„Womit soll ich dir entgegentreten?“ (Mi 6,6). Gabetheologische Aspekte der alttestamentlichen...

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Womit soll ich JHWH entgegentreten?(Mi 6,6) Gabetheologische Aspekte der alttestamentlichen Kultkritik I. Vorbemerkungen Das kultische Opfer, dessen Ende mit dem Aufkommen der mo- dernen Gesellschaften endgültig besiegelt wurde, 1 gehört als to- tales symbolisches Phänomen2 zu den elementaren Praktiken der menschlichen Kultur. Der Opfernde, der den Göttern Pflanzen, Tiere oder Gegenstände (Schmuck oder Waffen) darbringt, be- wegt sich im Kontext regulierter und wiederholbarer Handlungs- abläufe (Ritus, Ritual), 3 die als performative Akte die Bewälti- gung kritischer Situationen ermöglichen und damit Orientierung für das soziale Leben geben. Mit ihnen vollzieht sich ein symbo- lischer Austausch zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter, demzufolge sich die Dinge nicht aus einem Spiel von gleichwertigen Ursachen entwickeln, sondern aus ihrem Wider- streit oder Gegenteil – wie das Leben aus dem Tod, das Sein aus dem Haben, das Haben aus dem Verlust und die definierte Iden- tität aus dem unbestimmten Chaos4 . Im Opfer, so eine seiner Definitionen, geht es um eine Gabe, die der Gottheit entgegengebracht wird, um mit ihr zu kommuni- zieren, sie in ihrer Souveränität anzuerkennen und die kreatürli- che Abhängigkeit von ihr zu bekräftigen. 5 Als symbolischer Ope- 1 Dieser Prozess begann bereits in der Spätantike, s. dazu G. Stroumsa, Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike, Berlin 2011, 86ff. 2 M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a.M. 2009, 306. 3 S. dazu B. Lang, Art. Ritual/Ritus, HrwG 4 (1998) 442-458. Zur neueren Ritualforschung s. C. Ambos / St. Hotz / G. Schwedler / St. Weinfurter (Hg.), Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute, Darmstadt 2 2006. 4 A. Caillé, Anthropologie der Gabe, Frankfurt a.M. 2008, 125, s. dazu auch H. Seiwert, Art. Opfer, HrwG 4 (1998) 268-284, hier: 126; A. Michaels, Art. Opfer, in: Chr. Auffarth u.a. (Hg.), Wörterbuch der Religionen, Stuttgart 2006, 382f; Chr. Eberhart, Opfer und Kult in kulturanthropologischer Perspektive, VF 56 (2011) 4-16 und vor allem Hénaff, aaO 241ff. 5 S. dazu M. Mauss / H. Hubert, Essay über die Natur und die Funktion des Opfers, in: M. Mauss, Schriften zur Religionssoziologie (stw 2032), hg. von St. Moebius, F. Nungesser und Chr. Papilloud, Berlin 2012, 93-216, s. dazu St. Moe-

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„Womit soll ich JHWH entgegentreten?“ (Mi 6,6)

Gabetheologische Aspekte der alttestamentlichen Kultkritik

I. Vorbemerkungen Das kultische Opfer, dessen Ende mit dem Aufkommen der mo-dernen Gesellschaften endgültig besiegelt wurde,1 gehört als „to-tales symbolisches Phänomen“2 zu den elementaren Praktiken der menschlichen Kultur. Der Opfernde, der den Göttern Pflanzen, Tiere oder Gegenstände (Schmuck oder Waffen) darbringt, be-wegt sich im Kontext regulierter und wiederholbarer Handlungs-abläufe (Ritus, Ritual),3 die als performative Akte die Bewälti-gung kritischer Situationen ermöglichen und damit Orientierung für das soziale Leben geben. Mit ihnen vollzieht sich ein symbo-lischer Austausch zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter, demzufolge sich die Dinge nicht aus einem Spiel von gleichwertigen Ursachen entwickeln, sondern „aus ihrem Wider-streit oder Gegenteil – wie das Leben aus dem Tod, das Sein aus dem Haben, das Haben aus dem Verlust und die definierte Iden-tität aus dem unbestimmten Chaos“4. Im Opfer, so eine seiner Definitionen, geht es um eine Gabe, die der Gottheit entgegengebracht wird, um mit ihr zu kommuni-zieren, sie in ihrer Souveränität anzuerkennen und die kreatürli-che Abhängigkeit von ihr zu bekräftigen.5 Als „symbolischer Ope-

1 Dieser Prozess begann bereits in der Spätantike, s. dazu G. Stroumsa, Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike, Berlin 2011, 86ff. 2 M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a.M. 2009, 306. 3 S. dazu B. Lang, Art. Ritual/Ritus, HrwG 4 (1998) 442-458. Zur neueren Ritualforschung s. C. Ambos / St. Hotz / G. Schwedler / St. Weinfurter (Hg.), Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute, Darmstadt 22006. 4 A. Caillé, Anthropologie der Gabe, Frankfurt a.M. 2008, 125, s. dazu auch H. Seiwert, Art. Opfer, HrwG 4 (1998) 268-284, hier: 126; A. Michaels, Art. Opfer, in: Chr. Auffarth u.a. (Hg.), Wörterbuch der Religionen, Stuttgart 2006, 382f; Chr. Eberhart, Opfer und Kult in kulturanthropologischer Perspektive, VF 56 (2011) 4-16 und vor allem Hénaff, aaO 241ff. 5 S. dazu M. Mauss / H. Hubert, Essay über die Natur und die Funktion des Opfers, in: M. Mauss, Schriften zur Religionssoziologie (stw 2032), hg. von St. Moebius, F. Nungesser und Chr. Papilloud, Berlin 2012, 93-216, s. dazu St. Moe-

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rator ..., über den die Totalität des sozialen und kulturellen Le-bens einer Gruppe verläuft“6, ist das Opfer charakteristisch für die Religionen des antiken Mittelmeerraums und der vorderorien-talischen Antike.7 Um seine Bedeutung zu ermessen, sind etymo-logische und rein begriffsgeschichtliche Erörterungen allerdings nur bedingt hilfreich. So ist etwa der Aussagegehalt des deutschen Wortes „Opfer“ ambivalent, weil es sowohl den Vollzug der Hand-lung (lat. sacrificium < sacrum facere, „das Heilige vollziehen“, vgl. engl. / franz. sacrifice) als auch ihr Objekt (lat. victima, vgl. engl. / franz. victime)8 bezeichnen kann. Im Übrigen geht das deut-sche Wort „Opfer“ auf lat. operari („[mit rituellen Handlungen] beschäftigt sein, handeln“ zurück und fungiert als Generalbegriff

bius, Die Religionssoziologie von Marcel Mauss, in: Mauss, aaO 615-682, hier: 644ff. 6 Hénaff, aaO 250, vgl. J. Habermas, Eine Hypothese zum gattungsge-schichtlichen Sinn des Ritus, in: ders., Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012, 77-95, demzufolge die rituellen Praktiken deshalb so bedeutsam sind, weil in ihnen die Fähigkeit des Menschen zur Bannung von Unheil und zur Beschwörung von Heil symbolischen Ausdruck gewinnt. 7 S. dazu B. Janowski / M. Welker (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte (stw. 1454), Frankfurt a.M. 2000 und St. Georgoudi et alii (éd.), La cu-sine et l'autel. Les sacrifices en questions dans les sociétés de la méditerranée ancienne, Turnhout 2005. Zum Opfer im AT s. A. Schenker (Hg.), Studien zu Opfer und Kult im Alten Testament (FAT 3), Tübingen1992; I. Willi-Plein, Op-fer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischen-ergebnisse (SBS 153), Stuttgart 1993; dies., Opfer und Ritus im kultischen Lebenszusammenhang, in: Janowski / Welker (Hg.), aaO 150-177; Chr. A. Eber-hart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament. Die Signifikanz von Blut- und Verbrennungsriten im kultischen Rahmen (WMANT 94), Neu-kirchen-Vluyn 2002; ders., Das Opfer als Gabe. Perspektiven des Alten Testa-ments, JBTh 27 (2012) 93-120; A. Marx, Les systèmes sacrificiels de l’Ancien Testament. Formes et fonctions du culte sacrificiel à YHWH (VT.S 105), Leiden / Boston 2005; ders., Tuer, donner, manger dans le culte sacrificiel de l’Ancien Testament, in: Georgoudi et alii (éd.), aaO 3-13; W.H. Schmidt, Alttesta-mentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 112011, 191ff, ferner die Lexikonartikel von H. Seebass, Art. Opfer II, TRE 25 (1995) 258-267; B. Janowski, Art, Opfer I, NBL 3 (2001) 36-40.43; A. Marx, Art. Opfer II/1, RGG4 6 (2003) 572-576; J. Schaper / M. Tilly / C. Janssen, Art. Opfer, in: F. Crüsemann u.a. (Hg.), Sozial-geschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 428-433 und den forschungsgeschichtlichen Überblick von I. Willi-Plein, Ein Blick auf die neu-ere Forschung zu Opfer und Kult im Alten Testament, VF 56 (2011) 16-33. 8 S. dazu vor allem E. Benveniste, Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, Frankfurt a.M. / New York 1993, 441ff.470ff, ferner H. Cancick-Lindemaier, Opfer. Religionswissenschaftliche Bemerkungen zur Nutzbarkeit eines religiösen Ausdrucks, in: H.-J. Althaus u.a. (Hg.), Der Krieg in den Köpfen, Tübingen, 1988, 109-120; Willi-Plein, Opfer und Ritus (s. Anm.7), 151 Anm.6 und W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche (RM 15), Stuttgart 22011, 93ff.

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für den Vollzug des Rituals bzw. dessen Ergebnis, schematisch dar-gestellt:

„Opfer“

operari „(mit rituellen Handlungen) beschäftigt sein, handeln“

oblatio „Gabe“: negativ: Verzicht, Verlust; positiv: Geschenk vgl. engl. offering < offerre „darreichen“

sacrificium < sacrum facere victima = Vollzug der Handlung = Objekt der Handlung vgl. engl./franz. sacrifice vgl. engl./franz. victime Die Schwierigkeit einer klaren Begriffsbestimmung gilt mutatis mutandis auch für das Hebräische, das darüber hinaus keinen zu-sammenfassenden Ausdruck für „Opfer“ besitzt.9 Eine gewisse Aus-nahme bilden die Termini minªåh „Gabe“ (Gen 4,3ff, vgl. 1 Sam 2,17; Mal 1,10-13 u.ö.),10 und qorbån „Darbringung“ (Lev 1,2, vgl. Ez 20,28; 40,43 u.ö.).11 Die übrigen Ausdrücke bezeichnen

jeweils eine bestimmte, nach der Art der Darbringung (Schlachten, Verbrennen), des Anlasses (Dank, Freiwilligkeit, Gelübde), des Zwecks (Schuld, Sünde), des Termins (morgens, abends) oder der Materie (tierisch, vegetabilisch) unterschiedene Opferart.12 Wie diese knappen Hinweise zeigen, lässt sich die Frage, was ein Opfer ist, nicht abstrakt beantworten. Sachgemäßer ist es, von konkreten Sachverhalten auszugehen, wie sie in den Texten und Bildern der antiken Religionen überliefert sind. Geht man dabei von einer vertikalen Gott/Mensch-Beziehung aus, so setzt das Op-fer einen Adressaten (Gott), eine an ihn adressierte Sache (Tier, Pflanze, Gegenstand) und einen Absender (Opfernder) voraus. Es handelt sich demnach um eine Dreierstruktur, wie sie auch für die Gabenbeziehung kennzeichnend ist:

9 S. dazu Willi-Plein, Opfer und Kult (s. Anm.7), 25ff.71ff. 10 S. dazu Eberhart, Bedeutung der Opfer (s. Anm.7), 77ff; ders., Opfer als Ga-be (s. Anm.7), 99ff; R. Kessler, Die Theologie der Gabe bei Maleachi, in: Das Manna fällt auch heute noch. Beiträge zur Geschichte und Theologie des Alten, Ersten Testaments (HBS 44) (FS E. Zenger), hg. von F.-L. Hossfeld und L. Schwienhorst-Schönberger, Freiburg / Basel / Wien 2004, 392-407, hier: 394f. 11 S. dazu Willi-Plein, Forschung (s. Anm.7), 21 und Eberhart, Opfer als Gabe, 103ff. 12 S. dazu den Überblick bei Marx, Les systèmes sacrificiels (s. Anm.7), 7.

