

Die Erfahrung des Einzigartigen, selbst wenn sie sich in diesem Au-genblick, in der Spur dieses „Wache!" wiederholen wiirde: sie wiirde dem ungebrochenen Schrict einer Metaphysik klassischen Stils nicht wieder Raum gewahren. Das fading des metaphysischen Sinnpostulats wiirde sich mit unwiderstehlicher Notwendigkeit wiederholen. - So bliebe der Theo­logie angesichts ihrer Verwurzlung im „Raum kiichlichen Lebens" alien-falls die „nachmetaphysische" Option, sich auf die „genuin theologi-schen" Wurzeln. ihrer Tradition zu hesinnen und sich mit det „nartati-ven" Wiederholung ihrer Offenbarungsgeschichte zu bescheiden. Aber wiirde sie nicht auch dann der metaphysischen Veisuchung erliegen, der Gobe ihrer Offenbarung vorzugreifen? Wurde die Theologie in ihrer Sor-ge, die Demarkationslrnien zwischen dem Innen- und dem Aufienraum dec „Cemciiischaft des Glaubcns" zu sichern, nicht unweigerlich der Versuchung erliegen, die Namen, deren Gedachmis sie verwaltet, mit der urrreriiigbaren und unverwaltbaren Wahrheit zu verwechsetn, an die diese Namen erinnem sollen?

Wenn es wahr ist, dass der Begriff der Offenbarung an ein nicht-anti-zipierbares, apokalyprisches Ereignis erinnert, das die „Communio" der Glaubenszeugen „wie einen Dieb" (Offb 16,15; 1 Thess 5,2; 2 Petr 3,10) heimsuclu, muss dieser Weg schon aus „genuin theologischen Grunden" im Weglosen enden. Den von Derrida freigelegten formalen Konstituti-onsbedingungen eines jeden „Gabegeschehens" homolog erweist sich der Ore, an dem die Gabe der Offenbarung „statthai", seit jeher als ato-pisch — als eine nicht-antrzipierbare Heterotopic, die die Verantwortung des theologischen Zeugnisses herausforden, ohne dass die Sprache des Glaubens ihrer je habhaft werden konnte.*" Die Theologie wiirde ihrer Dekonstruktion vergeblich ausweichen, denn sie hat sich langst schon in ihren Archiven eingenister.

In GtmUt md Mctopbysik wird der Name Gottes unter den Vorzeichen einer der cusanischen Mystik verwandten koinzidentalen Logik einge-fiihrt Derrida umschreibt ihn abet als das verschwindende Moment ei­ner Differenz und nicht als Fluchtpunkt einer hyperessentiellen Einheit

Vgl. hieizii Dctridas Auseinandcrsctzuiig mit Platons Tinuioa sowie seine Analysed d« „Wuste** des Glaubens in dent (CH) sowie Sauf/e mm (AM).

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Denn der Punkt, an dem sich Gott offenbart, fallt „nach" Derrida nicht mehr selbstredend mit dem Punkt eines paradoxalen „Nichtswissens" zusammen. Das Paradox markiert vielmehr die Quelle einer Verunsiche-rung, die das theologische Denken angesichts der Aquivokanonen seiner mysnschen Dutikelheiten in sich selbst zum erzittern bringt. Das alles durchwaltende „Eine" der mystischen Tradition wird dadurch nicht ob­solete Es wird aber an Bedingungen zuriickgebunden, die die Syntax der Frauge nach dem „Einen" in zweifacher Hinsicht verunsichern:

1. In formaler Hinsicht, insofern die Bedingungen der Mdglichkeit seiner Offenbarkeit (das, was die Tradition als potentia oboedientialis umschrieb) „nach" Derrida mit den Bedingungen ihrer Unmoglichkeit zusammenfallen. 2. In topologischer Hinsicht, insofern die Dekonstruk­don jede Strategic der Selbsteimachtigung untergrabt, die das „Stattha-ben" von Offenbarung im Binnenraum eines bestimmten (hierarchi-schen oder kommunitaren) Diskurses sicher verorten zu kSnnen glaubt. Die dem Gabe-Charakter eines jeden Offenbarungsgeschehens inharenre Tendenz zu einer topologisch nicht-antizipierbaren VerrSumlichung lasst gleichsam das Innere der .Jebendigen Gemeinschafr" des Glaubens ins Aufien und das Auflen der dem Tode vetfallenen Welt in iht Allerhei-ligstes einbrechen. Sie durchldchert die Diskretion der abendlandischen Metaphysik des Raumes und untergrabt das metaphysisehe Phantasma einer diskursiven Selbsteimachtigung, selbst dort, wo man sich im Na­men und untet Berufung auf die Namen einer unvordenklichen Oberlie-ferung dem Archiv der Offenbarungsgeschichte verschreibt.

Die Dekonstruktion wirft damit Licht auf eine politische Dimension des offenbarungsgeschichdichen Erbes, die in ihren a(na)mnetischen Im-plikationen der polMschen Theologie Johann Baptist Metz' nahe kommt.50

Sie leitet dazu an, den „Verrat", den die Dekonstruktion an der ReUgio-nen begeht, indem sie ihren Sprachspielen das sichere Fundament ent-zieht, als Spur eines konsdtutiven Verrats zu deuten. Sie notigt die Sach-walter des offertbarungsgeschichtlichen Erbes dazu, sich an das Geserz ihres eigenen Verrats zu erinnern: an die Geschichte eines gottlich auto-risierten Diskurses, der seinen Herrn immer wieder an den Rand der macht- und sprachlosen Opfer der Geschichte drangte. Das Geseiz, dass die Theologie Kraft ihrer (heilsokonomisch irreduziblen)*1 Verwurzlung im Spxachspiel „kirchlichen Lebens" zum Zeugnis ermachdgt: War es je-mals unzweideuug zu unterscheiden von der kalkulierten GeseumaBig-keit jener Sprache, Hie di' Theologie Kraft ihrer administrativ autorisier-

» Vgl. hKtzuobcnAnm 3(5.139). 5" V^.Hotf (1990,279-326).