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„Geben“, so M. Hénaff, „heißt immer jemandem etwas geben; (...) da-her ist die Gabenbeziehung ... nicht der Transfer eines Guts von einem Partner zum andern, sondern mittels dieses Guts eine Beziehung zwi-schen ihnen. Doch man muß noch weiter gehen: die zeremonielle Ga-be beschränkt sich nicht darauf, einem anderen etwas zu geben (was eher das Vertragsverhältnis definiert ...), sie besteht darin, mittels ei-ner Sache einem anderen sich selbst zu geben.“13

Hinter dieser Definition erkennt man unschwer die Überlegungen von M. Mauss, die er in seinem berühmten Essai sur le don14 vor-getragen hat. Danach beruht die Logik der Gabe nicht einfach auf dem Prinzip des Tauschs zwischen Geber und Empfänger,15 son-dern darauf, dass „jedes von dieser Bewegung der Gaben erfasste Gut als Teil der Person des Gebers verstanden wird“16 . Was also in der Gabe erwidert werden muss, ist „nicht der Gegenstand, son-dern der ,Geist der Gabe‘“17 . Denn: Die Gabe repräsentiert den Ge-ber. Was aber, wenn dieser „Geist der Gabe“ verfehlt wird? Wenn also der Empfänger in seiner Annahme und Erwiderung auf die Gabe, die ja „gar nicht etwas bezeichnet, keine Sache und kein Ding, sondern einen bestimmten sozialen Gebrauch von Sachen und Dingen bzw. eine bestimmte Kommunikationspraxis“18 , kei-nen entsprechenden Gebrauch von der empfangenen Gabe macht? Wo von diesem sozialen Gebrauch abgesehen wird und andere, eigene Interessen in den Vordergrund treten, verschwindet auch der mit der Gabe ursprünglich verbundene Gehalt. Das ist das The-ma der alttestamentlichen Opfer- und Kultkritik. Bevor wir auf ihre beiden Ausprägungen in Prophetie und Psalmen eingehen (II/2), soll mit Ex 20,22-26 ein Text zur Sprache kommen, der ein be-zeichnendes Licht auf die Bedeutung des alttestamentlichen Opfers wirft (II/1).

13 Ders., aaO 218 Anm.71 (Hervorhebung im Original), vgl. 280 u.ö. 14 M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (Reihe Theorie 1), Frankfurt a.M. 1968, 31ff, s. dazu M. Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999, 20ff; Caillé, Anthropologie der Gabe (s. Anm.4), 125ff; Hénaff, Preis der Wahrheit (s. Anm.2), 157ff; I. Därmann, Theorien der Gabe zur Einführung, Hamburg 2010, 12ff; St. Moebius, Religionssoziologie (s. Anm.5), 644ff.670ff und ders., Geben, nehmen, erwidern, opfern und anerkennen. Zur Soziologie und Diskussion von Marcel Mauss’ Essai sur le don, JBTh 27 (2012) 3-21. 15 S. dazu auch I.U. Dalferth, Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passi-vität des Menschen, Tübingen, 2011, 92ff. 16 Hénaff, aaO 192f (Hervorhebung im Original), s. dazu auch Caillé, aaO 133ff. 17 Moebius, Geben, 15. 18 Dalferth, aaO 107 (Hervorhebung im Original).

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II. Texte und Themen

Beginnen wir mit einer kultgeschichtlichen Vorbemerkung. In den Religionen der Antike ist das Opfer die heilige Handlung schlecht-hin. Der Ort, an dem sie vollzogen wird, ist der Altar, der „Ort, an

dem geschlachtet wird“ (hebr. mizbeaª).19 Als Opfertiere wurden

weder Gazelle, Esel, Pferd, Kamel, Schwein (?) und Hund noch Wild-tiere, sondern ausnahmslos Haus- und Arbeitstiere wie Rinder, Zie-gen und Schafe verwendet, die für die bäuerliche Existenz von ele-mentarer Bedeutung waren.20 In besonderen Armutsfällen konn-ten auch Haus- und Turteltauben geopfert werden. Das Opfertier musste makellos, männlich und mindestens sie-ben Tage alt sein (Lev 1,3; Dtn 15,21 u.ö.). Was als „Makel“ oder „körperlicher Schaden“ (mûm) galt, war im sog. Heiligkeitsgesetz

geregelt:

17 JHWH sprach zu Mose folgendermaßen: 18 Sprich zu Aaron, seinen Söhnen und allen Israeliten und sage

zu ihnen: Jeder aus dem Haus Israel und jeder von dem Fremden in Israel, der seine Gabe darbringt bei allen ihren Gelübdeopfern und al-len ihren freiwilligen Gaben, die sie JHWH als Brandopfer dar-bringen –

19 zu eurem Wohlgefallen soll es ein einwandfreies, männliches (Tier) vom Rind, von den Schafen oder von den Ziegen sein.

20 Ein Tier, an dem irgendein Makel ist, dürft ihr nicht darbringen, denn nicht zum Wohlgefallen gerät es euch.

21 Wenn jemand ein Heilsmahlsopfer für JHWH darbringt, ob es sich um die Erfüllung eines Gelübdes oder um ein freiwilliges Opfer vom Rind oder Kleinvieh handelt, gerät (nur) ein ein-wandfreies (Tier) zum Wohlgefallen. Irgendein Makel darf nicht an ihm sein!

22 Blindheit oder Bruch oder Verkrüppelung oder Entzündung oder Krätze oder Flechte – diese sollt ihr für JHWH nicht darbringen, auch ein Feueropfer sollt ihr von diesen nicht geben auf den Alt-ar für JHWH!

23 Ein Rind oder ein Stück Kleinvieh mit einem übermäßig oder unvollständig entwickelten Glied darfst du als freiwillige Gabe herrichten! Aber als Gelübdeopfer findet es kein Wohlgefallen.

24 Ein Tier, dem die Hoden gequetscht, zerstoßen, abgerissen oder abgeschnitten sind, sollt ihr für JHWH (überhaupt) nicht dar-bringen! In eurem Land sollt ihr es nicht tun!

19 S. dazu Chr. Dohmen, Art. mizbeaª, ThWAT 4 (1984) 787-801. 20 S. dazu auch die kulturanthropologischen Überlegungen von Hénaff, Preis der Wahrheit (s. Anm.2), 252f.262ff.277 u.ö.

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25 Auch aus der Hand eines Ausländers sollt ihr die Speise eures Gottes nicht von solchen allen darbringen, denn ihr Schaden ist an ihnen, ein Makel ist an ihnen. Sie werden nicht als wohlge-fällig angesehen für euch! (Lev 22,17-25)21

Dieser Text ist Vers für Vers vom Vokabular des menschlichen „Darbringens“ (qrb hif.)22 und des göttlichen „Wohlgefallens“ (rå‚ôn, rå‚åh)23 geprägt. Das Kriterium für die (Wieder-)Herstel-lung der Kommunikation mit Gott – sie bekundet sich in seinem „Wohlgefallen“ (vgl. Lev 1,4 u.ö.) – ist die körperliche Makello-sigkeit des Opfertiers.24 Alle Formen von Makel stellen „Abwei-chungen von den ,Normalformen‘“25 dar, die „als solche schwer mit der schöpfungsrestitutiven Funktion des Heiligtums verein-bar sind und aus diesem Grund in dessen Nähe nicht zugelassen werden“26 . Die größte Nähe zur Heiligkeitssphäre JHWHs sym-bolisiert der Altar als der Mittelpunkt des blutigen Opferkults. Auf ihn darf, wie V.22 explizit vorschreibt, kein fehlerhaftes Op-fertier „gegeben“ (nåtan) werden, weil es die Ablehnung durch JHWH hervorrufen würde.

21 Zu diesem Text s. E.S. Gerstenberger, Das dritte Buch Mose / Leviticus (ATD 6), Göttingen 1993, 299ff; A. Ruwe, „Heiligkeitsgesetz“ und „Priester-schrift“. Literaturgeschichtliche und rechtssystematische Untersuchungen zu Leviticus 17,1-26,2 (FAT 26), Tübingen 1999, 276ff und A. Marx, Lévitique 17-27 (CAT IIIb), Genève 2011, 132ff. In Lev 21,16-24 (Eignung der Priester für ihren Dienst) und 22,17-33 (Eignung der Tiere für das Opfer) wird die kör-perliche Integrität von Priestern und Opfertieren mit z.T. gleicher Begriff-lichkeit gefordert, s. dazu Th. Hieke, Die Eignung der Priester für ihren Dienst nach Lev 21,16-24, in: W. Grünstäudl / M. Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lek-türe. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese, Stuttgart 2012, 48-66. 22 Das Verb benennt im Grundstamm ein „nahe sein/sich nähern“, faktitiv und kausativ ein „nahe werden“ (pi.) oder „nahe kommen lassen“ (hif./hof.), vgl. Willi-Plein, Forschung (s. Anm.7), 21. 23 S. dazu H.M. Barstad, Art. rå‚åh usw., ThWAT 7 (1993) 640-652, hier: 647ff. 24 Vgl. auch Mal 1,7-10 (innerhalb des zweiten Diskussionswortes 1,6-2,9) mit dem göttlichen Schlussurteil: „Ich habe kein Wohlgefallen (rå‚ôn) an euch. / Gesprochen hat JHWH Zebaoth. / Und über eine Opfergabe (minªåh) freue ich mich nicht aus eurer Hand“, s. dazu Th. Hieke, Kult und Ethos. Die Verschmel-zung von rechtem Gottesdienst und gerechtem Handeln im Lesevorgang der Maleachischrift (SBS 208), Stuttgart 2006, 34ff. 25 Ruwe, aaO 284. 26 Ders., ebd. Zur Ausnahmeregelung V.23 s. ders., aaO 284f.

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1. Ex 20,24-26 und die Ätiologie des Opfers

Kultgeschichtlich stellen die Bestimmungen von Lev 22,17-25 ein fortgeschrittenes Stadium dar. Geht man von ihnen aus zu älteren Bestimmungen zurück, so stößt man im Altargesetz Ex 20,24-2627 auf einen Text, der die Bedeutung des Altars für das Opfergesche-hen anders, aber nicht weniger grundsätzlich artikuliert. Zusammen mit dem Prolog Ex 20,22f leitet Ex 20,24-26 das Bundesbuch (Ex 20,22-23,33) ein:

Prolog des Bundesbuchs

22 JHWH sprach zu Mose:

„So sollst du sprechen zu den Israeliten: Ihr habt gesehen, dass ich vom Himmel mit euch geredet habe.

23 Ihr sollt nichts neben mir machen: silberne und goldene Götter sollt ihr euch nicht machen.28

Altargesetz

24 Einen Altar von Erde sollst du mir machen und du sollst auf ihm schlachten deine Brandopfer und deine Heilsopfer,

dein Kleinvieh und deine Rinder. An jedem Ort,29 an dem ich meines Namens gedenken lassen werde,30

werde ich zu dir kommen und dich segnen.

27 S. dazu H.-Chr. Schmitt, Das Altargesetz Ex 20,24-26 und seine redaktions-geschichtlichen Bezüge, in: „Einen Altar von Erde mache mir ...“ (FS D. Conrad), hg. von J.F. Diehl u.a., Waltrop 2003, 269-282, ferner Chr. Dohmen, Exodus 19-49 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2004, 139.151ff; S.M. Olyan, Dis-ability in the Hebrew Bible. Interpreting Mental and Physical Differences New York 2008, 94ff und zur Forschungsgeschichte L. Schwienhorst-Schönberger, Das Bundesbuch (Ex20,22-23,33). Studien zu seiner Entstehung und Theologie (BZAW 188), Berlin / New York 1990, 287ff. 28 Zu den spätdeuteronomistischen V.22f s. Schmitt, aaO 272ff. 29 Zur Übersetzung s. auch E. Jenni, Die hebräischen Präpositionen, Bd.1: Die Präposition Beth, Stuttgart / Berlin / Köln 1992, 219 (dort weitere Belege). Ent-gegen diesem distributiven Verständnis, das von einer Vielzahl von Kultorten ausgeht, plädiert B. Kilchör, µwqhAlkb (Ex 20,24b) – Gottes Gegenwart auf dem Sinai, BN 154 (2012) 89-102 für ein nichtdistributives Verständnis, das auf die Ganzheit eines bestimmten Ortes zielt: „am ganzen Ort“; dieser Ort ist nach Kilchör der Sinai. Diese Möglichkeit wird auch von Dohmen, aaO 139.155f erwogen, der im Unterschied zu Kilchör allerdings den Zusammenhang zwi-schen Altarbau und Segenshandlung einsichtig zu machen versucht. Zur Kritik der These von Kilchör s. aber J. Joosten, The Syntax of Exodus 20:24b, BN 159 (2013) 3-8. 30 D.h.: „... an dem ich meinen Namen kundtue“.

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25 Wenn du mir aber einen Altar aus Steinen machst, sollst du sie nicht bauen als Behauenes, denn du würdest deinen Meißel über es schwingen und

es dadurch entweihen. 26 Und du sollst nicht auf Stufen auf meinen Altar hinaufsteigen,

damit deine Blöße nicht auf ihm enthüllt wird.“31

In ihrer Endgestalt bestehen V.24-26 aus einem Ineinander von Geboten und Gebotsmotivierungen mit V.24b als theologischer Sachmitte:

22 JHWH-Rede vom Himmel her: JHWH 23 keine silbernen + goldenen Götter Israel

24a Altar von Erde Brandopfer + Heilsopfer Israel Kleinvieh + Großvieh b An jedem Ort „Gedenken lassen“ seines Namens JHWH „Kommen“ + „Segnen“ JHWHs 25f Altar aus Steinen 25 nichts Behauenes Israel 26 keine Stufen

Das Altargesetz hat eine konzentrische Struktur: Während V.24a mit dem „Altar von Erde“ den Aspekt des Tieropfers im Blick hat, hebt V.25 mit den unbehauenen Altarsteinen den besonderen Cha-rakter der Opferstätte hervor. Beide Aspekte werden durch V.24b miteinander verbunden und zwar so, dass dieser Vers „beim Opfer einsetzt, um sich dem Ort des Opfers und seiner Qualität explizit zuzuwenden“32 . Das Altargesetz „konzentriert somit die entschei-denden Elemente des Kultes auf seinen Zentralbereich, den Altar“33 ,

denn hier „kommt“ (bô∞) JHWH zu Israel, um es durch seine Ge-genwart zu „segnen“ (brk pi.). Dieses „Segnen“ ist, wie A. Marx un-terstreicht, ein zentrales Anliegen des alttestamentlichen Opfers:

• Der Altar ist der Ort des Kommens Gottes. „Es ist Gott, der he-runter auf die Erde kommt ..., und dies, um seinem Volk zu begegnen.

31 Die Übersetzung unterscheidet zwischen ursprünglichen, vordeuterono-mischen Geboten (recte) und sekundären, (wohl) spätdeuteronomistischen Ge-botsmotivierungen (kursiv), s. dazu Schmitt, aaO 269f.271f. 32 Dohmen, aaO 155. 33 Ders., aaO 158.

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Und so entsteht beim Opfer dieses ganz Erstaunliche und Unerwarte-te, dass Gott, von dem es einige Verse vorher hiess, dass er vom Him-mel her zu seinem Volke gesprochen hatte, und der so seine Trans-zendenz bekundete, jetzt seine Bereitschaft ankündigt, auf die Erde hinabzusteigen, um zu seinem Volk zu kommen, und dies jedesmal, wenn es ihn darum bittet, indem es ein Opfer darbringt“.34

• Das Feuer, das vom Opfernden angezündet wird und die bereit-gelegten Brandopferstücke verzehrt, ist die sichtbare Seite Gottes. Was im Opfer geschieht, ist eine rituelle Nachahmung dessen, was in der Theophanie am Sinai (vgl. Ex 19,9) geschieht: „In demselben Moment, an dem Gott Israel als sein Volk erklärt und sich ihm in Blitz und Donner offenbart, erklärt er ihm auch seine Bereitschaft, zu ihm zu kommen, jedesmal wenn es ihn darum durch ein Opfer bittet. Und der Gott, der anlässlich dessen, auf unauffällige Weise kommt, ist derselbe, der sich dort, am Tag des Gründungsaktes, auf spektakuläre und erschreckende Weise erwiesen hat.“35

• Das Opfer ist das Zeichen der Gastfreundschaft gegenüber Gott. Die Tiere, die ihm als Opfer dargebracht werden, werden bei außerge-wöhnlichen Anlässen wie einem Fest (1 Sam 25,2-11 u.a.) oder Gast-mahl (Gen 18,1-8 u.a.) geschlachtet und verzehrt. Gott werden die Opfergaben nicht in rohem Zustand vorgelegt, sondern sie werden für ein Mahl zubereitet, d.h. enthäutet, gebraten, gekocht (Lev 1,5-9; 2,13 u.a.) oder – beim vegetabilischen Opfer – gemahlen, gebacken, gekel-tert. „Wenn also Gott anlässlich eines Opfers kommt, so um die Gast-freundschaft seines Volkes anzunehmen.“36

Für das Verständnis des Opfers im alten Israel erweist sich das Altar-gesetz somit als grundlegend, ja es kann geradezu als „die Ätio-logie des israelit.(ischen) Operkults“37 bezeichnet werden: Wenn

Gott anlässlich eines Opfers kommt, dann nicht in Feindseligkeit, so dass man ihn – wie immer wieder behauptet wird – gnädig stimmen müsste, sondern um die Gastfreundschaft seines Volkes anzunehmen und um es zu segnen (Ex 20,24b). „Jede Opfertheo-rie, die nicht in diesem Segen das zentrale Anliegen des Opfers sieht, muss als unbiblisch eingeschätzt werden.“38 34 A. Marx, Opferlogik im alten Israel, in: Janowski / Welker (Hg.), Opfer (s. Anm.7), 129-149, hier: 133, vgl. 132 und ders., Art. Opfer (s. Anm.7), 574, fer-ner Eberhart, Bedeutung der Opfer (s. Anm.7), 355. 35 Marx, Opferlogik, 133. 36 Ders., aaO 136. 37 Ders., Art. Opfer, 574, vgl. ders., Opferlogik, 131. 38 Ders., Opferlogik, 138.

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2. Grundlinien der alttestamentlichen Kultkritik Im Kult geht es um Lebenserhaltung, und zwar, wie das Altarge-setz prägnant formuliert, durch einen Gott, der auf das Opfer Is-raels antwortet, indem er „kommt“ und sein Volk „segnet“. Die-ser Segen ist die Gabe Gottes an Israel. Die Begegnung mit Gott im Kult als Voraussetzung eines gesegneten Lebens ist auch der Grund für den ethischen Anspruch der alttestamentlichen Opfer- und Kultkritik.39 Wie diese zu verstehen ist, soll anhand der bei-den Themenfelder „Ethos der Hingabe“ und „Erfahrung der Ret-tung“ verdeutlicht werden, die zugleich ein Licht auf den Gabecha-rakter des Opfers werfen. a) Das Ethos der Hingabe (Prophetie) Immer wieder ist im Zusammenhang mit der prophetischen Op-fer- und Kultkritik von der „Überwindung“ oder dem „Ende“ des Opfers die Rede:

„Die ,Kultkritik‘ der Propheten im Sinne einer Überwindung kulti-schen Denkens, was auch immer man sich darunter im einzelnen vor-stellen mag, gilt überwiegend als ausgemacht. Die daraus abgeleitete Parole vom ,überholten Opferkult‘ liefert rasche Antworten in theolo-gischen Examina und hurtig spiritualisierenden Predigten“.40

Hält man sich an die Texte, kommen allerdings andere Aspekte zum Vorschein. Sie hängen damit zusammen, dass „die Krise, um die es in solchen Texten allenfalls geht, ... keine Krise des Kultes, sondern der Gesellschaft (ist)“41 . Insofern gilt die prophetische Kritik „nicht dem Kult als solchem, sondern gesellschaftlichen Sach-verhalten, die nach Ansicht der betreffenden Autoren zu einer Dis-krepanz zwischen kultischem Lebenszusammenhang und lebens-

39 Vgl. Eberhart, Bedeutung der Opfer (s. Anm.7), 357. Zur prophetischen Kultkritik s. H.-J. Hermisson, Sprache und Ritus im altisraelitischen Kult. Zur „Spiritualisierung“ der Kultbegriffe im Alten Testament (WMANT 19), Neu-kirchen-Vluyn 1965, 131ff; Willi-Plein, Opfer und Kult (s. Anm.7), 143ff; dies., Opfer und Ritus (s. Anm.7), 152f; O. Kaiser, Kult und Kultkritik im Alten Te-stament, in: „Und Mose schrieb dieses Lied auf“ (FS O. Loretz) (AOAT 250), hg. von M. Dietrich und I. Kottsieper, Münster 1998, 401-426; Th. Krüger, Erwä-gungen zur prophetischen Kultkritik, in: Die unwiderstehliche Wahrheit. Stu-dien zur alttestamentlichen Prophetie (FS A. Meinhold) (ABG 23), hg. von R. Lux und E.-J. Waschke, Leipzig 2006, 37-55; Th. Hieke, Kult und Ethos (s. Anm. 24), 29ff; Chr. Radebach-Huonker, Opferterminologie im Psalter (FAT II/44), Tübingen 2010, 223ff.227f u.a. 40 Willi-Plein, Opfer und Kult (s. Anm.7), 7. 41 Dies., Opfer und Ritus (s. Anm.7), 153.

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feindlichen Verhaltensweisen einzelner oder bestimmter Gruppen führen.“42 Das klassische Beispiel dafür ist Am 5,21-27. • Amos 5,21-27

Die Kultkritik von Am 5,21-2743 gliedert sich in eine Mahnung zum gerechten Handeln (V.*21-24) und eine Gerichtsankündigung (V.27), die beide als Gottesrede stilisiert sind:

I. Mahnung

21 Ich hasse, ich verwerfe eure Feste, und nicht kann ich riechen eure Festversammlungen: 22 Es sei denn, ihr brächtet mir Brandopfer dar. An euren Gabeopfern44 habe ich kein Wohlgefallen und das Mahlopfer eures Mastviehs sehe ich nicht an. 23 Fort von mir den Lärm deiner Lieder, und dein Harfenspiel höre ich nicht, 24 aber es ströme wie Wasser (das) Recht und (die) Gerechtigkeit wie ein reißender Bach.45

25 Habt ihr mir Schlachtopfer und Speisopfer in der Wüste vierzig Jahre lang dargebracht, Haus Israel? 26 Und habt ihr Sakkut, euren König, und Kajwan, eure Bilder, euren Sterngott, die ihr euch gemacht habt, getragen?