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ten Vollmacht in die Komplizenschaft mit der Hertschaftsgeschichte selbstmachoger Disfcutse verwkkelte?

„Und <r ging hinaus und weinte bittcdich." (Li 22,62, Mr. 26,75) Wie konnte man vom Elbe der Offenbarungsgeschichte sprechen, ohne an ihre ttaumatische Kehrseite zu cnnncrn: an die Geschichte ihter ver-drangten und verleugneten Opfer? Konnte Gott sich je anders offenba-ren, als in den Tranen dessen, der entdeckt, dass er seineti Herrn verges-sen und verraten hat? Konnte die „Stellvertretung", die den Ort mar-kiert, an dem die Offenbarung Christi immer wieder „statthat", sich je anders als in der lethe-durchtrankten Spur des Vergessens ereignen? Woran erinnern die Tranen des Petrus, wenn nicht an den Schleier der Blindheit, der die Wahrheit (aletheia) aus ihrem Vergessen wieder her-vorquellen lasst? Der Augenblick, in dem es zu horen und zu sehen gibt, der Augenblick, in dem das zerstreute Subjekt des theologischen Diskur-ses seinen wahren Standpunkt wiederentdeckt - den Standpunkt dessen, der nichts geringeres als Gott selbst zu tragen hat: fand er nicht seit jeher dort statt, wo sich das sehende Auge triibt, weil irgendwo mit irritieren-der Verspatung ein Hahn kraht? „Die offenbareode Blindheit, die apo-kalyptische Blindheit, diejenige, die die Wahrheit selbst der Augen ent-hullt, ware der von Tranen verschleierte Blick. Weder schaut er noch schaut er nicht, er ist der getriibten Sicht gegenuber indifferent. Er fleht: zunachst urn zu wissen, von wo die Tranen niederflieften und wem sie in die Augen treten." (AB 123)52

Der „verschleierte Blick": den Archiven der Malerei entflossen, nimmt diese idiomatische Wendung Derridas den Faden der Differenz-formel von Gtivall und Metaphysik wieder auf, indem sie die Spur Gottes fur einen verschwiodenden Augenblick mit einem flehenden Bittgebet zusammenfallen lasst. Ist das scbon Theologie? 1st diese Wendung noch an den Randern des theologischen Diskurses zu lokalisieren? Oder ist sie beides: Zeichen jener Teilung, die Gott zugleich als das souverine Zencrum und als die angteifbate, steibliche AuBenseite des theologischen Sprachspiels erscheinen lasst?

Wenn das so ware und der Fine sich als ein teilbarer Gott offenbarte: wer konnte dann noch fur den Untetschied einstehen? Wer die Haftung ubernehmen (iir die Differenz, die den Diskuts des Lebens von seinei todesverfallenen Kehrseite scheidet? Gibt es Bin noch, den Unterschted zwischen sakularen und „genuin theologischen" Sprachspielen? Sind wir noch bevollmachtigt, diese Differenz zu benennen? Welchex Name

H John D- Capua? (1997) stelk das Motiv des Trsoengebeis in den BEennpunkc eines an Derrida ankniipfeoden eigenslandigen theologischen Entwurfs, der allenUngs hinlex das Niveau des demdaschen Radonaliotskoazepts zaruckjalli.

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konnte uns zu einem solchen Akt bevollmachrigen? Und wenn wir iiber diese Vollmacht verfugten: Wiirden wir uns nicht selbst widersprechen, wenn wir das Siegel unserer Vollmacht der profanen Verffigbarkeit preis-geben wurden?

Aber vielleicht ist das ja Hngst schon geschehen. Vielleicht hat die Theologie das Siegel ihrer geheimnisvollen Bevollmachtigung in einer Phase gottvergessener Redseligkeit iangst schon verraten. Wenn das so ware: wie wenn der Name ihrer Autorisierung ihr schlieBlich „von Au-Ben" zuriickgegeben wvirde? Konnten sie ihn in diesem Augenblick noch empfangen, ohne sich einzugestehen, dass das Siegel ihrer Souveranitat mit dem Kainsmahl ihrer Entmachugung zusammenfallt? Konnten wir ihn noch empfangen? - z.B. diesen: „Wenn ich von einer Ontotheologie der Souveranitat spreche, so beziehe ich mich unter dem Namen Gottes auf den Einen Gott, auf die Bestimmung einer souveranen, also unteilba-ren Macht. Wo freilich der Name Gottes an anderes denken liefie, etwa an eine verletzliche, leidende, teilbare, sogar sterblkhe Nicht-Souverani-tat, die imstande ware, sich zu widersprechen oder zu bereuen (ein Ge-danke, der weder unmoglich noch beispiellos ist), lage ein ganz anderer Fall vor, vielleicht der ernes Gottes, der sich bis in seine Selbstheit hinein dekonstruiert" (S 213)

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