II. Gerichtskündigung

27 So führe ich euch in die Verbannung, über Damaskus hinaus, hat JHWH gesprochen, Gott der Heerscharen ist sein Name.

42 Dies., ebd., vgl. auch N. Lohfink, Alttestamentliche Exegese und Liturgie-wissenschaft, TThZ 108 (1999) 313-318, hier: 313. 43 S. dazu J. Jeremias, Der Prophet Amos (ATD 24/2), Göttingen 32013, 77ff. Bei der folgenden Übersetzung sind die Fortschreibungen V.22aa.25f kursiv gesetzt. 44 Möglicherweise sind mit minªôt hier nicht „Speisopfer“, sondern „Gabe-opfer“ in Parallele zum „Mahlopfer“ (çælæm) des Mastviehs gemeint, s. dazu A. B. Ernst, Weisheitliche Kultkritik. Zu Theologie und Ethik des Sprüchebuchs und der Prophetie des 8. Jahrhunderts (BThSt 23), Neukirchen-Vluyn 1994, 101 mit Anm.24 und Kessler, Theologie der Gabe (s. Anm.10), 399 mit Anm.19. 45 Zur Übersetzung von naªal ∞etån – nicht mit „ein nie versiegender Bach“, sondern – mit „ein reißender/s Bach/Wadi“ s. J. Dietrich, Kollektive Schuld und Haftung. Religions- und rechtsgeschichtliche Studien zum Sündenkuhritus des Deuteronomiums und zu verwandten Texten (ORA 4), Tübingen 2010, 257ff.

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Seit der Zeit der Aufklärung, besonders aber in der Liberalen Theo-logie des 19. Jahrhunderts hat man diesen Text neben Hos 6,6; Jes 1,10-17; Mi 6,6-8 u.a. immer wieder als Kronzeugen für die radikale Opfer- und Kultkritik der Propheten aufgerufen und die-se Auffassung in die Formel „Recht statt Gottesdienst/Kult“ ge-fasst.46 Für ein sachgemäßes Textverständnis ist demgegenüber die Beobachtung wichtig, dass „die Abweisung Gottes sachlich beim Umfassenden, den Festen (V. 21), einsetzt und erst danach Opfer (V. 22) und Musik (V. 23) genannt werden“47 , also die herrschen-de Praxis des Gottesdienstes abgelehnt wird:

21 Feste // Festversammlungen: hassen, verwerfen // nicht riechen

22ab.b Opfer: Gabeopfer + Mahlopfer kein Wohlgefallen ha- ben // nicht ansehen

23 Musik: Lieder + Instrumentalmusik nicht hören

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24 Recht // Gerechtigkeit sich einherwälzen / strömen

Im Übrigen belegen die Wendungen „eure Feste“, „eure Festver-sammlungen“, „eure Speisopfer“, „das Mahlopfer eures Mastviehs“, „der Lärm deiner Lieder“ und „dein Harfenspiel“, dass

„nicht die Bedeutung des Gottesdienstes gegen die Bedeutung des Ethos abgewogen und auf diese Weise der Gottesdienst im Vergleich zum Ethos abgewertet, wie die liberale Theologie meinte, sondern einem schuldigen Israel ... gesagt (wird), dass sein Gottesdienst Gott nicht mehr erreicht und insofern zum ,Dienst an sich selber‘ pervertiert ist“48.

So feiert Israel seinen Gott, als ob sein Gottesverhältnis intakt wä-re und „merkt nicht, dass er bei der Feier gar nicht anwesend ist“49 , sondern sich, wie die negierten Verben der sinnlichen Wahrneh-mung – „riechen“ (rwª hif.),50 „ansehen“ (nb† hif.), „hören“ (çm˛) –

und der priesterlichen Akzeptanz – „Wohlgefallen haben“ (rå‚åh)51

46 S. dazu besonders Krüger, Kultkritik (s. Anm.39), 37ff. 47 Jeremias, aaO 77. 48 Ders., aaO 79. 49 Ders., ebd. 50 Vgl. Gen 8,21; Lev 26,31 und 1 Sam 26,19. 51 S. dazu oben Anm. 23, ferner Jeremias, aaO 78 und Th. Hieke, Der Kult ist für den Menschen da. Auf Spurensuche in den Opfervorschriften von Levitikus

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– zeigen, längst abgewendet hat. Insofern ist Am 5,*21-24 ein Ge-gentext zu Ex 20,24-26 und seinem Grundmotiv vom Kommen und Segnen JHWHs anlässlich der Opfer Israels.

Der Text sagt aber noch mehr, weil er den Gegensatz von ver-fehlter Kultpraxis und richtiger Alltagsethik poetisch ins Bild setzt und damit der Hoffnung auf die „dynamische Kraft der Gerech-tigkeit“52 Ausdruck verleiht:

23 Fort von mir den Lärm deiner Lieder, und dein Harfenspiel höre ich nicht, 24 aber es ströme wie Wasser (das) Recht und (die) Gerechtigkeit wie ein reißender Bach.

Demgegenüber zeichnen Am 5,7 und 6,12 das Bild einer umfas-senden ,Vergiftung‘ des sozialen Lebens:

‹Wehe denen, die ihr› Ihr, die ihr Recht zu Wermut umstürzt und Gerechtigkeit zu Boden niederwerft! (5,7)

Laufen Pferde über Felsen oder pflügt man mit Rindern ‹das Meer›? Ihr aber habt Recht zu Gift umgestürzt und die Frucht der Gerechtigkeit zu Wermut. (6,12)

Im Gegensatz zu den lebensbedrohlichen Substanzen „Wermut“ (Am 5,7; 6,12) und „Gift“ (Am 6,12), die das soziale Leben ver-giften, „strömen“ Recht und Gerechtigkeit wie lebenspendendes Wasser und durchtränken alle Bereich der Gesellschaft.53 Wenn Is-rael dies in seinem sozialen Handeln beherzigt, wird auch sein Got-tesdienst nicht mehr auf JHWHs Ablehnung stoßen: „Denn Hin-gabe (ªæsæd) gefällt mir (ªåpa‚), nicht Schlachtopfer, Gotteser-kenntnis (da˛at ∞ælohîm) statt Brandopfer“ heißt es in Hos 6,6.54

Noch in spätnachexilischer Zeit geht es um ähnliche Fragen, wenn Mal 2,1-9 (innerhalb des zweiten Diskussionswortes 1,6-2,9) eine drastische Gerichtsankündigung gegen die Priester und ihre Nachlässigkeit im Opferwesen formuliert:55

1-10, BiKi 64 (2009) 141-147, hier: 143. Mit dem Verb rå‚åh wird die Akzep-tanz bzw. Nichtakzeptanz eines Opfertiers bzw. einer Opferhandlung ausge-drückt, s. Lev 1,3f; 7,18ff; 9,5ff; 22,23 (s. oben •••).27 u.ö. 52 Dietrich, Kollektive Schuld (s. Anm.45), 258 (Hervorhebung im Original). Zur Übersetzung von V.24 s. oben mit Anm.45. 53 S. dazu auch G. Fleischer, Das Buch Amos, in: U. Dahmen / G. Fleischer, Das Buch Joel / Das Buch Amos (NSK.AT 23/2), Stuttgart 2001, 196ff. 54 S. dazu J. Jeremias, Der Prophet Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983, 87ff. 55 S. dazu Hieke, Kult und Ethos (s. Anm.24), 29ff; zur obigen Übersetzung s. ders., aaO 31f.

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1 Und jetzt (gilt) über euch diese Anordnung, ihr Priester:

2 Wenn ihr nicht hört, und wenn ihr nicht das Herz daransetzt, meinem Namen Ehre zu geben, gesprochen hat JHWH Zebaoth,

dann werde ich gegen euch den Fluch schleudern, und ich werde verfluchen eure Segenssprüche, ja, ich habe ihn (sc. den Segen) sogar schon verflucht, denn ihr setzt nicht das Herz daran. 3 Und siehe: Ich bedrohe euch – die Nachkommenschaft,

und ich werde Mageninhalt (von Opfertieren) über euer Gesicht streuen, (den) Mageninhalt (der Opfertiere) eurer Feste und man schafft euch zu ihm hinaus. 4 Und ihr werdet erkennen, dass ich gesandt habe zu euch diese Anordnung, damit (bestehen) bleibe mein Bund mit Levi. Gesprochen hat JHWH Saba∞øt. 5 Mein Bund bestand mit ihm. Leben und Frieden, beides habe ich ihm gegeben – (und die) Furcht, so dass er mich fürchtete und vor meinem Namen erschrak.

Das Gegenbild zum Versagen der Priester zeichnen die anschließen-den Verse, die bis zur Wurzel des Priestertums bei Levi zurückge-hen. Die eigentliche Aufgabe des Priestertums definieren V.6f da-bei folgendermaßen:

6 Eine Weisung von Wahrheit war in seinem (sc. Levis) Mund, und kein Unrecht fand sich auf seinen Lippen, in Frieden und Aufrichtigkeit ging er mit mir, und viele veranlasste er zur Umkehr von Schuld. 7 Denn die Lippen eines Priesters bewahren Erkenntnis und Weisung sucht man von seinem Mund. Denn Bote von JHWH Zebaoth ist er.

Beim wahren Priestertum geht es nicht nur um die Unterscheidung von rein und unrein, sondern auch um die Unterweisung von Wahr-heit, Frieden, Aufrichtigkeit und um die Abkehr von Schuld. Da-mit ist der Text unmerklich „von Fragen des Kultes, des rechten

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Gottesdienstes, zum ,Ethos‘ im Sinne eines gerechten Handelns“56 übergegangen. Beide Verhaltens- und Handlungsweisen – Kult und Ethos – entsprechen einander und qualifizieren den homo ritualis als den homo ethicus. • Micha 6,1-8

Der Zusammenhang von Kult und Ethik spielt auch in Mi 6,1-8,57 einem spätnachexilischen Streitgespräch JHWHs mit Israel, eine zentrale Rolle. Er wird hier sogar ins Grundsätzliche gewendet, weil er in V.8 mit einer Reflexion über das „Gute“ und die Forde-rung Gottes an den Menschen abgeschlossen wird:

Doppelter Höraufruf des Propheten

1 Hört doch, was JHWH sagt: Auf streite mit den Bergen, und die Höhen sollen deine Stimme hören. 2 Hört, ihr Berge, den Streit JHWHs, und ihr beständigen Grundfesten der Erde! Denn einen Streit hat JHWH mit seinem Volk, und mit Israel setzt er sich auseinander.

Vorwurf JHWHs an sein Volk

3 Mein Volk, was habe ich dir getan und womit habe ich dich ermüdet? Antworte mir! 4 Ja, ich habe dich heraufgeführt aus dem Land Ägypten und aus dem Sklavenhaus habe ich dich losgekauft, und ich habe vor dir hergeschickt Mose, Aaron und Mirjam. 5 Mein Volk, gedenke doch, was Balak, der König von Moab,

geplant hat, und was ihm Bileam, der Sohn Beors, geantwortet hat, von Schittim bis Gilgal, um die Heilstaten JHWHs zu erkennen.

Fragen Israels

6 Womit soll ich JHWH entgegentreten (qdm pi.), mich beugen (kpp nif.) vor dem Gott der Höhe? Soll ich ihm entgegentreten (qdm pi.) mit Brandopfern,

56 Ders., aaO 40. 57 S. dazu R. Oberforcher, Das Buch Micha (NSK.AT 24/2), Stuttgart 1995; 122ff; J. Ebach, Was bei Micha „gut sein“ heißt, BiKi 51 (1996) 172-181; R. Kessler, Micha (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 1999, 256ff und J. Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha (ATD 24/3), Göttingen 2007, 197ff.

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mit einjährigen Kälbern? 7 Hat JHWH Wohlgefallen (rå‚åh) an Tausenden von Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meine Erstgeborenen geben (nåtan) für meine Verfehlung, die Frucht meines Leibes für mein sündiges Leben?

Antwort des Propheten

8 Er/Man hat dir gesagt, Mensch, was gut ist und was JHWH von dir fordert: nichts als Recht tun und Hingabe lieben und einsichtsvoll gehen mit deinem Gott.

Der Text beginnt mit einem doppelten Höraufruf des Propheten (V.1-2) sowie dem Vorwurf JHWHs an sein Volk (V.3-5) und setzt dann mit Fragen des kollektiven Ich, nämlich Israels, fort (V.6f), die in V.8 eine Antwort des Propheten finden. In allen drei Ab-schnitten geht es leitmotivisch um das „Was“ (måh V.3.5.6.8)58 des göttlichen und des menschlichen Tuns:

3 Mein Volk, was habe ich dir getan Doppelfrage an Israel und womit habe ich dich ermüdet? Antworte mir! 4 Ja, ich habe dich heraufgeführt aus dem Land Ägypten und aus dem Sklavenhaus habe ich JHWHs Taten an Israel: dich losgekauft, Exodus, und ich habe vor dir hergeschickt Wüstenwanderung Mose, Aaron und Mirjam. 5 Mein Volk, gedenke doch, was Balak, Aufforderung zum der König von Moab, geplant hat, Gedenken der und was ihm Bileam, der Sohn Beors, Gerechtigkeitserweise geantwortet hat, JHWHs von Schittim bis Gilgal, um die Heils- taten JHWHs zu erkennen.

Auf diesen Vorwurf reagiert Israel mit einer durch „womit“ (båmåh V.6aa) eröffneten Reihe von Fragen, die seine Ratlosigkeit verra-ten (V.6f) und erst in V.8 eine Antwort finden. Dabei wird die Po-sition des Menschen coram Deo zunächst in vertikaler (V.6f) – „ent-gegentreten“ (V.6aa; 6bb),59 „sich beugen“ (V.6ab), „Gott der Hö-

58 Vgl. Ebach, aaO 177 und Kessler, aaO 263. 59 S. dazu T. Kronholm, Art. qådam, ThWAT 6 (1989) 1169-1174, hier: 1171ff. Womit man JHWH „entgegentreten“ soll, bringt der spätnachexilische „Fest-psalm“ Ps 95,1f eindrücklich zum Ausdruck: „(1) Auf, lasst uns JHWH zuju-

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he“ (V.6aa) – und dann in horizontaler Ausrichtung (V.8) beschrie-ben: Gott der Höhe entgegentreten, sich beugen, geben V.6f Mensch Recht tun, Hingabe lieben, einsichtsvoll gehen

mit Gott V.8b Die ,Richtungsänderung‘, die mit V.8 stattfindet, ist entscheidend. Denn die Erwartung einer Annäherung an den „Gott der Höhe“, die sich in den Fragen von V.6f artikuliert, erfüllt sich nicht, weil die Mittel dieser Annäherung auf falschen Voraussetzungen beru-hen. Das richtige Leben beruht dagegen auf Maximen, die das Ge-meinschafts- und Gottesverhältnis betreffen und die vom Text als „gut“ qualifiziert werden. Was dieses „Gute“ ist, wird in V.8b un-missverständlich gesagt: „nichts als Recht tun und Hingabe lieben und einsichtsvoll gehen mit deinem Gott“. Ungewöhnlich ist da-bei die zweite der beiden „Was“-Fragen – „was JHWH von dir for-dert“ (V.8ba) –, die entgegen der sonstigen Suchrichtung Mensch → Gott60

von einer Bewegung Gottes hin zum Menschen (Gott

→ Mensch) spricht und dessen Forderung durch drei Verben kon-kretisiert, die „eine sich steigernde Linie“61 bilden, wobei „Hin-gabe lieben“ das Tun des „Rechts“ einschließt, und beides in „ein-sichtsvoll gehen mit deinem Gott“ enthalten ist.62 Während der dritte Infinitiv „einsichtsvoll/besonnen gehen (ha‚nea˛ lækæt) mit deinem Gott“ das menschliche Leben als „Weg mit Gott“ beschreibt, bei dem es auf die praktische (!) „Ein-sicht“63 in die „Gerechtigkeitstaten JHWHs“ (V.5bb) ankommt – aus der göttlichen Hinwendung zu Israel (vgl. V.3-5) soll der ein-

beln, // zujauchzen dem Felsen unserer Rettung! (2) Lasst uns seinem Ange-sicht mit Dank (tôdåh) entgegentreten (qdm pi.), // mit Gesängen (zimrôt) ihm zujauchzen!“; zu beachten ist in V.6 auch die Semantik des „Niederkniens“ // „Sich Beugens“ vor dem Königsgott JHWH, s. dazu F.-L- Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 51-100 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2000, 662f (Hossfeld) und F. Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kulti-schen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32-34 (FAT 55), Tübingen 2008, 192f. 60 S. dazu Kessler, aaO 269. 61 Ders., aaO 270. 62 Vgl. ders., ebd. und Oberforcher, Micha (s. Anm.57), 128ff. 63 Zur Bedeutung von ‚n˛ hif. s. Ges18 1126 s.v. ‚n˛ hif.; H.-J. Stoebe, Art. ‚n˛, THAT 2 (51995) 566-568; H. Ringgren, Art. ‚n˛, ThWAT 6 (1989) 1078-1080; Kessler, aaO 271 und Jeremias, Joel (s. Anm.57), 204.

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zelne die entsprechenden Folgerungen für sein Handeln ziehen (V.5aa „Mein Volk, gedenke doch ...“) –, rekurrieren die beiden ersten Infinitive „Recht tun“ (˛a¬ôt miçpå†) und „Hingabe lieben“ (∞ahabat ªæsæd) in expliziter Antithese zu Mi 3,8 (Verbrechen Ja-kobs // Verfehlung Israels, vgl. Mi 6,7!) auf das Tun des „Rechts“ und das Lieben der „Hingabe“ gegenüber dem Nächsten. Dadurch erhält das Zusammenleben seinen Maßstab („Recht“) und seine Ausrichtung („Hingabe“). Die Verbindung von ∞ahabat (Inf.cstr. von ∞åheb) und ªæsæd ist dabei ungewöhnlich und zeigt, dass die Hingabe „über das reine ‚Tun‘ hinausgeht und die innerste Inten-tion bezeichnet“64 . Die liebende „Hingabe“ ist die konnektive

Kraft, die der Gemeinschaft Sinn und Zusammenhalt verleiht, weil sie verlässlich ist und „dem anderen mehr gibt, als rechtlich gefor-dert ist“65 . Dieses Mehr ist das soziale Band, das als Füreinander-Handeln66 zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft geknüpft wird und „ebendarin auch Gott (betrifft), weil sich in Vollzug oder aber Unterlassung solchen Tuns intaktes oder zerbrochenes Got-tesverhältnis widerspiegelt“67 . So beantwortet Mi 6,6-8 die Frage nach dem rechten Gottes-verhältnis – „womit soll ich JHWH entgegentreten?“ – nicht mit der Darbringung von noch so zahlreichen, kostbaren oder gar ab-normen Opfergaben, sondern mit einem Ethos, das auf dem inne-ren Zusammenhang von Gottes- und Nächstenliebe beruht und das die beiden Grundrichtungen der menschlichen Existenz mitein-ander verbindet: „In horizontaler Ausrichtung ist der ethische Kos-mos menschlicher Verantwortlichkeit füreinander angesprochen, in vertikaler Ausrichtung die religiöse Dimension der Gestaltung

64 Jeremias, aaO 204, vgl. Kessler, aaO 271. Zu ªæsæd „Hingabe, Zuneigung, Loyalität“ s. Jeremias, Hosea (s. Anm.54), 60f: „Hæsæd (,Hingabe‘, ,Güte‘, ,Huld‘) ist ein Relationsbegriff, üblicherweise für zwischenmenschliche Beziehungen. Er bezeichnet ein Handeln, das der Verpflichtung zu Rücksichtnahme und Hilfe in vorgefundenen oder einmal eingegangenen Bindungen – Familie, Sippe, Be-ruf, Stadt, Staat – voll nachkommt, und zwar in einer dauerhaften und verläss-lichen Weise ... Solche selbstverständliche, keinen Schwankungen unterlegene, gefühlsmäßige und willentliche Verbundenheit mit anderen orientiert sich nicht an Pflichtenkatalogen, sondern schließt unerwartete und unverdienbare Großherzigkeit, Güte und Liebe ein und ist nie Ausdruck bloßer Gesinnung, sondern äußert sich stets in der Tat.“ 65 Kessler, ebd., vgl. Jeremias, Joel (s. Anm.57), 203f. 66 S. dazu B. Janowski, Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Um-kreis des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, in: ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 167-191, hier: 175ff. 67 Jeremias, Hosea (s. Anm.54), 61.

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der Gottesbeziehung.“68 Ethos und Religion bilden nach Mi 6,8 das „Fadenkreuz jeder Daseinsorientierung“69 . b) Die Erfahrung der Rettung (Psalmen) Opfer- und Kultkritik gibt es auch in der Weisheitsliteratur70 und in den Psalmen. Für die kultkritischen Sentenzen der Weisheit, die sich im Unterschied zur prophetischen Kultkritik nicht an das Volk, sondern an Einzelne wenden, ist es

„charakteristisch, daß sie kultische Handlungen, sei es das Schlacht-opfer oder das Gebet, einem Beurteilungskriterium unterstellen, wel-ches außerhalb des kultischen Bereichs liegt. Dieses Kriterium ist die weisheitliche Überzeugung, dass sich Jahwe-,Fürchten‘ und -,Ehren‘ wesentlich nicht im Kult (durch Schlachtopfer), sondern in der Le-benshaltung, also im Ethos vollziehen“71.

Die Psalmen wiederum verfügen neben traditionellen Opferter-mini und Opfervorstellungen72 über eine eigene Opfertheologie, die neben Berührungen mit der prophetischen Opfer- und Kultkri-tik von dieser signifikant unterschieden ist und weitere Einblicke in die biblische Theologie der Gabe gewährt. • Überblick Die opfer- und kultkritischen Aussagen der Psalmen liegen auf un-terschiedlichen Ebenen. Während Ps 16,4 und 106,28.37f Kritik an Opfern für Fremdgötter bzw. Tote üben,73 kritisieren Ps 40,7-9; 50,8-13; 51,18f und 69,31f ein falsches Opferverständnis: 68 Oberforcher, Micha (s. Anm.57), 132. 69 Ders., ebd. 70 Spr 15,8f.29; 17,1; 21,3.27; 28,9; Pred 4,17; Sir 34,21-31; 35,1-15.16-26 u.ö., s. dazu A. Meinhold, Die Sprüche, Teil 1-2 (ZBK.AT 16/1-2), Zürich 1991, 251.348.369; Ernst, Weisheitliche Kultkritik (s. Anm.44), passim; G. Sauer, Je-sus Sirach / Ben Sira (ATD Apokraphen 1), Göttingen 2000, 242ff.244f.245ff; L. Schwienhorst-Schönberger, Kohelet (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2004, 312f; W. Urbanz, Gebet im Sirachbuch. Zur Terminologie von Klage und Lob in der griechischen Texttradition (HBS 60), Freiburg / Basel / Wien 2009, 40ff. 141ff u.ö.; B.M. Zapf, Jesus Sirach 25-51 (NEB 39), Würzburg 2010, 225ff. 229ff; M. Sæbø, Sprüche (ATD 16/1), Göttingen 2012, 213.260 u.ö. Auch die dtr geprägte Maxime 1 Sam 15,22 dürfte mit weisheitlichen Motiven arbeiten, s. dazu W. Dietrich, Samuel (BK VIII/2,3), Neukirchen-Vluyn 2012, 165f. 71 Ernst, aaO 199 (Hervorhebung im Original). 72 S. dazu die Übersicht bei Radebach-Huonker, Opferterminologie (s. Anm. 39), 33ff. 73 Zur Kritik an Trankopfern von Blut für Fremdgötter (Ps 16,4), an Opfern für Tote (Ps 106,28) sowie an Kinderopfern für die Dämonen // Götzen Kanaans (106,37f) s. dies., aaO 224f mit der dort genannten Lit.

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7 An Schlachtopfer und Speisopfer hast du (sc. JHWH) kein Gefallen (ªåpa‚) – Ohren hast du mir gegraben, Brandopfer und Sündopfer hast du nicht verlangt. 8 Einst sprach ich: „Siehe, ich bin gekommen, in der Schriftrolle ist mir vorgeschrieben!“ 9 Am Tun nach deinem Wohlgefallen (rå‚ôn), mein Gott, habe ich Gefallen (ªåpa‚), und deine Tora (ist) inmitten meiner Eingeweide. (Ps 40,7-9)74

8 Nicht wegen deiner Schlachtopfer weise ich dich zurecht, und deine Brandopfer sind ständig vor mir. 9 Ich nehme nicht aus deinem Haus einen Stier, noch Böcke aus deinen Hürden. 10 Denn mir gehört alles Wild des Waldes, die Tiere in den Bergen zu Tausend. 11 Ich kenne alle Vögel der Berge, und die Insekten des Feldes sind bei mir. 12 Hätte ich Hunger, würde ich es dir nicht sagen, denn mir gehört der Erdkreis und was ihn erfüllt. 13 Esse ich etwa das Fleisch von Stieren und trinke ich das Blut von Böcken? 14 Opfere Gott Dank und erfülle dem Höchsten deine Gelübde 15 und rufe mich an am Tag der Not – ich werde dich erretten, und du wirst mich ehren!“ (Ps 50,8-15)

17 Herr, meine Lippen mögest du öffnen, und mein Mund soll verkündigen dein Lob! 18 Denn am Schlachtopfer hast du kein Gefallen (ªåpa‚), und gebe ich ein Brandopfer – du hast kein Wohlgefallen (rå‚åh) (daran). 19 ‹Mein› Schlachtopfer,75 Gott, ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes, zerschlagenes Herz verachtest du, Gott, nicht. (Ps 51,17-19) 31 Ich will preisen den Namen Gottes mit einem Lied, und ich will ihn groß machen mit einem Danklied, 32 ja, das gefällt JHWH besser (jå†ab + min) als ein Rind, als ein Stier mit Hörnern und gespaltenen Klauen. (Ps 69,31f)

74 S. dazu Hermisson, Sprache und Ritus (s. Anm.39), 43ff; G. Braulik, Psalm 40 und der Gottesknecht (fzb 18), Würzburg 1975, 131ff und unten •••. 75 So mit Hermisson, aaO 47f u.a.

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Daneben stehen Texte mit metaphorischen Opferaussagen:

Mit opferkritischem Hintergrund

‹Mein› Schlachtopfer, Gott, ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes, zerschlagenes Herz verachtest du (båzåh), Gott,

nicht. (Ps 51,19)

Ohne opferkritischen Hintergrund

Die Gaben meines Mundes nimm doch wohlgefällig an (rå‚åh), JHWH,

und lehre mich deine Rechtsentscheide! (Ps 119,108)

Mein Gebet möge als Räucheropfer dastehen vor dir, das Erheben meiner Hände als Abendgabe! (Ps 141,2)

Mit der prophetischen Opfer- und Kultkritik haben die opfer- und kultkritischen Psalmen zwar die Anrechnungsterminologie (ªåpa‚ „Gefallen haben“, rå‚åh „Wohlgefallen haben“, rå‚ôn „Wohlge-fallen“)76 gemeinsam, dennoch „sind Propheten und Psalmen von verschiedenen Positionen aus zu einer Kritik am Opferkultus ge-langt“77 . Während bei den Propheten die Suche nach der gerech-ten Gesellschaft im Vordergrund steht, betonen die Psalmen die Situation des Menschen vor Gott. Diese Differenz zeigt sich auch an der sprachlichen Gestalt der Psalmentexte, namentlich an den Constructus-Verbindungen zibªê-‚ædæq „Schlachtopfer der Ge-rechtigkeit“ (Ps 51,21)78 und nidbôt pî „die Gaben meines Mun-

76 Zur prophetischen Anrechnungsterminologie s. Radebach-Huonker, aaO 224 Anm.6. 77 Hermisson, aaO 144 (Hervorhebung im Original), vgl. Radebach-Huonker, aaO 228. Zu den theologiegeschichtlichen Aspekten s. bes. Marx, Les systèmes sacrificiels (s. Anm.7), 211ff. 78 Vgl. Ps 4,6 („opfert Schlachtopfer der Gerechtigkeit/rechte Schlachtopfer und vertraut auf JHWH“), ferner Dtn 33,19. Die zibªê-‚ædæq von Ps 4,6 sind Opfer, die „in Gerechtigkeit bestehen sollen, d.h. ,die Mächtigen‘ sollen jene ,Schlachtopfer‘ darbringen, die wirklich zum Heil führen: Sie sollen soziale Gerechtigkeit praktizieren und aufhören mit ihrer Ausbeutung der Armen (,der Vielen‘), indem sie JHWH zum Maß und zur Mitte ihres Lebens machen.“ (F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Die Psalmen. Psalm 1-50, Würzburg 1993, 62 [Zenger]), s. dazu auch W. Zwickel, „Opfer der Gerechtigkeit“ (Dtn 33,19; Ps 4,6; 51,21), VT 45 (1975) 386-391, der unter ‚ædæq „das der jeweiligen Situation Angemes-sene“ versteht und das Syntagma zibªê-‚ædæq mit „angemessene Opfer“ übersetzt. Zu vergleichen sind die Wendungen „Waagschalen der Gerechtig-keit/richtige Waagschalen“ (mo∞znê ‚ædæq Lev 19,36; Ez 45,10; Hi 31,6), „recht-schaffene Männer“ (∞ançê ‚ædæq Sir 9,16) oder „Wagenspuren der Gerechtig-keit/rechte Bahnen“ (ma˛ggelê-‚ædæq Ps 23,3), bei denen das nomen collectivum

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des“ (Ps 119,108) sowie an den Wendungen „‹Mein› Schlachtop-fer ist ein zerbrochener Geist“ (Ps 51,19) und „mein Gebet als Räucheropfer“ // „das Erheben meiner Hände als Abendgabe“ (Ps 141,2). Wie sind diese Wendungen zu verstehen? Während die Con-structus-Verbindung „Schlachtopfer der Gerechtigkeit“ auf eine

Wertung zielt (genitivus qualitatis), lässt sich in Ps 51,19; 119,108 und 141,2 eine deutliche Akzentverschiebung vom Ritus zum Ge-bet bzw. vom Kult zur Anthropologie feststellen. Das belegen die anthropologischen Begriffe „Geist“, „Herz“, „Mund“ und „Hän-de“, die das Augenmerk auf den Beter und dessen persönliche ,Hin-gabe‘ im Gebet bzw. im Danklied lenken. Nicht blutige Schlacht- und Brandopfer, die den Geretteten ,symbolisieren‘ sollen, son-dern, wie Ps 51,19 betont, „sich selbst als den an Herz und Geist erneuerten Menschen übergibt er seinem Gott“79 :

‹Mein› Schlachtopfer, Gott, ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes, zerschlagenes Herz verachtest du, Gott, nicht. (Ps 51,19)

Die Gaben meines Mundes nimm doch wohlgefällig an, JHWH, und lehre mich deine Rechtsentscheide! (Ps 119,108)

Mein Gebet möge als Räucheropfer dastehen vor dir, das Erheben meiner Hände als Abendgabe! (Ps 141,2)

Dass diese Akzentverschiebung, wie die Opfertermini „Schlacht-opfer“, „(freiwillige) Gaben“, „Räucheropfer“ und „Abendgabe“ deutlich machen, keinen Auszug aus dem Kult und seinem Sym-bolsystem bedeutet,80 belegt auch die für die Psalmenfrömmig-keit charakteristische Form des Toda-Opfers. Ihr wenden wir uns abschließend zu. ‚ædæq immer die Normgemäßheit („richtig, angemessen, ordnungsgemäß“) bezeichnet. 79 F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 51-100 (s. Anm.59), 55 (Zenger [Her-vorhebung im Original]). 80 Wie Hermisson, aaO 50 im Blick auf Ps 51,19 betont, „wird hier mit dem ,Opfer‘ nicht etwas neben das bekennende Loben (sc. von V.17) gestellt, denn dieses ,Opfer‘ ist ... in strenger Weise dem Lob, der twdh, zugeordnet“. Und in Ps 141,2 ist die Explikation „als“ zu beachten: das Gebet // Erheben der Hände nimmt die Stelle des Opfers ein – aber unter Rekurs auf die Opferterminologie, vgl. ders., aaO 56.

„Womit soll ich JHWH entgegentreten?“ (Mi 6,6)

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• Psalm 50 Die wichtigste Form des Danks im Alten Testament ist das mit dem „Danklied“ (tôdåh) verbundene „Dankopfer“ (zæbaª [hat]tôdåh

bzw. zæbaª tôdåh çelåmîm), das als Gemeinschaftsmahl dargebracht wurde (Am 4,5; Lev 7,11-15; 22,29f, vgl. 2 Chr 29,31; 33,16).81 Nach den Dankliedern des einzelnen hatte der Beter in der Si-tuation der Not die Darbringung eines Gelübdes (nedær/nædær) versprochen, das er im Rahmen eines Gemeinschaftsopfermahls einlöste (Ps 50,14; 56,13; 116,17f, vgl. Ps 22,26f u.ö.)82 und des-sen wesentliches Element die tôdåh war. Die Frage ist aber, ob der Begriff tôdåh, der im Psalter 12mal belegt ist,83 ein „Dankopfer“ oder ein „Danklied“ meint. Bekannt-lich kommen beide Bedeutungen in Frage. Dass eine tôdåh als

„Danklied“ das „Dankopfer“ ersetzen kann, geht aus Ps 26,7; 42,5;

69,31ff und 147,7 hervor;84 auch in Ps 95,2 und 100,1.4 dürfte eher von einem „Danklied“ als von einem „Dankopfer“ die Rede sein.85 Schwieriger zu entscheiden sind dagegen die Fälle, wo der Begriff tôdåh jeweils in Verbindung mit dem Opferterminus zåbaª „schlachten“ belegt ist wie in Ps 50,14.23 (+ tôdåh); 107,22 (+

zibªê tôdåh) und 116,17 (+ zæbaª tôdåh).86 Gehen wir zur genau-eren Analyse von Ps 50 aus:

1* Ein Psalm Asaphs

Theophanieschilderung

Titulierung Gottes und kosmische Dimension seines Wortes

1* El, Gott, JHWH, hat gesprochen und gerufen die Erde vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang.

Schilderung der Lichterscheinung Gottes

2 Von Zion, der Vollendung an Schönheit, ist Gott aufgestrahlt. 3 Unser Gott komme und schweige nicht.87 Feuer frisst vor ihm her, und rings um ihn stürmte es sehr.

81 S. dazu ders., aaO 32ff und G. Mayer / J. Bergman / W. von Soden, Art. jdh usw., ThWAT 3 (1982) 455-474. 82 S. dazu H. Tita, Gelübde als Bekenntnis. Eine Studie zu den Gelübden im Alten Testament (OBO 181), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 2001, 105ff. 83 Ps 26,7; 42,5; 50,14.23; 56,13; 69,31; 95,2; 100,1.4; 107,22; 116,7 und 147,7. 84 S. dazu Mayer / Bergman / von Soden, aaO 467 (Mayer) und ausführlich Hermisson, aaO 37ff. 85 Vgl. Hermisson, aaO 37. 86 S. dazu auch ders., aaO 34ff. 87 Der Wunschsatz V.3a unterbricht die Theophanieschilderung V.1-6, vgl. Hossfeld / Zenger, Psalm 1-50 (s. Anm.78), 308.312 (Hossfeld).

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Aufruf JHWHs zur Versammlung seiner Frommen

4 Er ruft dem Himmel oben zu und der Erde, zu richten sein Volk: 5 „Versammelt mir meine Frommen, die meinen Bund über dem Schlachtopfer schließen.“

Kosmische Verkündigung der Gerechtigkeit Gottes

6 Die Himmel haben seine Gerechtigkeit verkündet, ja, Gott selbst ist Richter. – Sela Erster Teil der JHWH-Rede

Höraufruf + Selbstvorstellung Gottes

7 „Höre doch, mein Volk, ich will reden, Israel, ich will über dich Zeugnis ablegen, Gott, dein Gott bin ich!

Ablehnung der Tieropfer mit Begründung

8 Nicht wegen deiner Schlachtopfer weise ich dich zurecht, und deine Brandopfer sind ständig vor mir. 9 Ich nehme nicht aus deinem Haus einen Stier, noch Böcke aus deinen Hürden. 10 Denn mir gehört alles Wild des Waldes, die Tiere in den Bergen zu Tausend. 11 Ich kenne alle Vögel der Berge, und die Insekten des Feldes sind bei mir. 12 Hätte ich Hunger, würde ich es dir nicht sagen, denn mir gehört der Erdkreis und was ihn erfüllt. 13 Esse ich etwa das Fleisch von Stieren und trinke ich das Blut von Böcken?

Weisung zum rechten Opfer

14 Opfere (zåbaª) Gott Dank (tôdåh) und erfülle (çlm pi.) dem Höchsten deine Gelübde (nedårîm) 15 und rufe mich an am Tag der Not – ich werde dich erretten, und du wirst mich ehren!“ Zweiter Teil der JHWH-Rede

Anklage (Doppelfrage) + Verstärkung durch weisheitliches Ethos

16 Und zum Frevler sprach Gott: „Was (erlaubst) du dir, meine Satzungen aufzuzählen, und nahmst meinen Bund in deinen Mund? 17 Aber du, du hasst Zucht, und warfst meine Worte hinter dich.

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Konkretisierung der Anklage

18 Wenn du einen Dieb sahst, hattest du Wohlgefallen an ihm, und mit Ehebrechern (war) dein Teil. 19 Deinen Mund hast du ausgesandt mit Bösem, und deine Zunge flicht Trug. 20 Du sitzt, gegen deinen Bruder redest du, auf den Sohn deiner Mutter legst du Makel. Zusammenfassung

21 Solches hast du getan – und ich sollte schweigen? Bildest du dir ein, ich sei wie du? Ich weise dich zurecht und will es dir vor Augen stellen!“ Schluss

Weisheitliche Mahnung

22 „Erkennt doch dies, die ihr Gott vergesst, damit ich nicht zerreiße und niemand da ist, der rettet! Lehrsatz über den Zusammenhang von Kult und Ethik

23 Wer Dank (tôdåh) opfert (zåbaª), ehrt mich, und wer auf den Weg achtet,88 den lasse ich sehen die Rettung Gottes.“

Dieser Psalm, der im Stil einer durch weisheitliche Elemente gepräg-ten Gerichtsrede gehalten ist,89 gliedert sich in eine Theophanie-schilderung (V.1-6) und eine zweiteilige JHWH-Rede, die zum ei-nen gegen ein falsches Opferverständnis (V.7-15) und zum ande-ren gegen konkrete Einzelvergehen (V.16-21) gerichtet ist. V.23, der zusammen mit V.22 ebenfalls als JHWH-Rede stilisiert ist, fasst

beide Teile zusammen, indem er in seiner ersten Hälfte V.23aa bün-delt, was in V.7-15, und in seiner zweiten Hälfte V.23ab.b resü-miert, was in V.16-21 gesagt wird. Wie dabei die beiden Partizipial-wendungen zobeaª tôdåh „wer eine tôdåh opfert“ und ¬åm dæræk 88 ¬åm dæræk ist wohl Breviloquenz für ¬åm libbô ˛al dæræk, s. dazu die Sachparallelen bei Ges18 1284f s.v. ¬îm/¬ûm 4. 89 S. dazu Hossfeld / Zenger, Psalm 1-50 (s. Anm.78), 308f (Hossfeld) und zu Ps 50 H. Gese, Psalm 50 und das alttestamentliche Gesetzesverständnis, in: ders., Alttestamentliche Studien, Tübingen, 1991, 149-169; H. Spieckermann, Rede Gottes und Wort Gottes in den Psalmen, in: K. Seybold / E. Zenger (Hg.), Neue Wege der Psalmenforschung (HBS 1), Freiburg / Basel / Wien 1994, 157-173, hier: 159ff; C. Süssenbach, Der elohistische Psalter. Untersuchungen zu Kom-position und Theologie von Ps 42-83 (FAT II/7), Tübingen 2005, 75ff; Rade-bach-Huonker, Opferterminologie (s. Anm.39), 161ff u.a.

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„wer auf den Weg achtet“ zeigen, sind das Opfern der tôdåh und das Achten auf den Weg Handlungskorrelate, die das Gott/Mensch-

und das Mensch / Mensch-Verhältnis umfassend, nämlich bezogen auf Kult und Ethik beschreiben. „Dem Ehren Gottes in der kulti-schen Sphäre entspricht das Erfahren des Gottesheils in der mensch-lichen Sphäre, und so ist Gott alles in allem“90 :

Wer Dank opfert (zobeaª tôdåh), Kult: Mensch → Gott ehrt mich (vgl. V.7-15)

und wer auf den Weg achtet (¬åm dæræk), Ethik: Mensch → Mensch den lasse ich sehen die Rettung Gottes. (vgl. V.16-21)

Die eigentliche Frage ist aber, ob das Syntagma zåbaª + tôdåh (V.14.23aa) im Sinn der Darbringung eines Dankopfers nach dem Vorbild von Lev 7,12ff oder eines Danklieds zu verstehen ist und ob diese zweite Darbringungsform das Ende der „materiellen“ Op-fer bedeutet. Die Opferkritik von Ps 50,8-13 hat, wenn man sie mit derjenigen von Ps 40,7-9; 51,18f und 69,31f91 vergleicht, ei-ne besondere Pointe: Schlacht- und Brandopfer sind legitim, wenn sie im richtigen, und illegitim, wenn sie im falschen Verständnis vollzogen werden. Es geht also nicht um eine generelle Opferkri-tik, sondern um „eine Reform des Opferkultes auf dem Zion“92 . Diese Reform hat ihr Zentrum in dem Gedanken, dass das Dank-lied als Opfer93 dargebracht wird, was Ps 50,14a.23aa mit dem Syntagma zåbaª tôdåh und das heißt unter Rekurs auf die Opfer-sprache ausdrückt. „twdh, das ist Erfüllung der Gelübde, das ist aber auch der Klageschrei in der Not, dem Gott die Erhörung nicht versagt“94 . Damit ist der traditionelle opferkultische Zusammenhang, wie er in V.8 mit Bezug auf das Schlacht- und das Brandopfer voraus-

90 Gese, aaO 168. 91 Zu diesen Texten s. oben •••. 92 Hossfeld / Zenger, aaO 310, vgl. 313ff. 93 Vgl. Hermisson, Sprache und Ritus (s. Anm.39), 34ff; H.-J. Kraus, Psalmen, 1. Teilband: Psalmen 1-59 (BK XV/1), Neukirchen-Vluyn 61989, 534; Spiecker-mann, aaO 161 u.a., anders Gese, aaO 161ff; Hossfeld / Zenger, aaO 314f, die von einem Dankopfer ausgehen. Nach Süssenbach, aaO 81f und Radebach-Huonker, aaO 36.162.169ff.225f sind beide Deutungen möglich, s. dazu aber unten Anm.95. Auch in Ps 40,9 bedeutet das „Tun nach deinem Wohlgefallen“ (V.9a), „dass der Beter Jahwe (durch ein Loblied) die Ehre gibt. Dieses Loblied wäre dann wie die Opfer lr‚wn“ (Hermisson, aaO 45), vgl. Braulik, Psalm 40 (s. Anm.74), 136. 94 Spieckermann, ebd.

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gesetzt wird,95 durchbrochen und zwar durch eine Theologie der Dankbarkeit, die das Gott/Mensch-Verhältnis auf eine neue Grund-lage stellt, ohne den Raum des Kults zu verlassen. Diese neue

Grundage ist die Gabe der Toda, die über ein neues Kultverständ-nis wesentlich hinausgeht. Als lobpreisende Antwort auf Gottes Rettung ist sie „Ausdruck einer Grundhaltung, die sich allein auf Gottes Gnade angewiesen weiß und in ihm den Geber aller Dinge sieht“96 . Diese Haltung kommt in unübertroffener Weise auch in dem Gebet 1 Chr 29,10-1997 zum Ausdruck, mit dem David für die freiwilligen Gaben dankt, die für den Bau des Tempels zur Ver-fügung gestellt werden:

Ja, wer bin ich und wer ist mein Volk, dass wir die Kraft hätten, auf solche Weise freiwillig zu geben (ndb hitp.)? Ja, von dir (sc. JHWH) kommt alles, und aus deiner Hand ist, was wir dir gegeben haben (nåtan). (1 Chr 29,14)

Der Mensch hat die Kraft, zu geben – aber nur, weil und sofern er er-kennt, dass alles, was er hat und gibt, aus der Hand Gottes kommt (vgl. V.11f). Es ist diese Einsicht in die göttliche Vorgabe, die dem menschlichen Geben Sinn und Ziel verleiht. III. Zusammenfassung Zentrale Bereiche der Lebenswelt des alten Israel wie Kult, Recht, Wirtschaft, Handel und Politik sind von Gabebeziehungen ge-prägt, die eine materielle und eine symbolische Seite haben.98 Der Versuch, auch die alttestamentliche Oper- und Kultkritik mit Hilfe der Gabetheorie zu verstehen, bedeutet nicht, eine neue Theorie des Opfers vorzuschlagen. Der Rückgriff auf die Gabe- 95 Vgl. auch V.5! V.8 macht deutlich, dass Schlacht- und Brandopfer nicht der Grund für die Ablehnung der Tieropfer sind, wie sie in V.9 und V.13 zum Ausdruck kommt. Insofern bildet die tôdåh V.14.23 nicht einen Gegensatz zu zæbaª und ˛olåh (V.5.8), ist m.E. also kein Opferterminus im engeren Sinn, sondern liegt auf einer anderen, metaphorischen Ebene. 96 Süssenbach, aaO 82, vgl. Gese, aaO 163ff; Radebach-Huonker, aaO 172 u.ö. Zur Theologie der Dankbarkeit s. ausführlich B. Janowski, Dankbarkeit. Ein anthropologischer Grundbegriff im Spiegel der Toda-Psalmen, in: ders., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 267-312. 97 S. dazu H.-P. Mathys, Dichter und Beter. Theologen aus spätalttestament-licher Zeit (OBO 132), Freiburg, Schweiz / Göttingen 1994, 36ff und S. Japhet, 1 Chronik (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2002, 455ff. 98 S. dazu jetzt A. Grund, Homo donans. Kulturanthropologische und exege-tische Erkundungen zur Gabe im alten Israel, JBTh 27 (2012) 45-71 sowie die lexikographische Untersuchung von F. Zanella, The Lexical Field of the Sub-stantives of „Gift“ in Ancient Hebrew (SSN 54), Leiden / Boston 2010.

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theorie, wie sie von M. Mauss und seinen heutigen Interpreten99 vertreten wird, erlaubt es aber, das Opfer deutlicher als Kommu-nikation zwischen der sakralen und der profanen Welt,100 zwischen – alttestamentlich gesprochen – JHWH und Israel zu verstehen. Diese Kommunikation besteht aus mehreren Akten: Geben, Annehmen, Erwidern. Dabei gehen die göttlichen Gaben – seine Schöpfung, sein Bund, sein Segen – nicht nur „als ,erste Gaben‘ der menschlichen ,zweiten Gabe‘ immer schon voraus“101 , sie sind auch der Ermöglichungsgrund für die antwortende Gabe des Men-schen. Diese Reziprozität von Geben, Annehmen und Erwidern ist nicht nur asymmetrisch, sie steht auch unter dem Primat der gött-lichen Vorgabe; gleichwohl ist ihr Ziel die Ermöglichung und Auf-rechterhaltung der Kommunikation zwischen Gott und Mensch. Folgende Aspekte sind dabei konstitutiv: 1. Da JHWH im Opferkult nichts gegeben wird, dessen er be-dürfte, weil er es als Schöpfer längst besitzt (vgl. Ps 50,9-12!), ist das kultische Opfer trotz seiner reziproken Struktur kein Tausch von Gütern nach dem Prinzip des do ut des, sondern der Vollzug von Gemeinschaft mit Gott, der als Gast zu seinem Volk „kommt“ und es „segnet“ (Ex 20,24-26). Die Erwartung einer Begegnung mit Gott im Kult ist auch der Grund für den ethischen Anspruch der prophetischen Kultkritik (Am 5,*21-24.27; Hos 6,6; Jes 1,10-17; Mi 6,6-8; Mal 1,6-2,9 u.a.). Diese gilt nicht dem Kult als sol-chem, sondern gesellschaftlichen Verhältnissen, die zu einer „Dis-krepanz zwischen kultischem Lebenszusammenhang und lebens-feindlichen Verhaltensweisen“102 führen. Auf diese Diskrepanz re-agiert die vor- und nachexilische Schriftprophetie mit einem Ethos, wonach „das soziale Verhalten im Alltag ... zur Norm für die Le-gitimität des Gottesdienstes (wird)“103 . Die Akzeptanz bzw. Nicht-

99 S. dazu die Hinweise •••. 100 Dies war der methodische Ansatzpunkt der Opfer-Studie von Mauss / Hu-bert, Essay (s. Anm.5), 93-216, s. dazu Moebius, Religionssoziologie (s. Anm. 5), 644ff. Zur Rezeption in der alttestamentlichen Wissenschaft s. Eberhart Bedeu-tung der Opfer (s. Anm.7), 334ff. 101 V. Hoffmann, Die Opfergabe Jesu Christi, JBTh 27 (2012) 295-320, hier: 301, s. dazu auch Hieke, Kult (s. Anm.24), 143 u.a. 102 Willi-Plein, Opfer und Ritus (s. Anm.7), 153. 103 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments (ThW 3/2), Stuttgart Berlin / Köln 1994, 108, vgl. 104ff. Auch in den opfer- und kultkritischen Psal-men wird, wie Radebach-Huonker, Opferterminologie (s. Anm.39), 227 Anm.12 zu Recht betont, ethisches Verhalten thematisiert. Dafür spricht nicht nur die Wendung zibªê-‚ædæq (s. dazu oben •••), sondern auch ein Text wie Ps 50,23.

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akzeptanz der Opfer ist dabei eine typische Reaktion Gottes, der kein „Wohlgefallen“ (Am 5,22)104 an den Opfergaben Israels hat. 2. Mit der prophetischen Kultkritik haben die opferkritischen Psal-men zwar die Anrechnungsterminologie gemeinsam (vgl. Ps 40,7; 50,18),105 sie gehen aber über diese hinaus, indem sie ausführli-cher noch als Am 5,24 und Jes 1,17 davon sprechen, woran JHWH Gefallen hat: am „Tun nach deinem Wohlgefallen“ // an „deiner Tora“ (Ps 40,9), an einem „zerbrochenen Geist“ // an einem „zer-schlagenen Herzen“ (Ps 51,19), an „Schlachtopfern der Gerechtig-keit“ (Ps 4,6; 51,21),106 am „Danklied“ (Ps 69,31) und an den „Gaben meines Mundes“ (Ps 119,108). Die Opferkritik der Psal-men, die nicht zu einem Auszug aus dem Kult führte,107 verän-derte offenbar auch den Kult, indem sie ihn zu einem Ort der per-sönlichen Gottesbegegnung machte.108 Damit wurde eine Ent-wicklung eingeleitet, die zu einer fundamentalen Transformation des Opfers führte.109 3. Zu den Faktoren, die diesen Transformationsprozess ausgelöst haben, dürfte die Todafrömmigkeit gehören, die die Möglichkeit einer direkten, nicht durch einen Priester vermittelten

Gott/Mensch- Beziehung eröffnete (vgl. Ps 50,14f.23). Besonders eindrücklich ist in diesem Zusammenhang das Motiv der von JHWH gegrabenen Ohren, die nach Ps 40,7-9 der Tora den Weg ins Innere des Beters weisen:

7 An Schlachtopfer und Speisopfer hast du (sc. JHWH) kein Gefallen – Ohren hast du mir gegraben, Brandopfer und Sündopfer hast du nicht verlangt. 8 Einst sprach ich: „Siehe, ich bin gekommen, in der Buchrolle ist mir vorgeschrieben!“

104 Vgl. Jes 1,11; Hos 6,6; Mal 1,10.13; 2,13 u.ö. 105 Vgl. Braulik, Psalm 40 (s. Anm.74), 134. 106 Ps 51,20f ist ein Fortschreibungstext, der gegenüber der Opfer- und Kultkritik von Ps 51,17-19 (s. dazu oben •••) von Opfern spricht, die als „Schlachtopfer der Gerechtigkeit/rechte Schlachtopfer“ JHWHs Wohlgefallen finden, s. dazu B. Janowski, Auf dem Weg zur Buchreligion. Transformationen des Kultischen im Psalter, in: J. Bremer / F.-L. Hossfeld / T.M. Steiner (Hg.), Trägerkreise in den Psalmen (BBB), Göttingen 2014 (im Druck). 107 Vgl. Radebach-Huonker, aaO 228.230.233.235f u.ö. 108 Vgl. Hermisson, aaO 151 und Gese, Psalm 50 (s. Anm.89), 165. 109 S. dazu Marx, Les systèmes sacrificiels (s. Anm.7), 211ff; Stroumsa, Ende des Opferkults (s. Anm.1), 86ff und J. Rüpke, Römische Religion und religiöser Wandel in der Spätantike, VF 52 (2007) 7-19, hier: 15ff.

„Womit soll ich JHWH entgegentreten“ (Mi 6,6)

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9 Am Tun nach deinem Wohlgefallen (rå‚ôn), mein Gott, habe ich Gefallen (ªåpa‚), und deine Tora (ist) inmitten meiner Eingeweide (me˛îm).

Es ist nicht vordergründige Opferkritik, die sich in diesem Text niederschlägt, sondern „die auf dem Boden der tiefgründigen Dank-opferfrömmigkeit gewachsene volle Einbeziehung des Menschen in das Wesen des Opfers“110 . Wenn das „Wesen des Opfers“, der Glaube Israels war, dass JHWH seinem Volk nahekommt und der Kult der Ort ist, wo dies sinnfällig wird, so wird dieser Sinn durch die kultkritischen Psalmen transformiert und erweitert. Angewen-det auf Ps 40: Die hörende und tätige Hinwendung des Menschen zu Gott (V.7aa.9a), dessen Tora sein Inneres erfüllt (V.9b),111 ist als solche „die ,Opfergabe‘, mit der der Beter für seine Rettung danken will.“112 Ein letzter Aspekt kommt hinzu: Es will nämlich beachtet sein, dass bereits das Eingangsportal des Psalters (Ps 1-2) von einer ver-gleichbaren Hinwendung des Menschen zu Gott spricht, wenn in Ps 1,1-3 der Gerechte glücklich gepriesen wird, der sein Gefallen (ªepæ‚) an der Tora JHWHs hat und diese bei Tag und bei Nacht rezitiert (hågåh).113 Er verleibt sie sich damit regelrecht ein und zwar in einer Weise, die ihm Halt gibt und seinem Tun Gelingen verleiht:

1 Glücklich der Mann, der nicht gegangen ist nach dem Rat von Frevlern und den Weg von Sündern nicht betreten hat,

110 H. Gese, Die Herkunft des Herrenmahls, in: ders., Zur biblischen Theo-logie. Alttestamentliche Vorträge, Tübingen 1983, 107-127, hier: 121. 111 Als Sitz der Gefühlsregungen und Willensäußerungen bezeichnen die „Eingeweide“ (me˛îm) das Innere des Menschen. In Ps 40,9 und 71,6 dienen die „Eingeweide“ allerdings nicht zum Ausdruck von Gefühlsregungen, s. dazu M.S. Smith, Herz und Innereien in israelitischen Gefühläußerungen. Notizen aus der Anthropologie und Psychobiologie, in: A. Wagner (Hg.), Anthropolo-gische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur histo-rischen Anthropologie (FRLANT 232), Göttingen 2009, 171-181, hier: 171 Anm.1. 112 Hossfeld / Zenger, Psalm 1-50 (s. Anm.78), 256 (Zenger), vgl. Braulik, Psalm 40 (s. Anm.74), 136: „Vor allem wird in [Ps 40] V.9 der ... priesterliche Anrechungsterminus rå‚ôn ganz bewusst uminterpretiert: das Danklied, nein mehr noch: das kerygmatisch ausgerichtete Bekenntnis des Psalmisten, ist anstelle der Dankopfer zum rå‚ôn geworden. So ist es nun der Sänger selbst, der rå‚ôn vollbringt (˛sh). Diese Umdeutung findet ihre Fortsetzung in der Feststellung, dass der Beter daran ,Gefallen‘ hat (ªåpa‚tî), während in der Kult-sprache dies stets von Jahwe ausgesagt wird (vgl. V.7).“ 113 S. dazu F. Hartenstein / B. Janowski, Psalmen (BK XV/1), Neukirchen-Vluyn 2012, 19ff (Janowski).

„Womit soll ich JHWH entgegentreten?“ (Mi 6,6)

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und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat, 2 sondern der an der Weisung (tôråh) JHWHs sein

Gefallen (ªepæ‚) hat und seine Weisung rezitiert bei Tag und bei Nacht. 3 Er wird sein wie ein Baum, gepflanzt an Wasserkanälen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und dessen Laub nicht verwelkt. Und alles, was er tut, wird gelingen.

Ebenso wie der Gerechte von Ps 1,2 findet auch der Beter von Ps 40,9

„sein Gefallen (ªp‚) im Tun dessen, was Gott selbst gefällt (r‚n). Da-durch wird der ,persönliche‘ Aspekt der Tora unterstrichen. Die Beo-bachtung des Gesetzes wird als eine Sache des Herzens empfunden, als Ausdruck der liebenden Beziehung zweier Personen“114.

Der Zusammenhang von Ps 1,2 und Ps 40,9 ist deshalb bedeut-sam, weil damit eine Verbindung zwischen dem Proömium Ps 1-2 und dem Schluss des ersten Davidpsalters Ps 3-41 geknüpft wird.115 Jetzt wird klar, worin der Sinn der ,Einverleibung‘ der Tora (Ps 1,2) und ihrer ,Verinnerlichung‘ (Ps 40,9) besteht: darin, die problematischen Situationen zu bewältigen, denen der Beter auf seinem Lebensweg begegnet und die er, wie Ps 3-41 zeigt, nur im Vertrauen auf JHWHs Tora bestehen kann. Es ist diese Form der persönlichen Frömmigkeit, die die kultkritischen Psalmen von der prophetischen Kultkritik unterscheidet und sie zu besonderen

Zeugnissen einer biblischen Theologie der (Opfer-)Gabe macht. Und zwar einer Theologie der Gabe, die ihren Ort im Raum des Kults hat, diesen aber entscheidend transformiert.

114 G. Barbiero, Das erste Psalmenbuch. Eine synchrone Analyse von Psalm 1-41 (ÖBS 1), Frankfurt a.M. 1999, 53. 115 S. dazu B. Janowski, Ein Tempel aus Worten. Zur theologischen Architek-tur des Psalters, in: E. Zenger (ed.), The Composition of the Book of Psalms (BEThL 238), Leuven / Louvain 2010, 279-306, hier: 283ff (= unten ···ff).